Männerbilder, 2023 – Matthias Conrady

In seinem Essay über Fanfiction setzt sich Matthias Conrady mit Männlichkeitskonstruktionen auseinander. Ausgangspunkt für seinen Text, welcher in einem interessanten Spannungsfeld zwischen Sprachkunst und Wissenschaft angesiedelt ist, ist seine persönliche Faszination für die Performanz von Männlichkeit. Da reine Deskription und Analyse nicht ausreichen, um das Phänomen zu ergründen, experimentiert Conrady selbst mit dem Genre der Fan Fiction und schafft so einen individuellen und hybriden Text, der einen Comic integriert und so die Intermedialität des untersuchten Sujets selbst aufgreift und abbildet.  

Kapitel 1: Kayfabe im Ikea

Disclaimer : I own not the man just the feelings that caused me to write this[…]. Summary : The Undertaker as I see him.1

„Lieber Marki, wie wäre es mit diesen bestickten Kissenbezügen? Die würden sich doch ganz hervorragend machen auf dem grauen Sofa.“ Clemens Wilmenrod, der sensationelle Fernsehkoch, Erfinder von Toast Hawaii und Arabischem Reiterfleisch, war tief in die Polsterlandschaft der Ikea-Ausstellung gewandert. Dass er The Undertakers echten Namen – auch noch Kosenamen – deswegen über mehrere Sofas hinweg rufenmusste, gefiel dem riesigen Mann gar nicht. Mit schnellem Schritt stiefelte er zwischen Besucher:innen hindurch und über Nachttische hinweg zielstrebig auf seine neue Liebe zu.

„Clemens!“ zischte er aus dem Mundwinkel „Kayfabe!“2 Clemens schaute leicht besorgt zu ihm hoch, doch schnell legte sich wieder das schelmische Grinsen aufs Gesicht, das dem Undertaker immer wieder das Herz schmelzen ließ. „Oooh, Mr. Undertaker!“ Der Fernsehkoch ergriff mit beiden Händen Undertakers rechte Hand und legte sie sich an den Hals. „Dass Sie mich ausgerechnet hier doch noch schnappen!“ Sich Undertakers Pranke an den Hals haltend, warf er sich mit einem Schrei auf ein Sofa. Der Undertaker musste schmunzeln und beugte sich, den Griff spielerisch festigend zu seinem Partner herunter, um ihm zuzuflüstern: „So ein schlechtes Selling habe ich noch nicht erlebt. Dabei heißt es doch, du würdest sogar verboten gut verkaufen.“3 Clemens kicherte, während der Undertaker ihm bereits die nächsten Moves callte – „Chokeslam, Pause, du jabst, Nonsell, Tombstone.“4 – und schon hob der Undertaker ihn in die Höhe. Inzwischen hatte sich ein gewisses Publikum gebildet, das schrie und johlte, als der Fernsehkoch vom Wrestler am Hals durch die Luft geschleudert und auf ein weiteres Sofa geschmettert wurde.

Als sich der Undertaker dem Publikum zuwandte – auch um Clemens die Gelegenheit zu geben sich aufzurappeln – erblickte er zwei bekannte Gesichter in der Menge. 

„Danke Kermit, dass ihr das Personal ferngehalten habt.“

Kermit der Frosch, Howard Philips Lovecraft, der Undertaker und Clemens Wilmenrod saßen in Clemens’ Transporter. Nach der Show waren sie höflich aber bestimmt gebeten worden umgehend das Haus zu verlassen. Wieder ein gescheiterter Versuch ein paar kleine Besorgungen in der Öffentlichkeit zu erledigen.

„Aber nicht der Rede wert, Mark! Ich weiß doch, was eine gute Show wert ist! Das Publikum war begeistert!“ Der Undertaker fühlte sich geschmeichelt. Wenn jemand wusste, was eine gute Show ausmachte, war es Kermit. „Und gut gewrestlet, Clemens!“, ergänzte der Frosch, „Ich wusste immer, dass noch ein bisschen mehr Körperarbeit in dir steckt.“ Kermit hatte mal eine Zeitlang Clemens’ Kochshow produziert, bevor sie wegen creative differences auseinandergegangen waren.

