Die aktuelle Ausgabe von frame[less] widmet sich dem universellen Phänomen der Dunkelheit, das tief in die menschliche Psyche und Kultur eingebettet ist. Dunkelheit kann zunächst einmal sehr simpel als die Abwesenheit von Licht verstanden werden. Diese Definition und die damit einhergehende Gegenüberstellen von hell und dunkel wirf jedoch auch viele metaphorische Bedeutungen hervor. Während Helligkeit und Licht oftmals mit positiven Gefühlen assoziiert werden, gehen mit der Vorstellung von Dunkelheit oftmals düstere, melancholische und negativ behaftete Assoziationen einher. Diese Konzepte, die mit der Vorstellung von Dunkelheit einhergehen, werden seit Jahrhunderten künstlerisch erkundet.
Besonders deutlich in Szene gesetzt wird dieser Kontrast bei barocken Stillleben. Dort trifft die maximale Schwärze des Hintergrundes auf die hell erleuchteten, naturalistisch dargestellten Gegenstände im Vordergrund. Eine bedeutungsvoll aufgeladene Komposition, die sowohl auf religiöse Zusammenhänge verweist als auch auf die irdischen Gegensätze des Lebens zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse aber auch Leben und Tod.
Die Unabbildbarkeit des Todes führt innerhalb künstlerischer Darstellungen zur Substituierung dessen durch dunkle Farbtöne oder zur Darstellung als Personifikationen in Form düsterer Gestalten und Fabelwesen. Die Dunkelheit birgt damit sowohl Faszination als auch Schrecken – für manche mehr als für andere. Sie ist die Nacht, die uns verunsichert, in der wir uns verlieren können, aber auch der Raum, in dem wir uns selbst finden. Das Dunkle kann Schutz bieten, Räume ermöglichen, die im Tageslicht den gesellschaftlichen Konventionen nicht standhalten würden.
Eindringliche Text und Bild-Arbeiten veranschaulichen aber auch die beklemmende Realität, in der Frauen* kontinuierlich der Gefahr vor sexuellen und verbalen Übergriffen im nächtlichen öffentlichen Raum ausgesetzt sind und stellen die drängende Frage nach dem Wegsehen, Weghören und Wegwischen als Schutzmechanismus vor dem Abgrund menschlichen Verhaltens.
In dieser Ausgabe werden unter anderem die oft unsichtbaren, aber äußerst bedeutenden Prozesse beleuchtet, wie sie beispielsweise bei der Entstehung und Weiterführung von Archiven stattfinden. Rassistische und diskriminierende Mechanismen werden aufgedeckt, die historische Dokumentationen und die damit verbundene Geschichtsschreibung beeinflussen und Karikaturen und Fotografien zur Kolonialgeschichte in deutschen Schulbüchern untersucht.
Doch werfen wir auch einen Blick auf die künstlerische Bedeutung von Licht und Dunkelheit und ihre Rolle zur Erzeugung von einzigartigen visuellen und atmosphärischen Effekten.Es wird deutlich, dass Dunkelheit, als sowohl bedrohliches als auch kathartisches Element eingesetzt wird, als Leerstelle und Endpunkt oder in Verbindung mit Licht als Ausgang für sich formende Prozesse fungiert. Dabei zeigt sich auch, dass das Dunkle nicht nur als Symbol für alles Düstere, sondern als Ausdruck von Eleganz, Klarheit und Ruhe betrachtet werden und zu Selbstreflexion anregen kann.
Issue #7 von frame[less] widmet sich den Auseinandersetzungen mit dem Thema in Form von wissenschaftlichen Textarbeiten und künstlerischen Beiträgen, die verschiedene Facetten und Interpretationen von Dunkelheit beleuchten.
Anina Göpels Projekt LEFT IN THE DARK setzt sich mit Karikaturen und Fotografien zur Kolonialgeschichte in deutschen Schulbüchern auseinander, die teilweise rassistische, diskriminierende und stereotype Vorstellungen vermitteln. Die Arbeit unternimmt den Versuch einer Auseinandersetzung mit den Darstellungen, ohne diese dabei abzubilden. Ausgangspunkt für die Arbeit ist das theoretisch-künstlerische Forschungsprojekt BLACK NOISE / WHITE NOISE von Dieter Daniels, Angelika Waniek und Frederike Moormann an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, bei dem sich die Studierenden mit Aspekten der Kolonialgeschichte beschäftigten.
Anina Göpels Projekt LEFT IN THE DARK setzt sich mit Karikaturen und Fotografien zur Kolonialgeschichte in deutschen Schulbüchern auseinander, die teilweise rassistische, diskriminierende und stereotype Vorstellungen vermitteln. Die Arbeit unternimmt den Versuch einer Auseinandersetzung mit den Darstellungen, ohne diese dabei abzubilden. Ausgangspunkt für die Arbeit ist das theoretisch-künstlerische Forschungsprojekt BLACK NOISE / WHITE NOISE von Dieter Daniels, Angelika Waniek und Frederike Moormann an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, bei dem sich die Studierenden mit Aspekten der Kolonialgeschichte beschäftigten.
Bei der Recherche zu den Geschehnissen in Südwest – und Ostafrika zum Ende des 19. Jahrhundert, wird deutlich, dass die Dokumentation seitens der Kriegsverbrecher zum Teil unter einer Decke von Euphemismen und Umschreibungen liegt. Christoph Kamissek zeigt in seiner 2014 erschienen Biografie von Lothar von Trotha, das verzerrte Selbstverständnis des Generalleutnants (1848-1920). Trotha beschreibt die deutsche Kriegsführung, die 1904 zum grausamen Tod von ca. 65.0000 Hereros und Namas führte als „rücksichtslose Tapferkeit“. Dies argumentierte er mit seiner bekannten und genauso unfassbaren Aussage: „Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, daß sie nur der Gewalt weichen.“ Die deutschen Kriegsverbechen auf diesem Gebiet seien nach Throtha als „Erschließung und Erforschung des Landes“ zu verstehen – alles unter dem Begriff der „Expansions- und Abenteuerpolitik“.1
Derartige geschichtliche Verzerrungen scheinen bis heute nicht abgeschlossen zu sein. Dies zeigt sich auch bei einem Blick in die Schulbücher. Kessete Awet beschäftigt sich in seiner Publikation von 2018 mit der Darstellung der Subsahara Afrikas im deutschen Schulbuch. Nach seinen Angaben werden hier Kolonialherren zum Teil als Siedler:innen bezeichnet. Ebenso wie in den Aussagen von Generalleutnant Lothar von Trotha ist auch in den Schulbüchern von dem gesamten Kontinent „Afrika“ die Rede, sodass Stereotype und eine monoperspektivische Sichtweise eher verstärkt statt abgebaut werden.2
Da sich der Artikel von Kessete Awet nur auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen bezieht, wurden für das Projekt LEFT IN THE DARK noch sechs weitere Schulbücher aus unterschiedlichen Bundesländern und Schularten betrachtet und selbst analysiert (siehe Liste am Ende). In einem Geschichtsbuch für Brandenburger Gymnasien von 2017 wird die „Unterjochung“ der Völker der Verbreitung der europäischen Zivilisation gegenübergestellt und die Bilanz des Kolonialismus widersprüchlich erklärt. Den Gymnasiast:innen werden die hegemonialen, rassistischen und verbrecherischen (post-)kolonialen Strukturen hier als historisches Phänomen mit Vor- und Nachteilen vermittelt. Inhaltsabschnitte im bayerischen Geschichtsbuch für Realschulen von 2003 lauten „Der ‚Wettlauf‘ um Kolonien.“, „Grundlagen und Motive imperialistischer Politik.“ oder „Afrika- Ein Kontinent wird verteilt.“. Die im Geschichtsbuch für bayrische Gymnasien von 2020 zu findende Definition des Imperialismus betrachtet diesen sehr neutral mit ausschließlich dem negativen Aspekt des Rassismus: „Grundlegender Begriff Imperialismus: Streben von Staaten nach weltweiter politischer Machtausdehnung und wirtschaftlichem Einfluss im ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jh., z.B. durch die Gründung von Kolonien, dabei spielten auch religiöses und kulturelles Sendungsbewusstsein sowie rassistische Einstellungen eine Rolle.“
Gemeinsam mit dem Grundkurs Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig wurden die sechs Schulbücher analysiert und problematische Inhalte gekennzeichnet. Dabei stieß einem Kommilitonen vor allem ein Bild ins Auge, das er als verletzend und unangemessen empfand. Im Geschichtsbuch (2020) für bayerische Gymnasien wurde im Inhaltsverzeichnis neben dem Kapitel „Imperialismus und Erster Weltkrieg“ eine Karikatur ohne kontextuelle Beschriftung eingesetzt, die rassistische und zynische Aussagen enthält. Sie zeigt weiße Männer, die auf ihrem Rücken Menschen mit landestypischer Kopfbedeckung oder schwarzer Haut auf einen Berg mit der Aufschrift „Zivilisation“ tragen. Darunter steht in englischer Sprache der Titel: „Die Bürde des weißen Mannes“.
Aufgrund dieser Eindrücke legte sich der Fokus der eigenen Projektarbeit auf den Einsatz kolonialer Bilder in Schulbüchern. Die Geschichtsbücher zeigen alle mehrfach Fotos gefesselter Hereros neben weißen Kolonialherren oder entwürdigende Illustrationen von diskriminierten Bevölkerungsgruppen. Aber auch aktuelle Abbildungen zeigen schwarze Personengruppen oft in ärmlichen Verhältnissen neben weißen Menschen in einer helfenden oder lehrenden und erhabenen Position. Man sieht schwarze Kinder halb bekleidet oder in stereotypierter Bekleidung und Bemalung. Eine Bildüberschrift lautet: „Ungewollt schwanger?- Aufklärungsbemühungen in Afrika.“ Die Abbildung eurozentristischer und rassistischer Inhalte führt zur Reproduktion hegemonialer Strukturen und zu Stigmatisierung. Deshalb wird in dieser Arbeit untersucht, woher diese Bilder kommen und wer darüber verfügen darf. Die Recherche ergab, dass unterschiedliche Archive als Quelle dienten, die alle eine Gemeinsamkeit teilen: ihr europäischer und meist kommerzieller Hintergrund. Genutzte Bildagenturen wie gettyimages -„Storytelling, das bewegt“3 oder mauritius images -„pictures your vision“4 werben mit ihren bis zu 180 Millionen „frischen, kreativen und aktuellen Motiven aus den Bereichen Travel, Nature, Lifestyle und People“5 und darunter befindlichem „historische[n] Bildmaterial mit dokumentarischem Charakter“. Eine Quelle wurde in den Schulbüchern besonders häufig verwendet. Dabei handelt es sich um das europäische Unternehmen ullstein bild -“Leuchtturm für Zeitgeschehen & Zeitgeschichte“6 , welches unter dem Dach der Axel Springer Syndication GmbH steht.
Mit der Umsetzung der Recherche in ein künstlerisches Projekt, stellte sich die Frage, wie der unreflektierte und zum Teil kontextlose Einsatz kolonialer Bilder kritisiert werden kann, ohne das Material selbst zu reproduzieren. Dafür werden die sechs Schulbücher in einem schwarzem Umschlag ausgestellt und von innen verklebt, sodass man sie nicht öffnen kann. Dahinter ist eine Karte installiert, die die Bildbeschriftungen und Quellen des kolonialen Bildmaterials aufzeigt.
An der Hochschule für Grafik und Buchkunst wurden die Ausstellung präsentiert, welche sich mit Bildern aus unserer Vergangenheit und unserem Alltag im Allgemeinen beschäftigt. Dabei werden die Betrachter:innen dazu aufgerufen, sich mit erlernten Bildern und ihrer persönlichen, visuellen Prägung auseinanderzusetzen.
AUSBLICK: Methodisches Verfahren zur Auswertung eines Kolonialbildes von Kokou Azamede
Da koloniale Bildinhalte fest integrierter Bestandteil unserer Gesellschaft sind und uns immer wieder begegnen werden, ist es sinnvoll sich mit ihrer Betrachtung auseinander zusetzen. Dafür gibt der Germanist und Historiker Kokou Azamede eine wichtige Orientierung. Er doziert an der Universität Lomé in Toto und forscht im Bezug auf die Dekonstruktion des imperialen Blickes und die defizitäre Kontextualisierung von Kolonialbildern. Werden zum Beispiel ein „Kolonialherr“ und ein afrikanischer Arbeiter zusammen gezeigt, wird zumeist nur die erste Person namentlich genannt und die zweite in generellen Stereotypen präsentiert. Bilder von Afrikaner:innen, die von Europäer:innen gemacht wurden, erzählen zumeist verzerrte Stereotype einer kolonialen Exotik. Zu einer sensiblen Präsentation des Materials gehören nach Azamede nicht nur historische, sondern auch soziale und kulturelle Hintergrundinformationen. Zudem entwickelte er ein methodisches Verfahren, um Kolonialbilder sinnvoll und diskursiv zu reflektieren. In dem Schema liest man zunächst die schon bestehenden Informationen zu dem Kolonialbild, dann beschreibt man die Person(en), Objekte und deren Umgebung auf dem Bild. Erst danach wird der Inhalt auf Basis der vorherigen Schritte interpretiert oder kommentiert. Die Interpretation erfolgt auf Grundlage der Lebensgeschichte der Personen, der dort lebenden Tiere, der benutzten Dinge, der Landschaft, der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und/oder politischen Umgebung, in denen das Bild aufgenommen wurde. Dabei soll der Kommentar wie eine Antwort auf Fragen formuliert sein, die sich durch die Bildbeschreibung stellen lassen. Außerdem kann er sich mit persönlichen Vorurteilen und dem postkolonialen Einflüssen auf die eigene Wahrnehmung auseinandersetzen.7
Menschen-Zeiten-Räume – Arbeitsbuch für Gesellschaftslehre – Differenzierende Ausgabe NordrheinWestfalen – Band 2: 7./8. Schuljahr – 2013
Menschen-Zeiten-Räume – Arbeitsbuch für Gesellschaftslehre – Differenzierende Ausgabe NordrheinWestfalen – Band 3: 9./10. Schuljahr – 2013
Forum Geschichte – Neue Ausgabe – Gymnasium Bayern – 8. Jahrgangsstufe – 2020
Horizonte – Geschichte für Gymnasium in Berlin und Brandenburg – Schülerband 9 – 2018
Geschichte und Geschehen 7/8. Ausgabe Gymnasium in Berlin und Brandenburg – 2017
Biografie
ANINA GÖPEL ist ausgebildete Lehrerin für die Fächer Pädagogik, Psychologie und Kunst. Derzeit ist sie als Kunstlehrkraft am Gymnasium tätig. An der Hochschule für Grafik und Buchkunst ist sie im Zweitstudium Medienkunst eingeschrieben. Ihre Forschungsinteressen liegen im Verlernen hegemonialer Strukturen und der Entwicklungspsychologie. Dabei nutzt sie für ihre künstlerische Praxis neben dem artistic research und der konzeptuellen Installation auch digitale Medien wie 3D-Drucke und Videoarbeiten.
HINWEIS: In diesem Beitrag geht es um sexualisierte Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.
Die Installaton Gräuel stellt die drängende Frage nach dem Wegsehen, Weghören und Wegwischen als Schutzmechanismus vor dem Abgrund menschlichen Verhaltens. Sie verwendet eine vielschichtige künstlerische Codierung, um das Unfassbare greifbar zu machen, um ein Hinsehen zu ermöglichen, ein Zusammenzucken, ein möglicherweise flüchtiges Verstehen – jedoch ohne Trost zu bieten. Sie setzt sich mit der Flut von Nachrichten, Artikeln, Tweets, Videos und Bildern auseinander, die die Gräueltaten der Hamas-Terroristen dokumentieren und unsere alltägliche Routine durchbrechen. Nachts, in der Dunkelheit unserer Gedanken, kehren sie zurück: die unfassbaren Worte, die unerträglichen Satzfragmente, die trotz ihrer Unbegreiflichkeit in unser Gedächtnis eindringen.
es sind die nachrichten, artikel und tweets, videos und bilder, immer wieder bilder, die von den gräueltaten der hamas-terroristen berichten und die alltäglichkeit und routine durchbrechen. gelesen, schockiert den kopf geschütteln, dann versucht zu vergessen.
doch nachts,
in der dunkelheit der gedanken,
kommen sie wieder die nicht-fassbaren wörter, die nicht zu ertragenden satzfragmente, die sich ob ihrer u-n-b-e-g-r-e-i-f-l-i-c-h-k-e-i-t einen weg in das gedächtnis verschaffen
massaker an frauen und kindern, blutige unterwäsche,
enthauptung von säuglingen, das böse, kein entkommen,
verstümmelungen, mit nägeln und anderen gegenständen in den genitalien, geschundene körper, hunderte, sexualisierte gewalt, akribisch geplant, noch während der terrorist sie
vergewaltigte, schoss er ihr in den kopf, abgeschnittene brüste, abgetrennte genitalien
verbrechen gegen die menschlichkeit
menschen
gegen menschen. menschen?
das wegsehen, weghören, wegwischen als schutz vor diesem abgrund menschlichen verhaltens?
eine künstlerische codierung, um auszuhalten, um ein hinsehen zu ermöglichen, ein zusammenzucken, ein glauben, vielleicht. kein trost.
Biografie
Geboren 1980 in Altenburg, studierte SUSANNE FRANZ Bildende Kunst und Geschichte an der Universität Leipzig (2000–2006). Sie arbeitete als Museumspädagogin für die Tübke-Stiftung Leipzig und als Galeristin in der Galerie Koenitz, Leipzig. Seit 2017 ist sie freischaffende Künstlerin und Kuratorin in Freiburg im Breisgau. Auszeichnungen und Stipendien umfassen ein Artist-in-Residence-Stipendium im Künstleratelier Nr. 5, Magdeburg (2023), sowie ein Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung für einen Aufenthalt in Warschau und Krakau, Polen (2004). Sie war Preisträgerin der Biennale für junge Kunst in Thüringen (2005). Zu ihren jüngsten Ausstellungen zählen „Im Osten zunehmend bewölkt“ (2023, Kunststiftung Siebeneichler, Altenburg), „Warten auf den Valentinstag“ (2022, dieHO-Galerie, Magdeburg), und das digitale Performance-Projekt „Missverstehen Sie mich richtig“ (2021–2020).
Themen der Sterblichkeit, Lebendigkeit, Trauer, aber auch Zuneigung werden in Barbara Hammers Kurzfilm Vital Signs (1991) durch eine abstrakte Montage aus einer Vielfalt an technischen und motivischen Bildern wirksam. Marius Hoffmann veranschaulicht in seiner Untersuchung, wie dieses Kunstwerk die Gefühle um den Tod nicht scharf von denen des Lebens trennt. Stattdessen legt es sie als etwas miteinander verwobenes, gar verqueertes offen. Denn es ist die unverforene, lesbisch-queere Ausdrucksstärke des Werkes, welche den Tod nicht als Spektakel präsentiert, sondern als komplexe Erfahrung anknüpfbar macht.
Vor leuchtend blauen Steintreppen tanzen ein Skelett und ein Mensch einen langsamen Walzer. Der Mensch beäugt das Skelett liebevoll, während dessen weißer Hochzeitsschleier im Wind ihrer Bewegungen weht. Ihre Körper sind geisterhaft ummantelt, sie sind von dem eigenen Abbild ihrer selbst überblendet. Im Hintergrund rauscht Satz Eins der Solovioline von Camille Saint-Saëns‘ Danse Macabre (1874). Bei dieser wunderlichen Komposition handelt es sich um die ersten sieben Sekunden des experimentellen Kurzfilms Vital Signs (1991) der US-amerikanischen Künstlerin Barbara Hammer (Abb. 1). Darin widmet sie sich über 09:41 Minuten dem Themenkomplex um Krankheit, Tod und Trauer. Sie tut dies auf populärkultureller und philosophischer, aber in erster Linie persönlicher Ebene.
Zusammenschnitte von intimen Szenen zwischen der Künstlerin und ihrer innerfilmischen Skelett-Partnerin alternieren mit Aufnahmen aus Krankenhäusern, Ausschnitten von Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour (1959), Material, das an Röntgenbilder erinnert, sowie Zelluloid-Folien, bedruckt mit Auszügen aus Michel Foucaults Die Geburt der Klinik (1963). In diesem Aufsatz verfolge ich die These, dass Vital Signs ein künstlerischer Kurzfilm ist, der zeigt, wie die meist im Dunkeln bleibenden Gefühle um Tod und Trauer kaum vom Leben und der Freude daran zu trennen sind. Statt einer Unterscheidung werden sie als miteinander verwoben, gar verqueert offengelegt: die unverfrorene, lesbisch-queere Ausdrucksstärke von Hammers Vital Signs, präsentiert den Tod nicht als Spektakel, sondern macht ihn als komplexe, menschliche Erfahrung anknüpfbar. Den Begriff queer verwende ich wie Natascha Frankenberg ihn beschreibt, als einen Begriff, dem das Potenzial der Kritik an normativen Strukturen und der Forderung nach deren Aufbruch innewohnt.1 Zunächst widme ich mich dem Medium Film und zeige mittels Laura Mulveys Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image (2006) und Barbara Hammers eigenem Essay zur Politik der Abstraktion (2018), weshalb es sich durch die inhärente Verknüpfung von Lebendigkeit und Tod dazu eignet, menschliche Erfahrungen mehr als nur darzustellen. Dann werden exemplarische Ausschnitte aus Vital Signs daraufhin untersucht, wie sie Leben und Tod in das Bewegtbild bringen, wozu Sarah Kellers Auseinandersetzung mit Barbara Hammers Arbeitsweise, Gesamtwerk und Erbe – Barbara Hammer. Pushing Out of the Frame (2021) – das Fundament bildet. Um abschließend das Politische dieses experimentellen Kurzfilms zu reflektieren, bietet Judith Butlers Feststellung in Gewalt, Trauer, Politik (2005) den Hintergrund, indem sie betont, dass die „[…] Orientierungslosigkeit der Trauer […] den Ausgangspunkt für ein neues Verständnis bilden [kann; MH], wenn die narzißtische [sic!] Sorge der Melancholie in Berücksichtigung der Verletzbarkeit von anderen umgemünzt werden kann.“2
Lebenszeichen 1 – Film und Rhythmus
Binnen Sekunden, nachdem das tanzende Paar auf der kolorierten Bildfläche erscheint, schneidet das Bild zu einem schwarzweißen Filmausschnitt, in dem ein Krankenhausbett den Flur entlang geschoben wird. Der akustische Danse Macabre wird durch das Flirren eines Tonbandes unterbrochen; lediglich ein unregelmäßiges Krächzen ist zu vernehmen. Mit schnellem Schnitt erscheint wieder das tanzende Paar und nach mehreren Runden des Walzers setzt auch das Musikstück klangvoll wieder ein. Sodann erscheint in weißen Lettern auf schwarzem Grund der Titel: Vital Signs – er zittert, als würde er projiziert werden.3
Schon in diesen ersten Sekunden ist zu erkennen: wir haben es hier mit einer Montage zu tun. Der 16mm Film ist auf Video zu sehen – eigentlich ist es sogar das Digitalisat dieser Übersetzung, auf welches ich mich beziehe.4 Die spezifischen Ästhetiken dieser verschiedenen Filmtechnologien schreiben sich in die Bilder von Vital Signs ein – sei es das Korn und das Ruckeln der 16mm-Aufnahmen von Krankenhausbetten, oder die langsame Zeilenschreibung, die sich beim Laden der digitalen Bilder im Film nachverfolgen lässt, wie es in den 1990er Jahren der Fall war. Es erscheint daher wie eine bewusste Entscheidung der Künstlerin, diese verschiedenen Ästhetiken zusammenzubringen. Sie machen den Kurzfilm als eine Montage sichtbar. So werden die fließenden Muster der Faszination, wie sie aus dem Mainstream Kinofilm noch heute bekannt sind, filmisch-strategisch unterbrochen und der zeitweilige Verlust des Selbstempfindens der Betrachtenden in einer störungsfreien Narration verhindert.5 Sie bleiben auf das Medium zurückgeworfen. Eine solche Strategie nutzt Hammer, um die Aktivität ihres Publikums beizubehalten und Interpretationen zu fordern, statt zu liefern.6
Für die Themen von Vital Signs ist dies von besonderer Bedeutung, denn wie Laura Mulvey beschreibt, sind Lebendigkeit und Tod inhärente Eigenschaften des Mediums Film, haben sie sich doch entlang seiner technischen Entwicklung aus der analogen Filmfotografie in die Ästhetik des Mediums eingebrannt.7 Das analoge Bewegtbild betrachtet sie daher als rhythmisierte Wiederbelebung der in die Zelluloidframes eingeschriebenen Personen und Erinnerungen, welche durch die Inbetriebnahme des Projektors auf eine Geschwindigkeit von zum Beispiel 24 Bildern pro Sekunde ermöglicht wird.8 Das Digitalbild, auf welches ich mich hier letztendlich beziehe, ist wiederum nicht auf einen chemisch-indexikalischen – das heißt spurenbasierten – Abdruck der Vergangenheit zurückzuführen, sondern mehr auf eine technologische Umwandlung des Abbildes von Lebendigem vor der Kamera in einen digitalen Code. So entsteht bei dem Screening von Digitalfilm erst auf der Projektionsfläche ein Bild; dieses scheint nicht durch den Körper der Filmrolle hindurch, sondern wird unaufhörlich durch computergesteuerte Pixel zusammengesetzt. Wird das Screening beendet, so verschwindet das Bild gänzlich. Was diese unterschiedlichen technischen Bilder im Dispositiv des institutionellen Filmscreenings vereint ist, dass ihr auf die Leinwand geworfenes Bild aus Lichtwellen besteht, die sie mit dem Projektionsapparat zu einem Korpus verbinden.9 Im Falle von Vital Signs‘ Digitalisat muss der Korpus des Films also etwas anders gedacht werden als bei einer physischen Filmrolle oder Videokassette. Wenn die Projektion des Digitalisats endet, verbleibt kein physisch mit Bildern beschriebener Filmkörper zurück – eine DVD oder ein USB-Stick weisen keine analog sichtbaren Spuren des Films mehr auf. Deshalb ist Vital Signs existenziell an die Illusion des Indexikalischen auf der Projektionsfläche gebunden.10 Für Mulvey bedeutet diese Illusion des Lebendigen des Films zugleich, dass er am Ende verstirbt.11Vital Signs ist demnach also nur so lange lebendig, wie der Film tatsächlich läuft; die Bilder sind dessen eigene Lebenszeichen.
Dass das Medium Film in seiner eigenen Ästhetik stets mit der Vergänglichkeit von Zeit selbst verknüpft ist, macht den Film zu einem Instrument, das die Vergänglichkeit von Momenten – und damit menschlicher Existenz – erfahrbar macht.12 Dieses Instrument wendet Barbara Hammer vielfältig an, wenn sie die Strategie der Montage wählt, bei dem unterschiedliche filmtechnische Bilder zusammenkommen. In ihrer Montage ergeben die filmtechnischen Spezifika, wie die Materialität der Zelluloidbilder oder das ‚Laden‘ der Digitalbilder, einen ästhetischen Rhythmus, der dem Fluss der Bilder selbst gleicht. Sie machen das Vergehen von Zeit beim Betrachten erfahrbar. Es überrascht an dieser Stelle nicht, dass Hammer für ihre experimentelle Arbeitsweise mit Film festhält, dass Form und Inhalt untrennbar sind.13 Während sie in ihren frühen Arbeiten der 1970er Jahre die Kamera wie ein Auge verwendet hat, um lebensnahe lesbische Repräsentation auf der Ebene des Bildes zu schaffen, verfolgt sie ab den 1980er Jahren abstrakte Formen des Filmens, um die Ausdrucksfähigkeit tiefer Emotionen im Film zu erforschen.14 In Vital Signs – eine Arbeit aus den 1990er Jahren – kommen diese Motivationen zusammen. Sarah Keller beobachtet bei Vital Signs, dass ihre Strategien aufeinandertreffen. Ein Beispiel dafür ist der medium close two-shot: eine Nahaufnahme zweier Figuren von Schulter bis Scheitel, der charakteristisch für Hammers intime Repräsentation von lesbischen Paaren aus den 1970ern ist; sie trifft auf den oft durch Farbigkeit auffälligen split screen. (Abb. 2).15 Zudem bedient sie sich der Technik des multicoloring, sowie der Verwischung und Verdopplung von Aufnahmen, die sie mit den Worten Kellers zu einem Mosaik der Bedeutungen montiert; das Bindemittel dieser ästhetischen Strategien und dem visuellen Inhalt seien die Fragen der Mortalität.16
Lebenszeichen 2 – Knochen, Musik, die Klinik und das Spektakel um den Tod
Rufen wir uns das Bild des tanzenden Paares – ein Skelett und ein Mensch – wieder in Erinnerung, wird schnell deutlich, wie Hammer den Ton für die Rezeption der beiden als Paar setzt, dessen intime Beziehung von dem Thema Tod gezeichnet ist (Abb. 1). Zuerst ist es das Skelett, das eine lange Tradition als mitunter vergeschlechtlichte Personifikation des Todes selbst referiert. Als blasse Frau, mit zugekniffenen Augen und dunklem Gewand beschreibt beispielsweise schon Cesare Ripa die Personifikation des Todes in seiner Version der Iconologia von 1645; darüber abgebildet ist ein Stich, der ein knochiges Wesen in schwerem Gewand mit Menschenmaske zeigt.17 Dass das Skelett als mitunter weiblich gelesene Personifikation des Todes verstanden werden kann, hat also Tradition.18 Jedoch entgegen einer solchen traditionsreichen Stereotypisierung des trägen und kränklichen Todes, setzt Hammer bereits in den ersten Sekunden dem Tod einen weißen Schleier auf und versetzt die Figur durch den Walzer mit einer menschlichen Figur in Bewegung. Diese kann ebenso weiblich gelesen werden. Es ist Barbara Hammer selbst, die eine Vermählung mit dem Skelett vollzieht. Hammer trägt ein lockeres dunkles Sakko und hat die rotbraune Kurzhaarfrisur in alle Richtungen gestylt.