„Und was ist euer Ikea-Ausflug?“, entgegnete Clemens, „seid ihr –“„Wir arbeiten an einem Theaterstück!“ unterbrach Howard ihn abrupt, „ich – ich schreibe an einem Theaterstück.“ Der hagere Mann hatte bislang geschwiegen, sich verschüchtert in Kermits Schatten gehalten und war nun sichtlich nervös. „Das ist richtig“, ergänzte Kermit, während er ihm beruhigend eine Hand auf den Arm legte. „Wir wollten Requisiten besorgen für ein paar Probedurchläufe. Howard schreibt wirklich fantastischen Kram – das müsst ihr mal lesen.“

Kapitel 2: Träume aus dem Hexenhaus

Wir geben an dieser Stelle ein Manuskript wieder, das dem verschollenen Versicherungsdetektiv John Trent zugeschrieben wird. John suchte nach dem ebenfalls verschwundenen Science-Fiction-Autor Sutter Cane und wurde das letzte Mal im kleinen amerikanischen Ort Hobbes End gesehen. Das beigefügte Manuskript wurde dort unter den Dielen seines Hotelzimmers gefunden.5 Der Text ist – bis auf Zitate die aus Büchern direkt ausgeschnitten und händisch eingeklebt wurden – in Johns Handschrift verfasst. Bemerkenswert dabei ist: Er konnte kein Deutsch. Auch Hinweise aufs Internet passen nicht in die Zeit seines Verschwindens. Vor allem aber entsprechen die Selbstdarstellungen im Text nicht im Ansatz seiner Persönlichkeit.

Vorstellbar wäre vielleicht ein Phänomen, wie es SF-Autor Philipp K. Dick in seiner Exegese6beschreibt – aber wir wollen nicht ins Spekulieren geraten. Stattdessen nun also das vollständige Manuskript. Vielleicht trägt die Veröffentlichung ja zur Lösung dieses Rätsels bei.

Fan Fiction schreiben ist für mich ein furchtbar langsamer Prozess. Nach jedem Halbsatz muss ich unterbrechen, weil das Konzept mich so in Aufruhr bringt. Ich kann seelisch kaum aushalten, was meine Fantasie mir da unerwartet bereitwillig zur Verfügung stellt.7 Ich befriedige Bedürfnisse meines tiefsten Innern, die ich erst während genau dieses Vorgangs als Bedürfnisse entdecke. Und doch kommt es alles aus mir selbst und aus den öffentlichen Männerbildern, die sich in mir spiegeln. Ich hatte nur bislang noch nicht nachgeschaut.

Und was ich da sehe, rüttelt an meiner Identität. Es geht um Männlichkeit und um Männer – also auch um mich.

Bei den ersten Malen, bei denen ich von Fan Fiction hörte, wurde sie als Witz präsentiert. Eine perverse kleine Überraschung, dass es auch diese extrem spezifische Fantasie gibt, und es hat sie sogar jemand niedergeschrieben. Ich erinnere mich an eine Episode eines von Männern geführten True-Crime-Podcasts, in dem sie die Serie von Kirchenverbrennungen und schließlich auch Morden der norwegischen Black-Metal-Szene der frühen Neunziger Jahre präsentieren. Am Ende wurde als kleiner Bonus eine Fan Fiction vorgelesen,8 in der statt dem Mord, den Varg Vikernes an Euronymous beging, die beiden eine Affäre haben.

Es war als Idee wohl einfach ein edgy Witz, aber was ebenfalls passiert: Für die drei Podcaster, die das Dilemma haben, einerseits Fans der Musik zu sein und Empathie mit ihren Protagonisten zu haben (oder haben zu müssen), andererseits aber die faschistischen, homophoben und mörderischen Überzeugungen und Taten dieser auch fürchterlich zu finden, eröffnet sich eine Möglichkeit. Die Fan Fiction – obwohl als Witz präsentiert – bietet ihnen etwas Besonderes: Ssie können in die Gefühlswelt und in die Gender-Performance der Metal-Musiker einsteigen, aber eben in einer alternativen Dimension, in der diese anders funktionieren. In der Geschichte gestehen Varg und Euronymous sich gegenseitig ihre Anziehung und sprechen darüber, wie sie unter den Ansprüchen der knallharten Männlichkeitsperformance leiden, die sie sich gegenseitig zusammen mit dem Rest der Black-Metal-Szene auferlegt haben. In der romantischen und sexuellen Annäherung die folgt, wandelt sich die rigide homophobe Powerdynamik, die in der Realität zu Gewalttaten und Mord geführt hat, außerdem umgehend zu einer kinky, also verspielten und einvernehmlichen Powerdynamik, die zu Sex und Fürsorge führt.

„Master bends until his head is at my level and kisses my forehead. ‘I love you.’ He tells me. I try to tell him that I love him too, but my words are muffled around the gag. He knows what I mean though, and strokes my body as he walks around to my naked ass.”9

Die Podcaster präsentieren die Fan Fiction als Witz, um das brutale Thema am Ende der Show etwas zu entschärfen. Sie versuchen auch bewusst die toxischen Ideale der Mörder zu missachten, indem sie – hahaha, das würden sie hassen – eine schwule Fantasie über sie präsentieren. Aber eine andere Sache passiert außerdem, die nämlich zentral zu dieser Fantasie gehört. Das öffentliche Bild, an dem sowohl die Metaller selbst als auch die Medienlandschaft, die über sie berichtet, arbeiten, wird beiseite gewischt, für nicht ganz wahrgenommen, als bloß eine Variante der Selbstdarstellung verstanden. Dadurch wird auf einmal die Tatsache, dass hier nämlich überhaupt eine Gender- und Public-Persona-Performance stattfindet, sichtbar.

Oder wie Kristina Busse es beschreibt:

The questions of truth and reality are central in popslash writing, which consciously fictionalizes a reality that itself is already performed and choreographed. Unlike much of the tabloid press, which purports to tell the truth, popslashers consciously declare their writing to be fictional and clearly separate their stories from rumors. Of course, this creative process allows the popslasher to construct the celebrity as she wishes: as an object of desire, as someone with whom to identify, or as a re-creation of the celebrity’s supposedly real self. Moreover, popslashers refuse to follow the cliché of declaring the public performances of pop stars a fiction and the band members fake and fabricated; instead, their stories often reveal deep empathy and sympathy for the stars they depict. Rather than reproducing the star stereotypes often perpetuated by the media, popslash rehumanizes the celebrities by inventing backstories and inner lives.“10

Die Metaller werden also in der Fantasie ihrer tödlichen Stringenz beraubt, sie bekommen von der Fan-Fiction-Autorin11 eine neue Verletzlichkeit und Ehrlichkeit geschenkt, mit der sie auf einmal ihre performative (und in diesem Falle tödlich toxische) Männlichkeit erstens wahrnehmen, zweitens sich gegenüber benennen und drittens neu verhandeln und neu performen können.

Dass dieser transformative Vorgang im Podcast wiederum von drei Männern (die immerhin ein entspannteres Verhältnis zu ihrer Männlichkeit haben) nur als Witz präsentiert wird, ist zwar eine Ironie, aber tut der transformativen Kraft der Fanfic keinen Abbruch. Alle Umständlichkeiten und Rituale die nötig sind, um zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen, sind erlaubt.12

Ich vermute, dass ich diese Gedanken auch damals hatte, als ich die Folge ganz unbedarft hörte und über die verrückte „sexual fiction“13 lachte. Es waren keine klaren Gedanken, aber klare Gefühle. Ich kann mit heutigem Wissen diesen Fanfic-Erstkontakt einordnen, analysieren, Zitate bereit haben. Aber auch damals schon hat die transformative Kraft auf mich gewirkt und ich verstand wie wertvoll es ist eine Realität bereit zu haben, in der die niedlichen Black-Metal-Teens sich nicht ermorden, sondern ihre Männlichkeit und Sexualität (in all ihrer Unergründlichkeit) verstehen und erforschen.