Das Skelett wird hier durch den Schleier zwar als Partnerin inszeniert, es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es weder zeichnerisch animiert ist noch anderweitig eine Illusion der eigenständigen Bewegung besteht. Es bewegt sich lediglich durch Hammers Interaktion; die lebendige Erscheinung ist von ihrer Zuwendung abhängig. Diese Passivität des Skeletts könne als strategische, humoristische Enttäuschung der Erwartungshaltung einer romantischen Zweisamkeit seitens der Betrachtenden begriffen werden.19 Vielmehr ist es aber der morbide Humor, der sich aus der Differenz dieser beiden Figuren ergibt, der die Verknüpfung von zwischenmenschlicher Romantik und dem Tod herausfordert. Dieser Humor wird im Verlauf der Bildsequenzen in denen Hammer mit dem Skelett interagiert deutlicher, so scheitert sie beispielsweise daran, das Skelett mit Spaghetti zu füttern.20 Sogar die Aufnahmen ihrer lustvollen Interaktionen begleitet dieser morbide Humor.21 Hetero- (und homo)normative Vorstellungen von Liebe – darunter die Idealisierung der Ehe als Inbegriff des Glücks, gar des Lebens selbst – fungieren in der westlichen Gesellschaft als existenzielle Marker eines glücklichen Lebens.22 Wenn auch die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA erst 2015 bundesweit für zulässig erklärt wurde,23 scheint Barbara Hammer schon 1991 diese Vorstellung durch ihre morbid-humoristische Inszenierung des ungleichen, freimütig queeren Ehepaares auf den Arm zu nehmen. Sie reiht sich damit in einen regen Austausch der Queer Theory über die Auswirkungen der Normativität von gleichgeschlechtlicher Ehe ein.24
Hammers Queering des heteronormativen Charakters der Ehe innerhalb der westlichen Gesellschaft wird durch die in Vital Signs immer wieder einsetzenden (und vor dem ersten Höhepunkt abbrechenden) Violine des Danse Macabre (1874) pointiert. Das Stück basiert auf einem Gedicht von Henri Cazalis, welches zuerst 1872 durch Saint-Saëns vertont und dann 1874 als reines Musikstück umgeschrieben wurde; darin beschreibt der Text die sexuelle Hingabe zweier vermutlich verstorbener, heterosexueller Menschen aus unterschiedlichen Klassen im Dunkel der Nacht und in der ausformulierten ‚Gleichheit‘ im Tode.25 In Vital Signs inszeniert die unaufhörliche Wiederholung des Anfangs und Abbruchs dieses musikalischen Totentanzes die Verknüpfung von Leben und Tod, die nicht aufgelöst werden kann. Rufen wir uns in Erinnerung, dass das Skelett von der Zuwendung Hammers abhängig ist, wird klar, dass letztendlich sie durch ihre Zuneigung als treibende Kraft die Narration einer romantischen Beziehung in Vital Signs aufrechterhält, ohne dabei einer typischen narrativen Erfüllung von Zuneigung in gegenseitiger Zuwendung oder endgültigem Tod nachzugeben. Im letzten Drittel der Montage kehrt das tanzende Paar wieder auf den Bildschirm zurück. Hammer, die das Skelett auf beiden Armen trägt, geht in die Knie und die Worte „For when she dieth“26 werden dem Bild überblendet. Selbst hier gegen Ende der Narration des Tanzes bleibt durch die Koexistenz der beiden Körper vieldeutig, ob und weshalb nun das Skelett verstirbt, oder stattdessen über den Kontext ihrer Beziehung die Sterblichkeit des lebendigen Körpers thematisiert wird.
Im Gesamtverlauf von Vital Signs folgen mehrere Sequenzen dem Bild von Intimität, das direkt nach der Titelkarte des Films etabliert wird. Noch bei schwarzem Bild leitet eine Stimme aus dem Off ein: „Say… something; something fell off the… uh… ventilator, and it‘s starting to make those sounds…“.27 Bei der Hälfte des Satzes erscheint ein Standbild im medium close two-shot in welchem Hammer auf mehreren, unterschiedlich kolorierten Bildebenen ihren Kopf auf der Schulter des Skeletts ablegt, dieses liebevoll anblickt, oder sich zu einem Wangenkuss reckt (Abb. 2). Am Schlüsselbein des Skeletts prangt ein ausgefranster Papierfetzen mit der Aufschrift „Something Wild.“28 Deutlich ist, dass das Skelett durch das Schriftstück als Something identifiziert wird. Hammers Zuneigung drückt sich in ihrer vervielfachten Körpersprache aus, wobei die Vervielfachung dazu führt, dass binnen weniger Sekunden der Einblick in einen längeren erzählerischen Zeitraum gewonnen werden kann. Während im ersten Filmstill dieser Art noch die Unterschiedlichkeit der Figuren dominiert, so scheint mit der Zeit diese Differenz zu verschwinden. Es folgen immer wieder weitere Standbilder dieser Art, die eine multikolorierte Vielbildlichkeit aufweisen. Häufig zeigen sie gleiche Körperteile des Skeletts und Hammers nebeneinander und/oder bildtechnisch überlagert. So wird ein Vergleich zwischen dem lebenden und dem ‚toten‘ Körper suggeriert, wobei auf Dauer auch ihre Gemeinsamkeiten auffallen. Anders formuliert: es scheint, als böte sich ein Einblick in das Innere des Körpers dar (Abb. 3). Die Montagen lassen die Grenzen zwischen beiden Körpern verschwimmen und ermöglichen damit die Wahrnehmung, dass sie durch mehr als ihre Interaktion verbunden sind.
Tatsächlich ist Vital Signs Teil eines experimentellen Filmtrios. Dem Film von 1991 gehen die Filme Sanctus (1990) und Dr. Watson’s X-Rays (1990) voraus, in denen Hammer auf unterschiedliche Weise der Erforschung des Körper-Inneren durch Röntgenbilder auf die Spur geht. Während sie in Sanctus (1990) mit dem found footage Material der Cinefluography (bewegte Röntgenbilder) von James Sibley Watson und Sydney Weinbergarbeitet, geht sie in Dr. Watson’s X-Rays (1990) der Entstehung und der medizinischen sowie ästhetischen Motivation dieses Materials auf experimentell-dokumentarische Weise auf den Grund.29 Wenn sie zuvor noch das bewegte Röntgenbild selbst in ihren Film eingearbeitet hat, nähert sie sich bei Vital Signs seiner beweisartigen Ästhetik auf experimentelle Weise und erweitert sie um zeitgenössische Referenzen. So zeigt sie multikolorierte Bilder von Knochen neben und über Bilder von Körpern; sie erzeugt schattenhafte Körperumrisse und -überblendungen; eingesetzte Papierfragmente oder digitale Textfelder mit Worten wie Epidemic liefern medizinische Kontextualisierungsansätze, bleiben jedoch uneindeutig. Hammer reproduziert eine medizintechnologische Ästhetik der 1990er Jahre, indem sie die schrittweise Zeilenschreibung beim Laden digitaler Bilder auf Röhrenbildschirmen abbildet.30
Diese Ästhetik wird hervorgehoben, indem Aufnahmen aus der Klinik, in welcher Hammers Vater verstarb mit den Körperbildern intervenieren (Abb. 4).31 Während Assoziationen zu den Bedingungen um den Körper und dessen Sterblichkeit im klinischen Kontext gefördert werden, verstärken die Hammers früherem Realismus entsprechenden Krankenhausaufnahmen die Lebensnähe des Films.32 Auf der Tonspur werden diese Bilder neben dem fortwährend unregelmäßigem Danse Macabre-Fragment auch durch technisches Rauschen und Piepen, sowie einer eintönigen Stimme begleitet, die Zahlen wie medizinische Werte eines Körpers aufsagt. Das unablässige Alternieren der verschiedenen Motivgruppen macht eine völlige Auflösung der hier angeführten Untersuchungen zu einem abgeschlossenen Narrativ durch die Betrachtenden jedoch unmöglich.
Neben der persönlichen Referenz auf den Verlust ihres Vaters, finden sich in der Montage von Vital Signs weitere Bilder, die Anschlüsse an kulturelle und gesellschaftliche Geschehnisse des späten 20. Jahrhunderts ermöglichen.33 Sie decken weitere Marginalisierungen der Körper in Vital Signs – wie es die lesbische Beziehung zwischen dem Skelett und der Künstlerin offenkundig bereits tut. Einerseits überträgt Hammer Auszüge von Michel Foucaults Die Geburt der Klinik (1963) auf Zelluloidfilm und bringt diese mittels Durchleuchtung in das digitale Bild. Textstellen in denen Foucault die Sichtbarkeit von kranken Körpern beschreibt hebt sie hervor, indem sie den Film um die Worte herum zum Beispiel aussticht; an anderer Stelle schwärzt sie den umliegenden Text und spart lediglich die Passage in der Foucault die Verknüpfung von Krankheit und Spektakel beschreibt aus.34 Für Sarah Keller zeigt dies die Verarbeitung von theoretischem Wissen um die diskursive Konstruktion von gesunden Körpern, während im Zuge dessen erkrankende Körper zum Spektakel würden.35 Auf dieselbe Weise bringe Hammer mit der Schrift Foucaults, der selbst an einer HIV-Infektion verstorben ist, auf doppelte Weise die Macht der medizinischen Institution über die Bestimmung von zu rettenden Körpern ins Bild, ohne ausschließlichen Bezug auf die AIDS-Epidemie.36 Dass Hammer im Abspann eine Widmung an ihren verstorbenen Vater John Wilbert Hammer, sowie die verstorbenen Curt McDowell (befreundeter queerer Filmemacher) und Vito Russo (befreundeter queerer Autor) offenbart – beide Letzteren starben infolge einer HIV-Infektion – betont die Verschränkung von historischem und persönlichem Erleben des Todes vielfältig marginalisierter Körper, sowie die Trauer um diese.37
„Verlust und Verletzbarkeit ergeben sich offenbar daraus, daß [sic!] wir sozial verfaßte [sic!] Körper sind: an andere gebunden und gefährdet, diese Bindungen zu verlieren, ungeschützt gegenüber anderen und durch Gewalt gefährdet aufgrund dieser Ungeschütztheit“38, schreibt Judith Butler zur politischen Kondition des Körpers. Hammers Filmzitate aus Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour (1959) stellen eine populärkulturelle Verbildlichung und damit das inszenierte Spektakel von Kriegsopfern dar – ihre latente Bedeutungsebene ist die der Gewalt. In Hiroshima, mon amour sind die hospitalisierten Körper der Japaner:innen nicht nur durch Krankheit marginalisierte Körper, sondern auch narratorisch marginale Figuren, welche schlicht der Entwicklung der Geschichte der französischen Hauptfigur dienen, wobei die Hospitalisierungssituation Ausdruck ihres Opfercharakters sei, so Sandrine Sanos.39 Dass sich Hammer bei dem Zitieren aus diesem Film nahezu ausschließlich auf diese Körper konzentriert, hebt ihre Verletzung durch Gewalt, ihre Verletzbarkeit hervor. So blickt zum Beispiel eine japanische Frau, die in Folge des Atombombenabwurfs über Hiroshima im Krankenhausbett sitzt, von ihrem Buch auf und schaut direkt in die Kamera; sie konfrontiert.40 Judith Butler verfasst, dass die Wahrnehmung und Anerkennung der Verletzbarkeit von Körpern kein selbstverständlicher Akt sei – wie könne sonst kriegerische Gewalt ethisch gerechtfertigt werden – deshalb aber sei die durch Sprache oder andere Handlung ausgeführte Anerkennung von Verletzbarkeit ein unerlässlicher Akt für die Anerkennung des Menschlichen.41 Einen solchen Akt der Anerkennung vollzieht Hammer in Vital Signs und macht sie durch ihren experimentellen Kurzfilm vielfältig sichtbar, darüber hinaus wahrnehmbar und anschlussfähig.
Es zeigt sich, dass es nicht nur die Körper der Künstlerin und des Skeletts sind, welche die Konventionen um zwischenmenschliche Erfahrungen von Zuneigungen und Tod herausfordern – also queeren – sondern bereits das Medium des Experimentalfilm selbst macht diese inhaltliche Thematik von Mortalität auf vielfache, verquickte und insbesondere unabgeschlossene Weise erfahrbar. Da Sichtbarkeit von schweren und komplexen queeren Lebenserfahrungen als (historische) Ressource für eine queere Gemeinschaft dienen, plädiert Heather Love in ihrem Aufsatz Compulsory Happiness and Queer Existence (2007) für ihren Erhalt.42 Indem Barbara Hammer in Vital Signs das beschriebene Mosaik an persönlichen, popkulturellen und historischen Bildern um die Themen Liebe, Körper, Tod und Trauer eröffnet, schafft sie eine solche Ressource. Es ist besonders zu betonen, dass sie dabei merklich von ihrer eigenen lesbischen Lebenserfahrung ausgeht und diese in den Kurzfilm einfließen lässt. Tod und Trauer werden gleichwertig der Zuneigung als Teil der menschlichen Erfahrung von Leben inszeniert, wobei queere und marginalisierte Körper in den anschlussfähigen Motivgruppen explizit und – erinnern wir uns an den morbiden Humor – unverfroren eingeschlossen werden.
Eingangs zitiert stellt Judith Butler in Gewalt, Trauer, Politik (2005) fest, dass die „[…] Orientierungslosigkeit der Trauer […] den Ausgangspunkt für ein neues Verständnis bilden [kann; MH], wenn die narzißtische [sic!] Sorge der Melancholie in Berücksichtigung der Verletzbarkeit von anderen umgemünzt werden kann.“43 In Anbetracht dessen, dass die experimentelle Montage in Vital Signs stets zu einem Abbruch und Neustart von Narrationen um Tod und Trauer führen und die Betrachtenden mit dem Vergehen der Zeit ohne klare Orientierung zurücklassen, wird aktive Reflektion unumgänglich. Anders lässt sich eine Frage wie Was bedeuten diese Fragmente (für mich)? nicht erschließen. Essenziell ist dabei jedoch, dass die Bilder von romantischer Liebe, intimer Zuneigung, Krankheit und Tod miteinander immerzu verwoben werden. Keine zeitliche Abfolge lässt sie zu einer kongruenten Narration verbinden. Die stete Wiederholung der Motivgruppen, sowie die immerzu mögliche technische ‚Wiederbelebung‘ der Bilder über den Neustart des Films sind die (Un)Konstanten, welche Reflexionen über die Vielschichtigkeit der menschlichen Erfahrung darbieten. Dem Verständnis von Butler und Love entsprechend ist Vital Signs dahereine Ressource für die Reflektion über die Vielfalt an verletzlichen, menschlichen Existenzen. Ihre verletzlichen alternierenden Rhythmen sind die titelgebenden Vital Signs.
Biografie
MARIUS HOFFMANN studiert seit 2022 Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwartan der Ruhr-Universität Bochum, wo er zudem als wissenschaftliche Hilfskraft im musealen Bereich und der Forschung mit einem Schwerpunkt in der Kultur- und Geschlechtergeschichte arbeitet. An der RUB beschloss er zuvor seinen B.A. in Kunstgeschichte und Medienwissenschaften mit einer Arbeit zu Fluidität als Identitätsverhandlung in der Performance-Kunst von caner teker. Zurzeit lassen ihn Thematiken der institutionalisierten Identitäts- und Erinnerungspolitik nicht los. Erst im Mai 2024 erschien sein kritischer Aufsatz Modus Kontaktzone: die Neuerfindung des GRASSI Museums für Völkerkunde zu Leipzig in GA2. Kunstgeschichtliches Journal für studentische Kritik und Forschung.
Fußnoten
Vgl.: Natascha Frankenberg: Wann und wo wird queerer Film gewesen sein? Keine Coming-Of-Age Geschichte, in: Dagmar Brunow und Simon Dickel (Hrsg.): Queer Cinema, Mainz 2018, S. 198-218, hier: S. 200. ↩︎
Judith Butler: Gewalt, Trauer, Politik, in: dies (Hrsg.): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main (2005 [2004]), S. 36-68, hier: S. 47. ↩︎
Siehe hierzu: 00:00-00:28 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Für die Verfügbarkeit des Digitalisats danke ich Karl McCool von der Electronic Arts Intermix, in deren Archivbeständen die Arbeit verortet ist. Siehe hierzu URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Ich setze hier das projizierte Screening im dunklen Kinosaal als Rezeptionsraum für Vital Signs, wie zum Beispiel bei einem institutionellen Filmscreening im Museum oder einem Filmfestival voraus, da dies den Regelfall für die Rezeption von Hammers Filmen darstellt. Und so zitiere ich hier in Anlehnung an den Kinofilm Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino,in: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, 4. Auflg. Stuttgart 2001, S. 389-408, hier: S. 395. Weiterführend zum kinematografischen Dispositiv – dem Rezeptionsrahmen des Kinofilms gilt: Jean Baudry: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Robert F: Riesinger (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte (Film und Medien in der Diskussion 11), Münster 2003, S. 41-62, besonders S. 45, Fußnote 3.↩︎
Vgl. Barbara Hammer: Politik der Abstraktion, in: Dagmar Brunow und Simon Dickel (Hrsg.): Queer Cinema, Mainz 2018, S. 219-225, hier: S. 224. Das englische Original erschien erstmals 1993 als The Politics of Abstraction in: Martha Gever, Prathiba Parmar und John Greyson (Hrsg.): Queer Looks: Perspectives on Lesbian and Gay Film and Video, New York 1993, S. 70-75. ↩︎
Vgl.: Laura Mulvey: Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London 2006, S. 17 f. ↩︎
Vgl.: ebd., S. 68-71. Die Bedeutung der Pausierung in Mulveys Theorie führt an dieser Stelle zu weit. Jedoch verfasst Maria Walsh eine interessante Kritik an Mulveys Herangehensweise, der an dieser Stelle bedacht wird, aber leider nicht weiterverfolgt werden kann. Sie schreibt: „Curiously, Mulvey’s thesis in Death 24x a Second, whereby the viewer can now subject cinematic time to delay, resurrects fetishism [herv. MH] as a new and radical mode of spectatorship. […] the ramifications of proffering fetishism as a new mode of spectatorship and claiming that spectatorship itself is feminized in the resurgence of the still image in the digital need to be thought through a bit further.” Maria Walsh: Against Fetishism: The Moving Quiescence of Life 24 Frames a Second, in: Film Philosophy 10.2 (2006), S. 1-10, hier S. 3-4; URL: http://www.film-philosophy.com/2006v10n2/walsh.pdf (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Vgl.: Hammer 2018, S. 222 f. Für eine vollständige Übersicht des sich über fünf Dekaden entwickelnden Gesamtwerks von Barbara Hammer siehe auch: Sarah Keller: Barbara Hammer. Pushing Out of the Frame (Queer Screens), Detroit 2021. ↩︎
Vgl.: Sarah Keller: Barbara Hammer. Pushing Out of the Frame (Queer Screens), Detroit 2021, S. 104. ↩︎
Ich mahne hier an, dass das Skelett abgesehen von dem kulturell kodierenden Schleier kaum ohne weiteres lesbare Marker von Geschlechtsidentität aufweist, die nicht in der Interaktion zwischen beiden angelegt sind; es lohnt sich an anderer Stelle weiterzuverfolgen, inwiefern das Skelett auf diese Weise das Thema Geschlechtsidentität in Vital Signs von einer binären und essentialistischen Vorstellung lösen könnte. ↩︎
Vgl.: ebd., Siehe hierzu: 04:54-05:09 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Siehe hierzu: 05:36-05:40 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Vgl.: Heather Love: Compulsory Happiness and Queer Existence, in: New Formations. A Journal of Culture / Theory / Politics 63 (2007), S. 52-64, hier: S. 53 f. ↩︎
Hierzu kann Folgendes als weiterführendes Beispiel des Diskurses betrachtet werden: Michael Warner: The Trouble with Normal. Sex, Politics and the Ethics of Queer Life, Cambridge 2000. ↩︎
Übersetzung MH: „Denn wenn sie stirbt.“ Siehe hierzu: 07:24-07:42 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Übersetzung MH: „Sag… etwas; etwas falle von dem… uh… Ventilator herab, und es fängt an diese Geräusche von sich zu geben.“ Siehe hierzu: 00:22-00:28 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Übersetzung MH: „Etwas Wildes.“ Siehe hierzu: 00:25 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Siehe hierzu beispielhaft: 03:31-04:05 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Siehe hierzu beispielhaft: 02:41-02:51 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Siehe hierzu beispielhaft: 00:55-01:00 Min. und 01:16-01:22 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
Vgl.: Sandrine Sanos: ‘My Body was Aflame with His Memory’: War, Gender and Colonial Ghosts in Hiroshima mon amour (1959), in: Gender & History Band 28/Heft 3 (2016), S. 728–753, hier: S. 740+742 f, https://doi.org/10.1111/1468-0424.12247 (letzter Zugriff 05.06.2024). ↩︎
Vgl.: Keller 2021, S. 104. Siehe hierzu : 00:28-00:30 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
In seinem Aufsatz schlägt Mika Hannes Denke einen alternativen Blick auf Ferdinand Hodlers 1890 entstandenes Werk Die Nacht vor, welcher die Unbestimmtheit der verhüllten Gestalt des Todes nicht zu negieren versucht, sondern von dieser ausgeht und mit ihr arbeitet. Unter Heranziehung verschiedener Beispiele des Sujets bezieht er sich dabei auf die Ebene der Deutung der Darstellung, welche die Integrität der Leerstelle bewahrt und stellt Hodlers Auseinandersetzung und Verbildlichung des Todes als für moderne, wissenschaftlich gesinnte und weniger streng gläubige Betrachtende, denen der Tod in weniger visuell definierter Art begegnet, als besonders zugänglich und Identifizierbar heraus.
„Sie ist nicht ein Gegenstand mir gegenüber, sie umhüllt mich, sie durchdringt alle meine Sinne, sie erstickt meine Erinnerungen, sie löscht beinah meine persönliche Identität aus.“1
– Maurice Merleau-Ponty über die Nacht
1890 schuf der Schweizer Maler Ferdinand Hodler das erste seiner Schicksalsbilder, einer Reihe von in Format und Thematik monumentalen Gemälden. In Die Nacht (Abb. 1) thematisiert Hodler den Tod, nicht intim und dokumentarisch, wie er es 20 Jahre später, mit den Porträts seiner sterbenden Partnerin Valentine Godé- Darel tun sollte, sondern überpersönlich und überzeitlich.
Im ans Panorama grenzenden Querformat erstreckt sich eine helle Steinlandschaft durch das Gemälde. In diesem sind schlafende Menschen, einzeln oder in kleinen Gruppen, insgesamt acht an der Zahl, zu erkennen. Allesamt sind sie nackt, allesamt nur von den gleichen schwarzen Tüchern bedeckt. Keiner von den Ruhenden scheint sich an der Konfrontation zu stören, die in ihrer Mitte stattfindet. Dort befindet sich die einzig wache Figur, deren Gefühlslage so gar nicht der der friedlich Schlummernden entspricht. Mit einer Miene des Schreckens schaut er an sich hinab, denn unter dem schwarzen Tuch kauert eine Gestalt auf seinem Oberkörper. Diese scheint die gesamte Dunkelheit aus der merkwürdig hellen Nacht gesogen und in sich aufgenommen zu haben. Das Wesen ist gänzlich verhüllt und was es ist oder was es tut lässt sich nicht ausmachen. Zwar ist der Mann möglicherweise im Begriff, das Mysterium zu lüften, indem er den schwarzen Schleier herunterzieht, im Moment der Darstellung ist dies jedoch noch nicht geschehen. Für den Mann, wie für uns als Betrachtende, bleibt die Leerstelle, welche die Figur verkörpert, intakt. Während diese Leerstelle in Form der Darstellung besteht, verrät uns eine Inschrift auf der Rückseite des Werkes etwas über die Bedeutung der Figur. Dort heißt es : „Manch einer, der sich am Abend ruhig hingelegt hat, erwacht am nächsten Morgen nicht mehr.“2 Diese Kreatur, die die Dunkelheit der Nacht anzuziehen scheint, lässt sich also als Darstellung des Todes verstehen. Geht man von dieser Deutung aus, dann stellt sich die Frage, inwiefern die Verbildlichung des Todes als Leerstelle, Parallelen zu der gelebten Beziehung der Betrachtenden zum Tod aufweist. Um dieser Frage nachzugehen, soll zunächst das Konzept der Leerstelle genauer untersucht werden.
Die Leerstelle
Die Unbestimmtheit als konstitutives Element des Kunstwerkes ist kein neues Konzept. Schon im kunstphilosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts wurde sie als solches identifiziert.3 Von Künstler:innen bewusst eingesetzt wurde sie sogar schon deutlich früher. Man denke etwa an Caravaggios Darstellungen von christlichen Heiligen und griechischen Göttern, welche zugleich als Trunkenbolde oder senile alte Männer auftreten. Die autologische Bezeichnung „Unbestimmtheit“ wird je nach Diskurs durch andere, teilweise präzisere, teilweise synonyme oder sich in der Bedeutung überlappende Begriffe ersetzt. Heute weit verbreitet sind auch Bezeichnungen wie Ambiguität oder Mehrdeutigkeit. Im Folgenden soll sich vor allem auf Wolfgang Kemps ursprünglich aus der Literaturwissenschaft von Wolfgang Iser entlehntem Konzept der Leerstelle berufen werden, damit vereinbare Ideen zur Unbestimmtheit unter anderem Namen, sollen dabei jedoch nicht außen vor gelassen werden. Eine Leerstelle ist ein Punkt fokussierter Unbestimmtheit, die den Betrachtenden zur zweifelsfreien Deutung nötige Informationen vorenthält. Damit unterscheidet sie sich beispielsweise von der Art der Ambiguität, die jedem Kunstwerk allein dadurch innewohnt, dass es zugleich als ein materieller Gegenstand und als eine von diesem Gegenstand abstrahierte Bedeutung existiert. Als rezeptionsästhetisches Konzept ist in der Definition der Leerstelle zentral, dass diese sich gezielt an die Betrachtenden richtet, sie in das Werk einbindet.4 Dabei ist die Unbestimmtheit keine versehentlich abhanden gekommene oder vergessene Information, kein Defizit im negativen Sinne. Vielmehr ein „Produktiver Mangel“5 wie es GottfriedBoehm ausdrückt oder in Wolfgang Isers Worten „ausgesparte Anschließbarkeit“6. Leerstellen bereichern, sie geben den nötigen Raum, um das Werk im Werk fortzusetzen. Und dies geschieht in der Betrachtung. Nach Kemp ist das Werk sogar nur dann vollendet, wenn diese Art von letztem Produktionsschritt durch die Betrachtenden ausgeführt wird. Bei Kemp liest man daher „daß jedes Kunstwerk gezielt unvollendet ist, um sich im Betrachter zu vollenden.“7 Sowohl Michael Lüthy als auch Boehm sehen gerade in der Unbestimmtheit zudem das Potenzial für spezielle Formen der Erkenntnis, die sich nicht in rationalen Begrifflichkeiten fassen lassen oder diesen vorausgehen.8 Nur Unbestimmtheit kann Realitäten abbilden, in denen mehr als eine Antwort zur Zeit richtig ist oder Betrachtende in ihren unterschiedlichen, individuellen Erfahrungen ansprechen. Leerstellen sind also, so Kemp, nicht „Feind des selbstverständlichen Bildes“9, stattdessen können sie sogar zu dessen Verständnis beitragen. Leerstellen können sowohl die Funktion haben, die Betrachtenden zu involvieren als auch für die inhaltliche Deutung des Werkes eine zentrale Rolle spielen – Also zugleich Form und Inhalt, Stilmittel und Bedeutung sein.
Ein unbestimmtes Wesen
In Die Nacht findet man die größte Leerstelle, die eindeutigste Unbestimmtheit in der Gestalt des verhüllten Wesens in der Bildmitte. Dass es sich hierbei um eine Leerstelle handelt, wird schon durch die zwangsweise ungenaue Beschreibung des Dargestellten direkt ersichtlich. Was einem da begegnet, kann nur sehr vage als „Wesen“ oder „Gestalt“ beschrieben werden, da noch nicht einmal erkenntlich ist, ob es sich um einen Menschen, ein Tier oder etwas völlig anderes handelt. Man mag sich anhand der Form der Silhouette vielleicht vorstellen, dass da eine Kreatur auf dem Mann kniet oder kauert, vielleicht ähnlich dem Nachtmahr bei Füssli. Vielleicht denkt man auch wie Oskar Bätschmann an Gustave Moreau und die Sphinx, welche Ödipus bedrängt.10 Oder man sieht sie wie Mühlestein als „eine Art gespenstisches, leichenfressendes Wesen oder schwarz verhülltes Nachtweib.“11 Diese Assoziationen und Interpretationen sind die Produkte des „produktiven Mangels“. Ikonographisch zwar interessant, bedeuten sie aber immer auch ein Auflösen der Spannung, ein Ausfüllen der Leerstellen. Ich möchte einen alternativen Blick auf das Werk vorschlagen, welcher die Unbestimmtheit der Figur nicht zu negieren versucht, sondern mit dieser arbeitet. Für Ferdinand Hodler ist die Gestalt der Tod.12 Diese Aussage bezieht sich auf die Ebene der Deutung, nicht der Darstellung, sie bewahrt die Integrität der Leerstelle. Der Tod an sich wird nicht dargestellt, vielmehr wird er durch die Leere exemplifiziert. Dies wird noch deutlicher, wenn man herkömmlichere Darstellungsweisen dieses Sujets heranzieht.
Wird der Tod in der Kunst gezeigt, dann am häufigsten in seinen Folgen, in Form des sterbenden oder toten Körpers. Peter Paul Rubens malt das abgeschlagene Haupt einer Medusa, Jaques-Louis David den schlaffen Körpers Marats, unendlich viele Maler Christus am Kreuz. Aber dies ist eigentlich nicht der Tod selbst, sondern nur seine physische Spur, das, was übrigbleibt oder das, was bald nicht mehr sein wird. Wenn wir dem Tod in der Kunst nicht auf diese eigentlich indirekte Weise, sondern von Angesicht zu Angesicht begegnen, dann in der Regel, indem der Tod personifiziert und vermenschlicht wird. Am weitesten verbreitet ist dabei die Darstellung des Todes als belebtes Skelett. Dieser Darstellungsmodus entspringt dem Motiv des Totentanzes des Hochmittelalters13 und hat seitdem an Popularität nichts eingebüßt. Ubiquitär findet man ihn sowohl auf Kupferstichen Albrecht Dürers als auch in Disney Cartoons. In Hodlers erweitertem Kreis, stellt etwa Gustav Klimt den Tod auf diese Weise dar. Sein Gemälde Tod und Leben (1910/15) weist in der Figurenkonstellation starke Parallelen zu Die Nacht auf. Ebenfalls findet man hier die eine wache Figur im Meer der Schlafenden, welche als einzige den Tod wahrnimmt. Klimts Skelettmann scheint hier eine Persönlichkeit, ein Innenleben zu besitzen. Er erwidert den Blick der ihn betrachtenden Figur, lächelt sein Lächeln mit Zahnlücke und greift nach seinem Knüppel. Diese Darstellungsweise macht den Tod zu einer sichtbaren und sehenden, handelnden und intentionalen Figur. Sie macht ihn dem Menschen ähnlicher. Man kann versuchen diese Figur zu verstehen, vielleicht sogar mit ihr zu kommunizieren, zu verhandeln, ihr zu entgehen.
Die Darstellungsweise in Hodlers Bild unterscheidet sich hiervon grundlegend. Zwar wird dem Tod hier auch in gewisser Weise eine vage Form gegeben, der man vielleicht eine Handlungsfähigkeit unterstellen könnte, dies reicht aber nicht, um von einer Personifikation zu sprechen. Es werden keine Absichten oder Charaktereigenschaften dargestellt. Dem Mann in der Bildmitte, wie auch den Betrachtenden, wird keine Möglichkeit zur Kommunikation angeboten, der Blick prallt von der Dunkelheit ab.
Unerfahrbares zeigen
Die Form, die dem Tod gegeben wird, ist also die der Verhüllung, der Unbestimmtheit. Damit stellt es das gelebte Verhältnis des Menschen zum Tod sehr viel akkurater dar als jede Personifikation. Dieses definiert sich nämlich vor allem durch Unbestimmtheit. Sterben beziehungsweise tot sein ist eine Erfahrung, die in der Regel keine Künstlerin, kein Künstler und niemand unter den Betrachtenden jemals gemacht hat und die doch einen jeden erwartet. Käte Hamburger schreibt: „Der Tod kann niemals Erlebnis für uns werden“. Sie sieht es als Paradoxie, dass „wir nur als Lebende und Erlebende vom Tod wissen können, dass aber, wenn wir Tote sind, wir keine Lebenden und Erlebenden mehr sind.“14 Und dieses Erlebnis, welches noch keines ist und niemals eines werden wird, bildet Hodler in Form einer Leerstelle ab. Die Betrachtenden wissen, dass da etwas ist, etwas, was sich aber wie auch der Tod in unserer realen Erfahrung nur dunkel in seiner Unsichtbarkeit, in seiner Unerfahrbarkeit ausdrückt. Es geht bei diesem Werk also nicht darum, „Das Unergründliche sichtbar zu machen“, sondern es „Als Unsichtbares zu zeigen“15, wie Elisabeth Bronfen es ausdrückt. Die Dunkelheit, welche die Gestalt umgibt, ihr schwarzer Schleier, funktioniert wie die räumliche und zeitliche Beschränkung des Menschen, welche den Blick ins Jenseits versperrt. Ein Blick auf den Tod ist aus der Warte der Lebenden unmöglich. Die Betrachtenden können sich frei positionieren, es wird ihnen selbst überlassen, die Leerstelle in ihrer Imagination auszufüllen und damit aufzulösen und einen wie auch immer gearteten Gegenstand an ihre Stelle zu setzen oder die Ambiguität auszuhalten. Dies gleicht den Möglichkeiten des Umgangs mit dem eigenen Tod. Man kann ihm ein Gesicht und Namen geben, durch seinen Glauben die eigene Ungewissheit auslöschen oder auch nicht. Dabei ist ersteres für die meisten Menschen sehr viel ansprechender, wie der Erfolg der Religion als Bedeutungsgeberin und Erklärerin des Todes beweist. Aber es ist eine Sache, sich vorzustellen, was hinter dem schwarzen Schleier wartet, sogar daran zu glauben, die Antwort zu kennen, und eine andere, tatsächlich den Schleier herunterzuziehen.