Einen etwas weniger verklemmten Zugang zu Fan Fiction fand ich dann durch meine Internetfreundin Steph.14 Ich livebloggte den zweiten Teil der neuen Stephen King’s It-Filme, und Steph sandte mir Slash Fiction zu zwei Charakteren des Films zu.

Faszinierend fand ich wieviel Material es zu dem Ship15 gab. Der Film ist ein überraschend guter Mainstream-Horror, lädt aber nicht besonders dazu ein, die Welt weiter zu erträumen, wie es bei manchen Fantasyfilmen der Fall ist. Aber, und das hatte ich missverstanden, die Fantastik der Welt ist nicht das  Aufregende. Die nur angedeutete schwule Beziehung zwischen Richie Tozier, dem traumatisierten Comedian und Eddie Kaspbrak, dem nervösen Hypochonder, ist wie gemacht für Fan-Fiction-Autor:innen. Sie kann niemals real sein: aufgrund der tragischen Lebensrealität in der amerikanischen Kleinstadt, aufgrund des noch tragischeren Todes Eddies durch ein übernatürliches Alienmonster und, vielleicht am tragischsten, weil queere Beziehungen nicht im Fokus großer Hollywoodproduktionen stehen. All dies schreit in seiner Tragik nach alternativen Realitäten. Die Beziehung im Film ist subtil, einerseits liebevoll angedeutet, andererseits einfach nicht erzählt. Ein queeres Publikum, das queere Geschichten rezipieren will, muss diese also selbst erzählen.

„Shipping becomes a method through which fans, often minority communities including women, queers and people of colour can re-imagine a narrative and create their own minor narratives out of the major source material for their own pleasures.“16

Da die brutale (Film-)Realität die Beziehung der beiden nicht erlaubt, beruhen die Fanfic-Realitäten zwangsläufig auf leicht hanebüchenen Konzepten. So muss Eddie zuallererst natürlich überleben. In der Fic die ich las wird das Ende des Films dafür einfach angepasst – und schon sind wir in einer Parallelwelt, in der den beiden möglich gemacht wird ihre Beziehung zu erforschen.

Und dieser Erzählstrang hat mich – Fanfic-Neuling – umso mehr überrascht. Nicht etwa in sexuellen oder fantastischen Details, sondern in der Alltäglichkeit. Eddie hat sich von seinen Verletzungen erholt, von seiner Frau getrennt und zieht ungefragt bei Richie ein, einfach weil er ein Zuhause braucht. Nun leben die beiden zusammen und erforschen dabei ihre gegenseitige Anziehung. Die Kompromisslosigkeit ihrer Freundschaft, die im Film unter dramatischen Umständen getestet wird, wird hier – viel realer, viel zärtlicher, viel detaillierter– im Alltag getestet.

„Richie pushes his forehead against the wall. ‚He just showed up here two days ago. He left Myra and said a bunch of stuff about hating New York, then yesterday he went out and bought clothes because he left all his back home, and his toothbrush is in the extra bathroom, and he went to Mariano’s and bought a bunch of this, like, really good looking organic grocery shit, and now he’s in the kitchen rearranging my spice rack. Is this what happens during a midlife crisis? Because my dad got frosted tips in his hair and joined a paintball league when he —“17

Und hier begann ich – langsam – zu verstehen, welche Freiheit Fan Fiction bieten kann. Mehr als die Realität selbstverständlich, aber auch mehr als kreatives Schreiben – das sich, zumindest bei mir, dann doch gerne an Realität und etablierte Erzählstrukturen klammert. Fan Fiction bricht aber so grundlegend mit Regeln des Anstands, der Fantasie, der Urheberschaft und des Autorenstolzes, dass sich eine bisher ungeahnte Freiheit eröffnet. 

Grund dafür ist vielleicht auch, dass es nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) ein literarisches Schreiben ist. Francesca Coppa verortet Fan Fiction eher in der Nähe von dramaturgischem Schreiben. Die bereits bestehenden Figuren verkörpern in der Fan Fiction wie Schauspieler:innen im Theater andere Rollen, sie sind dieselben Figuren, sie performen eine andere Geschichte und „if we examine fan fiction as a species of performance, the picture changes“.18 Auch die unerwartete Menge an verschiedenen aber oft ähnlichen Richie / Eddie Fics ist dann nicht mehr verwunderlich, sondern folgerichtig:

„From a literary perspective, fan fiction’s unusual emphasis on the body seems like a thematic obsession or a stylistic tic, but in theatre, bodies are the storytelling medium, the carriers of symbolic action. Similarly, in literary terms, fan fiction’s repetition is strange; in theatre, stories are retold all the time.“19

Und in diesem Theater, das in meinem Kopf stattfindet, mit gestohlenen Charakteren, ist auf einmal unendlich viel möglich. 

„This decontextualizing of behavior echoes the appropriation and use of existing characters in most fan fiction; in fact, one could define fan fiction as a textual attempt to make certain characters ‚perform‘ according to different behavioral strips. Or perhaps the characters who populate fan fiction are themselves the behavioral strips, able to walk out of one story and into another, acting independently of the works of art that brought them into existence. The existence of fan fiction postulates that characters are able to ‚walk‘ not only from one artwork into another […].“20

Diese Erkenntnis schlummerte auch erst einmal eine Weile, man könnte auch sagen, ich ging mit der Idee schwanger und träumte von ihr. Aber ich sagte mir, Hölderlin hat geschrieben „ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt“. Verzeihen Sie bitte, wenn ich dieses hohe Wort in Beziehung mit Fan Fiction bringe. Aber eines Tages fiel es mir ein, ich lag morgens noch im Bett, meistens die beste Stunde, da wusste ich was zu tun sei.21

Ich hatte mich in letzter Zeit intensiv mit verschiedenen Männern beschäftigt: The Undertaker (der Wrestler), Clemens Wilmenrod (der Fernsehkoch), Kermit der Frosch (der Entertainer), Tiny Tim (der Falsetto Sänger), um nur einige zu nennen. Meine Obsession mit diesen Männern, die in großer Öffentlichkeit sehr spezifische Männlichkeiten performten, wuchs und wuchs aber konnte kein richtiges Ventil finden. Einerseits trieben mich die jeweiligen individuellen Figuren und Performances in den Wahnsinn, andererseits fragte ich mich auch, was sie wohl alle miteinander zu tun haben könnten. 

Fan Fiction bot die Lösung. Mit der Erkenntnis, dass „characters are able to ‚walk‘ […] from one artwork into another“, war es auf einmal sehr einfach herauszufinden, was sie gemeinsam oder nicht gemeinsam haben. Die Männlichkeit, die sie für die Öffentlichkeit performen, kann ich nun nicht nur aus der Perspektive der Öffentlichkeit betrachten, ich darf die andere Seite sehen, kann hinter die Kulissen blicken, die (Hinter-)Gründe für die Performance verstehen und: sie mitdirigieren. Männer, die plötzlich Gender auf eine für mich komplett nachvollziehbare Art performten, ohne Mysterien und Verwirrungen. Der performative Akt wurde klar, doch Gender-Identität und Sexualität kollabierten. 

„In slash fic the hetero/homo binary becomes an inconsistent non-binary […] and reality and fantasy collapse into one another.“22

Wenn Richie und Eddie23 nicht nur zueinanderfinden, sondern eine liebevolle Beziehung aufbauen, einer der beiden schwanger wird und sie zusammen ein Kind großziehen – was bedeutet das für mein Verständnis von Männlichkeit? Wenn ich diese Vorstellungen genieße, sie suche, sie selbst schaffe – was bedeutet das für mein Verständnis meiner eigenen Sexualität?