Gestaltlosigkeit des Todes in der Moderne
Die Konzeption des Todes als Leerstelle, als dunkle Lücke ist ein Darstellungsmodus, der besonders für Betrachtende ab der Moderne von Relevanz ist. Diese sind nämlich, in höherem Maße als ihre Vorgänger, daran gewöhnt, über die Auslöser des Todes als unsichtbare Dinge nachzudenken. Während vor der Zeit der Mikrobiologie Krankheiten hauptsächlich als deren Symptome konzeptualisiert wurden, wissen wir heute von nicht mit dem bloßen Auge sichtbaren, todbringenden Bakterien, Viren und mutierenden Zellen. Auch die Feststellung des Todes einer anderen Person erfolgt mit der Zeit immer weniger über die direkte sinnliche Wahrnehmung. Die medizinische Todesdefinition hat sich vom Aussetzen der Atmung, über das Aussetzen des Herzschlages zum Aussetzen der Gehirnaktivität gewandelt. Während die ersten beiden Definitionen noch mehr oder weniger mit dem Sehsinn, dem Tastsinn oder dem Gehör nachzuvollziehen sind, wird dies bei Letzterem schwierig. Das Konzept des Hirntodes bedingt das Paradoxon eines Körpers, welcher von außen als lebendig, schlafend erfahren wird, in einem eigentlichen, wesensbestimmendem, aber unsichtbaren Sinne jedoch nicht mehr lebendig ist. Der Tod ist eingetroffen, lässt sich aber nicht mit den Sinnen, sondern nur mit medizintechnischen Instrumenten feststellen. Nicht nur hirntote, sondern auch gänzlich tote Körper werden in der modernen Gesellschaft verborgen. Durch die Institutionalisierung der Medizin und damit der Todesbekämpfung, sterben heute weniger Menschen zu Hause und mehr in Krankenhäusern.16 Auch durch den Bedeutungsverlust der Religion hat der Tod sein Gesicht verloren. In vielen Religionen und Mythologien gibt es Todesgötter oder andere Wesen, welche dem Menschen vor seinem Tod erscheinen, oder ihn sogar persönlich in das Totenreich führen. Der Skelettmann bietet hier in der visuellen Kultur als Symbol einen Ersatz, die meisten Menschen erwarten aber nicht tatsächlich einem belebten Skelett zu begegnen, wenn sie an der Schwelle zum Tode stehen. In der Moderne fehlt es an einer überzeugenden Formgebung des Todes, was die Darstellung des Todes als Leerstelle plausibler macht. Die Nacht ist demnach in mehrerer Hinsicht den modernen, wissenschaftlich gesinnten, atheistischen, oder zumindest weniger streng gläubigen Betrachtenden, denen der Tod in weniger visuell definierter Art begegnet, besonders zugänglich.
Eine überzeitliche Beziehung
Während dieser Darstellungsmodus also möglicherweise besonders mit den Erfahrungen der modernen Betrachtenden übereinstimmt, liegt ihm jedoch zugleich eine Überzeitlichkeit zugrunde, die an die Grundbedingungen des menschlichen Lebens anknüpft. Die oben thematisierte Unerfahrbarkeit des Todes stellt eine zeitunabhängige Konstante dar, welche noch nicht einmal nur für Menschen, sondern für alles Lebendige besteht. Von anderen Tieren, oder zumindest den meisten anderen, unterscheidet sich der Mensch lediglich im Wissen um den Tod. Eugen Fink schreibt: „Unter den vergänglichen Wesen hat der Mensch alleine den „bösen Blick“, – er sieht im Frühlingsprangen bereits die künftige winterliche Öde, in der Blüte den Verfall, in der Kraft die Schwäche, im Anfang schon den Untergang, im Leben schon den Tod.“17 Diesen Blick scheint, wie die Betrachtenden, auch der Mann in Hodlers Gemälde zu besitzen, er sieht seinen Tod vor sich, auch wenn dessen genaue Form ihm verborgen bleibt. Auch seine Reaktion auf das Erkennen des Todes, die Todesangst, ist überzeitlich. Die Urangst vor dem Sterben, welche aufgrund ihrer tiefen evolutionären Verwurzelung nicht von gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst wird.18 Nach Gion Condrau ist die Angst vor dem Tod eine „Grundform des menschlichen Existierens.“19 Die Zeitlosigkeit und Unveränderbarkeit in den Grundzügen der menschlichen Beziehung zum Tod drückt sich bei Hodler dadurch aus, dass der Bildinhalt sich nicht zeitlich einordnen lässt. Dies liegt vor allem am Fehlen von menschengemachten Objekten im Bild. Die Menschen sind allesamt nackt, sie tragen keine Kleidung, die sich einer Epoche zuordnen lässt. Um sie breitet sich nur eine öde Landschaft aus. Keine Technologien oder sonstige Objekte verweisen auf eine bestimmte Periode. Die Unbestimmtheit in der zeitlichen Einordnung erlaubt es Betrachtenden nicht, eine historisch distanzierte Position zur unbestimmten Figur des Todes und der von ihr ausgehenden Bedrohung einzunehmen. Weiter wird die Unumgänglichkeit des Todes durch die dunklen Tücher vermittelt, welche nicht nur den Mann in der Bildmitte bedecken, sondern auch alle anderen Figuren vermittelt. Es ist leicht sich vorzustellen, dass sich das Todeswesen im nächsten Augenblick auch unter der Decke einer/eines anderen Schlafenden manifestieren könnte und genauso könnte es sich bei den Betrachtenden ereignen.
Zwei Körper
Zuletzt soll es noch um zwei ineinandergreifende Aspekte der Inszenierung des Todes in Die Nacht gehen: die Körperlichkeit der Beziehung zwischen Mann und Tod und die Identifikation der Betrachtenden mit dem Mann. Trotz seiner Bedeutung als Leerstelle im Bild und seiner Unbestimmtheit der Form besitzt das verhüllte Wesen eine beachtliche Körperlichkeit. Es schwebt nicht als Wolke über dem Mann, sondern lastet mit einer ihm eigenen Schwere auf dessen nacktem Oberkörper. Der fremde, unbestimmte Körper ist dem Mann nicht nur nah, selbst zu sagen, dass er ihn bedrängt, erscheint noch untertrieben. Es ist nichts zwischen ihnen, was irgendeine Form von Distanz schafft. Aufgrund des Tuches fällt es schwer, überhaupt eine Grenze zwischen den beiden Körpern zu ziehen. Dem Tode nahe sein wird hier von einer temporalen auf eine physische Ebene verlagert. Und auch die Reaktion des Mannes auf diese nicht einvernehmlichen, zutiefst bedrohliche und angsterregende Nähe ist höchst physisch: Von den angespannten Muskeln, über die verkrampften Finger, zur von Angst verzerrter Mine. Es wurde bereits erläutert, wie die Betrachtenden durch die Leerstelle aktiviert werden und wie sie mit dieser, wie mit dem eigenen Tod, verfahren können. Noch intensiver wird die Einladung für den Betrachter am Bild teilzunehmen, in dieses einzutreten und damit auch selbst den Tod zu konfrontieren, durch die unweigerliche Identifikation der Betrachtenden mit der Figur des Mannes. Diese Identifikation ist ein in hohem Grade körperlicher Prozess. Der Mann in der Bildmitte ist die einzig sehende, fühlende und handelnde Figur im Bild und uns in der Betrachtung damit automatisch am ähnlichsten. Einzig er nimmt wie wir den Tod und die von ihm ausgehende Gefahr war. Die anderen Figuren schlafen und stehen damit nicht zur Identifikation zur Verfügung. Auch seine Reaktion auf das Gesehene ist nicht nur zutiefst körperlich, sondern für die Betrachtenden auch in ihrer starken Emotionalität zutiefst nachvollziehbar und damit nachfühlbar. Durch die Identifikation fühlen auch wir den Tod auf unserer Brust lasten. Auch wir fürchten er könnte, wie die Nacht bei Merleau-Ponty, uns „umhüllen“, „ersticken“ und schließlich „unsere Identität auslöschen“20
Biografie
MIKA HANNES DENKE absolvierte 2023 seinen Bachelor im Fach Kunstgeschichte an der Universität Düsseldorf. In seiner Abschlussarbeit über Ferdinand Hodler und Gustav Klimt beschäftigt er sich mit Darstellungen des Todes aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive. Seit 2023 studiert er im Master an der Universität Hamburg, wobei sein Fokus vor allem auf der Kunst des 19. Jahrhunderts, auf Methodenfragen und der Geschichte der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts liegt. Auch für die Frühe Neuzeit hegt Mika Hannes Denke ein großes Interesse.
In ihrem Aufsatz beschäftigt sich Paula Finsterbusch mit der spezifischen Bildsprache der Stillleben des spanischen Barockmalers Juan Sánchez Cotán. Der Künstler gestaltet stets dieselbe Fensternische mit unterschiedlich angeordneten vegetabilen Gegenständen. Als Besonderheit stellt sich hierbei heraus, dass die vordergründig angeordneten Objekte malerisch stark ausgeleuchtet werden, wobei sich der Hintergrund in einer nicht lokalisierbaren Dunkelheit verliert. Mithilfe verschiedener methodischer Ansätze versucht Paula Finsterbusch diese schwarzen Stellen innerhalb der Gemälde zu deuten und berücksichtigt dabei sowohl christliche Bezüge als auch biografische Wendepunkte aus dem Leben des Malers.
Wenn von barocken Gemälden die Rede ist, so wird häufig der meisterhafte Einsatz von Licht und Schatten assoziiert. Caravaggio, Rembrandt, Rubens, Vermeer – sie alle sind für ihre wirkungsvollen Hell-Dunkel-Kontraste bekannt. Ein ungewöhnlicher und oft unbeachteter Stilllebenmaler des Barock, der mit dem Tenebrismus, dem Maximum an Schatten, der Schwärze, gearbeitet hat, ist Juan Sánchez Cotán (1560 – 1627). Aufgrund der rückständigen sozialen Stellung und dem Ausbleiben höfischer, geschweige denn bürgerlicher Aufträge für spanische Maler, gerät die barocke Malerei Spaniens auf europäischer Ebene oft in den Hintergrund.1 Dennoch ist der toledische Maler international bekannt und gilt als einer der bedeutendsten Maler des spanischen Barocks. Diese Bekanntheit haben nicht seine religiösen Arbeiten bewirkt, sondern die säkularen Stillleben, seine Bodegones2, wie das vorliegende Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke (1602). All seine Stillleben folgen einem ähnlichen Muster und heben sich darin enorm von den niederländischen und italienischen ab: gewöhnliches Gemüse, Obst und ab und zu tote Jagdvögel werden in einer gemauerten Fensternische vor schwarzem Hintergrund präsentiert und stechen durch die starke Beleuchtung hervor. Die einzelnen Gegenstände sind nebeneinander, oft unverbunden, aufgereiht. Manche Elemente liegen, manche hängen. Trotz der scheinbaren Schlichtheit und Natürlichkeit ist nicht nur die Objektwahl symbolisch zu verstehen, auch die Schwärze in seinen Arbeiten verweist auf mehr als nur maximale Dunkelheit. Wie der Tenebrismus3 in den nur scheinbar gänzlich weltlichen Bildern des Malers, zusätzliche Sinnebenen erschließt und welche Bedeutung der Dunkelheit in dem Bildzusammenhang zukommt, wird im Folgenden näher beleuchtet.
Sowohl biografisch als auch künstlerisch ist Juan Sánchez Cotán herausragend. 1560 in Orgaz geboren, war er einer der ersten spanischen Stillleben-Maler, deren einzigartige Ästhetik bis heute Bewunderung hervorruft. Er lebte und wirkte in Toledo4, dem damalig führenden Zentrum des spanischen Humanismus als auch Zentrum der katholischen Kirche war. Eingeführt in das zu der Zeit neu aufkommende Sujet wurde er wahrscheinlich von seinem manieristischen Meister Blas de Prado (1545-1599), von dem selbst kein einziges Stillleben erhalten ist. In Toledo fertigte er zunächst Historiengemälde und Porträts an. Um die Jahrhundertwende widmete er sich auch den hier zu besprechenden Stillleben, deren starker Realismus sich enorm von seinen übrigen Bildern unterschied, die durch eher unaufgeregten Idealismus geprägt sind. Letzteren wird jeher weniger Beachtung geschenkt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Gegenstücken sind diese vor allem durch Strenge und Reduktion gekennzeichnet. Nahezu alle Stillleben haben eine ähnliche Größe, alle folgen denselben kompositorischen Grundmustern in derselben Fensternische, variieren lediglich in Anzahl und Anordnung der Lebensmittel, sie sind anspruchsvoll und fordern durch verschiedene Techniken der Illusion heraus.5 Dies verstärkt den Eindruck, dass seine Stillleben nicht für bestimmte Auftraggeber:innen angefertigt wurden – der experimentelle Charakter und die Innovation dieses neuen Sujets legt nahe, dass er sie für sich als Experiment, Erforschung und die Demonstration seines Könnens anfertigte.6 1603 gab der Künstler all seinen Besitz, auch sein Atelier und seine Bilder auf, um im Kloster Santa Maria de El Paular in Rascafría zu leben und ab 1612 in Grenada als Kartäusermönch zu leben. Im Kloster setzte er seine sakrale Malerei und religiösen Historien fort, bis er 1627 dort verstarb. Viele der nachfolgenden Stilllebenmaler:innen wurden durch seine innovativen Kompositionen inspiriert, deren Realismus sich auf das spätere 17. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht auswirkte.
Das vorliegende Bild Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke (1602) ist beschreibend für Sánchez Cotáns Bodegones und das wohl am meisten wahrgenommene. Verschiedenes Obst und Gemüse, hier eine hängende Quitte, ein ebenfalls hängender Kohlkopf, eine angeschnittene Melone samt herausgeschnittener Spalte und eine Gurke werden in einer steinernen Fensternische, die oft in spanischen Häusern als kühle Lagerungsmöglichkeit für Lebensmittel genutzt wurde, naturnah präsentiert. Die Gurke als auch die Melonenspalte ragen über die Mauer in den Betrachter:innenraum, und reihen sich in die Tradition der „Trompe-l’œuil“7 ein. Die Verbindung des Bildraumes mit dem der Betrachter:innen wird durch die hängenden Lebensmittel verstärkt. Sie werfen keine Schatten, trotz der von Lichtquelle ausgehenden Beleuchtung sind ihre Schlagschatten nicht erkennbar, was den Verdacht erhärtet, die Quitte und der Kohl seien in unserem Raum angebracht. Die Schnüre, offensichtlich im Betrachter:innenraum befestigt, erwecken die Illusion von Unmittelbarkeit. Die übliche Verfahrensweise, Lebensmittel aufzuhängen, wurde mit dem Ziel angewendet, den Prozess des Verrottens aufzuhalten. Visuelle, olfaktorische und gustatorische Sinne der Betrachter:innen werden durch den starken Illusionismus angesprochen, das gemalte Bild als solches geleugnet.8
Dieser Eindruck wird jedoch durch ein Element des Bildes erheblich gehemmt, das den Naturalismus aufhebt. Die Schwärze des Hintergrundes steht der Naturtreue gegenüber. Was in den Lebensmitteln im Vordergrund realistisch und täuschend echt dargestellt wurde, wird durch die maximale Dunkelheit verklärt. Trotz des hohen Beleuchtungsgrades und der offensichtlich starken Lichtquelle ist von Farbigkeit im Hintergrund keine Spur, die Dunkelheit wirkt bedingungslos unerklärlich. Im gleichen Moment, in dem Offenbarung versprochen wird, wird sie durch die maximale Dunkelheit dekonstruiert.9 Was durch die täuschende Genauigkeit von Obst und Gemüse offenbart wird, gerät durch die Schwärze in Unsicherheit. Die Isolierung jedes einzelnen Gegenstands wird durch die Schwärze maximiert und gibt der Szenerie eine theatralische, künstliche und inszenierte Anmutung, die der naturalistischen Darstellung der Objekte sowie der genauen Wiedergabe der Beleuchtungssituation entgegentritt. Die Illusion wird durch die präzise Wiedergabe, den meisterhaften Farbauftrag, den naturnahen Umgang mit Licht und vor allem durch die mathematisch genaue Kalkulation des Arrangements10 erreicht. Die Objekte stehen durch räumliche Übergänge in Verbindung. Sie werden durch die konstruierte Fensternische gerahmt und scheinen in klaren geometrisch exakt berechneten Hyperbeln positioniert. Die Reduktion des Bildgegenstandes und die Strenge des Aufbaus machen das Bild zeitlos und müssen auf die damaligen Betrachtenden geradezu modern und im Angesicht der Tiefe des Bildes nahezu meditativ gewirkt haben.11
Das Gemälde schafft es durch die Dunkelheit, dem Genre-Namen gerecht zu werden. Naturaleza muerta, spanisch für Stillleben, gibt mit muerta (spanisch für tot, leblos)12 bereits einen wichtigen Hinweis auf die Charakteristik, aber auch Widersprüchlichkeit, des Gemäldes des toledischen Malers. Die Dunkelheit des Hintergrundes verweist auf unberührte Leblosigkeit, kein Lichtstrahl, kein Lebewesen scheint sich in ihr zu verirren. Die Aufhängung und Positionierung der Lebensmittel verweisen auf die menschliche Aufbewahrung und Haltbarmachung der so überlebenswichtigen Nahrung, und auch andere Elemente des Bildes zeugen von der Anwesenheit menschlicher Personen. Auch wenn sie nicht zu sehen sind, gerät bei genauerer Betrachtung in den Blick, dass die Szene noch nicht lange menschenleer sein kann. Die Schnüre, an denen die Quitte und der Kohl aufgehängt sind, stehen nicht parallel zueinander. Die leichte Schieflage verweist auf Bewegung, auf die Abwesenheit, die vor kurzem aus Anwesenheit hervorgegangen ist. Mit dem Bewusstsein der Vergänglichkeit tritt Bewegung in das Bild. Nicht ganz parallel ausgerichtet zeugen sie von der Anwesenheit nicht sichtbarer Instanzen, von Lebendigem im Bild und konfrontieren Betrachter:innen gleichzeitig mit ihrer Gegenwärtigen Präsenz – das Bild suggeriert greifbare Nähe, die Melonenkerne rutschen triefend vom Fruchtfleisch, Stücke des aufgeschnittenen Obstes fehlen, die angeschnittene Scheibe ragt aus dem Bildraum heraus und lädt zum Konsum ein. Die Melonenscheibe daneben kann die Leerstellen nicht ausfüllen, mehrere Stücke scheinen bereits gegessen, das nächste liegt zum Genießen bereit. Das unbelebte Stillleben wirkt durch die zahlreichen Hinweise auf menschliche Anwesenheit nahezu lebendig und doch scheint die Leblosigkeit greifbar. Die Dunkelheit führt vor Augen, wie nahe die unendliche Stille, die ewige Nacht auch bei voller Lebendigkeit ist.
Diese Klarheit in der Komposition wird durch die Schwärze des Hintergrundes entscheidend herausgefordert. Sie setzt dem gerade noch Lebendigen eine ungewisse Stille entgegen, was gerade noch greifbar scheint, wird in unerklärliche Dunkelheit gehüllt. Die irritierende Ungewissheit über den Hintergrund verstärkt alle Geheimnisse des Bildes und komplementiert die Gegensätze des Lebens und des Bildes, die im Bildprogramm des Barocks verankert waren – Leben und Tod, Gut und Böse, Licht und Dunkelheit.
Die Stillleben Juan Sánchez Cotáns lediglich mit dem Hintergrund seiner Religiosität und seines später des Klosters verschriebenen Lebens zu deuten, wäre stark simplifiziert und würde der Komplexität seiner Arbeiten nicht gerecht. Dieser Aspekt kann jedoch nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Seine überschaubare Komposition und die Reduktion auf wenige Lebensmittel verleiten zu der Annahme der totalen Weltlichkeit – was bei genauerer Betrachtung hinterfragt werden muss.
Der Tenebrismus, die Aufteilung des vorliegenden Bildes in Schwärze und stark beleuchteten Lebensmitteln, wirft einige Fragen auf, die nur mithilfe des Hintergrundes der Epoche des Barock und dem Leben des ungewöhnlichen Malers beantwortet werden können. Die mathematisch hochakribische Komposition erscheint in der Tradition antiker Gestaltungsgrundlagen und Motive und gibt Aufschluss über die symbolischen Horizonte, in denen seine Stillleben zu lesen sind. Nicht nur die von Sanchez gewählte Lebensform verweist auf seine Verbindung zur Religiosität. Seine Kompositionen sind ernst, demütig präzise und naturnah gegenüber den Schöpfungen Gottes, als auch voll von Symboliken, die auf eine transzendentale Bedeutung verweisen.
Die höchste Frucht im Stillleben (Abb.1) ist die Quitte. Diese hat eine lange Tradition und wurde im antiken Griechenland bereits verehrt und der Göttin Venus und Aphrodite zugeschrieben.13 Sie gilt seit der Antike als Liebesfrucht und wird in einigen Regionen der Welt als die älteste Frucht anerkannt und sogar als Frucht der Versuchung anstelle des Apfels im Garten Eden angenommen.14 Der antike biblische Name für die Quitte lautet übersetzt „Goldener Apfel“, sie ist seit jeher mit hoher Bedeutung aufgeladen. Von der Quitte, der Frucht der Versuchung, ausgehend scheinen die Objekte hyperbolisch zu Fallen. Nach dem Verzehr der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis folgte der fall of men, die Ursünde der Menschen zog sowohl die Unheils- als auch die Heils- und Erlösungsgeschichte der Menschen und ihrer Welt nach sich, in Erwartung der Wiederkunft Christi, des Kommens des Messias.15 Dies wird in Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke, als mögliche Lesart des Bildes, durch die Frucht der Versuchung am Anfang und den Fall der Menschheit als exakte Hyperbel dargestellt – die Erbsünde der Menschen, in die jeder Nachkomme Adams hineingeboren wird. Von links nach rechts gelesen steht nach der Abwärtsbewegung der Objekte zum Schluss die Gurke und verweist in den Betrachter:innenraum, konfrontiert Sehende mit der eigenen Existenz in der Nachfolge der ersten Sünder. Sie verweist auf die Greifbarkeit und Übertragbarkeit der biblischen Geschichte ins Diesseits, die nicht endenden Versuchungen, die nicht endenden Sünden. Nicht nur die Anordnung und Auswahl der Früchte und Gemüse kann als visuelle Metaphorik des Sündenfalles des Menschen gelesen werden. Auch die Dunkelheit, die unnachgiebige Schwärze, die totale Abwesenheit des Lichtes zeugt von der Entfernung zu Gott, die unüberwindbar und kompromisslos scheint. Die erste Schöpfung Gottes, das Licht, macht sichtbar, welche Schönheit im irdischen Dasein verborgen liegt – deckt aber auch die Entfernung der Menschen zu Gott auf, verweist auf die begrenzte Macht der Menschen und führt ihnen die Versuchungen vor Augen. Die Schwärze, als ungewisse Dimension des Bildes, visualisiert die Offenheit und Unbestimmtheit der Geschichte in der Zukunft und die Geheimnishaftigkeit allmächtigen Handelns. Die maximale Dunkelheit in Juan Sanchez Cotáns Stillleben hebt die irdischen Elemente auf eine überirdische Ebene und komplettiert die zurückhaltende Symbolik des Gemäldes.
Mithilfe der fein ausgewählten Kunstmittel, der theatralischen Komposition und der illusorischen Malerei auf der einen Seite sowie der Verfremdung durch die unerklärbare Schwärze schafft Juan Sánchez Cotán es, ein so irdisches Sujet in ein sphärisches zu transformieren, ohne die Betrachter:innen mit offensichtlichem Pathos zu unterschätzen. Seine scheinbar simplen Stillleben sind durch Raffinesse und symbolische Bedeutungen von hoher Faszination und stellen die Betrachter:innen insbesondere in Bezug auf die Dunkelheit, als unergründbare Ebene des Bildes, vor ebenso viele unbeantwortete Fragen als auch vor Einladungen, sich als partizipierende und wahrnehmende Instanz zu verstehen.
In seinen Stillleben wird sowohl der im goldenen Zeitalter aufkommenden Naturwissenschaft durch die hochpräzise Kalkulation, als auch dem Glauben Rechnung getragen, indem subtil auf die Ebenen und Komponenten irdischen als auch sphärischen Daseins verwiesen wird. Symbolisch dafür wurde von ihm die Dunkelheit in seinen Werken verwendet. Die Schwärze kann sowohl im Hinblick auf barocke Motive, als auch auf die religiöse Weltsicht gedeutet werden und stattet das scheinbar simple, dennoch bedeutungsgeladene Gemälde mit einer Tiefe aus, die Betrachter:innen bis heute fasziniert. Die asketischen und beinahe avantgardistisch anmutenden Stillleben Sánchez Cotáns, finden, vor allem mit der tiefgreifenden Dunkelheit, Einzug in die Welt der sphärischen Dinge.16 Die monumentale und kompromisslose Klarheit, die seinen Arbeiten durch die reduzierte und mathematisch hochpräzise Anordnung seiner raffiniert ausgewählten Objekte vor maximaler Dunkelheit verliehen wird, machen sie zu herausragenden Arbeiten, die sich nicht auf die irdische Welt begrenzen lassen.
Biografie
PAULA FINSTERBUSCH studierte Deutsch und Kunst auf Lehramt an der Universität Greifswald. Sie ist zertifizierte Kunsttherapeutin. Derzeit studiert sie Kunstgeschichte im Master und arbeitet als Dozentin für Kunst- und Designgeschichte an der Designakademie Rostock sowie als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Capar-David-Friedrich-Instituts in Greifswald. Ihr wissenschaftlicher Fokus bezieht sich auf die barocke Stilllebenmalerei, den Künstler Caspar David Friedrich, Transhumanismus und Posthumanismus und die Digital Humanities in der Kunst.
Mit dem Serientitel sudden eternity bezieht sich Fotograf Caspar Sänger auf die Entstehung einer Fotografie, die im flüchtigen Moment der Aufnahme vermeintlich in die Ewigkeit eingeht. Gleichermaßen birgt diese plötzliche Ewigkeit auch ein Gefühl der Melancholie, verbindet man sie mit dem Moment, in dem man in die Leere blickend seinen Gedanken nachhängt. Für Sänger ist es die Gleichzeitigkeit von ambivalenten Gegebenheiten, die sich in der Fotografie verbinden, die das Medium für ihn so interessant machen. Seine Arbeitsweise verbindet medienreflexive Inhalte mit autobiografischen Erfahrungen, um genau diese sich vermeintlich widersprechenden Momenten aufzuspüren. Die unterschiedlichen Schwarz- und Grautöne, sowie die teilweise ins Leere führenden Blickinszenierungen erzeugen eine düster anmutende Stimmung, die sich wie ein Schleier über die gesamte Serie zu legen scheint. Dennoch verweist die Auseinandersetzung mit der Dunkelheit auch immer auf den Gegenpart – das Licht.
in der Reihenfolge ihres Erscheinens
SUDDEN ETERNITY 110 x 51cm, Inkjet Print, 2023
UMFASSUNG 45 x 35cm, Inkjet Print, 2023
SCHALTER 55 × 28 cm, Inkjet Print 2020
ARGUMENT 124 x 83cm, Inkjet Print, 2024
SCHLUSS 60 × 40 cm, Inkjet Print, 2017
ÄRMEL 59 × 25 cm, Inkjet Print, 2019
WRINGEN 77,7× 44 cm, Inkjet Print, 2022
SPALT 46 × 29 cm, Inkjet Print, 2020
ETC 38 × 27,4 cm, Inkjet Print, 2021
LOCH 42 × 60 cm, Inkjet Print, 2014
Biografie
CASPAR SÄNGER begann 2009 sein Fotografiestudium an der HfbK Hamburg. 2013 schloss er seinen Bachelor bei Heike Mutter, Matt Mullican und Thomas Demand ab und erlangte 2016 seinen Masterabschluss bei Thomas Demand und Ceal Floyer. Von 2016 bis 2020 war Sänger Teil des Vorsitzes des KV, dem Verein für zeitgenössische Kunst Leipzig e.V. Sänger lebt und arbeitet in Leipzig. In seiner fotografischen Praxis untersucht Sänger die Gleichzeitigkeit von sich eigentlich widersprechenden Gegebenheiten, indem er in seinen Bildern medienreflexive Inhalte mit autobiografischen Erfahrungen verbindet.
Das Musée du quai Branly (MQB) legt durch die Inszenierung außereuropäischer Kulturgüter zu Kunstwerken, den präsentierten Artefakten einen eurozentrischen Kunstbegriff auf. In Form der gewählten Displays sollte der außereuropäischen Kulturgutproduktion und -tradition eine entsprechende Anerkennung entgegengebracht werden. Stattdessen findet sich in dieser Geste – nicht zuletzt wegen der dunkel-mystifizierend erscheinenden Displaywahl, welche hier vollzogen wurde – ein besonderer Verweis auf die Machtstrukturen wieder, die die erlernte Hierarchie zwischen Kulturgut und Kunstwerk verdeutlichen und so mehr über die Sprechenden aussagen als über das Gesprochene. Gina Marie Schwenzfeier setzt sich in ihrem Aufsatz mit dem Display des MQB auseinander, um daran die erlernten Strukturen hervorzuheben, die sich nach den Gründern des MQB von einem kolonialgeprägten Verständnis distanzieren sollten, diese allerdings (neo-)kolonial aufladen und daher kritisch zu hinterfragen sind.