Als ich mit der Erforschung dieser Männer begann, dachte ich, ich untersuche Objekte; ich beobachte Fallstudien zu performativer Männlichkeit. Doch die Technik des hemmungslosen Fantasierens – so erfolgreich sie war – barg eine Falle mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich war nicht mehr neutraler Beobachter. Ich steckte nun mittendrin, mit meiner gesamten fragilen Identität.

In Bending Gender. Feminist and (Trans)Gender Discourses in the Changing Bodies of Slash Fictionuntersuchen Kristina Busse und Alexis Lothian Genderswitched Slash Fics, bei denen männliche Charaktere aus der Serie Stargate ihr Geschlecht wechseln und dabei mit Fragen der Gender Performance und Gender Identity konfrontiert werden:

„The experience of having femininity misread is something that may not require recent bodily transformation to experience. John’s confusion as his physical female attributes cause someone to think he is a woman raises the question […] of what it means to ‚be‘ a ‚woman.‘ […] [Genderfuck stories] also ask to what degree originally male characters remain themselves through such changes: when the cultural predicates by which one gains one’s sense of identity change, is one still the same person?“24

Ich kann aber berichten, dass diese plötzliche und eigentlich banale Offenlegung von Gender als performativer Akt (im Gegensatz zu einem stabilem Zustand) auch ohne die Zutat Genderswitch geschieht, einfach durch die fantasierte Nähe zu den performativen Entscheidungen der Figuren.

Und tatsächlich, ich komme auch der Frage näher, was diese in der Öffentlichkeit stehenden cis-Männer, von denen ich besessen bin, denn tatsächlich gemeinsam haben. Auch diese Antwort ist banal: Es ist ihre Gender-Performance als MANN. Sie ist bei ihnen allen a priori etwas bewusster konfiguriert und eingesetzt, als sie es zum Beispiel bei mir selbst ist. Das hat damit zu tun, dass sie in und für die Öffentlichkeit konfiguriert ist: Alle diese Männer pflegen ein dezidiert medien-öffentliches Männerbild. Ich kann vermuten – und in meinen Fanfics tue ich es lustvoll – dass sich diese Männer, wenn nicht ihrer Gender-, so in jedem Fall ihrer Performance bewusst sind und Kontrolle über diese haben.

Und wenn ich das tue, dann fantasiere ich auch über ihre Identität hinter der Performance, beziehungsweise ihre Beziehung zu derselben.

 „More specifically, popslash requires the celebrities to perform not only their official and private roles but also their (public) straight and (real) queer identities. It may be no surprise that popslashers emotionally engage with stories that revolve around notions of identities and the protection of secret selves, a concern that gets played out most often through anxieties over gender and sexual identity.“25

Ich bin mir bewusst, dass auch meine Position gegendert ist. Fan Fiction ist ein Genre (wenn man es so nennen möchte), welches vor allem von Frauen* geschrieben und gelesen wird. Der Austausch spielt dabei eine entscheidende Rolle. Er ist wichtig, da Fanfic ein performatives, ein dramaturgisches Genre ist.

„Fan fiction, too, is a cultural performance that requires a live audience; fan fiction is not merely a text, it’s an event. Whether published in a zine, on a mailing list, to an archive, or to a blog like LiveJournal.com, there’s a kind of simultaneity to the reception of fan fiction, a story everyone is reading, more or less at the same time, more or less together.“26

In diesen gemeinschaftlichen Aspekt habe ich mich, außer im sehr kleinen Kreis mit direkten Vertrauten, noch nicht hineingetraut. Auch dies hat mit meiner Gender-Identity zu tun. Will ich mich nicht männlich-trottelig-invasiv in Frauen:räume begeben? Oder bin ich mir zu fein, zu gebildet, um so peinlichen Schmutz zu veröffentlichen? Sicher ist es eine sehr männliche Strategie, eine von Frauen* praktizierte Methode zu nutzen und sie in hochkulturell anerkannteren Räumen als bahnbrechende Selbsterkenntnis zu präsentieren.

Alle Umständlichkeiten und Rituale die nötig sind, um zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen sind erlaubt – hoffe ich.

Ich wünschte, ich hätte das feine Maß an Kontrolle über meine öffentliche (Gender-)Performance, wie meine Protagonisten und ihr sensibles Verständnis über ebendiese Performativität. Vielleicht ist es nicht möglich. Aber dafür gibt es ja Fan Fiction.

Falls Sie etwas zum letzten Aufenthalt von John Trent wissen, oder Hinweise haben, was Details dieses Manuskript bedeuten könnten, zögern Sie bitte nicht uns zu kontaktieren. Vielen Dank.

Kapitel 3: Zu Tisch Off Script


Biografie

MATTHIAS CONRADY ist Künstler aus Köln, wo er an der Kunsthochschule für Medien studierte. In seinen Arbeiten sucht er den Wert in der Unsicherheit, das Gewichtige im Alltäglichen und das Gewaltige im Detail. Wichtig ist ihm hierbei die Ernsthaftigkeit des Nebensächlichen und die Interdisziplinarität seiner Beschäftigung. Primär arbeitet er mir Grafik, Zeichnung und Performance, die in Comics, Zine-Essays, Lecture-Performances aber auch in Keramik, Stickerei und Druckgrafik die unterschiedlichsten Formen annehmen und vom alltäglichen und politischen Leben inspiriert sind. Dabei begleiten ihn oft zufällige Obsessionen mit Themen, Fun Facts und öffentlichen Persönlichkeiten, die er als holistische Ideen-Gesamtpakte präsentiert. In seiner Kunst hat Matthias Conrady, wie er selber sagt: „keine Angst auch didaktisch zu werden, denn die Komplexität der Sache kann ohnehin nicht ganz ergründet werden.“