Ein neutraler Name sollte gepaart mit einem neutralen Ort den Kulturgütern aus ethnologischen Sammlungen die Möglichkeit bieten, ungestört zu Kunstwerken inszeniert zu werden – mit dieser Idee wurde das Musée du quai Branly (MQB) im Juni 2006 eröffnet (Abb. 1).1 Durch den Rückgriff des MQB auf ethnologische Bestände mehrerer musealer Sammlungen, die sich im MQB in einem Museum wiederfinden, das sich ausdrücklich nicht als ethnologisches Museum bezeichnen möchte, kommt es dazu, dass die Geschichten der Ausstellungstücke sowohl in den Hintergrund als auch – ihrer musealen Inszenierung im MQB adäquat – wortwörtlich ins Dunkle treten. Gemäß dem Selbstverständnis des Museums wird dabei ein ‚Dialog zwischen den Kulturen‘ ins Zentrum gerückt, der einer kritischen Betrachtung bedarf, die James Clifford bereits 2007 angeregt hat.2
Der Versuch, außereuropäischen Kulturgütern eine neue Betrachtungsweise entgegenzubringen, wie es im MQB vollzogen wurde, verdeutlicht, dass der westliche Blick geprägt von Machtstrukturen ist, die auf ein Wissen zurückgreifen, das nicht wie es in diesen Strukturen vielfach angenommen wird, universelle Gültigkeit besitzt, sondern einer einseitigen Perspektive entstammt, die nach wie vor keine Rücksicht auf parallel existierendes Wissen nimmt, besonders nicht das Wissen kolonialisierter Gruppen. All das ist erlernt doch bleibt weitestgehend unhinterfragt. Dies wird auch im ‚Dialogischen‘ deutlich, das hier einen eurozentrisch geprägten Blick auf und ein Reden über ‚die Anderen‘ wiedergibt. Dabei verfällt das Dialogische, da in der Folge von (De)Platzierungen in einem Ausstellungsraum westlich geprägter Museen gerade diejenigen Kontinente zusammengebracht werden, die von diesen pseudo-dialogischen, kolonialen Strukturen unterdrückt wurden und in denen sich ihre Kulturgüter auch heute noch wiederfinden. Mit diesem (neo-)kolonialen, gleichwie generalisierenden Blick auf die außereuropäischen Kontinente und Kulturgüter wird eine westlich-eurozentrische Deutungshoheit weitergeführt. Ebendiese manifestiert sich im Display eines der meistbesuchten Museen in Frankreich, ohne dass die dabei entstehende Mystifizierung von Kulturgütern im regulären Ausstellungsbereich hinterfragt wird.3 An dieser Stelle ist es daher lohnend mit dem Konzept des Unlearnings an diese Displaysituation heranzutreten und den nonverbalen Aussagen, die damit getroffen werden.4 Neben dem Display kommt es zusätzlich über vielfältige Werbemittel zu der damit kommunizierten Aufforderung im MQB auf ‚Entdeckungstour‘ zu gehen.5 Diese Aufforderung stützt die Annahme der Weiterführung eines (neo-)kolonialen Deutungsregimes, das ebenso unter Berücksichtigung von Unlearning näher beleuchtet werden soll (Abb. 2).
Zum (Kunst)Objekt gemacht
Die sich im MQB manifestierenden (neo-)kolonialen Ansätze außereuropäische Kulturgüter unter besonderer Berücksichtigung ihres künstlerischen Werts zu präsentieren, ist in Bezug auf die Institution des MQB kritisch zu hinterfragen.6 Nadine Pippel hebt Chiracs Rede zur Eröffnung des Pavillon des Sessions7 hervor, in der er formuliert, dass eine neue Beziehung von Ästhetik und Ethnologie, im Unterschied zu anderen ethnologischen Museen, innerhalb des MQB über das museale Display stattfinden soll.8 So sollen die für die Kulturgüter relevanten Kontexte im MQB eher in den digitalen Raum verschoben werden, um ‚die Atmosphäre der wertvollen Objekte‘ als Kunst nicht zu stören.9 Auch James Clifford geht auf diese inszenierte Situation ein, wenn er die Displaysituation als einen ‚magischen Ort‘ kritisiert.10
Hervorzuheben ist in der Argumentation Chiracs, dass die im MQB ausgestellten Kulturgüter als Kunstwerke zu behandeln seien, was einen eurozentrischen Kunstbegriff betont. Dieser dominiert die Ausstellung, gleichwohl man sich bewusst vom westlichen White Cube als modus operandi des Ausstellungsraumes distanziert. Einhergehend damit wird über die Grundsätze des MQB suggeriert, dass sich diese Ausstellungsweise von einer nicht-westlichen Perspektive abgrenzt. Nora Sternfeld formuliert dies wie folgt: „Die Präsentation der Sammlungen beschränkt sich auf den Kunstwert der Objekte, die als ‚arts premiers‘ gekennzeichnet sind und hält bewusst den Tausch- und Gebrauchswert weitgehend aus dem Wahrnehmungszusammenhang heraus.“11 Betont werden muss, dass vermittels dieses kuratorischen Umgangs mit den Kulturgütern ihre ursprünglichen Bedeutungen verkannt, transformiert oder ignoriert werden können. Mit Blick auf die Displaysituation: Die Besuchenden des MQB tappen hinsichtlich der Semantiken der ausgestellten Kulturgüter im Dunkeln.
Das eurozentrische Verständnis von ‚Spiritualität‘, das über das kuratorische Konzept auf die Ausstellungsstücke damit zusätzlich projiziert wird, darf angesichts der Entscheidung für das dort zu sehende Display nicht unerwähnt bleiben. Es reflektiert sich ferner in Jean Nouvels – der Architekt des MQB – kritisch zu beleuchtender Idee architektonisch evozierter Assoziationen zum Spirituellen:
„Everything is done to stimulate the blossoming of emotions aroused by the primary object, […] everything is done to protect it from light and to capture that rare ray of sun needed to set vibration in motion, to speak of a feeling of spirituality. It is a place marked by symbols.“12
Insbesondere auf den szenografischen Aspekt bezogen, kritisieren zahlreiche Ethnolog:innen, die durch eine betonte Ästhetisierung der Objekte resultierende Marginalisierung des (historischen) Kontexts der Kulturgüter im MQB (Abb. 3). Um dieser Kritik entgegenzuwirken, lassen sich die zentralen Konzepte des MQB, die Chirac und Nouvel verbanden, in einem Satz zusammenfassen, den der französische Präsident bei der Eröffnung des Museums am 20. Juni 2006 äußerte: „[F]ar removed from the stereotypes of the savage or primitive the museum sees to communicate the eminent value of these different cultures“.13
Zwischen Display und Storytelling
Um die Hauptausstellungsfläche des MQB zu erreichen, werden Besuchende eine spiralförmige Rampe hinauf geleitet, die sich um ein alle Etagen umfassendes Glas-Silo windet und sich die Videoinstallation The River den Weg bahnt. Das Silo, bestückt mit rund 9.500 außereuropäischen Instrumenten, wird dabei mit stark gedimmtem Licht inszeniert. Diese konservatorische Entscheidung führt dabei zu einem Ausbleiben eines ethnologischen Mehrwerts, der sich im MQB vielfach dem ‚ästhetischen Anspruch‘ der Ausstellungssituation beugt. The River ist eine 160 Meter lange Lichtprojektion, die Text auf den begehbaren Museumsboden projiziert. Durch die unumgängliche Situation dieses lichtprojizierten Text-Flusses, wird diesem eine zentrale Bedeutung zugesprochen: „The aim of the work is to prepare the viewer to enter the collection, to create a state of reverie consistent with the architecture and the dream-like experience of the Permanent Collection space“,14 so wird das Verständnis der Arbeit durch den Künstler, Charles Sandison, und das Museum benannt. The River ist eine selbstreflexive Arbeit und damit inhaltlich im starken Kontrast zur restlichen Ausstellungsfläche zu verstehen, die durch ihre Situierung unmittelbar vor der Hauptausstellungsfläche als unumgängliches Element in Erscheinung tritt.15 Ferner verdeutlicht die Arbeit implizit die kritische Displaysituation im Hauptausstellungsbereich, wenn hierüber besonders der starke Kontrast in der Lichtregie wahrnehmbar wird (Abb. 4). So beschreibt Herman Lebovics sie im Rahmen eines Besuchs wie folgt:
„Tunnels usually end in blessed light. On emerging from this one, we were plunged into the yet darker world of the exhibition plateau. Music with a strong drum beat was playing faintly. I heard it almost subliminally. I did not recognize it, but was the kind I associate with Tarzan movies. The music and ‚primitive’ objects vaguely visible from the distance in the obscurity of the hall made me think – and, as I read in the reviews afterward, made others think – of Joseph Conrad’s story of African savagery.“16
Die einstige, zumeist hell ausgeleuchtete Situation findet ihren abrupten Abbruch beim Betreten des durch und durch dunklen Hauptausstellungsraumes. Um es mit den Worten des New York Times Autoren Michael Kimmelmans zu benennen: „[D]evised as a spooky jungle, red and black and murky, the objects in it chosen and arranged with hardly any discernible logic.“17 Beim Verlassen der Lichtinstallation wird die zuvor einsetzende Schlängelung des Weges über eine niedrige Mauer im Hauptausstellungsraum fortgesetzt, die mit Braille-Schrift sowie Bildschirmen ausgestattet ist. Farbgebend ist dabei besonders das hellbraune Formleder, die Mauerverkleidung. Diese Mauer stieß auf besonders viel Kritik. So wurde sie nicht nur aufgrund ihrer Freizeit- und Themenpark-Assoziationen weckenden Ästhetik diskutiert, worüber ihr jeder wissenschaftliche Charakter abgesprochen wurde. Darüber hinaus erinnere sie, so Emmanuel de Roux, an eine der zentralsten Sammelexpeditionen des Musée de l’Homme.18 Die vielfältige Kritik bezog sich überdies auf die Distanz zwischen Informationen, die sich auf der Mauer wiederfinden, und den Gegenständen, die damit kontextualisiert werden sollten.19 Jene Argumentationen, die diese Präsentationsform präferieren, verfahren auf einer rein visuell-ästhetischen Ebene, die nicht weniger relevant wird, wenn sie an einem Ort auftritt, der sich gerade als ein solcher mit hohen ästhetischen Ansprüchen definiert.
Der Großteil der hier ausgestellten Kulturgüter oder Objekte wird in Vitrinen präsentiert, die einer reduzierten Formgebung folgen. Dabei werden sie zumeist mit Spot-Lights beleuchtet (Abb. 5).
Scheinwerfer und die generelle Lichtregie leuchten den Raum dabei dramatisch aus. Den roten Faden des Ausstellungsrundgangs bildet konsequent das diffuse Licht das die Ausstellungsstücke inszeniert. Noch intensiver als in der großen Halle findet sich diese Inszenierung in einzelnen, kammerartigen Seitenräumen wieder, die größtenteils nahezu vollkommen dunkel sind, da die dort befindlichen Spots mit einem noch niedrigeren Lichtwert eingestellt sind, als es in der Haupthalle der Fall ist. Christopher Dickey beschreibt diese Räume als „von innen verdunkelte Hütten“ (Abb. 6).20
Seitens des MQB wird hinsichtlich dieser Inszenierung kommuniziert, dass die Ausstellungsstücke als Kunstobjekte betrachtet werden sollen, weshalb es auch zu dieser über die Lichtregie evozierten Displaysituation kam, in der gleichsam die ethnologischen Informationen in den Hintergrund oder eben in den nicht mit Licht ausgeleuchteten Bereich rücken. Ein großes Problem, das die Displaysituation erzeugt, ist, dass sie einer primär passiven Betrachtungsweise Vorrang gibt, die sich einer Auseinandersetzung mit den einzelnen Kulturgütern entziehen kann. So werden außereuropäische Kulturgüter zum ‚Genussmittel‘ in diesem Fall, die Erwartungen eines eurozentrischen Blickes erfüllenden neuen Museums für eine ethnologische Sammlung. Besonders kritisch ist dies vor dem Hintergrund zu reflektieren, da hier – so in Chiracs Eröffnungsrede kommuniziert, aber auch bis heute von Seiten des Museums – ein ‚Dialog der Kulturen‘ stattfinden soll.21 Vor allem Chirac bezieht sich in seiner Rede mitunter auf die kulturelle Vielfalt, die über diese museale Inszenierung demonstriert werden soll – eine Idee, die jedoch von ihrer letztlichen Umsetzung und der entsprechenden Wirkung unabdingbar zu unterscheiden ist.
Vielfalt bezieht sich auf vielfältige Sichtweisen. Das MQB nimmt in seiner Dauerausstellung allerdings nur eine Sichtweise ein, und zwar eine eurozentrische. Es lässt sich damit ein gelenkter eurozentrischer Blick wahrnehmen. Clifford hinterfragt dieses von Chirac formulierte Anliegen: „‘Là ou dialoguent les cultures’: the motto begs all the important questions. Cultures don’t converse: people do, and their exchanges are conditioned by particular contact-histories, relations of power, individual reciprocities, modes of travel, access, and understanding.“22
Vom Glauben des eigenen Wissens
„Unlearning one’s privileges as one’s loss“.23 Gayatri Chakravorty Spivak, verdeutlicht über das Unlearning besonders, inwieweit von der Einflussnahme hierarchischer Strukturen in Bezug auf Wissenskonzepte gesprochen werden kann. Damit ist zu betonen, dass das Gesagte oft mehr über den:die Sprecher:in aussagt, also über die Person(engruppe) von der das Gesagte handelt.24 María do Mar Castro Varela verweist in (Un-)Wissen. Verlernen als komplexer Lernprozess dabei besonders auf die einerseits existierende Handlungsmacht der einen Partei sowie die andererseits sehr stark eingeschränkte Handlungsmacht der ihr entgegenstehenden Partei.25 Zusätzlich betont sie in ihrer Auseinandersetzung mit Spivak, dass die Gewalt von Lernprozessen sichtbar gemacht werden muss oder zumindest ein Bewusstsein über diese Gewalt zu existieren hat.26 Besonders der Glaube Chiracs, die Kulturgüter durch ihre Benennung als Kunstwerke ‚aufzuwerten‘, verdeutlicht inwieweit das Bewusstsein darüber fehlt. Ein großer Widerspruch, der sich in einer solchen Annäherung an Kulturgüter als Kunstobjekte herausbildet, liegt in der eurozentrischen Betrachtung nicht-europäischer Kulturgüter. Die aus einer westlichen Perspektive entwickelte Idee hatte vielleicht zum Ziel koloniale Verständnisse zu überwinden, die Umsetzung jedoch zur Folge, dass die Auseinandersetzung mit diesen Ausstellungsstücken auf einer anderen, diesen nicht gerecht werdenden Ebene vollzogen wird und eine Loslösung vom kolonialen Blick nur schwerfällig vonstatten geht. Dabei wird einem außereuropäischen Kulturgut nicht nur sein eigentlicher Wert abgesprochen beziehungsweise als zweitrangig degradiert, sondern auch der eurozentrische Blick erneut als überlegen erhoben, indem der Kunstwerkcharakter als etwas für das Kulturgut Positives benannt wird. Damit wird sich jedoch nicht von einem kolonialen Blick distanziert, sondern dieser (neo-)kolonial aufgelegt. Während das MQB seine Besuchenden dementsprechend zum ästhetischen Konsum von Kulturgütern verpflichtet, indem das visuell Erfahrbare in dieser Ausstellung in Form des stark aufgeladenen Displays unumgänglich wird, ermöglicht dieses so vielfach besuchte Museum ihnen wiederum kaum, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, da die Displaysituation die Informationsbeschaffung als zweitrangig inszeniert und diese dabei nur schwerfällig zugänglich macht. Vielfach wurde auch aufgrund des räumlichen Nicht-Vertreten-Seins Europas, dieses als museal präsentierte ‚Ordnungsmacht der Welt‘ verstanden. Wiederholt wird dadurch hervorgehoben, inwieweit das räumliche Fehlen Europas auf den eurozentrischen Blick des MQB hindeutet. Die Dichotomie vom ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ verdeutlicht sich.27
Ausblick
Es konnte festgehalten werden, dass das MQB durch die Displaysituation, die bereits im Außenraum beginnt, koloniale Blickstrukturen reproduziert. Daran anknüpfend werden auch Visualisierungsformen aufgegriffen, die als (neo-)kolonial verhandelt werden können. Kritisch zu hinterfragen ist dabei das vorzufindende Äquivalent, dass „Ästhetisierung auch Entkontextualiserung [bedeutet]“.28 Das MQB verdeutlicht die Strukturen der französischen kolonialen Gewaltgeschichte nicht, sondern verschleiert diese hinter der Kulisse des Displays. Damit geht das MQB nicht das von Chirac angestrebte Ziel der repräsentierten Vielfalt der Kulturen in ihrer Komplexität nach, dass einem respektvollen Blick auf ebendiese entspringen sollte. Es zeigt sich damit auch, dass ein Bewusstsein über diese vorherrschenden Machtstrukturen fehlt. Die Umsetzung weist dabei Fehlschlüsse auf, die sich zwar einer anderen Herangehensweise sich Kulturgütern zu widmen öffnen, diese jedoch zu ähnlichen Ergebnissen führt, wie zu kolonialen und kolonial geprägten Zeiten, auch wenn man diese doch eigentlich überwinden wollte. Die erlernte Qualitätsbestimmung eines Kunstobjekts aus einem eurozentrischen Blickpunkt, welche hier zum Tragen kommt, verdeutlicht, das nicht-Wissen über diese erlernten Strukturen, und der Glaube, ein Kulturgut bedarf das Siegel des Kunstwerks, um einer Ausstellung würdig zu werden. Im MQB findet sich keine Überwindung kolonialer Blickführungen und Machtstrukturen wieder, sondern eine Inszenierung die den eurozentrischen Blick als den ‚einzig wahren‘ und letztlich ‚alles bestimmenden‘ hervorbringt. Damit begibt man sich einmal mehr in (neo-)koloniale Verhältnisse hinein. Dies bleibt im MQB unkritisch hinterfragt. Bestimmte Displaysituationen treffen immer bestimmte Aussagen – Aussagen, die beeinflussen, wie etwas gesehen wird, beziehungsweise gesehen werden soll: Die Atmosphäre, die im MQB durch die beschriebene Displaysituation entsteht, wird dabei zu einer Form des Storytellings. Die Inszenierung von Kulturgütern als Kunstwerke löst diese Problematik nicht und kann damit auch nicht den Anspruch erheben, den Kulturgütern einen entsprechenden Platz im MQB zu bieten. Die ästhetisierende Transformation von Kulturgütern zu Kunstwerken stellt sich, so scheint es, zumindest über das Display vielmehr in den Weg, als dass es eine Ablösung des kolonialen Blicks ermöglicht. Damit bleibt auch die Inszenierung und das Display des MQB eine klassische Form des Exotismus.29 So bezeichnet Clifford das MQB mit seiner Architektur als neoprimitiv.30 Morrisons Statement verdeutlicht, dass das MQB letztlich nur etwas über den eurozentrischen Blick auf die im Museum ausgestellten, nicht-europäischen Kulturen und Kulturgüter aussagt. Besonders in der Auseinandersetzung mit dem Musée du Quai Branly bleibt dementsprechend mit Morrisons Worten zu sagen: „The subject of the dream is the dreamer“.31
Biografie
Seit dem Wintersemester 2022/23 studiert GINA MARIE SCHWENZFEIER im Master Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie zuvor einen Zwei-Fach-Bachelor in Kunstgeschichte und Archäologische Wissenschaften absolvierte, den sie mit der Arbeit MOTHERHOOD | MOTHERING | MOOTHERR. Eine exemplarische Analyse heterogener Darstellungen von Mutterschaft in der westlichen Gegenwartskunst am Beispiel Laure Prouvosts Installation MOOTHERR (2021) abschloss. Ihr theoretisches wie praktisches Interessensfeld liegt besonders in der sich aufbrechenden Grenze von Kunstvermittlung und Ausstellungspraxis und die Möglichkeiten, die sich durch diese Entwicklung ergeben. Neben dem Studium ist sie als Wissenschaftliche Hilfskraft bei Situation Kunst (für Max Imdahl) und dem Museum unter Tage, wie auch dem SFB 1567 Virtuelle Lebenswelten angestellt. Darüber hinaus ist sie in der Organisation sowie der Vermittlung verschiedener Projekte beteiligt, die sich entlang des musealen Kontexts orientieren. Hierzu gehören das Projekt RuhrKunstUrban – Museum findet Stadt der RuhrKunstMuseen (2020-2022) und das seit 2024 laufende Nachfolgeprojekt RuhrKunstbewegt. Über studentische Initiativprojekte setzt sie sich immer wieder mit neuen Medien und Methoden der Kunstvermittlung auseinander; zuletzt im Rahmen des appbasierten Projektes KUNST TOUR RUB.
Die im Rahmen der Jahresausstellung 2023 der Akademie der bildenden Künste München entstandene Arbeit mit dem Titel vorne rechts löst das verwendete Material aus seiner ursprünglichen Nutzung heraus. Betrachtet man das Werk aus einiger Entfernung, fallen die Tiefen Rillen auf der Objektoberfläche wenig ins Auge und man fühlt sich an Malevichs schwarze Quadrate erinnert. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man, dass es sich nicht allein um eine bemalte Leinwand, sondern um einen aus seiner Form gelösten Autoreifen handelt. Die Künstlerin hat diesen aufgeschnitten und in die Länge gezogen, bis schlussendlich das Objekt vollkommen formentfremdet zurückbleibt. Holzapfel verweist mit ihrer Arbeit zum einen auf Vergangenes, da die deutlich erkennbaren Gebrauchsspuren der Reifen von deren Abnutzung zeugen – zum anderen gehen damit Gedanken zur Entsorgung dieser in der Zukunft einher. Sie nutzt den Autoreifen symbolhaft, um auf die Beanspruchung von Raum durch die Einlagerung der verbrauchten Reifen aber auch auf die Vereinnahmung öffentlichen Raums, durch das stetige Ausbauen der Straßennetze, hinzuweisen. Die Formverfremdung und Umnutzung soll dabei zu einem Perspektivwechsel führen und zur Entwicklung neuer Ideen von öffentlicher Raumnutzung anregen.
Biografie
LISA HOLZAPFEL lebt und arbeitet in München. Zudem studiert sie an der Akademie der bildenden Künste im Bereich Bildhauerei. In ihrer bildhauerischen Arbeitsweise arbeitet die Künstlerin mit einem relativ neutralen Farbspektrum und setzt damit den Fokus ihrer Arbeiten mehr auf deren Material und Strukturgebung.
Sarah Felix und Linda Alpermann stellen in ihrem Essay verschiedene Sichtweisen auf Paula Modersohn-Beckers Ansichten des Worpsweder Teufelsmoors vor. Um 1900 setzte die Malerin sich verstärkt mit dem Moor als Bildmotiv auseinander und stilisierte es zu einem romantischen Sehnsuchtsort. In ihren Briefen und Tagebüchern äußerte sie sich ausgiebig über ihre Faszination für das Moor. Die beiden Autorinnen zeigen, wie Modersohn-Becker in ihren Werken mit Farben und Kontrasten spielt, aber auch, wie das Moor zur Projektionsfläche des menschlichen Machtanspruchs gegenüber der Natur wird.
„Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene-Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunklen Segeln, es ist ein Wunderland, ein Götterland. Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Bewohner wissen nicht, wie schön es ist. […]“1
–Paula Modersohn-Becker, Tagebucheintragung, Worpswede, 24. Juli 1897
Die Künstlerkolonie Worpswede & das Teufelsmoor
Die Malerkollegen Fritz Mackensen, Hans am Ende und Otto Modersohn ließen sich 1889 im nordöstlich von Bremen gelegenen Dorf Worpswede nieder, etwa 20 Kilometer von der Hansestadt entfernt. Ihnen folgten 1893 Fritz Overbeck und 1894 Heinrich Vogeler. Die fünf Künstler hatten zuvor erfolgreich an den renommierten Kunstakademien in Düsseldorf, Karlsruhe und München studiert, standen aber der traditionellen akademischen Ausbildung zum Teil kritisch gegenüber. Sie suchten nach neuen Entwicklungsmöglichkeiten, die ihnen die strenge akademische Lehre nicht bieten konnte. Auf der Suche nach alternativen Ansätzen begeisterten sie sich für die Methoden der Freilichtmalerei, etwa für jene der Schule von Barbizon. Nach mehreren Aufenthalten in Worpswede seit 1884 beschlossen sie schließlich, eine Künstlerkolonie nach französischem Vorbild zu gründen. Worpswede befindet sich am Rand des Teufelsmoors, einer weitläufigen Moorlandschaft, die das Gebiet prägt. Mackensen, fasziniert von der einzigartigen Landschaft und der idyllischen, unberührten Natur, hatte bereits einige Jahre zuvor durch Zufall das künstlerische Inspirationspotential Worpswedes entdeckt und erkannt. Diese Entdeckung führte schließlich zur Gründung einer der berühmtesten Künstlerkolonien Deutschlands, der sich wenige Jahre später auch Paula Becker, später bekannt als Paula Modersohn-Becker, anschloss.2
Das Leben in der Künstlerkolonie veränderte das Verhältnis zur Landschaft. Sie war nicht mehr nur Studien- und Arbeitsort, sondern das gesamte Leben ihrer Bewohner:innen spielte sich dort ab. Neben der Abkehr von der akademischen Lehre hin zum Selbststudium war die Kolonie auch Ausdruck einer Stadtflucht, die durch die Verdichtung des Lebensraumes, die zunehmende Armut und die Industrialisierung in den Städten ausgelöst wurde.3 „Hinwendung zur Natur und ein Gefühl für das Unverfälschte in ihr sind zwei lebensreformerische Triebfedern ihres Handelns”4, schreibt die Kunsthistorikerin Renate Foitzik Kirchgraber über die Gründung der Künstlerkolonie. Die Popularität von Künstlerkolonien wie derjenigen in Worpswede ist auch im Kontext der Lebensreform zu verstehen, einer Reihe von sozialen Bewegungen, die im späten 19. Jahrhundert Schwung aufnahmen.5 Die Berührung mit Natur wurde aufgeladen in der Suche nach Vitalität durch Kontakt mit Sonne, Luft, Licht, Meer, Wald, Bergwelt oder Heide. Durch Praktiken wie Bergsteigen, Wandern, Zelten und Baden im Freien und häufig in Nacktheit, versuchten Lebensreformer:innen, eine Verbindung mit der Natur herzustellen.6 1898 führte Paula Beckers7 Weg nach Worpswede, wo sie sich der Künstlerkolonie anschloss, zunächst Schülerin von Fritz Mackensen wurde und 1901 Otto Modersohn heiratete. Modersohn-Becker integriert während ihrer Zeit in der Künstlerkolonie verschiedene lebensreformerische Ideen und Praktiken in ihren Alltag und in ihr künstlerisches Schaffen. Foitzik Kirchgraber schreibt, dass Paula Becker den lebensreformerischen Bewegungen der Zeit äußerst aufgeschlossen gegenübergestanden habe:8
Der folgende Text untersucht die Darstellung der Worpsweder Moorlandschaften in den Gemälden Paula Modersohn-Beckers um 1900. Die charakteristischen Moorgräben und -kanäle des Teufelsmoors waren ein häufiges Motiv der Worpsweder Künstler:innen, was deutlich macht, dass sie sich in ihrer Landschaftsmalerei keinesfalls primär mit unberührten Landschaften, sondern auch mit Spuren der menschlichen Gestaltung und Nutzung der Natur auseinandersetzten. Die einzigartigen Landschaften des Teufelsmoors sollten eine zentrale Rolle im künstlerischen Schaffen Paula Modersohn-Beckers spielen. Diese für sie faszinierende, idyllische und zugleich geheimnisvolle Umgebung bot ihr eine unerschöpfliche Quelle an Motiven und prägte ihre künstlerische Ausdrucksweise nachhaltig. Im Mittelpunkt dieses Essays steht der auffällige Kontrast zwischen Modersohn-Beckers radikalen Bildkompositionen und expressiven Farbgestaltungen und den friedlichen Beschreibungen des Moores in ihren Tagebüchern und Briefen. Diese Diskrepanz offenbart ein vielschichtiges Verhältnis zwischen der romantisierten Vorstellung von Natur und der realen, vom Menschen geprägten Landschaft. Modersohn-Beckers Darstellungen von Moorlandschaften, insbesondere von Moorgräben und Birkenwäldern, zeigen dynamische Kompositionen, die im Widerspruch zu den populären Vorstellungen vom Moor als düsteren Sehnsuchtsort stehen. Dies verdeutlicht die komplexe Beziehung zwischen menschlichem Eingriff und natürlicher Landschaft, die sie wohl unbewusst in ihrer Kunst verarbeitete.9
Moorkanäle bei Paula Modersohn-Becker
Eines der markantesten Beispiele für ihre Mooransichten ist der Moorgraben aus der Sammlung des Dresdner Albertinum (Abb. 1). Die Künstlerin nutzt die Flussläufe der Hamme und Wümme sowie künstlich angelegte Gräben und Kanäle als Bausteine, um ihre Landschaftsstücke geometrisch aufzubauen. Im Falle des Moorgraben des Albertinum (datiert um 1900) spannt sich der Graben vom unteren rechten Bildrand bis kurz vor die obere linke Bildecke. Der Kanal durchschneidet die Landschaft und formt zwei Dreiecke, die sich in Richtung Horizont perspektivisch verjüngen. Ein schmaler grauer Streifen am oberen Bildrand bildet den Himmel der Szenerie und suggeriert wolkenverhangenes, düsteres Wetter. Er steht im starken Kontrast zur Himmelsspiegelung des Moorkanals im Vordergrund. In Bildvordergrund und Bildmitte spiegelt sich der Himmel im Kanalwasser nämlich in Türkisblau, von dem sich einige Wolken in starkem Deckweiß abheben. Diese Diskrepanz ist kaum zu erklären, wirkt aber auf Betrachter:innen besonders anziehend. Das grelle Blau des Wassers bzw. des Himmels und das Weiß der Wolken, die sich im Kanal spiegeln, leuchten förmlich aus dem Bild heraus. Unmittelbar aus ihren Erfahrungen nimmt die Künstlerin hier die prägende Farbigkeit der Landschaft auf. Vor allem die Brauntöne, aber auch das satte Grün wird in unterschiedlichen Abstufungen von den Ufern der Kanäle, der Moorerde und der Moorflora entnommen.
Diese radikale Bildkomposition, die den Blick der Betrachter:innen förmlich in die Tiefe des Bildes zieht sowie die Farbwahl verleihen dem Werk eine beeindruckende Dynamik und Intensität, die die expressive Kraft und die Einzigartigkeit von Modersohn-Beckers künstlerischer Vision eindrucksvoll hervorhebt. Ulrich Bischoff, 1994 bis 2013 Direktor der Galerie Neue Meister in Dresden (heute Albertinum), geht sogar so weit, die Kühnheit und Radikalität des Moorgrabens (Abb. 1) mit Caspar David Friedrichs Das Große Gehege bei Dresden (1832)zu vergleichen.10 Er argumentiert, dass der in dem schmalen Streifen gehaltene graue Himmel am oberen Bildrand in Verbindung mit den im “unwirklich blauen Wasser des Moorkanals gespiegelten weißen Wolken”11 zum Hauptcharakter der Komposition wird. Ähnlich ist es bei Friedrich. Bei dem Romantiker spiegelt sich der Himmel in den stehenden Pfützen des Ausläufers der Elbe. Der Himmel drückt förmlich auf die untere Bildhälfte. Beim Moorgraben (Abb. 1) ist der Himmel durch die starke Spiegelung im Wasser des Moorgrabens ähnlich omnipräsent.
Im Moorkanal (Abb. 2) der Kunsthalle Bremen lassen sich ähnliche kompositionelle Schlüsse ziehen. Der Moorkanal, ein schmales Hochformat, zeigt wie der Moorgraben (Abb. 1) eine Worpsweder Landschaftsszene mit einem Kanal oder Graben, der diagonal von der rechten unteren Bildecke zur linken oberen Bildecke verläuft. Die Ufer des Kanals sind in dunklem Grün und Braun gehalten. Im Hintergrund erstreckt sich eine weite, flache Landschaft, die nur vereinzelt von Bäumen unterbrochen wird. Der Himmel ist mit dichten, grauen Wolken bedeckt und nimmt am oberen Bildrand mehr Raum ein als beim Moorgraben (Abb. 1). Die Farben sind gedämpft und erdig, mit einem starken Kontrast zwischen dem hellen Wasser des Kanals und den dunklen Ufern des Moores. Die gedämpfte Farbpalette aus Grau-, Grün- und Brauntönen erzeugt eine ruhige, wenn nicht gar melancholische Stimmung. Im Gegensatz zum Moorgraben (Abb. 1) leuchtet hier kein kräftiges Blau aus dem Bild. Modersohn-Becker wählte hier „nur“ ein leichtes Hellblau, das hinter den tiefhängenden Wolken aufblitzt, sich aber im unteren Bilddrittel auch leicht im Kanal spiegelt. Der diagonale Verlauf des Kanals durch das Bild lenkt den Blick der Betrachtenden tief in die Landschaft hinein. Durch diese kompositorische Entscheidung entsteht eine dynamische Bewegung im Bild, die trotz der eigentlich ruhigen Stimmung, die durch die horizontalen Linien im Bildhintergrund unterstützt wird, eine gewisse Spannung erzeugt. Wie im Moorgraben (Abb. 1) zeigt sich auch in diesem Gemälde (Abb. 2) der Stil Paula Modersohn-Beckers in der expressiven, groben Pinselführung und der strukturierten Oberfläche, die der Moorlandschaft eine fast haptische Qualität verleiht.
Ulrich Bischoff sieht zwischen dem Moorgraben (Abb. 1) und Caspar David Friedrichs Das GroßeGehege bei Dresden die zusätzliche Parallele, dass Menschen kaum sichtbar verortet sind und dennoch ganz zentral für die Lebendigkeit der dargestellten Landschaft stehen.12 So verweisen beim Moorgraben (Abb. 1) die roten Dächer zweier Häuser auf Moorbewohner:innen, bei Das Große Gehege bei Dresden ist es ein einsamer Kaffenkahn, der die Elbe entlang segelt. Beim Bremer Moorkanal (Abb. 2) ist es ein kaum erkennbares einzelnes Haus am Horizont und am Ende des Kanals. Diese Verweise auf menschliche Zivilisation könnten aber gleichermaßen überzeugend als Hinweise der Einsamkeit gelesen werden. Beide Werke (Abb. 1 und 2) könnten diesem Gedankengang folgend auch als Ausdruck der inneren Gefühlswelt der Künstlerin interpretiert werden.
Faszination Feuchtgebiete
Paula Modersohn-Becker war mit ihrer Faszination für das Moor nicht allein. Zahlreiche Autor:innen etwa griffen das Moor als literarisches Motiv auf, wie Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930). „It is a wonderful place, the moor“,13 bemerkt Mr. Stapleton, einer der Hauptfiguren in Doyles Roman The Hound of the Baskervilles (1902)gegenüber Dr. Watson. „You never tire of the moor. You cannot think the wonderful secrets which it contains. It is so vast, and so barren, and so mysterious.“14 Das weitläufige, öde, rätselhafte Moor, wie Mr. Stapleton das Moor im englischen Dartmoor beschreibt, wird in dem Roman zum Ort der Gefahr und Angst – aber auch der Unberechenbarkeit. So spielen sich zum Beispiel alle Gewaltakte im Roman im Moor ab. Gleichzeitig steht das Moor für Irrationalität und Primitivität. Menschen, die im Moor leben, werden in der Detektivgeschichte als vertrauensselig, leichtgläubig und abergläubisch dargestellt: Sie glauben an den Fluch der Baskervilles.15 In Emily Brontës Wuthering Heights (1847) ist das Hochmoor von North Yorkshire Schauplatz der komplizierten Liebesgeschichte zwischen den Hauptcharakteren Heathcliff und Catherine. Immer wieder wird die einsame, erbarmungslose Landschaft um die Familiensitze der Earnshaws und Lintons erwähnt.16 Brontës Moor ist bedrohlich, wenn nicht sogar gefährlich. Es scheint als menschenfeindlicher, abweisender Handlungsort Sinnbild für die zerstörerischen Züge des Hauptcharakters und den Verlauf der bitter-düsteren Erzählung zu sein.
Die westfälische Schriftstellerin und Komponistin Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) wiederum dichtet dem Moor in der Ballade Der Knabe im Moor (1842), als Teil des Gedichtzyklus Heidebilder, einen fast dämonenhaften Charakter an. In der fünften Strophe heißt es: “Da birst das Moor, ein Seufzer geht / Hervoraus der klaffenden Höhle; / Weh, weh, da ruft die verdammte Margreth; / ,Ho, ho, meine arme Seele!’”17 Diese Passage veranschaulicht die unheimliche Natur des Moors, das durch die Stimme der verdammten Margreth und dem Seufzen aus der klaffenden Höhle eine gespenstische und übernatürliche Dimension erhält. Das Moor wird zu einem Ort, an dem die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen und das Übernatürliche greifbar wird. Wie von Droste-Hülshoff eindrücklich aufgreift und der Historiker David Blackbourn überzeugend argumentiert, gab es bis ins 19. Jahrhundert kaum Personen, die zum Vergnügen ein Moor betreten hätten.18 Wie Blackbourn ausführt, galt es nicht nur als schauriger Ort, sondern auch als gefährlich, denn von den wenigen Leuten, die sich ins Moor wagten, verschwanden viele, weil sie vom unbefestigten oder schlecht befestigten Weg abkamen .19
Auch Vincent van Gogh (1853-1890) beschäftigte sich mit dem Moor als Motiv und malte 1883 zwei Frauen beim Torfabbau. In Twee vrowen in het veen (Abb. 3) geht es ihm offensichtlich um die Darstellung des harten bäuerlichen Arbeitsalltags. Zentral für die Bedeutung der Szene ist jedoch die dargestellte Landschaft: Die Umgebung deutet auf eine typische Moorlandschaft hin, die durch flache, weite Flächen und einen dunklen, wolkenverhangenen Himmel gekennzeichnet ist. Durch die gedämpfte Farbpalette, die einfache, aber kraftvolle Komposition und die strukturierte Malweise schafft der Künstler ein Bild, das sowohl die physische Härte als auch die würdevolle Stille der Landschaft einfängt. Die gebeugte Haltung der Frauen und die raue Umgebung, die miteinander im Dialog stehen, symbolisieren eindringlich die körperliche Anstrengung und das Leben in einer harten, unbarmherzigen Natur. Eine andere Landschaft hätte kaum dieselbe Wirkung.
Birken als Chiffre des Aufbruchs
Neben den Moorkanälen sind Birken und Birkenalleen beliebte Motive, mit denen Paula Modersohn-Becker die Worpsweder Moorlandschaft darstellte. Im Werk Landstraße mit Birken (Abb. 4) dominieren die Bäume den Bildraum und scheinen sich im Wind zu bewegen. Die Landstraße verläuft diagonal durch das Bild, verschwindet in der Ferne und zieht den Blick der Betrachter:innen tief in die Szene hinein – ein Effekt, der schon bei Modersohn-Beckers Moorgräben zu beobachten war (Abb. 1 und 2). Bei der Landstraße mit Birken ist es nicht der Kanal, sondern die Straße und die aneinander gereihten Birken, die den Blick vom rechten unteren Bildrand in die linke obere Ecke führen und der Komposition ihre dynamische, vertikale Betonung verleihen. Die Worpsweder Landschaft (Abb. 5) zeigt im Vordergrund einen Weg, der von Birken gesäumt ist. Die Diagonalen der geneigten Baumstämme schaffen Dynamik und Bewegung im Bild, die durch die ruhigen horizontalen Linien im Bild ausgeglichen werden. Die Birken dominieren die Komposition mit ihrer markanten weißen Rinde, die sich deutlich vom Rest des Bildes abhebt. Die Künstlerin verwendet in beiden Gemälden eine besonders kräftige Farbpalette, die ihnen eine frische und lebendige Atmosphäre verleiht.
Insbesondere im Kontext der Lebensform waren Birken, die immer wieder in den Werken der Worpsweder Künstler:innen auftauchen, Symbole des Frühlings und Chiffren für einen Neubeginn.20 Die Birken verkörpern die Frische und Klarheit der Stimmung im Moor. Auch in Modersohn-Beckers Briefen und Tagebucheinträgen tauchen die Worpsweder Birken als leichte, fröhliche Gestalten auf.21 Das helle Weiß der Birkenstämme und Wolken steht wie das Leuchten des Wassers und des Himmels in Modersohn-Beckers Gemälden im Einklang mit der lebensreformerischen Hinwendung zur Natur als Sehnsuchtsort. Die Malerin verknüpft Birken gedanklich mit dem Jungen, Neuen und Modernen. In einem Tagebucheintrag schreibt sie:
“Worpswede, Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. […] Und Deine Birken, die zarten, schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen. Mit jener schlappen, träumerischen Grazie, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei. Sie sind so einschmeichelnd, man muß sich ihnen hingeben, man kann nicht widerstehn. Einige sind auch schon ganz männlich kühn, mit starkem, geradem Stamm. Das sind meine ‘modernen Frauen’…”22
– Paula Modersohn-Becker, Tagebucheintrag, Worpswede, 24. Juli 1897
Die Birken symbolisieren für sie moderne Weiblichkeit. In die ruhigen, melancholischen Moorlandschaften bringen die Birken dadurch eine leuchtende Vitalität und stehen somit auch für persönliche und gesellschaftliche Erneuerung. In ihrer symbolischen Bedeutung als Chiffren des Aufbruchs und der modernen Weiblichkeit verleihen sie den Moorlandschaften eine zusätzliche Tiefe und verweisen auf den Zusammenhang von Natur und menschlichem Streben nach Fortschritt und Veränderung.
Zur visuellen Wirkung des Moors
Als immer wiederkehrendes Stilmittel nutzt Modersohn-Becker die Kontrastierung heller und dunkler Farbtöne, was die Wirkung der jeweiligen Szene auf die Betrachter:innen erheblich verstärkt. Durch den Kontrast etwa zum blauen, strahlenden Himmel, der sich im Moorgraben spiegelt (vgl. Abb. 1, auch 6), den gelben Rapsfeldern im Hintergrund (Abb. 2), dem Weiß der Birkenstämme (Abb. 4 und 5) oder auch dem knalligen Grün der umliegenden Landschaften (Abb. 1) wird das Moor als dunkles, „mystisches“ Bildthema gebrochen, aber gleichzeitig die dunklen Grün- und Brauntöne, die die Künstlerin auch gerne verwendet, noch intensiver zur Geltung gebracht. Diese künstlerischen Entscheidungen erzeugen eine Spannung, die den Blick der Betrachtenden magnetisch anzieht und dazu einlädt, tiefer in die Landschaft einzutauchen.
„[…] Den Tag über bin ich weit draußen im Moor gewesen, im Sturm, bei sausenden Wolken. In diesem Lande entdeckt man immer neue Schönheiten. Diesmal kam ich zwischen ein Wirrsal von Birken, von altehrwürdigen moosbegrünten Bauernhäusern mit uralten Wachholdern vor der Tür. Hier und da stehen ein paar knorrige alte Kiefern, gewaltig und groß, fast wie aus einer anderen Kultur stammend. Dazu der tiefdunkelbraune satte Moorboden, die schimmernde Wintersaat. Ja, es war fein. […]“ 23
–Paula Modersohn-Becker, Brief an Marie Hill, Worpswede, 15. Januar 1899
Modersohn-Beckers bewusster Einsatz von Kontrasten und Farben verleiht ihren Darstellungen der Moorlandschaft eine tiefe emotionale Resonanz und bringt für sie die faszinierende Vielschichtigkeit des Moores zur Geltung. Dem Braun kommt in Modersohn-Beckers Werken eine besondere Bedeutung zu, denn der „tiefdunkelbraune satte Moorboden” ist vermehrt Thema in den Werken der Künstlerin. „Schönes braunes Moor, köstliches Braun!“24, schreibt sie in ihrem Tagebuch. Erdtöne verleihen ihren Werken eine warme, ruhige, vielleicht sogar bodenständige Atmosphäre.
In einigen ihrer Werke sind Formen und Komposition äußerst reduziert, wie etwa bei der 1899 entstandenen Sandkuhle am Weyerberg (Abb. 6): Die Komposition ist relativ einfach und konzentriert sich auf die Darstellung der Sandkuhle. Die Farbschichtung und die sichtbaren Pinselstriche verleihen der Landschaft allerdings eine körperliche Präsenz. Einige diagonale Linien führen die Betrachtenden durchs Bild, doch vor allem Farbgebung und Farbauftrag und die daraus resultierende Atmosphäre sind hier von Bedeutung. Dies ist immer wieder in Modersohn-Beckers Werken bemerkbar (vgl. Abb. 1 und 2). Neben der Bedeutung von Farbpalette und Farbaufstrich scheinen geometrische Formen – oder zumindest Linien – weitere zentrale gestalterische Mittel für die kraftvolle Wirkung ihrer Worpsweder Landschaften zu sein.
„[…] Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. Deine mächtigen großartigen Kiefern! Meine Männer nenne ich sie, breit, knorrig und wuchtig und groß, und doch mit den feinen Fühlfäden und Nerven drin. […]“ 25
–Paula Modersohn-Becker, Brief an Marie Hill, Worpswede, 15. Januar 1899
Die Bäume in Modersohn-Beckers Bildern stehen symbolisch für Stärke und Beständigkeit, gleichzeitig nutzt sie überzeugend ihre beeindruckende Präsenz, um ihre Kompositionen zu gliedern. Die wuchtigen Stämme wirken wie stabile Säulen, die das Bild tragen und die Blicke der Betrachtenden führen (vgl. Abb. 4 und 5). Die bewusste Einbindung der Bäume als strukturelle Elemente zeigt, wie Modersohn-Becker die natürliche Welt nicht nur als Inspiration, sondern auch als wesentliches Gestaltungselement für ihre künstlerische Sprache verwendet. Der ehemalige Direktor der Bremer Kunsthalle, Günter Busch, schreibt hierzu:
„Die Kühnheit und Einfachheit, mit der sie die wenigen Bildelemente zu geheimer Geometrie in das jeweilige Bildgeviert einspannt, Bildfläche und Bildraum, Plastizität eines Birkenstamms und Oberflächenstruktur zu formalem Austausch zwingt – diese gestalterische Fähigkeit findet sich so weder bei Otto Modersohn noch bei den übrigen Worpswedern.“26
Otto Modersohns Gemälde Herbst im Moor (Abb. 7) zeigt eine weite Moorlandschaft in herbstlichen Farben aus deren Vordergrund sich eine markante Birke von der Umgebung abhebt. Die Szene wirkt wesentlich idyllischer als die Landschaften Modersohn-Beckers, was vor allem an der besonders ausführlichen, detaillierten und realistischen Maltechnik Modersohns liegt, die sich besonders in der Darstellung der Bäume und Blätter bemerkbar macht. Seine Pinselführung ist präziser und weniger expressiv als die seiner Frau. Genauso relevant ist aber, wie Günter Busch schreibt, die kompositionelle Radikalität: Paula Modersohn-Beckers Malweise ist von besonderer Kühnheit und Einfachheit. Mit wenigen, sorgfältig ausgewählten Bildelementen schafft sie eine harmonische, geometrisch durchdachte Komposition, die durch eine einzigartige Integration von Bildfläche, Bildraum und Strukturen gekennzeichnet ist.
Der Moorkanal als Zeichen einer anthropozänen Landschaft
In ihren Briefen und Tagebucheinträgen hält Paula Modersohn-Becker fest, wie berauschend sie das Leben im Moor empfindet:
„[…] Mein erster Abend in Worpswede. In meinem Herzen Seligkeit und Frieden. Um mich herum die köstliche Abendstille und die vom Heu durchschwängerte Luft. Über mir der klare Sternenhimmel. Da zieht so süße Seelenruhe ins Gemüt und nimmt sanft Besitz von jeder Faser des ganzen Seins und Wesens. Und man giebt sich ihr hin, der großen Natur, voll und ganz und ohne Vorbehalt. […] Und sie nimmt uns und durchsonnt uns mit ihrem Übermaß voll Liebe, daß solch ein kleines Menschenkind ganz vergißt, daß es von Asche sei, daß es zu Asche werde. […]“ 27
–Paula Modersohn-Becker, Brief an Cora von Bützingslöwen, Worpswede, 7. September 1898
Für die Künstlerin wurde die Landschaft um Worpswede zur „Seelenruhe”. In ihren Briefen beschreibt sie Worpswede als Ort ihrer inneren Einkehr und Glückseligkeit. Sich der Natur hinzugeben, erfüllt sie mit einer tiefen, alles durchdringenden Ruhe und Liebe, die sie ihre eigene Vergänglichkeit und ihr Menschsein vergessen lässt.
Ausgehend von Modersohn-Beckers Aufzeichnungen zeichnet sich ein Bild des Teufelsmoors, als eine Mischung aus besiedelten Teilen, trockengelegten Moorflächen und intakten Mooren. Die Moorlandschaften, deren Zauber bewundert wird, haben sich durch menschliche Eingriffe allerdings massiv transformiert. Die Werke der Worpsweder Künstler:innen vermitteln zwar die große Anziehungskraft, die das Teufelsmoor entfaltet, die Präsenz der geraden, die Landschaft wie Linien durchziehenden, Kanäle sind aber auch Zeugen der menschlichen Eingriffe zum Ressourcenabbau, die das Moor um 1900 bereits gezeichnet hatten. Die Kanäle und Gräben, denen Modersohn-Becker Bildthemen widmet, dienen der Entwässerung des Moores und sind zugleich Transportwege, über die mit Torfbooten das Abbauprodukt aus den Mooren geschafft wird.
Im Werk Moorkanal mit Torfkähnen (Abb. 8) zeigt Paula Modersohn-Becker eine Flusslandschaft, in der am linken Bildrand drei Boote am Ufer vertäut sind. Mit Ausnahme eines schmalen Streifens am oberen Bildrand, der den Himmel darstellt, nehmen der Fluss und seine Ufer die gesamte Bildfläche ein. Das Flusswasser bildet eine ruhige Fläche und reflektiert den, sich außerhalb der Bildgrenzen befindenden Himmel und die Umgebung. Die Ufer des Flusses sind mit grün-brauner Vegetation bedeckt. Die Farbgebung ähnelt der erdigen, gedämpften Farbpalette des Moorgrabens (Abb. 1). Der Blick der Betrachter:innen wird durch die drei Torfkähne ins Bild gelenkt, die als Verweis auf die lange Tradition des Torfabbaus gelesen werden können und gleichzeitig Zeugen des menschlichen Eingriffs in das Moor sind.
Zur Geschichte der Moorkolonisation in Norddeutschland
Als CO2-Speicher und Hort ökologischer Vielfalt werden Moore heute als kostbare Ökosysteme geschätzt. Im 17. Jahrhundert war das noch anders. Bevor sie erschlossen wurden, galten sie als Ödland, unberechenbar und gefährlich. Die ersten Versuche, Moore zu bändigen, stellten die Fehnkolonien des 17. Jahrhunderts nach niederländischem Vorbild dar. Infolge des Dreißigjährigen Kriegs erzielte Torf hohe Preise. Systematisch wurden Moore mit Gräben durchzogen, die zunächst der Entwässerung der Moore dienten und später für den Abtransport des Torfs genutzt wurden. Ab 1750 intensivierte sich die menschliche Nutzung der Landschaften mittels Wasserbauten: Staudämme wurden errichtet, Flüsse begradigt, Moore und Sümpfe trockengelegt, um sie urbar zu machen und ihre Ressourcen zur Energiegewinnung zu nutzen.28
Etwa Mitte des 18. Jahrhunderts begannen die Worpsweder mit der Kolonisierung des Teufelsmoors.29 Der amtlich bestellte Kommissar Jürgen Christian Findorff leitete das Entwässerungsprogramm.30 Er ließ ein weitverzweigtes Entwässerungssystem anlegen, dessen Gräben in die Flüsse Hamme und Wümme münden.
„Der Kanal war entscheidend für das Leben in der Fehnkolonie. Er entwässerte das Moor und war der Verkehrsweg, auf dem der Torf und die Agrarprodukte für den Markt abtransportiert und Bedarfsgüter wie Düngemittel und Baumaterial herangeschafft werden konnten. […] Die Bedeutung des Kanals ging über das Ökonomische hinaus; er war Symbol für die Verbindung mit der großen Welt“ 31
Die Moorkanäle waren die Lebensadern der Kolonien. Die Erschließung der Moore durch die Gräben stand in Verbindung mit Wohlstand, Gesundheit und Fortschritt. Dabei war die Qualität der Kanäle entscheidend für den Erfolg der Kolonien. Einige der Bewohner:innen der Fehnkolonien lebten in Armut oder gaben die Unternehmen wieder auf.32
Mit der Blüte der Fehnkolonien um 1850 nimmt die Bedeutung von Kohle als Brennstoff zu. Torf als Ressource koexistiert aber weiterhin und die Moorausbeutung bleibt bestehen. Moorkolonien können als Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Ökosysteme verstanden werden, die Moorkanäle als Symbole für die zerstörerische Ausbeutung. Die Gräben schlagen schnurgerade Schneisen durch die Landschaften, die das Wachstum der Moore hemmen und die organische Substanz der Moore zum Verbrennen abtransportieren.33
Fazit
Paula Modersohn-Beckers Mooransichten lassen nicht nur die starke emotionale Kraft, die die Landschaften auf Betrachtende ausüben, spüren, sondern zeigen auch wie sehr Menschen das Moor bereits mit ihren Linien durchzogen (vgl. Abb. 1 und 2) und für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben. In Form des Grabens selbst ist diese andauernde Geschichte der Extraktion das zentrale Bildmotiv. Paula Modersohn-Becker unterstreicht dies, wohl unbewusst, durch das Aneinanderreihen gerader Linien und geometrischer Bausteine, die ihre Bildkompositionen bilden.
Damit stehen die Moorkanäle als Bildmotiv der Künstler:innen des Worpsweder Kreises im Widerspruch zu ihrer heilsamen Verklärung des Moors als Ort, dem die Kraft des Ursprünglichen, des Lyrisch-Märchenhaften innewohnt, wie es aus den Tagebucheinträgen und Briefen Paula Modersohn-Beckers nachzulesen ist, wenn sie etwa von „Versunkene-Glocke-Stimmung!”34 oder dem Moor als „ein Wunderland, ein Götterland”35schreibt. Es reibt sich auch mit den in der Lebensreform, von deren Ideen Modersohn-Becker inspiriert war, verbreiteten Hinwendung zur Natur. Diese wird zum Refugium, zur Zuflucht vor den unerwünschten Nebeneffekten urbaner Gesellschaften und technischer Entwicklungen. Die Natur galt als „Gleichnis für das Unberührte, das Ewige und Unwandelbare”.36 Die Moorgräben und Kanäle sind einerseits Vermittler der Ruhe und Kraft mit der das Worpsweder Umland auf die Künstler:innen wirkte. Gleichzeitig sind sie, insbesondere aus Perspektive heutiger Betrachter:innen, Zeichen für ausbeuterische menschliche Eingriffe in das Moor. Mit dem heutigen Wissen um die Krisen des Anthropozäns betrachtet, scheint die Wahl von Moorgräben als Motiv paradox angesichts Modersohn-Beckers Begeisterung für das Moor. Die Kanäle scheinen für heutige Augen ein Symbol für die negativen Auswirkungen menschlicher Interventionen und den Verlust der ursprünglichen Unberührtheit der natürlichen Moorlandschaft.
Biografie
SARAH FELIX und LINDA ALPERMANN sind wissenschaftliche Volontärinnen bei den staatlichen Kunstsammlungen Dresden und haben beide an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Sarah studierte Europäische Ethnologie und Linda Kunst- und Bildgeschichte sowie Geschichte. Im Rahmen eines Studienprojekts beschäftigte sich Sarah mit der Renaturierung von Köpenicker Mooren, insbesondere den Multispeziesbeziehungen des Sonnentaus, einer fleischfressenden Moorpflanze. Zu Linda Forschungsinteressen gehört die Malerei der Klassischen Moderne. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Kunst von Künstlerinnen.
Daniel Gianfranceschi untersucht in seinem Text You Want it Darker die Bedeutung der Verwendung von schwarzer Farbe in künstlerischen Werken und bei Designobjekten. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass dunkle Farbtöne allein symbolisch für Gefühle des Düsteren stehen, plädiert er dafür, diese ebenfalls als Ausdruck von Eleganz, Klarheit und Ruhe zu betrachten. Seine feinfühlige Werkbetrachtung einzelner Arbeiten führt die Bedeutungsvielfalt einer dunklen Farbpalette vor Augen und zeigt, welche Schaffenskraft aus ihr erwachsen kann.
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In a recent conversation with fashion designer Boris Bidjan Saberi, he briefly mentioned the societal dichotomy between the color black as something dark and tenebrous and the fact that, for him and many alike (one needs only to think of fashion designers such as Rick Owens or Ann Demeulemeester), a darker color palette can mean elegance, clarity, and tranquility. In western society especially, black is often equated to the counterpart to all other colors, standing alone, like a monolithic presence. In turn, one cannot help but to view the color black (and with it, a darker color palette) as the negation of all other shades and tones. Instead, one should perhaps be more akin to recognize black and the darker pigments as integral to the whole.
Even more so, one should refrain from attributing a peculiar sense of dread, sadness or, colloquially speaking, darkness to the darker pigments, for more often than not they are less of a representation of a personal state of being and more an aesthetic/ philosophical choice, in favor against many others. As you can see, in terms of clothing, a darker palette in one’s wardrobe might be, first and for most, the result of one of either two things: a particular kind of boredom, nurtured through many years of senseless consumption against the backdrop of multicolored clothing articles that do not match each other or, going hand in hand with boredom, a laziness that is not to be misunderstood as negative. Relying on multiple shades of black will always be a saver option than, for the sake of argument, on differing shades of green. By choosing to forego color and embrace something that absorbs light rather than reflecting it, one is actively trying to get out of the way, spiritually, and focus on the day to day, just as a carpenter might rely on functional clothing.1 Of course, as sociologist Georg Simmel would say, everything that was once a trend will be one again, even things and objects that indirectly go against the very act of being trendy.2 In recent years, we have seen an upstream of monochrome colorists, spectacularly ruining the color black by making its very inception a pseudo-intellectual act of rebellion, against whom or what is yet to be seen. Wearing black is not an economical choice anymore, it has become an aesthetic.
That being said, there are times where the darkness of the black pigment – whether it be charcoal, sumi-ink made out of sooth or oil painting – is actually required for a specific artistic purpose. One would be very quick to think of Kasimir Malevich, requesting that nothing might be more important than the essence of color itself.3 Beyond this, one could mention Richard Serra’s paper-based oeuvre, clearly defined by a special kind of oil stick (made exclusively for him) which is then applied to paper in, often, geometrical patterns coincidentally resembling the artists monumental sculptures. In Serra’s case, the darkness of the pigment is reinforced by the molecular and sculptural quality of the oil stick, acting as something between painting and sculpture, creating densely layered landscapes of color. Here, the work is as much about what it is actually made of as it is about what is being depicted on the paper. Color eventually becomes material and mass simultaneously.4 Even Pierre Soulages, someone who gave his life to the color black, did not do so for a spiritual reasoning, relating black pigment to darkness of the mind but rather because the interplay between light and shadows, edges and curves, matt and gloss that he was working on could truly only be achieved with a pigment as dark as black.5 For a more contemporary approach, one could look at the way Helmut Lang employs black as a homogenizing entity within each sculptural work, highlighting not only each material singularly but also the result of the combination of multiple discordant parts, ultimately making up the whole.6 We thus slowly begin to see that, contrary to societal depiction, an increasingly darker color palette, often inevitably leading to the monochrome, does not necessarily recall an upsetting, gloomy state of being but that darkness of color-pigments is, very often, a formal decision, drawing on questions of space, line, composition and the possible finality of abstract painting. To better demonstrate this phenomenon, we shall look at the ever so popular Yves Klein blue-pigment, a pigment popularized so well by the artist, it received its own designated name.7 One could argue that Klein’s blue monochromes are, in fact, so effective and popular precisely because of the chosen color, lending specificity to the work. If we apply this logic to the many artists that have worked with a, by chance or choice, darker color palette, we will soon come to find that most black monochrome works that have stood the test of time and have been deemed, critically, important ask questions of a visual and formal nature, which in turn must be executed in precisely this way in order to work. Ellsworth Kelly’s many monochrome warped canvases, often including the color black in their compositions, work exactly because of what they are: abstract depictions of a particular moment in time, irreplicable by anything else that is not what it ends up being.8
The assumption that a darker color palette equals a withering state of mind is, perhaps, to give benefit to doubt, sometimes partially true, yet the final result is not mutually exclusive. Mark Rothko choose to pursue a drastically darker kind of color-field painting, consisting primarily of blacks, whites and grays towards the untimely end of his life.9 Francisco de Goya and his rather infamous black paintings, originally drawn directly onto the walls of his then abode, are the clear result of a man losing his sense of sanity. What is remarkable is that, while deaf as can be and, presumably suffering greatly, the painterly quality of the works remains immaculate.10 In Rothko’s case, we ought to remember that the artist, while sticking to trying to portray the whole universe in his blacks and grays, also endeavored into acrylic drawings which, in contrast, featured bright yellows, light-blues and pastel pinks.11 The correlation between color and state of mind might be as evident as one being the reflection of the other but we cannot rely on this rule, as we see highlighted by the many examples, indefinitely. The clearest example that underlines this might be that of the grand-Dutch, Van Gogh himself.12 Plagued by what we now could (and should) consider a severe case of a poor mental health, Van Gogh was notorious for always finding joy and resistance against the ills that indulge the mind in the vast landscapes of nature, flowers, and greenery. Naturally, Van Gogh, consuming great quantities of absinth regularly, did not combat his suffering in the slightest, nor was he equipped to do so, and we shall refrain from any judgement or false diagnosis. What is interesting is that nobody would suspect that somebody harboring great discomfort would be drawn to paint the same sunflowers in a multitude of variations, just to name one example of the radiosity of Van Gogh’s process. Instead of bright field of blossoming flowers and night skies of infinite splendor, one would, knowing of Van Gogh’s various conditions, imply a more subdued, gloomy, and perhaps somber undertone to his oeuvre.13
Of course, there are times where the darkness of the pigment is inherently a cultural and historical phenomenon. If we think of Asian calligraphy art, dating back to the Shang dynasty (circa 1600 – 1100 B.C.), we are quick to find that the overarching color is black sumi ink. In this case, form follows function: the ink needs to be black to assure the highest possible contrast between ink and paper, making for a more readable final result.14 It also needs to be acknowledged that artists like Soulages, Kline, Ücker, Fontana and many others where deeply aware of Asian traditions and all had a deep fondness for Asian calligraphy.15 In hindsight, it is abundantly clear of how Asian traditions partially lead to modernism and the rise of the monochrome. Yet the incongruence between a western way of viewing the dark(ness) and an eastern does not end there. In western housing and street planning, the common tendency is to neglect shadows or darker, perhaps worse lit parts of any building. This is done by adding lighting systems, cutting down precious nature such as foliage and trees, preferring the sunrise/ sunset view over the worse lit one, and so on. In eastern philosophy, the shadow is not something to neglect but a part of the whole, something to integrate and with which one can cause an interplay between light and darkness, sunshine, and shadows.16
We must not fear the darkness but embrace it. In this case, one needs to assume that there are indeed times wherein the artist has suffered and gone through dark times for their art, yet the two are not mutually exclusive to one another. One could think of figures such as Käthe Kollwitz, Alberto Burri or Zoran Music – people that endured horribly dark times filled with tremendous atrocities like war, concentration camps and deep poverty – and directly connect their life experiences to what they chose to explore in their art. Kollwitz gave a voice to the voiceless by immortalizing them on paper, for us to never forget.17 Music would process his time in the hellscape of German concentration camps by painting the horror he witnessed firsthand and would eventually find some kind of solace (if one can call it that) in this relentless act of self-documentation of a life stolen and then, partially, regained.18 Burri, employed in the second World War, serving as a medic and being captured by third parties, would go on to a reshaped notion of painting in the twentieth century with the use of his signature materials such as burlap, metal, wood, plastic, and using combustion as a literal painting tool. One could argue that Burri’sexperiences in the war and the indelible scars those horrid memories must have left in his psyche would go to inform his painting and perhaps even be the incipit of it. The artist, in his lifetime, always denied this but the connection is evident as day.19 Logically, painting will reflect, in its composition and color-choices, the spiritual state of the maker, just like the densely dark color palette of some of the last works by Francisco de Goya are, in fact, indicative of a decline in mental and physical health.20 The proclivity to want to see parts of oneself in the work one is doing is in all of us, yet we must try to understand darkness as a part of the deal without dwelling on it. This, of course, is easier said than done if one happens to be afflicted by any kind of mental or physical illness, yet it is imperative that one tries to understand that worthwhile art does not foresee suffering as a requirement for its existence. In fact, in periods where darkness would be quick to swallows us whole, creation is never at the forefront and if it is its results are sub-par to say the least. Instead, centering oneself to a journey of betterment should be taken seriously. To create is a joy, one that surely can be led on by troublesome times, yet the creative act itself is a blossoming flower, rejoicing in the fact that there is a common ground to be had. To quote the late Leonard Cohen, whose final album marked the impetus for this discourse about darkness: “There is a crack in everything, that’s how the light gets in”.21
Biografie
DANIEL GIANFRANCESCHI ist multidisziplinärer Künstler, Autor und Interviewer. Im Anschluss an sein Studium des Mode-Managements studiert er aktuell an der AdbK in München bei Prof. Florian Pumhösl und Prof. Florian Hecker. In seiner künstlerischen Praxis konzentriert sich Gianfranceschi auf Begriffe der Malerei und des Klangs und versucht zu erfassen, was Stille und Nichts bedeuten können. Seine intuitive Herangehensweise spürt dabei der Unwiederholbarkeit von Momenten nach und durch die Minimierung der visuellen Sprache geht er symbiotische Beziehung mit den Kräften außerhalb seiner selbst ein. In seiner schriftbasierten Praxis versucht Gianfranceschi, Themen wie Kunstkritik, Kunstgeschichte und popkulturelle Phänomene auf essayistische Weise zu behandeln. Das Schreiben dient ihm dabei als düsterer und direkter Ausdruck seines Gesamtwerks und setzt sich kritisch mit der conditio humana auseinander. Gianfranceschi ist außerdem Gründer des Online-Blogs „Subject Change“, auf dem sich seine eigenen Texte aber auch immer wieder Interviews mit bekannten und aufstrebenden Stimmen aus der Kreativszene, wie Modedesigner Boris Bidjan Saberi, Keith Boadwee, Kristof Hahn (Swans), Stephanie Stein, Meo Fusciuni u.v.m, finden.
Anhand der Rauminstallationen Total isolierter toter Raum und Sterberaum analysiert Malgorzata Galazka die Bedeutung von Licht und Dunkelheit in Gregor Schneiders Werk, die gleichermaßen als potentielle Gefahr, aber auch als kathartisches Element verstanden werden können. Zwischen 1989 und 1991 in Giesenkirchen installiert, versteckt sich Total isolierter toter Raum hinter einer unscheinbaren Tür in einem Einfamilienhaus. Auch wenn das Werk nicht als ein Raumerlebnis gedacht war, erzeugen schon Fotografien der Installation Gefühle der Beklemmung und Gefangenschaft. Gegensätzlich dazu verhandelt Malgorzata Galazka die Reflexion über den Tod anhand Schneiders Sterberaum (2007/2021). Die Arbeit selbst – ein Nachbau eines Mies van der Rohe Wohnraums – dient als Lichtquelle, während der Zuschauerraum im Dunkeln liegt.
„My worst thoughts, then, were confirmed. The blackness of eternal night encompassed me. I struggled for breath. The intensity of the darkness seemed to oppress and stifle me. The atmosphere was intolerably close.“1
Auf diese Weise beschreibt der namenlose Ich-Erzähler2 in Edgar Allan Poes The Pit and the Pendulum (dt.: Die Grube und das Pendel) sein Erlebnis, als er sich nach einem Gerichtsurteil in einem komplett finsteren Raum wiederfindet. Die absolute Dunkelheit des Kerkers wird durch den Protagonisten als unermesslich weit und zugleich klaustrophobisch eng empfunden. Nicht in der Lage die eigene Hand vor Augen zu sehen, verliert er jegliches Gefühl für Zeit und Raum.3
Tote Räume
So oder so ähnlich könnte sich jemand beim Anblick von Gregor Schneiders u r 8, Total isolierter toter Raum (Abb. 1) fühlen.4 Der temporär zwischen 1989 und 1991 in Giesenkirchen befindliche Raum versteckt sich hinter einer unscheinbaren Holztür in einem Einfamilienhaus. Erst wenn die dicke, aus mehreren Schichten Material bestehende Tür geöffnet wird, gibt sie den Blick auf das im Dunkeln liegende Innere preis.
Auch wenn das Werk aufgrund seiner kurzen Installationszeit von nur zwei Jahren nicht mehr betretbar und somit auch körperlich nicht mehr erfahrbar ist, erzeugt es allein beim Anblick der Fotografien ein Gefühl der Beklemmung. Dies liegt unter anderem daran, dass die fotografischen Aufnahmen bei Schneider nicht nur einen dokumentarischen Zweck erfüllen. Durch ihre bewusste Inszenierung avancieren sie zu Produkten mit eigenständigem Werkcharakter. In seinen Fotografien schafft Schneider einen Kontrast zwischen dem gewöhnlichen Erscheinungsbild des Flurs und dem unvorstellbaren, durch seine spezielle Auskleidung nicht greifbaren Raum, der sich dahinter öffnet.5 Unweigerlich versetzt man sich in die potenzielle Situation, in diesem Raum gefangen zu sein – ein Gefühl das durch die in der Bilderfolge gezeigten, sich öffnende Tür evoziert wird. Gut versteckt innerhalb eines leerstehenden Hauses und zu einer Zeit, als Schneiders Tun vor den Augen der Öffentlichkeit noch halb verborgen war, bleibt es fraglich, ob sich jemand dort nichtsahnend wiedergefunden hat. Die fotografischen Aufnahmen bleiben die einzigen Hinweise auf dessen Existenz. Bild für Bild wird der Raum etwas weiter geöffnet, bis schließlich die schwarzen schallschluckenden Elemente zum Vorschein kommen und die Betrachtenden in das Innere des seltsamen Raumes blicken können.
Typisch für seine frühe Schaffensphase beschreibt Schneider in einem Interview fünf Jahre nach Abbau des Werkes die intendierte Wirkung des Total isolierten toten Raumes auf die Betrachtenden:
„Die Arbeit war nicht als Raumerlebnis gedacht, obwohl man sich in die schwarze, nicht abschätzbare Tiefe beugte. Man hätte sich für die Arbeit entscheiden müssen. Hätte man den Raum betreten, wäre die Tür zugefallen. Der Raum war von innen und von aussen nicht mehr zu öffnen. […] In dem Raum wäre man nicht mehr sinnlich wahrnehmbar gewesen. Man wäre weg gewesen.“6
An der grausamen Realität solch einer Gegebenheit lediglich kratzend, wird von Schneider ein suggestives Narrativ gesponnen, das eng verknüpft ist mit der Inszenierung seiner frühen Arbeiten. Oftmals entfalten sich die den Arbeiten zugrundeliegenden Themen, wie es hier der Fall ist, erst durch die sprachlichen Hinweise des Künstlers selbst, die essentiell für den Nachvollzug der Arbeit zu sein scheinen. Immerhin wird auf diese Weise zum einen die Endgültigkeit der Situation vermittelt – die Tür sei nicht mehr zu öffnen, zum anderen kann die Arbeit nicht mehr mit allen Sinnen erfahren werden. Der sprachliche Akt erleichtert es jedoch, sich mittels der Bildfolge gedanklich in die Situation hineinzuversetzen und gibt zugleich einen möglichen Hinweis auf die Fiktionalität des Raumes beziehungsweise die um ihn gesponnenen Geschichte. Wenn die Tür nicht mehr zu öffnen ist nachdem sie einst geschlossen wurde, wie kann dann die Bildfolge überhaupt erst entstanden sein?
Gregor Schneider (*1969, Rheydt), der hauptsächlich für seine Interventionen am Haus u r bekannt ist und für die er 2001 den Goldenen Löwen bei der Venedig Biennale erhielt, erzeugt mit seinen Arbeiten oft mittels eines leicht verkleinerten Maßstabs, der Nutzung von schallschluckenden Elementen, Verdoppelungen und Vervielfältigungen sowie einer suggestiven Konstellation von Alltagsgegenständen eine unheimliche und beklemmende Wirkung auf die Betrachtenden. Konträr dazu steht die sonst so penible Erfassung von Maßen und Materialien, die in Katalogen und auf seiner Internetseite die von ihm gebauten Räume näher zu beschreiben scheinen. Doch genau für dieses Werk fehlen die Größenangaben – eine Leerstelle, die nur zu gut mit dem Empfinden des Ich-Erzählers von Poes Geschichte zusammenpasst. Es ist unmöglich für die Betrachtenden von Schneiders Werk die Maße des Raumes auszumachen, ebenso wie es für Poes Protagonisten unmöglich ist, sich in der Dunkelheit seiner Zelle zurecht zu finden.
Nicht weit ist da der Gedanke an Isolationshaft und Folter. Dabei wird den Gefangenen in der Isolationshaft der Umgang mit anderen Menschen, zur Außenwelt und oft auch zu jeglichen Möglichkeiten der Beschäftigungen verwehrt. Aufgrund der dadurch auftretenden psychischen und physischen Belastung für die Häftlinge wird sie durch Kritiker:innen als eine Art von Folter betrachtet. Verstärkend kann die sensorische Deprivation – sprich (totaler) Sinnesentzug – eingesetzt werden, um die Insassen weiter zu brechen.7 Diese Praxis fand etwa im Gefangenenlager der Guantánamo Bay Naval Base Anwendung. Um diesen nur schwer vorstellbaren Zustand zu erzeugen, in dem Seh-, Riech-, Hör- oder Tastsinn ausgeschaltet werden, kommt beispielsweise eine sogenannte camera silens zum Einsatz. Sie entspricht einem vollkommen verdunkelten und schalldichtisolierten Raum. Umgangssprachlich wird diese Methode auch als Weiße Folter bezeichnet, da sie keine am Körper sichtbaren Spuren hinterlässt. Die geistige und körperliche Belastung für die Gefangenen ist jedoch gravierend.8
Diese Arten der Folter – Isolation und Sinnesentzug – werden sowohl von Poe als auch von Schneider in ihren jeweiligen Werken thematisiert. Die absolute Dunkelheit und der damit einhergehende Sinnesentzug stellen dabei für Poes Protagonisten zunächst eine psychische Belastung dar, die sich körperlich durch Atemnot bemerkbar macht, wie auch durch die räumliche Desorientierung. Die durch die Dunkelheit verursachte Unmöglichkeit der Erfassung des Raumes drängt zwangsläufig die Assoziation auf, lebendig begraben zu sein. Im Verlauf der Geschichte, nachdem der Erzähler unzählige Male eingeschlafen und wieder aufgewacht ist, versucht hat sich des Raumes mithilfe seines Tastsinnes bewusst zu werden und dabei scheiterte, erleuchtet ein grelles Licht die Zelle – und gibt weitere Schrecken preis.9 So schlussfolgert Johannes Binotto: „Für Poes Gefangenen […] folgt auf die Dunkelheit des Zweifels nicht das Licht der Gewissheit um die eigene Existenz. Im Licht, das in den Kerker dringt, wird vielmehr klar, dass er hier gerade nicht zum Existieren, sondern zu Tode kommen soll.“10
Eine Bemerkung, die ebenso für die Betrachtenden des Total isolierten toten Raumes zutreffend erscheint. Immerhin stellt der Raum – folgt man Schneiders Aussage – einen Ort dar, aus dem es potentiell kein Entrinnen gibt, an dem die nichtsahnende Person letztendlich stirbt, sollte der Raum jemals betreten werden. Das Licht ist aber auch Voraussetzung dafür, dass überhaupt durch die Betrachtenden erkannt werden kann, welches Schicksal ihnen zu blühen droht, sollten sie sich hineinwagen. Denn im Gegensatz zu Poes Protagonisten befinden sich die Betrachtenden von Schneiders Werk zunächst im Licht und blicken dann in die Dunkelheit des Raumes hinein und stehen somit auch außerhalb des vermeintlichen Kerkers. Diese veränderte Anordnung ermöglicht es aber auch die Dunkelheit und den Raum selbst aus einer sicheren Perspektive zu betrachten. Das Licht und die Dunkelheit erzeugen eine Schwelle, zwischen einem als sicher empfundenen Raum und der vermeintlichen Falle, die der Total isolierte tote Raum darstellt. Die scheinbar gefährliche Situation wird als künstlerische Intervention entlarvt. Das Licht gibt somit nicht nur die Möglichkeit das Werk tatsächlich zu betrachten – anstatt körperlich zu erfahren – sondern auch aus einer sicheren Warte heraus über die Implikationen nachzudenken, die das visuelle Erscheinungsbild und Schneiders Aussage bergen.
Letztendlich besteht die Herausforderung für die Betrachtenden also darin, sich der Dunkelheit des Raums und ihren metaphorischen Bedeutungen zu stellen. Dies kann einen kathartischen Effekt haben, indem die Betrachtenden dazu angeregt werden, über die eigenen Ängste und existenzielle Fragen nachzudenken und sich möglicherweise von ihnen zu befreien. Dadurch, dass der Raum nicht betreten werden sollte und auch nicht mehr betreten werden kann, wird die körperliche Erfahrung zurückgestellt und äußert sich in einem Versuch des Nachempfindens der suggerierten Situation.
Ein Raum zum Sterben
Eine umgedrehte Lichtdramaturgie findet sich im Sterberaum (Abb. 2) wieder, denn hier ist es die Arbeit selbst, die als Lichtquelle dient, während der Publikumsraum im Dunkeln bleibt. Diese Konfiguration erzeugt eine einzigartige Atmosphäre, in der die Besuchenden von außen das Licht erleben, das aus dem Raum kommt, während sie sich selbst im Dunkeln befinden. Der Raum kann nicht betreten werden und ist somit nur von außen durch die Fenster einsehbar – ein leerer Raum mit weißen Wänden, einem Holzparkett und zwei großen Fensterfronten. Die äußeren Wände wurden mit schwarzem Material verkleidet, sodass er mit der ihn umgebenden Dunkelheit zu verschmelzen scheint. Nicht der Raum selbst, sondern lediglich der Titel, geben Auskunft über die ihm zugeschriebene Funktion – das Sterben. Die Analyse der Bedeutung von Dunkelheit und Licht vorbereitend, werden im folgenden zunächst Entstehungskontext und Rezeptionsgeschichte betrachtet.
Der Sterberaum ist ein leicht verkleinerter Nachbau eines Herrenzimmers im von Mies van der Rohe 1927 entworfenen Haus Lange in Krefeld, das heute zusammen mit dem benachbarten Haus Esters als Museum genutzt wird.11 Hier hatte Schneider 1994 mit anderen Kunstschaffenden unter dem Titel Drei Arbeiten seine erste museale Ausstellung, die sich den unmerklichen Veränderungen von Räumen und damit einhergehend der Frage nach der Wahrnehmbarkeit dieser durch die Betrachtenden widmete – einem Kernaspekt seines Œuvres, der bereits in Total isolierter toter Raum angelegt ist. So schnitt Schneider im Haus Lange unter anderem ein Stück aus der Wand heraus und transplantierte es anschließend in sein Haus u r. Es folgten weitere Ausstellungen am selben Ort, wodurch sich eine Beziehung zwischen Künstler und Raum entwickelte, die Schneider 2008 wie folgt beschreibt:
„Er ist ein Nachbau eines Raums aus dem Museum Lange/Esters, der in meinen Augen einer der empfindsamsten und künstlerisch anspruchsvollsten ist, die wir für Gegenwartskunst als Museumsbau haben. […] Von Mies van der Rohe konzipiert, ist er für mich ein Ausdruck räumlicher Freiheit. […] Und dadurch, dass mein Alltag so eng mit den Räumen verknüpft ist, kann ich mir dort auch den Tod sehr gut vorstellen. Dort hatte ich 1994 meine erste Museumsausstellung und ich wünsche mir, ich hätte dort auch meine letzte.“12
Die Thematik des Todes beziehungsweise des Sterbens wurde 2000 durch eine Performance Schneiders eingeführt. In dem Raum, den er ein paar Jahre später nachbauen sollte, verharrte er als Toter Mann regungslos auf dem Boden.13 Eine sich bei anderen Ausstellungen wiederholende Praktik, die mitunter auch stellvertretend von Puppen übernommen wird.14
Mitte der 2000er-Jahre folgte schließlich der Nachbau des von van der Rohe entworfenen Raumes. Verbunden mit seiner Aussage in The Art Newspaper im April 2008: „I want to display a person dying naturally in the piece or somebody who just died. […] My aim is to show the beauty of death“15, löste der Raum eine – bisweilen auch aggressiv geführte – Diskussion aus, die sich an der Frage abarbeitete, was Kunst dürfe und wo ihre Grenzen liegen. Schnell folgten in den Medien Vorwürfe einer gezielten Provokation und Pietätlosigkeit, privat erhielt der Künstler sogar Morddrohungen.16 Trotz der negativen Presse konnte der Sterberaum 2011 schließlich im Kunstraum Innsbruck und ein Jahr später im Nationalmuseum in Stettin gezeigt werden.17 Die Ausstellungssituation blieb dabei die gleiche: Über einen dunklen Gang erreichten die Besuchenden schließlich den von innen erleuchteten Nachbau des van der Rohe Zimmers – leerstehend, denn es fand sich kein Leichnam darin.
Die vorerst letzte Präsentation des Sterberaums fand 2021 auf dem Höhepunkt der Corona Pandemie im Staatstheater Darmstadt statt. Über einen Live-Stream – ein Ausschnitt kann auf der Homepage des Künstlers angesehen werden18 – konnte die dreitägige Perfomance Gregor Schneiders verfolgt werden, in der er vor dem Raum zumeist sitzend verharrte. Auch hier wurde der von Innen beleuchtete Raum wie bei vorangegangenen Ausstellungen auf gleiche Weise so inszeniert, dass er mit der ihn umgebenden Dunkelheit verschmolz. Doch das Dispositiv änderte sich: Das Publikum musste nicht erst selbständig seinen Weg durch die Dunkelheit zum Exponat finden und persönlich vor dem Raum stehen, diese Aufgabe wurde stattdessen stellvertretend von Schneider übernommen.
Auch die Reaktion der Kritiker änderte sich. Als „Künstler für die Corona-Pandemie“19 ermöglichte Schneider den Betrachtenden nun das, was um sie geschah, zu verarbeiten. Der Sterberaum wurde durch die veränderte gesellschaftliche Situation zu einem Kontemplationsraum, der einen sicheren Rahmen für die Auseinandersetzung mit den Themen Tod und der eigenen Sterblichkeit bot. Die Vorwürfe der Effekthascherei und gezielten Provokation waren angesichts des allgegenwärtigen Sterbens wie vergessen. Das Kunstwerk konnte nun aus einer neuen, konkreten Sicht betrachtet werden, als ein Raum, der eine Beschäftigung mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Umgang mit dem Tod ermöglicht – ein Prozess, der ansonsten nur allzu oft verdrängt wird. Schneider, der stellvertretend für die Zuschauenden anwesend war, kann dabei als Identifikationsfigur gesehen und somit auch als eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der unbequem erscheinenden Realität der menschlichen Existenz und Sterblichkeit verstanden werden.20
Vergleicht man die Darmstädter Inszenierung mit der Ausstellungssituation des Raumes vor 2021, so fällt das bereits erwähnte veränderte Dispositiv zwischen Kunstwerk und den Betrachtenden als markantester Unterschied auf. Die dem Werk inhärente Inszenierung mittels Dunkelheit und Licht hebt den Sterberaum beziehungsweise sein Inneres in aller Deutlichkeit hervor und lässt, in Verbindung mit dem Titel des Werks, die Assoziation zu, in diesem Fall wortwörtlich, ins Licht gehen.21 Es scheint nur allzu bezeichnend zu sein, dass ausgerechnet dieser Raum, nicht betreten werden kann. Wir – die Lebenden – sind lediglich in der Lage den Tod sowie das Sterben als Außenstehende zu betrachten, und tappen hinsichtlich seiner tatsächlichen Bedeutung im Dunkeln bis wir auf die andere Seite gelangen. Eine Situation, die der im Total isolierten totem Raum ähnlich erscheint. Denn auch hier, wie in Poes Kurzgeschichte The Pit and the Pendulum, bedeutet das Licht Gewissheit, dass der Tod eine unausweichliche Erfahrung ist, die uns letztendlich alle erwartet. Schlussendlich wohnt auch diesem Kunsterlebnis ein kathartischer Moment inne, ebenso wie in der über den Stream verfolgbaren Präsentation im Staatstheater Darmstadt, der sich durch die Auseinandersetzung mit Leben und Tod vollzieht.22
Die Schwärze der ewigen Nacht
Um die Bedeutung von Dunkelheit und Licht im künstlerischen Schaffen Gregor Schneiders ausdifferenzieren zu können, wurden exemplarisch zwei seiner Werke in Augenschein genommen. Dabei stellte sich sowohl für Total isolierter toter Raum als auch Sterberaum heraus – neben anderen Implikationen, wie Folter und Gefangenschaft –, dass die Dunkelheit als eine Sphäre der Unwissenheit und Unbestimmtheit in Hinsicht auf die Existenz der Betrachtenden gedeutet werden kann. Ebenso wie Poes Protagonist sind die Betrachtenden von Schneiders Werken gezwungen sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Ob sie dies im Rahmen der eigenen Imagination mit Hilfe von Fotografien und Äußerungen des Künstlers versuchen oder die Arbeiten leiblich erfahren – sie scheitern.
Das Licht dagegen bedeutet in beiden Werken die Gewissheit der Unausweichlichkeit des Todes. Was zunächst vielleicht grausam anmutet und etwas darstellt, das allzu gerne verdrängt wird, ist etwas, dem Schneider entgegenwirken möchte: „Weil es [das Sterben] eine elementare existentielle Erfahrung ist, durch die wir viel lernen können. Offenheit und Wahrhaftigkeit zum Beispiel.“23 So gilt es zum einen der Verdrängung von Tod in der Gesellschaft entgegenzuwirken, um daraus eine persönliche Lehre zu ziehen, den Tod als Teil der menschlichen Existenz – nicht mehr und nicht weniger – zu begreifen. Zum anderen bedeutet es aber auch den Sterbenden einen würdevollen, da selbstbestimmten Tod zu ermöglichen, fern ab von der Sterilität von Krankenhäusern.24 Diese Empathie den Sterbenden gegenüber und die Akzeptanz des Todes zeigen sich wohl auch nicht zuletzt an der Verwendung eines wärmeren und indirekten Lichts, das aus dem Sterberaum dringt und eine Ausnahme in Schneiders Werken darstellt.
Diese Beobachtung verweist aber auch darauf, dass die vorliegende Analyse nur einen kurzen Abriss über die Sujets Licht und Dunkelheit in Schneiders Werken darstellen kann. So wurden die Arbeiten deshalb ausgewählt, da sie innerhalb eines Raumes Licht und Dunkelheit miteinander vereinen und diese zwei Elemente somit direkt miteinander wirken können. Der Aspekt des kalten durch Leuchtstoffröhren erzeugten Lichts, der Gregor Schneiders Arbeiten wie ein roter Faden durchzieht, wurde hingegen außenvorgelassen. In WEISSE FOLTER – einer Raumfolge von Zellen, die nach Fotografien des Gefängnisses Guantánamo Bay gestaltet wurden – werden erneut die Themen Isolationshaft und Folter aufgegriffen. Das grelle, kalte Licht der Neonröhren auf den strahlend weißen Wänden erschwert es, den physikalischen Raum bewusst zu erfassen – Ecken und Kanten verschwimmen, Entfernungen können nur schwer eingeschätzt werden, die eigene Position im Raum wird zu einer Ungewissen. Inmitten der vielen hell beleuchteten Korridore und Zellen steht ein Raum, in dem absolute Dunkelheit herrscht. Auch hier finden sich die Betrachtenden letztendlich mit der beklemmenden Unendlichkeit der Finsternis konfrontiert – ein Echo von Poes Grube und Pendel.
Biografie
MALGORZATA GALAZKA studierte Kunstgeschichte und Theater- und Medienwissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg. Seit 2016 arbeitet sie am Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Sie promoviert zu transmedialen Phänomenen im Werk von Bruce Nauman und Gregor Schneider. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen in der Wirkung von Raum und von Werken auf Betrachtende, in Strategien der Angsterzeugung im Horrorfilm und -literatur und in der Transmedialität in der Kunst.
HINWEIS: In diesem Beitrag geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.
Was bedeutet es, nachts als Frau im öffentlichen Raum unterwegs zu sein? Friederike und Lieselotte Illig als ILLIG&SÖHNE veranschaulichen in einer eindringlichen Text-Bild-Arbeit die beklemmende Realität, in der Frauen kontinuierlich der Gefahr vor sexuellen und verbalen Übergriffen im nächtlichen öffentlichen Raum ausgesetzt sind. Reale Angst durch die ständige Bedrohung und die stetige Wachsamkeit durch das fehlende Sicherheitsgefühl werden für die Leser:innen aus der ICH-Perspektive erlebbar. Indem sie persönliche Situationen schildern, machen die Künstler:innen die kollektive Erfahrung vieler Frauen sichtbar, die sonst häufig ungehört bleibt.
„Immer, wenn ich im Dunkeln nach Hause gehe, habe ich mein Pfefferspray in meiner Hand in meiner Jackentasche. Den Daumen am Abzug. Ich kann nie unbesorgt einfach los gehen. Ich muss immer wachsam sein. Ich scanne meine Umgebung und wäge ab, wo ich gehe.“
Das Gegenteil von Intimität ist nicht nur Distanz, sondern vor allem Angst.
„Sag Bescheid, wenn du zu Hause angekommen bist oder ruf an, wenn es unterwegs unheimlich ist.“
„Ich fahre nachts mit dem Fahrrad auf der Straße und muss an einer roten Ampel anhalten. Aus dem Busch springt jemand und versucht mich vom Fahrrad in den Busch zu ziehen.“
„Jemand wildfremdes quatscht mich an, will meine Handynummer haben und lässt nicht locker.“
„Ich stehe an der roten Ampel. Gegenüber sehe ich schon einen Mann, der mich anstarrt. Ich gehe extra ganz links um den Abstand zu vergrößern. Er kreuzt absichtlich meinen Weg und geht mit offenen Armen auf mich zu. Ich drehe mich weg und versuche wegzugehen. Er geht mir hinterher und fasst mich an der Schulter an. Ich sage, dass ich das nicht will. Er hört nicht auf. Ich schreie ihn an, er soll aufhören. Keiner hilft mir.
Ich schreie einen anderen Mann an, dass er mir helfen soll. Er macht nichts.“
Das verlorengegangene Gefühl für Abstand, Nähe und Distanz changiert mit der tatsächlichen Gefahr, die immer mit schwebt.
In jeder Situation muss ich damit rechnen, dass etwas passiert. Auch wenn nichts passiert, hängt die Gefahr wie ein Schleier über mir. Sexuelle Übergriffe und gefährliche Situationen sind mir oft passiert.
„Guten Abend, guten Abend, sagt der Mann. Ich gehe weiter, ohne stehen zu bleiben.“
„Eine Gruppe kommt auf mich zu. Ich laufe ganz rechts am Weg, schaue auf den Boden und atme flach. Ich versuche, möglichst unauffällig zu sein. Ein Mann bleibt stehen und ruft laut: ‚Kannst ruhig mal hallo sagen. Das ist höflich.‘ Ich bin wie in Schockstarre. Halte den Atem an und bete, dass nichts passiert. Für mich geht es nicht ums ‚Hallo‘ sagen – für mich geht es ums Überleben.“
„Ich gehe nach Hause, hinter mir stößt jemand die Tür auf. Ich drehe mich um und sehe einen komplett vermummten Mann mit heruntergelassener Hose. Er läuft mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Zwei Wochen später packt mich der Gleiche Typ vor der Haustür am Arm reißt mich rum und sagt: ‚Diesmal entkommst du mir nicht.‘“
Ich bleibe nicht mehr still. Ich beleuchte die dunklen Situationen. „ICH“ bin stellvertretend für meine Schwester, meine Mitbewohnerin, meine Freundin, meine Tochter. „ICH“ bin stellvertretend für alle.
„Jemand verfolgt mich.“
Die intimen Situationen werden schlaglichtartig beleuchtet. Das Wechselspiel zwischen intimen/inneren Raum und Außenraum erzeugt die Spannung in unserer Auseinandersetzung.
„In der Bahn sitzt ein Haufen Betrunkener. Die ganze Fahrt versuche ich nicht aufzufallen, weil sie versuchen alle weiblichen Fahrgäste zu begrapschen. Als ich aufstehe, greift sich einer in den Schritt und wirft mir einen Kuss zu. Seine Freunde grölen.“
„Auf meinem Heimweg lungert ein Typ rum, der mich mit seinen Blicken auszieht. Ich biege ab, um ihm auszuweichen. Ich laufe einen helleren, aber viel weiteren Weg nach Hause.“
Wo bin ich privat, wo öffentlich? Kann ich als Frau überhaupt noch öffentlich sein?
„In jeder Situation muss ich damit rechnen, dass mir irgendetwas passiert. Auch wenn nichts passiert, hängt die Gefahr über mir.“
Biografie
FRIEDERIKE ILLIG studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sie war in Heidelberg, Gießen und Worms als Lichttechnikerin bzw. Lichtdesignerin in Theatern, bei Festivals und in der freien Szene tätig. Sowohl in künstlerischen als auch in technischen Kontexten setzt sie sich performativ mit aktuellen Themen, Alltagssituationen und dem öffentlichen Raum auseinander. Seit 2018 lebt und arbeitet sie in Berlin.
LIESELOTTE ILLIG studierte Freie Kunst an der Bauhaus Universität in Weimar, Ethnologie in Frankfurt und Raumstrategien in Österreich. Performative, raumspezifische und interdisziplinäre Ansätze sind Grundlage ihrer künstlerischen Arbeit. Schwerpunkte sind der öffentliche Raum, Stadterforschungen und Körperräume. Nach Stationen in Worms, Mainz, Weimar, Frankfurt und Linz lebt und arbeitet sie seit 2022 in Berlin.
Die Erde war ungeformt und leer, Finsternis lag über der Oberfläche der Tiefe, und der Geist Gottes bewegte sich auf dem Wasser. Angetrieben vom Buch Bereshit und den Gravuren Gustave Dorés, entstand eine Reihe von fotografischen Chemigrammen durch Licht und direkte Manipulationen im analogen Entwicklungs- und Vergrößerungsprozess. Schatten ist der direkte Verweis auf die Dreidimensionalität von Objekten und zu unserem Empfinden von Tiefe und Räumlichkeit. Die Serie Berishit löst diese Bezüge auf, um die Betrachter:innen aufzufordern, ihr gewohntes Bildverständnis neu zu interpretieren.
Biografie
MAJA GRATZFELD (*1982, Deutschland) ist eine Künstlerin, die sich auf Fotografie und Textilkunst spezialisiert hat. Sie studierte Interdisziplinäre Malerei und Bildforschung an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, wo sie 2011 ihr Diplom erhielt. Anschließend setzte sie ihr Studium als Postgraduierten Studentin fort und studierte an der École Supérieure des Beaux-Arts de Nîmes in Frankreich sowie an der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem, Israel. 2014 schloss sie ihr Studium mit einem Meisterschüler Abschluss ab.
Gratzfelds künstlerische Praxis umfasst die Erforschung von Kulturanthropologie und deren Interpretationen, oft unter Verwendung traditioneller Techniken wie Weben, die sie mit zeitgenössischer Fotografie verbindet. Ihre Werke entstehen häufig als hybride Formen, die sowohl digitale als auch analoge Techniken kombinieren. Sie stellt das Material, mit dem sie arbeitet, durch verschiedene Verfahren wie Falten und Reißen in Frage, um neue visuelle Formen zu schaffen. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt, unter anderem im Jüdischen Museum in Berlin, dem Haifa City Museum und dem Hellerau Portrait Award. Zusätzlich entwickelt sie gemeinschaftsorientierte Kunstprojekte in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen.
Maja Gratzfeld lebt und arbeitet mit ihrer Familie zwischen Israel, Deutschland und Frankreich.
Für seine Ausstellung Zum Weinen geh’ ich nach Heidelberg (2023) nutzt Lennart Cleemann den dunklen Dachraum des Barac – Labor für Kunst und Soziales in Franklin, Mannheim, als Inspirationsquelle, Arbeitsplatz, spiritueller Kraftort zur Selbstreflexion und schließlich als Ausstellungsfläche. Angezogen von der Lichtärme und Dunkelheit entstehen ortsspezifische Arbeiten aus Material, das, bis auf wenige Ausnahmen, der direkten Umgebung entstammt.
In einen dunklen Dachraum einer ehemaligen Kaserne führt meine Ausstellung Zum Weinen geh’ ich nach Heidelberg. Ehemals ein Nazi Standort, dann U.S. Barracke, heute Barac – Labor für Kunst und Soziales in Franklin, Mannheim.
Drei kleine Dachluken bringen spärlich, flaches Licht in den Raum. Eine Wandarbeit von Laura Schacher und die materielle Rohheit des Raum prägen die Atmosphäre. Hier auszustellen war eine spontane Idee. Der ursprüngliche Plan: 2 Wochen für eine Skulptur im Außenraum. Die Lichtärme und Dunkelheit haben mich angezogen. Das Beschneiden einer dunklen Masse mit Lichtquellen, ein Halbdunkel, ein feiner Glanz. Die Angst und die Konzentration der Wachsamkeit entfalten seine Spannung. Ein Begrenzen und Filtern. Insgesamt sind 4 Lichtquellen vorhanden. 3 Dachlukenfenster von denen zwei künstlich unterstützt sind und eine Straßenlampe. Alle Arbeiten sind am Ort und ohne Planung entstanden.
Alles Material stammt aus einer 200m Umgebung mit Ausnahme mancher Fügemittel. Der Ausstellungsort wurde für zwei Wochen zu meinem Atelier. Tag und Nacht in seinen sich wandelnden Atmosphären und Raumkonstellationen verbringen.
Ein Raum dient als Inspirationsquelle, Arbeitsplatz, Ausstellungsfläche und spiritueller Kraftort zur Anerkennung und Sichtbarmachung von individuellen und kollektiven seelischen Löchern. Ich wollte auch noch schwarze Löcher erwähnen.
Abbildungen: Ausstellungsansicht: Lennart Cleemann: Zum Weinen geh‘ ich nach Heidelberg, Barac – Labor für Kunst und Soziales, Franklin, Mannheim, 2023, Fotos: Johannes Ocker.
Biografie
LENNART CLEEMANN (*1990) studierte Architektur in Hannover, Aarhus und Stuttgart. Vor seinem Studium an der Kunsthochschule Stuttgart absolvierte er ein Praktikum bei Buchner Bründler Architekten in Basel. Diese Zeit prägte seine Denkweise und Arbeitshaltung bezüglich des von ihm so benannten „poetischen Pragmatismus“. In der Kunstklasse Reto Bollers entdeckte er seine Affinität für den direkten Kontakt mit Material und dessen emotionale Potenz. In seiner Arbeit behandelt Cleemann Aspekte der Ein- und Zweisamkeit sowie Themen des sexuellen Begehrens und Konsums. Die Befreiung aus einer gefühlten Hilflosigkeit gegenüber gesellschaftlich und gedanklich festgefahrenen Strukturen ist dabei ein Ziel seiner Arbeit, deren Ausgangspunkt oft rohe, unbehandelte Materialien bilden. Diese werden gerne mit Fundobjekten von der Straße und Baustellen kombiniert und in Kontext miteinander gesetzt.
Archive sind Orte des Bewahrens und des Sammelns. Sie sind Wissensspeicher und eröffnen uns Zugang zu Vergangenem. Doch wer entscheidet, was als aufbewahrenswert gilt? Wie beeinflussen weiße, patriarchale und heteronormativ geprägte Strukturen ein Archiv? Julia Beckmann und Carla Huttenloher zeichnen in ihrem Essay mit dem Titel Im Dunkeln gelassen – shadow archives und wie Vergangenheit in Archiven bewahrt wird die teilweise rassistischen und diskriminierenden Prozesse bei der Entstehung und Weiterführung von Archiven nach. Gleichermaßen suchen sie nach Möglichkeiten der Sichtbarmachung verborgener Erzählungen, um bisherige Leerstellen in den Archiven aufzuzeigen und auszufüllen.
Archive “speichern” Wissen. Im allgemeinen Verständnis erfolgt der Speichervorgang als bürokratischer Reflex — automatisch und losgelöst von Interpretation oder Vereinnahmung. Wissen wird produziert, an die Archive weitergereicht, dort mit einer Nummer versehen und abgelegt, bis jemand sich wieder für ein Dokument interessiert. Allerdings ist es auch selbstverständlich, dass der Platz der Archive – rein analog gedacht – endlich ist und somit aus pragmatischen Gründen eine Vorauswahl getroffen wird, welche Dinge ins Archiv eingehen und welche kassiert werden.1 Das öffnet die Frage: wer sammelt und wer entscheidet, was archivwürdig ist und was nicht? Dieser Text verhandelt, wie durch diese „Gewalt der Archive“2 – also die Position zu entscheiden, was für die Zukunft aufbewahrt wird – Leerstellen3 im Wissensspeicher entstehen und wie man diese aus dem Dunkeln ans Licht holen und befüllen kann.
Beginnen wir mit einer scheinbar einfachen Frage, auf die es jedoch viele verschiedene mögliche Antworten gibt: Was genau ist überhaupt ein “Archiv”?
Anfang der 1930er-Jahre schrieb der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin(1892-1940) seine Notiz Ausgraben und Erinnern (Abb.1 und 2) mit Tinte auf Papier nieder. Darin definiert er, das Gedächtnis nicht als Instrument, sondern vielmehr als Medium „für die Erkundung des Vergangenen“4. Es sei vergleichbar mit dem Medium des „Erdreich[s], in dem die alten Städte verschüttet liegen“5. Das Archiv ist ein „Medium des kulturellen Gedächtnisses“6. Ausgehend von Benjamin bedeutet die Erinnerungsarbeit in Archiven folglich, sich denselben Sachverhalten (lies: dem Bestand) immer wieder aus neuen und aktuellen Perspektiven zu nähern, denn durch das bloße Sammeln ohne Betrachtung der Kontexte um ein individuelles Objekt und Hervorheben dieser Kontexte entsteht ein Wissensverlust.7Das Ausgraben wird hierbei zum Modus Operandi – der Spaten(stich) zum Instrument, dem sich die Grabenden bedienen müssen, um wiederkehrende „Sachverhalte“ wie Erde immer wieder neu anzureichern und umzuwühlen.8
Das Speichern von Wissen in Analogie zum Gedächtnis wird zum Ausgangspunkt der Arbeit mit Archiven, denn „[d]er behutsame, tastende Spatenstich ins Dunkle Erdreich“9 setzt eine bewusste Auseinandersetzung mit den Fundstücken aus Archiven voraus. Werden Archive mit dem Erdreich gleichgesetzt, so wird suggeriert, dass Dokumente, Objekte und Kunstwerke im Archiv verloren gehen, wenn sie nicht kontinuierlich wieder hervorgeholt (ausgegraben) und neu betrachtet (umgewühlt) und unter verschiedenen Perspektiven aus dem Schatten in das Licht gehalten werden. Diese Betrachtung als Kontinuum bezieht sich auf einzelne Stücke, verweist aber auch auf eine anhaltende Re-und Neukontextualisierung des individuellen Objekts innerhalb des Netzwerks einer Sammlung und darüber hinaus. Bezugspunkte zum weiteren Bestand innerhalb des Archivs, zum Selbstverständnis der Institution, die das Archiv beherbergt, zu den Fördermitteln, durch die eine Institution finanziert wird sowie zu der Gesellschaft, deren (Teil-)Gedächtnis im Archiv aufbewahrt und bearbeitet wird — und deren Steuergelder wiederum das Archiv erhält — sind nur ein Teil des immateriellen Bestands einer Sammlung, der mit der Befragung des materiellen Bestands wächst. Der immaterielle Bestand einer Sammlung, der mit der Befragung des materiellen Bestands wächst, setzt sich aus vielen Faktoren zusammen: zum einen die Bezugspunkte zum weiteren Bestand innerhalb des Archivs und zum Selbstverständnis der Institution, die das Archiv beherbergt, zum anderen die Verknüpfungen mit Fördermitteln, die die Institution finanzieren und mit der Gesellschaft, deren (Teil-)Gedächtnis im Archiv aufbewahrt und bearbeitet wird, und deren Steuergelder wiederum das Archiv erhalten.
Diese Struktur aus Wechselwirkungen, die durch dynamische Akteur:innen konstituiert wird, setzt voraus, dass sich ein Archiv ebenso dynamisch verhält, wie die Gesellschaft, deren Gedächtnis es bewahrt. Archive sind „keine Wissensspeicher im Sinne eines statischen Speichermodells“.10 Sie werden „zur Modifikation und Korrektur aktueller Erinnerungen herangezogen“11.
So ist das Archivieren als bloßer Speichervorgang eine endliche Handlung, die in einer Statik ihren Abschluss findet. Sammeln als Modus Operandi des Archivs wiederum ist ein Vorgang, der kontinuierlich erfolgt. Ein stetes Addieren zu einem Bestand. Sammeln setzt aber auch voraus, dass auf etwas Bestimmtes aufgebaut wird – das Verständnis für das, auf das aufgebaut wird, bestimmt die Stoßrichtung des Archivs: Je größer der Bestand, desto mehr Leerstellen existieren zwischen den Objekten einer Sammlung. Diese lassen sich als immaterieller Bestand nicht durch bloßes „Nachsammeln“ bearbeiten – denn „der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.“12
Es gilt, mit den Leerstellen ebenso zu verfahren wie mit den Netzwerkbeziehungen zwischen dem Bestand und den Dingen außerhalb des Bestands. Sie sollten genauso wie Objekte in der Sammlung befragt und vermittelt werden. Netzwerke bilden das immaterielle Erbe, das in Archiven beherbergt und gleichzeitig nicht beherbergt wird. Dieses Erbe ist nicht allein abhängig davon, wie groß die Menge an Dokumenten, Fotografien, Objekten etc. des Archivs tatsächlich ist, sondern wächst auch dadurch, wie viele Nutzende oder Sammler:innen mit den Beständen interagieren und welche Verbindungen sie zwischen Dingen innerhalb und außerhalb des Archivs ziehen.
Im Gegensatz zu der von Benjamin verwendeten Metapher, mit der er das Archiv als materielle Umgebung beschreibt, die man physisch – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen kann, definiert der französische Philosoph Michel Foucault das Archiv als ein rein immaterielles Konstrukt.13 Es bestehe aus einer Sammlung von Diskursen, die sich repressiv auf die Gesellschaft auswirken, indem sie das „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ bilden; das heißt einen Rahmen, der vorgibt, welche Aussagen innerhalb von gesellschaftlichen Diskursen getätigt werden können.14 So werden historische Sachverhalte über die Zeit hinweg transformiert und bleiben Teil heutiger Diskurse.15 Es entsteht ein Bild der Fremdbestimmung, mit der Vergangenheit als repressives Instrument.
Der Anthropologe Arjun Appadurai interpretiert Foucaults Vorstellung eines Archivs neu: als empowerndes Instrument von migrantischen source communities. Im Sinne Foucaults und Assmanns sammeln sich dort Objekte, Hoffnungen und Verluste an, die überhaupt erst das Werkzeug für eine community bilden können, um sich ein Gedächtnis ihrer Vergangenheit anzulegen und dadurch das „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ in ihrem Sinne zu definieren und so Diskurse zu beeinflussen.16 Bei dem Versuch, diese drei Ansätze unter dem Arbeitsbegriff einer Netzwerkstruktur zu vereinen, wird deutlich, dass ausschlaggebend für die gesellschaftliche Resonanz und deren Wechselwirkung vor allem die sammelnde Institution ist. Wer darf das Erbe in Archiven verhandeln?
Das Erinnern – ausgehend von der Perspektive eines Familiengedächtnisses – ist gleichzeitig eine persönliche und gemeinschaftliche Handlung.17 Außerdem wohnt dem Erinnern, ausgehend von dem Selbst als ersten Bezugspunkt, der Faktor Identität und somit eine große Emotionalität inne. Wo finde ich Anknüpfungspunkte an mein Selbst, wo fällt das augenscheinliche Fehlen meines Selbst in Erinnerungen von Anderen (bis hin zum Archiv als Institution) ins Gewicht? Wie Mitglieder einer Familie durch „Erzählungen und Anekdoten“18 Erinnerungen erweitern und durch „Fotos und andere Dokumente“19 stützen, so wird in Archiven das materielle und immaterielle Erbe einer Gesellschaft verhandelt – durch einen kleinen Teil von ihr.20
Institutionelle Archive sind für die breite Öffentlichkeit – und insbesondere für marginalisierte Gruppen – wie hermetisch verschlossene Speicher, zu denen nur wenige Zugang haben. Archive schließen „nicht bloß durch ihre rechtlichen Zugangsbeschränkungen, sondern auch über die Zugänglichkeitshindernisse, die sich aus dem Material selbst ergeben“ ganze, nicht akademisch ausgebildete Gruppen aus.21 Hinzu kommt die fehlende Widerspiegelung der Pluralität der Gesellschaft bei den Mitarbeitenden und Forschenden, die im Archiv arbeiten. Beispielsweise ist die überwiegende Zahl der Akteur:innen in Archiven weiß.22 Die vorherrschenden Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft, die individuelle und institutionelle Sozialisierung und Biografie beeinflussen die Entscheidung, welche Dinge als wichtig und aufhebenswert erachtet werden. Diese führen dazu – wie es die Museumsforscherin Susan Kamel ausdrückt – dass Mitarbeitende unbewusst „sich selbst sammeln“23 und so die weiße gesellschaftliche Machtposition in den Archiven reproduzieren. Es fehlt die Sensibilität für die Lebensrealitäten von marginalisierten Menschen.24 Gleiches gilt, wenn man den Faktor gender betrachtet – patriarchale Hegemonie wurde ins Archiv und seine Bestände eingeschrieben.25
„Wer nicht am Erinnern [mit]arbeite[n darf], der [wird] verg[essen], [wir] akzeptier[en damit eine Normierung und Homogenisierung] in Kultur und Gesellschaft.“26
Durch diese Praxis erschaffen Archive Leerstellen des kollektiven Gedächtnisses. Mit fehlendem Zugang und der im Zuge dessen fehlenden Perspektiven und Auseinandersetzung mit dem Bestand verkommt das Sammeln zum statischen Speichern und die Archive versagen im Sinne ihrer Verantwortung, diese Gedächtnisse zu öffnen, Wissen preiszugeben und gesellschaftliches Erbe von der Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.27 Es wird eine Deutungshoheit der Wenigen über das kollektive Gedächtnis einer Gesamtgesellschaft gelegt.28 Archive repräsentieren einen historischen Kanon, den sie selbst konstruieren: Sie erinnern nicht bloß, sondern können auch mit Kalkül etwas vergessen machen.29 Archive und ihre Träger:innen sind mitschuldig in der Etablierung von Kolonialismus, Rassismus, Konservatismus, Bigotterie, Sexismus und Chauvinismus geprägten Narrativen, die sie halfen, zurück in das kollektive Gedächtnis zu spülen und es über Generationen hinweg zu formen.30
Archive manifestieren so die Kulturelle Hegemonie31 innerhalb der Gesellschaft, denn „es gibt keine politische Macht ohne Kontrolle über die Archive, ohne Kontrolle über das Gedächtnis.“32
Besonders deutlich wird dies bei von Kolonialmächten angelegten Archiven. Sie nutzten Archive ganz bewusst für ihre Propaganda und, um „ein bestimmtes Bild ihrer Herrschaft in die Zukunft zu überliefern“. Die deutsche Kolonialgesellschaft war gleichzeitig eine erfolgreiche Bildagentur. Archive wurden als Instrumente der Unterdrückung genutzt, indem sie direkte Beweise ihrer in den Kolonien begangenen Gräueltaten verschleierten oder im Nachhinein auslöschten. Sie lassen sich aus heutiger Sicht somit nicht als neutrale Quellen der Opfer des Kolonialismus lesen, sondern müssen als „Komplizen“ der Täter:innen betrachtet werden.
Bewahren heißt somit auch sich gegen das Vergessen auflehnen.33 „Wer nicht am Erinnern arbeitet, der vergisst, akzeptiert das Vergessen als ‚Normalfall in Kultur und Gesellschaft‘.“34
Aleida Assmann bezeichnet den Vorgang des Vergessens als eine Art gesellschaftlichen Automatismus, bei dem Informationen immer wieder von neuen Informationen abgelöst und überschrieben werden.35 Nur ein Bruchteil des kulturellen Gutes, zusammengesetzt aus dem bereits lückenhaften Gedächtnis eines jeden einzelnen Menschen, der jemals gelebt hat und leben wird, bleibt in kulturellen Bräuchen, Gegenständen, Traditionen etc. zurück beziehungsweise wird überliefert. Das aktive Erinnern als Kanon, als „Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft“, versteht Assmann als einen Bereich abseits des „Speichergedächtnisses“ eines Archivs, in das „Spuren und Reste der Vergangenheit ein[gehen], die nicht Teil einer aktiven Erinnerungskultur sind“ und deshalb „keinen primären Nutzen für die Gesellschaft [haben], sondern […] der Selbstverortung des Menschen in der Geschichte [dienen].“36 Was Assmann als ein „Warten auf Wiedererweckung in Form von Auswahl, Aufmerksamkeit, Deutung, Bewertung, Sinn“37 beschreibt, ist die Transitzone des Gesammelt-Worden-Seins oder das Schlummern im dunklen Erdreich nach Benjamin. Dies beschreibt einen Zustand zwischen Vergessen- und Entdeckt-sein, eine Existenz des materiellen Erbes im Schatten des „Daches schützender Institutionen“38.
Allan Sekula vertritt 1986 in seinem Essay The Body and the Archive die These, dass Archive einen universellen Charakter haben, also grundsätzlich alle gesellschaftlichen Gruppen abbilden, jedoch mit Hierarchisierungen arbeiten, um vermeintlich gute und vermeintlich schlechte Gruppen zu unterscheiden. Nur auf Grundlage dieses gegenseitigen Vergleichs konnten Abweichungen identifiziert werden.39 Aus diesen gesammelten Abweichungen bildeten sich shadow archives, deren Verflechtungen innerhalb der Archive entschlüsselt werden müssen, um Kontinuitäten aus der Erde der Archive ans Licht holen zu können.40
Im durch die Mauer geteilten Berlin der 1960er-Jahre gründete die Akademie der Künste der DDR ein Archiv für den Bürgerrechtler Paul Robeson (1898-1976).41 Er war nicht nur Sportler, Musiker und Schauspieler, sondern zählte als überzeugter Sozialist und Kommunist zu den Radikalen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA.42 Seit 1956 war er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste43. Erst über ein halbes Jahrhundert später und mehrere Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Akademien Ost und West44 wurde das Paul-Robeson-Archiv45 – inzwischen ein wirkliches shadow archive – im Rahmen der Recherche für das Ausstellungsprojekt Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives46 wiederentdeckt. Die kritische Auseinandersetzung mit der mehr oder minder bewussten Vergesslichkeit der eigenen Institution47 wurde durch Matana Roberts48 in der Klanginstallation Resonanceinnerhalb der Ausstellung sichtbar. Die Installation war mit Inhalt der Podiumsdiskussion Resonating Struggles – Paul and Eslanda Roberts in East Berlin49, die im Rahmen des Projekts stattfand und die Beziehung zwischen den Robesons als Symbolträger:innen eines anderen US-Amerikas und der DDR nachvollzog. Als Resonanzkörper also evoziert das Paul-Robeson-Archiv – als Kunstwerk, als Ort, als Gespräch, als Text – Assoziationen mit dem verhandelten Material oder die Gedanken und Ideen von Matana Roberts, als der:die Künstler:in sich durch das Archiv “grub“.50 Es gibt so nicht nur Aufschluss über den Bezug der Robesons zur DDR, sondern auch über die kritische Auseinandersetzung mit dem Bestand der Akademie der Künste.
Durch eine Öffnung des Archivs und das Einladen von sich im Außen befindenden Perspektiven wird Gesammeltes wiederentdeckt, werden Leerstellen in Sammlungen aber auch in Bezügen der Sammlungsobjekte untereinander und darüber hinaus augenscheinlich. Das ist kein Problem, sondern ein Anstoß zur weiteren Wandlung und Öffnung von Archiven und der hochemotionalen Arbeit mit unserem kulturellen Gedächtnis. Denn, wie Michael Rothberg es zusammenfasst:
„Cultural memory in its oppositional guise seeks not simply to resurrect a repressed past but to ‘displace the angle of vision’ through which we approach history. It thus makes possible a ‘new relation to the past’ based not ‘resemblance’ but on ‘recognition’ of our ethical implication in traumatic violence.“51
Als Frau ist Eslanda Goode Robeson, langjährige Managerin und Ehefrau von Paul Robenson, der Vergesslichkeit der Archive aber auch des Funktionsgedächtnisses der Gesellschaft52 noch mehr ausgesetzt als ihr Mann. Die Akademie der Künste gab sich während der Ausstellung Arbeit am Gedächtnis Mühe, Goode Robesons Arbeit als Aktivistin und Anthropologin an der Seite ihres Mannes und darüber hinaus im Umgang mit dem Sammlungsbestand hervorzuheben. So wurde beispielsweise das Teilarchiv der Akademie während der Laufzeit als Paul und Eslanda Robeson Archiv verhandelt.53 Die strukturelle und kontinuierliche Sichtbarkeit dieser temporären Implementierung hinterlässt aber noch immer eine Leerstelle in Form von Eslanda Robeson: Das Archiv trägt offiziell weiterhin den Namen Paul-Robeson-Archiv54.
Solche Archiv-Konflikte wollen die critical archival studies ansprechen und problematisieren. In einem einführenden Text werden diese – in Anlehnung an die Definition der kritischen Theorie nach Max Horkheimer – so definiert:
„[…] we broadly define critical archival studies as those approaches that (1) explain what is unjust with the current state of archival research and practice, (2) posit practical goals for how such research and practice can and should change, and/or (3) provide the norms for such critique. In this way, critical archival studies, like critical theory, is emancipatory in nature, with the ultimate goal of transforming archival practice and society writ large.“55
Diese Definition bietet sowohl eine theoretische Rahmenbedingung für die kritische Lesart von Archiven als auch eine praktische Perspektive, wie sich die Arbeit an und mit Archiven verändern soll und muss. So zählt Matana Roberts nicht zu den rund 400 Mitgliedern der Akademie der Künste Berlins.56 Deren Perspektive nicht zu einer endlichen Handlung, sondern zu einem Ausgangspunkt mit einer kontinuierlichen Tragweite werden zu lassen, ist die Verantwortung der Mitglieder einer solchen Institution und derer, die in ihren Archiven weiterhin “am Gedächtnis arbeiten”. Transformation bleibt ein transdisziplinär und transgenerational kontinuierlicher Vorgang.
Dafür muss unter anderem der Auswahlprozess des Archivierten offener werden. Beim Sammeln wird den Dingen – nach Michael Thompsons Mülltheorie – anhand eines Bewertungsmaßstabs Bedeutung zugewiesen, der drei Kategorien umfasst und deren Wertigkeit innerhalb der Aufzählung abnimmt: Dauerhaftes, Vergängliches und Müll.57 Archive und Museen sind traditionell in der Machtposition, die Grenzen zwischen den drei Kategorien zu ziehen und somit zu entscheiden, was dauerhaft gemacht wird. Diese Position gilt es aufzubrechen und das Sammeln partizipativer zu gestalten,58 um durch die Beteiligung verschiedenster Gruppen die aktuellen Bestände herauszufordern, widerzuspiegeln, aber auch zu ergänzen.
Letztendlich bedeutet ein Gegenbild zum etablierten Kanon zu entwickeln allerdings häufig, in Opposition zu den Institutionen zu treten und eigene Archive anzulegen. Im Zuge der zweiten Frauenbewegung in den 1970er- und 1980er Jahren gründeten sich viele feministische Archive, die sowohl die Dokumentation der Geschichte der Bewegung seit dem 19. Jahrhundert übernahmen und Zeugnisse aus dieser Zeit verwahrten als auch die aktuellen feministischen Aktionen festhielten. Archive wie das FFBIZ (Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum) in Berlin bestehen bis heute.59
Der fehlenden Repräsentation und systematischen Exkludierung der migrantischen Akteur:innen in den staatlichen Archiven und Sammlungen der deutschsprachigen Länder wirken Initiativen wie DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschlande.V.) in Deutschland und das Archiv der Migration in Österreich entgegen. Sie tragen aus privaten Sammlungen und Vereinen zusammen, was die vielfältige Geschichte der Migrant:innen in Deutschland und Österreich illustriert und nutzen das Archiv so im Sinne Arjun Appundarais als empowerndes Instrument, um Sichtbarkeit zu schaffen und die gesellschaftliche Rolle von Migrant:innen als Subjekte der Geschichte zu manifestieren.60 Die Eigenständigkeit der Archive schützt auch vor einer Vereinnahmung und Aneignung durch große Institutionen und sichert die Zugänglichkeit für die source communities. Verdeutlicht wird dies durch das Projekt Migration sammeln 2015 im Wien Museum. Die im Zuge des Projektes zusammengetragenen Objekte und Dokumente wurden in die Sammlung des Museums aufgenommen, wodurch die Objekte selbst und die von ihnen erzählte Geschichte jedoch dem Zugriff der Sammelnden entzogen wurden.61
Konservative Narrative in Archiven zu hinterfragen, heißt, diese zu dekonstruieren, mit dem Spaten ins Dunkle zu stoßen und das Erbe ins Licht zu holen – sowohl innerhalb bestehender Archive als auch durch aktives Suchen bei Akteur:innen marginalisierter Gruppen. Graben heißt, sich erinnern, Erinnern ist Arbeit.62 Das Möglich-Machen des „ins Licht holen“ ist eine Aufgabe des Archivs, das darauffolgende Betrachten zugleich eine persönliche und gemeinschaftliche sowie kontinuierliche Handlung. Das Bewusstsein über die kontinuierliche Arbeit im Archiv als Selbstzweck beschreibt einen Aufwand, der ein kollektives Herangehen an den Bestand fordert, der nicht nur gesammelt, bewahrt und organisiert, sondern auch vermittelt werden will. Leerstellen im Archiv sollten nicht als Zielstellung die Vollständigkeit der abgebildeten Perspektiven haben, denn sammeln ist keine finite Handlung, denn eine Vollständigkeit ist – wie auch im kollektiven Gedächtnis – niemals erreicht. Vielmehr sollten Archive als Hilfestellungen fungieren, das „Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft“, den etablierten Kanon und die Weichenstellung der Gegenwart in die Zukunft auf Basis dieses Kanons, zu hinterfragen und auch die Erde des Funktionsgedächtnisses immer wieder helfen, umzugraben.
Biografie
JULIA BECKMANN ist Museologin und Kunsthistorikerin und aktuell im Projekt zur Digitalisierung der Sammlung am Bauhaus-Archiv in Berlin beschäftigt. Außerdem ist sie ehrenamtlich als Teil des Kurator:innen-Teams im Ausstellungsraum Helmut in Leipzig aktiv. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Ausstellungsgestaltung und dem Alltagsdesign des 20. Jahrhunderts und ihrer Rezeption, sowie der Wirklichkeitsdarstellung in Fotografie und Malerei und ihrer Wechselwirkungen.
CARLA HUTTENLOHER ist Kunst- und Bildwissenschaftlerin. Aktuell ist als wissenschaftliche Volontärin am Bauhaus-Archiv in Berlin tätig. Ihr besonderes Interesse gilt der Reproduzierbarkeit und dem Kopieren von Bildern und Bildausschnitten. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die politisch motivierte Kunst in der Weimarer Republik sowie das Bild und sein Fragment im digitalen Raum.
Derzeit sind BECKMANN und HUTTENLOHER im Rahmen der AG Diversität gemeinsam mit weiteren Kolleg:innen des Bauhaus-Archivs an der Gestaltung der Veranstaltungsreihe Haltung üben beteiligt. Im Zuge dessen beschäftigen sie sich mit dem Thema, wie man Archive politisch lesen, neu betrachten und lebendig halten kann.
Eine Übung vor Originalen in der Berlinischen Galerie führt zu emotionalen Erfahrungsberichten junger Frauen über die (nächtliche) Straße als Angstraum. In diesem Essay geht Alessa Paluch den Fragen nach, wie diese Gefühle im Museum Raum finden (können) und inwiefern diese Erfahrungswelt in den impressionistischen Werken selbst schon angelegt ist. Er schließt mit dem Aufruf, diese Normalität der hegemonial geordneten Räume nicht mehr hinzunehmen.
Gefühle im Museum
Im September 2022 arbeiteten wir zu zweit als freie Kunstvermittlerinnen in der Berlinischen Galerie mit einem Leistungskurs Kunst einer Abiturklasse mit verschiedenen Übungen, genannt Thinking Routines, des sogenannten Project Zero der Erziehungswissenschaften der US-amerikanischen Harvard University1. Thema des dreistündigen Workshops war das Berliner Nachtleben, befanden sich doch die angehenden Abiturient:innen auf Abschlussfahrt in der Hauptstadt. Diese hatten die meiste Zeit ihrer Oberstufe unter pandemischen Bedingungen verbracht und deshalb auf ein Nachtleben weitestgehend verzichten müssen. Zum Ende ihrer Schulzeit lockerten sich nun die Bestimmungen und unter Einschränkungen war auch ein Ausgehen wieder möglich. Uns interessierte, wie die Schüler:innen diese Situation empfanden. Aufgeteilt in zwei Gruppen sollten sie sich nach einem kurzen Rundgang durch die Dauerausstellung gemeinsam auf ein Werk, mit welchem sie arbeiten wollten, einigen. Vor den ausgewählten Werken führten wir dann die Thinking Routine See – Wonder – Feel durch, um im Anschluss der jeweils anderen Gruppe das Werk und die davon inspirierten Gedanken und Überlegungen vorzustellen. Wir hatten uns darauf vorbereitet, dass wir eventuell mit starken Reaktionen und Gefühlsbekundungen angesichts der schwierigen Lockdown-Situation für Jugendliche umzugehen hätten, sprachen wir doch mit dem Thema des Nachtlebens eine Erfahrungswelt an, die mit Jugend assoziiert ist, aber für die jungen Erwachsenen unserer Gruppe bisher nicht oder nur stark eingeschränkt zugänglich war. Interessanterweise ergab sich aber vor dem impressionistischen Werk Berliner Straßenszene (Leipziger Straße) (1883) von Lesser Ury eine rege Diskussion über die Nacht in der Großstadt als Angstraum. Diese Diskussion war zudem stark gegendert, identifizierten sich doch die Schülerinnen mit den zwei weiblichen Figuren im Bild und brachten ihr Unwohlsein – auch anhand persönlicher Beispiele von Street Harassment und Cat Calling – zum Ausdruck.
Diese konkrete kunstvermittlerische Erfahrung möchte ich zum Anlass nehmen, die angewendete Übung in Auseinandersetzung mit ausgewählten Werken der Berlinischen Galerie vorzustellen, die Erfahrungsberichte von den angstbesetzten nächtlichen Räumen der Großstadt am Beispiel der genannten impressionistischen Werke zu analysieren und in einen größeren Kontext zu setzen.
See – Wonder – Feel
Die Übung See – Think – Wonder, von der wir unsere Übung See – Wonder – Feel abgeleitet haben, ist Teil der sogenannten Thinking Routines, die die Harvard Graduate School of Education der Erziehungswissenschaften der US-amerikanischen Harvard Universität im Forschungsprojekt Project Zero entwickelten.2 Diese Thinking Routines sind mehr oder weniger simpel aufgebaute Methoden, die das kritische Denken von Schüler:innen trainieren sollen. Sie wurden entwickelt, um Lehrkräften einfach im Unterricht zu etablierende Methoden an die Hand zu geben, um das kritische Denken der Schüler:innen nachhaltig und ausdauernd zu üben und damit weiter zu entwickeln. Seit über 50 Jahren forschen Wissenschaftler:innen im Project Zero zu neun verschiedenen Forschungsfeldern der Kunstpädagogik und Erziehungswissenschaft mit einem hohen Forschungs-Output in Form von unter anderem wissenschaftlichen Publikationen und Handreichungen für Lehrkräfte und educators im Allgemeinen. Die Thinking Routines als Methodenkoffer sind nur ein kleiner, wenn auch recht erfolgreicher Teil der Forschungsarbeit des Project Zero.3 Als erster Leiter des Projekts fungierte 1967 Nelson Goodman, ein renommierter Philosoph und Symboltheoretiker, der sich im Rahmen des Project Zero für eine Grundlagenforschung der arts education (unzureichend übersetzt ins Deutsche mit Kunstpädagogik) einsetzte.4 Hieraus lässt sich erklären, warum viele der Thinking Routines besonders geeignet für die Anwendung an Kunstwerken sind beziehungsweise gezielt an Kunstwerken entwickelt wurden, obwohl sie allgemein das kritische Denken fördern sollen und explizit keine reine Kunstpädagogik sind. Was für Kunsthistoriker:innen mit dem Bestreben, die Eigenlogik der Kunst zu wahren, teils befremdlich erscheinen mag, macht in der konkreten pädagogischen Arbeit am Kunstwerk aber durchaus Sinn: So nimmt man ein Kunstwerk als visuelles Objekt zum Anlass, um leitende Fragen zu stellen, die die Schüler:innen dann subjektiv Schritt für Schritt beantworten. In der Reflexion der eigenen Antworten und der der Anderen stellt sich dann im Idealfall ein Moment des kritischen Denkens ein, welches die eigenen Aussagen überprüft und ergänzt. Weitergehende Informationen über das Kunstwerk, die Kunstschaffenden und/oder ihren Kontext sind dabei (meist) nicht von Relevanz.
Je nachdem, welcher Aspekt des kritischen Denkens in den Fokus genommen werden soll, kann See – Think – Wonder vielfältig angepasst werden – solange der See-Part beibehalten wird und an erster Stelle steht. Für unser Unterfangen, mit den Abiturient:innen eines Hannoverschen Gymnasiums in der Berlinischen Galerie der Freizeitaktivität des nächtlichen Ausgehens nachzuspüren, haben wir die Übung in See – Wonder – Feel umgemünzt. Unser Fokus lag darauf, mit dem Wonder-Aspekt die Kommunikation unter den Abiturient:innen mit einem Perspektiven- und Fragen-Mix zu öffnen. Mit der Frage nach den Gefühlen strebten wir an, die sich am Ende ihrer gemeinsamen Zeit befindlichen Schüler:innen (es handelte sich um deren Abschlussfahrt) etwas herauszufordern.
Am Beispiel von Nikolas Brauns Berliner Straßenszene von 1921, welches sich eine Gruppe der Abiturient:innen ausgesucht hatte, soll die Methode veranschaulicht werden: Zu Beginn wird das Werk ein bis zwei Minuten schweigend betrachtet. Die erste Frage, die dann in den Raum gestellt und von den Teilnehmenden schriftlich beantwortet werden soll, lautet: Was siehst Du? (Im englischen Original: What do you see?) Die Schüler:innen sind aufgefordert, Sätze aufzuschreiben, die mit Ich sehe beginnen. Sie sollen ihre Beobachtungen möglichst genau beschreiben. Nach einer Bearbeitungszeit von wenigen Minuten folgt die zweite Frage: Was denkst Du? (What do you think?) Auch hier sollen die Schüler:innen Sätze niederschreiben, die mit Ich denke beginnen. In unserer Adaption der Übung haben wir statt Was denkst Du? nach Worüber wunderst Du Dich? gefragt. Hier sollen die Niederschriften mit Ich wundere mich oder Ich frage mich beginnen. Nach einigen Minuten folgt dann die dritte und letzte Frage, in unserem Fall Was fühlst Du? beziehungsweise Welche Gefühle hast Du? Im Anschluss folgt der didaktisch wichtigste Teil, der gemeinsame Austausch über die subjektiven Eindrücke. Hier ist es besonders wichtig, dass die Gruppe klein ist, da alle Teilnehmenden zur Sprache kommen sollen. Der erste Teil sorgt dabei für eine recht umfassende Bestandsaufnahme, da meist vom Offensichtlichen bis zum Detail alle Bildelemente genannt werden (sollen). Dabei muss von den Anleitenden darauf geachtet werden, dass sich nicht bereits Interpretationen, Narrative oder Antworten auf die zwei folgenden Fragen in die Beschreibungen einschleichen.5 Bei Nikolas Brauns Berliner Straßenszene gibt es einiges zu sehen.
So benannten die Abiturient:innen (bis auf eine Person waren sie in dieser Gruppe alle weiblich) fast alle figurativen Details des Werkes, von der bildmittigen Straßenbahn über die Bauarbeiten am Gleis bis zu den verschiedenen Auslagen der kleinen, scheinbar übereinandergestapelten Läden. Die Schüler:innen wunderten sich insbesondere über deren Anordnung und die dadurch leicht verschobene Bildkomposition, fragten sich, wie man die Läden betreten könne und warum genau diese verschiedenen Gewerbe aneinandergereiht waren. Zudem wunderten sie sich über einzelne Figuren, ihre Tätigkeiten und Existenzen. Auch stellte sich die Frage nach der Grundstimmung des Werkes: Waren die Figuren glücklich oder verzweifelt, war die Stimmung lebendig oder bedrückend? Die dann folgende Frage nach den Gefühlen schien die Stimmungsfrage eindeutig zu beantworten: Der Großteil der Schüler:innen war sich einig, dass das Werk zu unruhig, die Fülle an Details überfordernd und die Verkehrssituation geradezu angsteinflößend war. Die Gefühle waren fast durchweg negativ, auch wenn die ästhetische Komponente der teils kräftigen Farben und Kontraste als interessant beschrieben wurde. Niemand wünschte sich, Teil dieser wuseligen Straßenszene zu sein.
Berliner Straßenszene bei Nacht
Währenddessen hatte sich die zweite Gruppe das Werk Berliner Straßenszene (Leipziger Straße) (1889) des deutschen Impressionisten Lesser Ury ausgesucht. Zwei Frauen in dunklen, zeittypischen Kleidern mit Tournüren überqueren eine von Kutschen stark frequentierte Straße. Laternen spiegeln sich im nassen Straßenbelag, während im Hintergrund eine Straßenbahn fährt. Die Frauen teilen sich einen schwarzen Regenschirm, während sie mit großen Schritten von links nach rechts die Straße überqueren. Die Hintere schaut zu uns Betrachtenden, ihr Gesicht ist nur verschwommen erkennbar. Die Dynamik der Szene wird durch ein scheuendes Pferd am linken Bildrand unterstrichen. Auf eindrückliche Weise arbeitet Ury mit wenigen Farben und setzt vor allem starke Schwarz-Weiß- beziehungsweise Hell-Dunkel-Kontraste ein. Dabei überwiegen die dunklen Farben, die von hellen, weißen Akzenten unterbrochen werden. Diese starken Lichtakzente lassen die Künstlichkeit des elektrischen Lichts besonders deutlich hervortreten. Neben der Frage nach der Tageszeit (ist es früh am Abend oder spät in der Nacht?) stellt sich den Schüler:innen dringlich die Frage nach dem Wohlbefinden der beiden Frauenfiguren. Was machen sie im Dunkeln, im Regen, mitten auf der vielbefahrenen Straße? Wo kommen sie her, wo wollen sie hin? Die jungen Frauen der Abiturient:innen-Gruppe sind alarmiert: Sie empfinden die Szene als bedrohlich. Warum schaut uns die eine der beiden an? Die naheliegende Interpretation wäre, dass sie nach rechts schaut, ob die Straße frei ist. Die Schülerinnen vermuten jedoch, dass den beiden Frauenfiguren von uns, den wohl als männlich gedachten Betrachtenden, nachgestellt wird. Die Dynamik der dargestellten Bewegung und der eindeutigen Kompositionslinien übersetzt sich für die Schülerinnen in eine Art Fluchtbewegung, ein schnelles und möglichst unbehelligtes Davonkommen von der dunklen, nassen und gefährlichen Straße.
Die männlichen Räume der Impressionisten
Erst wenige Jahre vor der Entstehung dieses Werks wurde in Berlin die elektrische Straßenbeleuchtung eingeführt:
„Im September 1882 erhielt die Stadt Berlin die erste elektrische Straßenbeleuchtung mit Differentiallampen. In der Leipziger Straße, von der Friedrichstraße bis zum Potsdamer Tor, sowie auf dem Potsdamer Platz waren sechsunddreißig Kandelaber mit je einer Laterne aufgestellt.“6
Die elektrische Straßenbeleuchtung war nicht nur für die zeitgenössischen Künstler:innen ein faszinierendes, neues Phänomen, welches exklusiv nur am Potsdamer und Pariser Platz, Unter den Linden und der hier gezeigten Leipziger Straße installiert worden war und sinnbildlich für die moderne Stadt und ihr Nachtleben stehen kann.7 Lesser Ury malte mehrere dieser durch elektrisches Licht erleuchteten Straßenszenen8, weitere Impressionisten taten es ihm gleich. Das künstliche Licht fing 1884 Carl Saltzmann eindrücklich als grell-kaltweiße Erleuchtung in seinem Gemälde Erste elektrische Straßenbeleuchtung ein. Es galt, die Modernität der Stadt und ihrer Bewohner:innen darzustellen. Diese Modernität in Form des künstlichen Lichts, der Straßenbahn und der modisch gekleideten Frauenfiguren hat sich den betrachtenden Schüler:innen im Jahr 2022 allerdings nicht direkt als solche vermittelt. Es war der nächtliche Straßenraum, der die Aufmerksamkeit auf sich zog und die Frage nach der Bewegungsfreiheit und -sicherheit der Frauen in demselben aufkommen ließ. Die durch die Maler:innen des Impressionismus wiedergegebenen Räume werden von Kunsthistoriker:innen verschieden kategorisiert, gemeinhin werden einige impressionistische Werke als eine Beschäftigung mit den neuen Freizeitangeboten der modernen Großstadt beschrieben.9 Die Kunsthistorikerin Griselda Pollock trifft bereits 1988 in ihrem Aufsatz Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne eine analytische Unterscheidung zwischen den Räumen der Frauen und den Räumen der Männer, wobei letztere deutlich von hegemonial-männlichen Blickregimen bestimmt sind.10 Den großstädtischen, bürgerlichen Männern des späten 19. Jahrhunderts standen andere Freizeitaktivitäten und Vergnügungsräume zur Verfügung als den bürgerlichen Frauen, denen der Zugang zu Bars, Restaurants und weiteren Etablissements nächtlicher Unterhaltung aus moralischen Gründen, wenn nicht gänzlich verwehrt, so doch mit Auflagen und Sanktionen erschwert wurde.11 So analysiert Pollock die Werke der Impressionistinnen Berthe Morisot und Mary Cassatt hinsichtlich ihrer spezifischen Raumdarstellungen, Motive und Perspektiven. Anhand des Vergleichs mit den Bildkompositionen der männlichen Impressionisten arbeitet Pollock deren Räume deutlich als von einem männlichen Blick bestimmte heraus. Die Blickbeziehungen, die hier ausgespielt werden, präsentieren sich dabei als oftmals hochgradig sexualisiert und objektifizierend.12 Man denke an Eduard Manets Bar in den Folies-Bergère (1881-1882), Olympia (1863) oder August Renoirs Die Loge (1874).
Lesser Urys Straßenszene (Leipziger Straße) lässt sich in diesen Kontext der modernen Räume als „Herrschaftssystem sexueller Differenz“13 einordnen: Das über die Straße schreitende Frauenpaar ist dem männlichen, zentralperspektivisch geordneten Blick ausgesetzt, den nur die hintere der Beiden zu erwidern scheint. Wie bereits beschrieben, lässt die dynamische Komposition, das Motiv des Verkehrs sowie das scheuende Pferd das Gefühl des Gehetzt- und Verfolgtseins durchaus legitim erscheinen. So wird deutlich, dass die (nächtliche) Straße vielleicht noch nie ein sicherer Ort für Frauen war beziehungsweise als solcher empfunden wurde. Diese Interpretation durch die Abiturient:innen vor dem Original in der Berlinischen Galerie lässt Rückschlüsse darauf zu, dass diese Erfahrung der Unsicherheit im öffentlichen Raum zur Lebenswirklichkeit derselben gehört – was zudem durch die anschließenden anekdotischen Schilderungen von eigenen Erfahrungen mit Cat Calling und Street Harassment eindrücklich untermauert wurde.
Die Straße als Angstraum
„Die Räume des Weiblichen bestimmen nach wie vor das Leben der Frauen, von der Herausforderung aufdringlicher Blicke bis zum Risiko tödlicher sexueller Verletzung. Darum ist es so nötig, die Geschlechterpolitik zu benennen, die die Moderne strukturiert und innerhalb derer moderne Kunst produziert wird. Es ist lebenswichtig, vergangene Alternativen und Formen des Widerstands im Aushandeln der Moderne und der Räume der Weiblichkeit aufzuweisen.“14
Unser Ziel war es, die Abiturient:innen zu ihrer Gefühlswelt bezüglich des Nachtlebens, welches sie die meiste Zeit ihrer Oberstufe aufgrund der pandemischen Situation nicht hatten erleben können, zu befragen. Wir hatten uns darauf eingestellt, dass sie über eine gewisse Traurigkeit sprechen würden sowie über die Vorfreude, das Nachtleben bald völlig uneingeschränkt erleben zu können. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Schattenseiten und Gefahren des Nachtlebens so einen großen Raum einnehmen würden. Die Pandemie und ihre Einschränkungen sowie die von uns antizipierte FOMO (kurz für Fear Of Missing Out, englisches Akronym für die Angst, etwas zu verpassen) spielten in den Schilderungen der jungen Menschen keine Rolle. Die schlechten Erfahrungen, die die jungen Frauen offenherzig teilten, sind zwar wenig überraschend, aber trotzdem nicht hinnehmbar. Beide Gruppen äußerten in ihren Übungen die Angst in der Nacht als junge Frau unterwegs zu sein. Die Gruppe vor dem Werk von Ury beschrieb Situationen, in denen ihnen von Männern hinterhergerufen und nachgestellt wurde. Bei diesen Schülerinnen handelte es sich um Siebzehn- und Achtzehnjährige, die die vorhergehenden zwei Jahre unter den pandemischen Bedingungen nur wenig im öffentlichen Raum unterwegs gewesen sein dürften. Und trotzdem hatten sie fast alle Erfahrungen gemacht, die den öffentlichen und insbesondere nächtlichen Raum als Gefahrenzone und Angstraum geprägt haben. Zudem schien es keine große emotionale Herausforderung zu sein, im Museumsraum vor zwei Unbekannten diese Erfahrungen zu teilen. Dies spricht für eine nicht hinnehmbare Normalisierung dieser sexualisierten, verbalen Gewalterfahrungen, die uns alle erschrecken sollte – und es damals im Museum vor einem über 130 Jahre alten Werk auch getan hat.
Mein besonderer Dank gilt meiner wunderbaren Kollegin und Freundin Meggie Jaworski, mit der zusammen ich die Abiturient:innen durch die Berlinische Galerie führen durfte. Dieser wiederum gilt mein Dank bezüglich der großzügigen Bereitstellung der Abbildungen.
Fußnoten
Vgl. die offizielle Website von Project Zero, URL: https://pz.harvard.edu/. [Letzter Zugriff: 03.05.2024]. ↩︎
Vgl. die auf der offiziellen Website von Project Zero bereitgestellten Informationen, URL: https://pz.harvard.edu/thinking-routines. [Letzter Zugriff: 03.05.2024]. ↩︎
Vgl. Howard Gardner: Project Zero. Nelson Goodman’s Legacy in Arts Education, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 58, Nr. 3, 2000, S. 245–249. Und Stephanie R. deLusé: A critical review of Harvard’s Project Zero, in: Issues in Integrative Studies, Nr. 27, 2009, S. 86–112. ↩︎
Ausführliche Anleitung zur Übung siehe https://pz.harvard.edu/sites/default/files/See%20Think%20Wonder_3.pdf. [Letzter Zugriff: 03.05.2024]. ↩︎
Erste elektrische Straßenbeleuchtung (Aus Hermann Meyer, Fünfzig Jahre bei Siemens), in: Polytechnisches Journal, 1921, Band 336, S. 302–309, URL: http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/pj336/ar336044. [Letzter Zugriff: 03.05.2024]. ↩︎
Vgl. Beate Binder: Stadt im Licht: Künstliche Beleuchtung in der Diskussion, in: Franziska Nentwig (Hg.): Berlin im Licht, Ausstellung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Märkisches Museum, Berlin 2008, S. 35–44. Und Herbert Liman: Mehr Licht. Geschichte der Berliner Straßenbeleuchtung, Berlin 2000. ↩︎
Vgl. Hermann A. Schlögl: Lesser Urys Berliner Jahre, in: Ders. (Hg.): Lesser Ury und das Licht. Ausstellungskatalog Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts Baden-Baden, Oberhausen 2014, S. 101–137. Und Barbara Wagner, Michael C. Maurer, Maximilian Eiden (Hg.): Lesser Ury – Stadt Land Licht. Ausstellungskatalog Schloss Achberg, Ravensburg 2021. ↩︎
Vgl. u.a. T.J. Clark: The Painting of Modern Life. Paris in the Art of Manet and his followers, New York 1985. ↩︎
Vgl. Griselda Pollock: Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne, in: Wolfgang Brassat/Kohle, Hubertus (Hg.): Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft. Köln 2003, S. 134–147. ↩︎
Vgl. u.a. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (Amerikanische Erstveröffentlichung 1977), Frankfurt a.M. 2004. ↩︎
ALESSA K. PALUCH ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald. Sie habilitiert zur Verwendung von vorgefundenem Bildmaterial in Werken zeitgenössischer Künstlerinnen. Sie studierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Leipzig und promovierte an der FU Berlin. Sie forscht zu künstlerischer Bildpraxis, visueller Populärkultur und Klassismus in der Kunstgeschichte.
The film work Statement is a poetic fragment of a moment when the tipping point becomes a sculptural gesture. The camera dances with the metal objects, trying to resonate with an abstract space until the rigid images merge with the dance. The sound seems to be constantly expanding and the rhythm is absorbed in a dark place of movement, attracted by the light. Film comes from the dark and needs light to manifest itself. Formally, it is always in transition between the two states.
Biografie
CAMILLA METELKA ( * Berlin, Germany ) is an artist and composer whose practice includes film, sound, installation and movement. Her work is interested in the abstraction of time-based media and their interaction with time, space and the body. She treats film, sound and movement as material that is in a dynamic of manifestation and dissolution, as poetic invitations that combine narrative, material and transformation processes.
Ausgangspunkt dieser Lecture Performance sind Drucke in der Sammlung des Museums der bildenden Künste in Leipzig, die sich mit dem Thema Blindheit oder Behinderung beschäftigen. Verknüpft werden sie mit der Biographie von Johann Sebastian Bach, der in Leipzig im Jahr 1750 an den Augen operiert wurde. Die Lecture Performance war Teil des Mikrofestivals KörperWissen im November 2020, das vom Museum der bildenden Künste und der Galerie für Zeitgenössische Kunst veranstaltet wurde. Die bildende Kunst ist fasziniert vom Thema der Blindheit. Die Erfahrung der Blindheit ist im Bild allerdings gar nicht darstellbar. Deshalb werden die Körper von blinden Menschen genutzt, um Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten handeln oft von Hilflosigkeit, Heilung und Heldentum. Sie verraten wenig über die blinden Menschen und umso mehr über die Vorstellung der Sehenden.
Viele Menschen glauben, Blindheit ist nichts anderes als reine Dunkelheit. Sie denken: „Wenn es dunkel ist, sieht man ja nichts, also sehen blinde Menschen einfach Schwarz.“ Blindgeborene sehen aber nicht schwarz. Sie sehen nichts. Für Sehende ist das schwer zu verstehen, denn sie können sich das bildlich nicht vorstellen. Besonders für bildende Künstler:innen ist Blindheit als Thema eine große Herausforderung, denn das Nichts kann im Bild nicht dargestellt werden. Blindheit entsteht nicht nur durch fehlendes Licht. Auch wenn es zu viel Licht gibt, sieht man nichts. Man wird geblendet.
Der Musiker Johann Sebastian Bach war im Alter von 65 Jahren hochgradig sehbehindert. Er konnte nicht mehr lesen und schreiben – auch keine Noten. Als Komponist war das praktisch das Ende seiner Karriere. Das war im Jahr 1750. Bach hatte einen Grauen Star, also eine Trübung der Linse im Auge. Diese Krankheit ist heute durch eine unkomplizierte Operation heilbar. Dabei wird die natürliche Linse entfernt und durch eine Linse aus Kunststoff ersetzt. Mehr als eine halbe Million solcher Operationen werden in Deutschland jedes Jahr durchgeführt.
Zur Lebzeit von Bach war so ein Eingriff aber nicht in dieser Form möglich. Die Operationen und Behandlungsmethoden waren abenteuerlich und nur wenige Ärzte konnten oder wollten sie durchführen. Einer dieser Ärzte war Dr. John Taylor. Taylor war bekannt für schwierige Augenoperationen und reiste durch verschiedene Länder in ganz Europa, um teils berühmten Leuten den Grauen Star zu stechen. Seine Kutsche war mit vielen Bildern von Augen bemalt. Die Operationen waren inszeniert wie feierliche Rituale oder Performances.
Diese schwarzweiße Druckgrafik – ein Kupferstich – zeigt ihn in eleganter Kleidung des 18. Jahrhunderts und langem lockigem Haar. Das längliche Gesicht schaut uns offen und selbstbewusst an. Seine linke Hand ist leicht geöffnet und schulterhoch angehoben. Die rechte Hand ist auf eine hüfthohe Brüstung gestützt, die das Bild am unteren Rand abschließt.
Dr. Taylor kam auch nach Leipzig und operierte Johann Sebastian Bach dort im Jahr 1750. Die erste Operation im März war nicht erfolgreich, aber nach der zweiten im Juli konnte Bach wieder sehen. John Taylor war zwar Mediziner, er stand aber auch in einer langen Tradition, die aus einem religiösen, christlichen Kontext stammt, nämlich die Heilung der Kranken als Spektakel oder Event. In der Bibel gibt es eine ganze Reihe von Erzählungen über die Heilung von blinden, gelähmten und Tauben Menschen. Ein Beispiel ist ein Kapitel in der Apostelgeschichte, in dem Petrus und Johannes zu einem Tempel in Jerusalem kommen. Sie treffen dort einen Gelähmten.
Dieser Kupferstich von Nicolas Dorigny zeigt die Szene vor dem Tempel. Zwischen prunkvoll verzierten Säulenreihen steht ungefähr ein Dutzend Menschen mit antiker Kleidung – einige davon haben Bärte. Im Vordergrund sitzt ein Mann auf dem Boden und schaut zwei Männer an, die direkt vor ihm stehen. Rechts von ihm, durch eine Säule getrennt sind zwei nackte Jungen. Der eine hält das Gewand eines Mannes ausgebreitet mit beiden Händen fest. Der andere hat einen Stock geschultert, an dem zwei Tauben hängen.
In der Bibelgeschichte wird der Gelähmte jeden Tag zum Betteln vor den Tempel getragen. Er bittet auch Petrus und Johannes um Almosen, aber bekommt stattdessen eine Wunderheilung durch Petrus: „Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.“
Der Mensch mit Gehbehinderung wird hier benutzt, um den anderen Menschen im Tempel ein Wunder zu zeigen. Das Wunder soll sie davon überzeugen, dass Jesus Christus allmächtig ist und daher der Sohn Gottes. In der Bibel wird das medizinische Modell von Behinderung vertreten. Anstatt die Gesellschaft an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung anzupassen, werden diese geheilt. So sollen sie normal werden, damit sie nicht mehr stören. In der Bibel werden aber nicht nur Wunderheilungen für „bedürftige Kranke“ und Menschen mit Behinderung durchgeführt. Behinderung wird auch als Strafe eingesetzt, um Ungläubige von der Macht Gottes zu überzeugen.
In einer weiteren Apostelgeschichte bestraft Paulus den jüdischen Zauberer Elymas, weil dieser einen römischen Beamten davon abhalten wollte, an den christlichen Gott zu glauben. Paulus sagte zu Elymas: „Du Sohn des Teufels, voll aller List und aller Bosheit, du Feind aller Gerechtigkeit, hörst du nicht auf, krumm zu machen die geraden Wege des Herrn? Und nun siehe, die Hand des Herrn kommt über dich, und du sollst blind sein und die Sonne eine Zeit lang nicht sehen! Auf der Stelle fiel Dunkelheit und Finsternis auf ihn, und er ging umher und suchte jemanden, der ihn an der Hand führte.“
Der römische Beamte war Zeuge dieser Blendung und glaubte dadurch an die Macht Gottes. Er wurde daraufhin zum gläubigen Christen.
Nicolas Dorigny zeigt auch diese biblische Szene in einem Kupferstich. In einem palastähnlichen Gebäude mit verzierten Pfeilern, Rundbögen und hohen Decken befindet sich ein gutes Dutzend Personen – wieder in antiken Gewändern. Ein Mann sitzt zentral auf einem Thron, der auf einem steinernen Sockel steht. Er hat einen Kranz aus Blättern auf dem Kopf. Am rechten Bildrand steht ein Mann und zeigt mit dem linken ausgestreckten Arm auf einen anderen Mann in der linken Bildhälfte. Dieser hat die Augen geschlossen und beide Arme nach vorne gestreckt. Die Füße stehen weit auseinander wie bei einer Gehbewegung. Was der geblendete Elymas sieht, kann das Bild nicht zeigen. Nur sein Körper und seine Gesten können abgebildet werden.
Der Künstler Nicolas Dorigny war eigentlich Jurist. Mit 30 Jahren wurde er allerdings Taub und begann daraufhin als Künstler zu arbeiten.
Menschen mit Behinderung wurden und werden in der Kunst häufig als hilflos und bedauernswert dargestellt. Oft wurden sie als Bettler:innen gezeigt, die auf Spenden und andere Unterstützung angewiesen sind. Reguläre Berufe hatten sie selten.
Ein außergewöhnlicher Fall ist der griechische Dichter Homer, der angeblich blind war. Bei ihm wird die Blindheit nicht als Schwäche angesehen, sondern als Quelle seiner Genialität und seiner schöpferischen Kraft. Er gehört zu den Menschen, bei denen die Behinderung zu einer Superkraft stilisiert wird.
Dieser Kupferstich von Jean Baptiste Massard zeigt Homer in einer felsigen Küstenlandschaft. Im Hintergrund ist das aufgewühlte Meer zu sehen und ein Himmel mit dunklen Wolken. Homer ist in einen einfachen ärmellosen Umhang gehüllt, blickt mit geöffnetem Mund zum Himmel und hat die linke offene Hand hoch erhoben. Seine rechte Hand ruht auf der Schulter eines Jungen, der ebenfalls schlichte, kurze Kleidung trägt. Homer hat auf dem Rücken ein u-förmiges Saiteninstrument.
Ob es Homer überhaupt gab, ist bis heute umstritten. Der Legende nach war er der Autor der Ilias und der Odyssee. Wie er diese Texte aufgeschrieben hat, wenn er tatsächlich blind war, ist ebenfalls nicht überliefert. Die Blindenschrift wie wir sie heute kennen, wurde erst im Jahr 1825 von Louis Braille erfunden. Sie besteht aus fühlbaren Punkten, die in verschiedenen Kombinationen für die Buchstaben des Alphabets stehen. Drei Jahre später erfand Louis Braille aufbauend auf diesem System auch eine fühlbare Notenschrift. Damit können blinde Menschen Noten lesen und schreiben – ganz ohne Wunderheilung.
Johann Sebastian Bach hat die Erfindung der Notenschrift für Blinde nicht mehr erlebt. Er starb im Jahr 1750 – zehn Tage nach der zweiten Augenoperation durch Dr. John Taylor, vermutlich an einem Schlaganfall. Durch die erste Operation, ihre gesundheitlichen Folgen und falsche medizinische Behandlung war er körperlich bereits sehr geschwächt. Auf der Kutsche von Dr. John Taylor stand der lateinische Spruch „Qui visum dat, dat vitam.“, also „wer Sehkraft gibt, gibt Leben“.
Der selbsternannte Experte für Augenheilkunde hat allerdings viele Operationen mit fatalen Ergebnissen durchgeführt. Hunderte Menschen sind durch ihn vollständig erblindet und einige sind durch Infektionen und andere Krankheiten infolge der Operation gestorben. Er war ein Scharlatan. Ein Hochstapler. Er benutzte die Kunst der Blendung und die Angst vor der Blindheit für seine Zwecke. Er machte ein Geschäft mit der Hoffnung von hochgradig sehbehinderten Menschen, die nicht die nötigen Hilfsmittel hatten, um ein selbstständiges Leben zu führen.
John Taylor starb im Jahr 1772 im Alter von 69 Jahren – ebenfalls blind.
Biografie
DIRK SORGE arbeitet als Medien- und Konzeptkünstler zu den Themen Normierung, Ableismus und den irrationalen Aspekten von digitaler Technologie. In den letzten Jahren hat er sich kritisch mit der Idee der Heilung auseinandergesetzt. Häufig werden regelbasierte Systeme genutzt, um ästhetische Entscheidungen zu treffen. Seine Arbeiten umfassen Videos, Installationen, Performances und Computerprogramme.
Ein transformierter Fließtext durchzieht die Arbeit Detections. Textfragmente aus dem Bericht der Entdeckung des Higgs Bosons-Teilchen werden wellenförmig, organisch gegliedert. Die Struktur der Gliederung wird durch die Wegnahme des Textes durch das Prinzip der Figur-Grund-Trennung gebildet. In diese sind Frequenzdarstellungen eingebettet. Diese stammen aus Tonspuren, die im Magnetfeld des Large Hadron Colliders im CERN aufgenommen worden sind. Neben dem Text befinden sich Abbildungen von analogen Fotogrammen, die u.a. mit digital erstelltem Ausgangsmaterial belichtet wurden.
1. Observation of a new particle in the search for the Standard Model Higgs boson with the ATLAS detector at the LHC
Biographie
LARS KUNTE beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit Rhythmen, Räumen, Assoziationsverkettungen und mit malerischen, fotografischen und musikalischen Fragestellungen. Er studierte Malerei & Grafik an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Zuvor absolvierte er eine Ausbildung zum Goldschmied an der Staatlichen Zeichenakademie Hanau.