Fußnoten

  1. Cat Lea Takersdarkone: The Undertaker, URL: https://www.fanfiction.net/s/994339/1/The-Undertaker (20.02.2023).
  2. Kayfabe ist im Professional Wrestling ein Codewort um darauf hinzuweisen, dass Fans gerade zuschauen und alle Handlungen den Charakteren und der Storyline entsprechen müssen. Da dies inzwischen ein offenes Geheimnis ist, umschreibt es auch das Konzept der öffentlichen performativen Realität.
  3. Clemens Wilmenrod bewarb in seiner öffentlich-rechtlichen Fernsehshow Küchengeräte und Zutaten, für die er privat Werbegehälter bekam. 1959 war dies der erste deutsche Schleichwerbungsskandal.
  4. Wenn im Wrestling ein Kontrahent dem anderen in einem unbeobachteten Moment die nächsten Attacken verrät, wird dies als „Calling Moves“bezeichnet.
  5. Diese Details spielen auf den Film In the Mouth of Madness (1994) von James Carpenter an. In diesem hat der verschwundene Autor Sutter Cane Verbindung aufgenommen zu lovecraft’schen Alten Göttern und treibt mit seinen Texten Leser –ebenfalls in lovecraft’scher Manier – in den Wahnsinn. Am Ende des Films kontrolliert Cane an der Schreibmaschine die Realität, inklusive Trents Identität und Gedankenwelt.
  6. Science-Fiction-Autor Philipp K. Dick hatte 1974 eine Vision, bei der er mit einem Frühchristen kurz vor der Wiederauferstehung Christi Körper tauscht. Diese beschäftigte ihn den Rest seines Lebens und wurde zentrales Thema seines Schreibens. Einige seiner diesbezüglichen Notizen wurden 2011 in dem Buch The Exegesis of Philip K. Dick veröffentlicht.
  7. Außerdem muss ich immer wieder zwischendurch als Teil der Recherche meine Freund:innen auf Social Media fragen, „welcher der Kermits auf dieser Seite“ sie seien: https://muppet.fandom.com/wiki/Kermit_the_Frog’s_Alternate_Identities (03.04.23).
  8. Last Podcast on the Left: Episode 287. Norwegian Black Metal, Part III: This Laughable Society, ursprünglich veröffentlich am 09.07.2017, inzwischen nur noch auf Spotify abrufbar, URL: https://open.spotify.com/episode/1P54vADrXmHpOamqWAPM9G (27.02.2023), ab Min. 47:20.
  9. Livialovesblackmetal: Once Upon A Time in Norway. Varg Vikernes and Euronymous, URL: https://www.wattpad.com/46184122-once-upon-a-time-in-norway-varg-vikernes-and (27.02.2023).
  10. Kristina Busse: “I’m jealous of the fake me”. Postmodern Subjectivity and Identity. Construction in Boy Band Fan Fiction, in: Kristina Busse: Framing Fan Fiction. Literary and Social Practices in Fan Fiction communities, Iowa City 2017, S. 44.
  11. Ich benutze hier das deutsche Wort Autor, Francesca Coppa weist zu Recht darauf hin, dass im englischen „Fan Fiction Writer“ benutzt wird, was sowohl hierarchisch als auch in der Praxis nicht das gleiche ist: „To author a text is to have power over it, to take public responsibility for it, regardless of whether or not one did the actual work of selecting words and putting them in order. Authorship is a sign of control rather than creation. This distinction is gendered, because there is a larger tradition of seeing the female writer in terms of body rather than mind.“ Vgl. Francesca Coppa: Writing bodies in Space. Media Fan Fiction as Theatrical Performance, in: Karen Hellekson (Hrsg.), Kristina Busse (Hrsg.): The Fan Fiction Studies Reader, Iowa City 2014, S. 225.
  12. Siehe diesbezüglich auch das Intro zu diesem Kapitel.
  13. Als solche wird die Fanfic im Podcast kategorisiert.
  14. Steph, die sich seit langem mit Fanfiction beschäftigt und sich als Männerfan identifiziert, habe ich viel zu verdanken für diesen Text, unter anderem die Hinweise zu den akademischen Quellen. Steph ist Comic*Künstler:in und veröffentlicht wieder ihren Newsletter, den ich hier wärmstens empfehlen möchte: https://buttondown.email/vaguesteph
  15. Shipping kommt von relationshipping und beschreibt den Wunsch der Fans, dass zwei Figuren eines Films / einer Show / etc. eine Ship – eine Relationship bilden.
  16. Owen G. Parry (owko69): „Shipping“ (as) Fandom and Art Practice, in: Catherina Grant (Hrsg.), Kate Random Love (Hrsg.): Fandom as Methodology. A Sourcebook for Artists and Writers, London 2019, S. 128.
  17. Rend_Herring: New Page, Same Old Book, URL: https://archiveofourown.org/works/20889065 (27.02.2023).
  18. Coppa: Writing bodies in Space, S. 222.
  19. Coppa: Writing bodies in Space, S. 229.
  20. Coppa: Writing bodies in Space, S. 223.
  21. Dieser Absatz ist fast eins zu eins übernommen von einem Monolog des deutschen Fernsehkochs Clemens Wilmenrod, mit dem er seine Erfindung der gefüllten Erdbeere präsentiert. Vgl. URL: https://www.ardmediathek.de/video/norddeutsche-geschichte-n/clemens-wilmenrod-bittet-zu-tisch-verlorene-eier-auf-toast/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS8wNDJjODU4Ni1lMjUzLTQ2YWEtYmE2Ni05YzY2ZTY0YmRkMjQ (27.02.2023), ab Min. 07:03.
  22. owko69: „Shipping“ (as) Fandom and Art Practice, S. 134.
  23. Oder Kermit und Franz Kafka, oder Clemens von den Wise Guys und Tiny Tim, oder Albrecht Dürer und Alan Moore usw.
  24. Kristina Busse und Alexis Lothian: Bending Gender. Feminist and (Trans)Gender Discourses in the Changing Bodies of Slash Fan Fiction, in: Busse: Framing Fan Fiction, S. 61.
  25. Busse: “I’m jealous of the fake me”, in: Busse: Framing Fan Fiction, S. 49.
  26. Coppa: Writing bodies in Space, S. 232.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert