Christian Platz beschäftigt sich in seinem Textbeitrag Zwischen Sensation und Abjektion. Körper und Ekel bei Else Gabriels Autoperforationsartistik mit dem kulturpolitischen Wandel in der DDR, der sich in den 1980er Jahren in Performances der Autoperforationsartisten niederschlug. Mit dem bewussten Einsatz ekelerregender Substanzen und Praktiken erzielten Else Gabriels Aktionen einen ambivalenten Eindruck auf das Publikum. Diese Ausdrucksform ist auf die gelebte Realität in der DDR zurückzuführen, in der die Kunst als Mittel eingesetzt wurde, um der Wirklichkeit zu entfliehen.
Der Körper ist überall. Jede Form, jede Perspektive, jegliche Variation ist im privaten, im öffentlichen, im analogen sowie im digitalen Raum auffindbar. Trotz der physischen Distanz sind Haltungen empfänglich und nachempfindbar. Jedoch fehlt die unmittelbare Sinneserfahrung, die im analogen Raum besteht. Gerade bei der Performancekunst ruft die unmittelbare räumliche Präsenz einen immersiven Moment hervor, der durch Aufnahmen nur zu einem Teil reproduziert werden kann. Dennoch waren Film und Fotografie wichtige Mittel der zweiten Öffentlichkeit1 in der DDR, um deren Positionen zu verbreiten und zu manifestieren. Genauer war es die Öffentlichkeit, die abseits des Sozialistischen Realismus, dem staatstragenden Kunststil der SED, arbeitete und agierte. Alles was davon abwich, wurde von der Staatssicherheit beobachtet, unter Generalverdacht gestellt und mit Repressionen sanktioniert.
In den späten 1980er Jahren ist ein Wandel in der Kulturpolitik auszumachen, auch wenn dieser nicht allumfassend ist. Nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Protesten gegen die generell repressive Politik, des Wertewandels der Öffentlichkeit und des Einsatzes einiger Kunstwissenschaftler:innen und Künstler:innen für einen geweiteten Kunstbegriff.2 Noch wenige Monate vor der unvorhergesehenen Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR fand daher im Ost-Berliner Sommer 1989 die Permanente Kunstkonferenz statt. Wie Christoph Tannert, der die Ausstellung zusammen mit Eugen Blume plante, anführt, war diese eine der letzten Liberalisierungsversuche der DDR.3 Die in der staatlichen Galerie Weißer Elefant stattfindende Ausstellung zeigte vom 30. Mai bis zum 30. Juni 1989 erstmals Performances und Installationen der zweiten Öffentlichkeit einem breiten Publikum. Unter anderem fand dort die Aktion Alias, oder die Kunst der Fuge von Else Gabriel und Ulf Wrede am 17. Juni statt.
Gabriel war zusammen mit Via Lewandowsky und Micha Brendel Teil der Gruppe der Autoperforationsartisten, die sich durch die bewusste Überhöhung des eigenen Körpers auszeichneten und dessen Stilistik sie bei der genannten Performance mit Wrede weiter einsetzten.
In einem dicht gedrängten Raum befanden sich die beiden agierenden Personen. Zum Fenster hin eng an eng sitzend oder stehend, das Publikum. Auf der bespielten Fläche standen ein großer Flügel, ein Fleischwolf und ein Glasbehälter. Zunächst fütterte Wrede den Fleischwolf mit rohem Fleisch, danach erhitzte er Gummibärchen in einer Pfanne und vermengte dann beides zu einer rot glänzenden Masse (Abb.1). Während diese Mischung kochte, setzte sich Wrede an das Klavier und spielte von Johann Sebastian Bach Die Kunst der Fuge, worauf der Titel der Performance basiert. Else Gabriel war für die Zuschauenden nur zu erahnen. Sie befand sich unter dem Klavier in einem weitmaschigen Netz, also in dessen Klangkörper und trug ein Gedicht vor.
Nach dem gespielten Klavierstück kletterte Gabriel, einer Entbindung gleichkommend, aus dem Netz hervor. Ihre Haare waren zu einem Zopf über dem Gesicht geschnürt und ihre Mimik demnach verhüllt. Sie setzte sich auf einen Stuhl und übergoss sich mit dem Gemisch von Gummibärchen und Fleisch, das kurz zuvor in einem Eimer mit Blut vermengt wurde. Unmittelbar danach entfernte Gabriel eine Teigmasse, die als Abdeckung für einen Glaskasten gefüllt mit Fliegen diente, wodurch diese freigelassen wurden. Anschließend verweilte sie regungslos auf ihrem Stuhl mit dem roten Gemisch, welches an ihrem Haar heruntertropfte, und ließ sich so vom Publikum beobachten (Abb.2).
Die fesselnde Sensation der Zuschauenden am Abjekten, am Ekel, zeigte eine Partizipation ohne haptische Berührung und ohne verbalen Austausch zwischen Darstellenden und Zuschauenden. Dies funktionierte durch die kognitiv verankerten Erfahrungen, Einordnungen und Normierung des Ekels mit den einzelnen Personen. Das Sehen und Riechen knüpfte an diesen an wodurch Assoziationen, Warnungen und Prägungen aktiviert wurden.4 Winfried Menninghaus beschrieb den Ekel als „die Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird. Eine sich aufdrängende Präsenz, eine riechende oder schmeckende Konsumtion wird spontan als Kontamination bewertet und mit Gewalt distanziert.“5 Obwohl keine objektive Gefahr vorliegt, kann der menschliche Körper ab einem gewissen Maß nicht zwischen realer und ideeller Gefahr unterscheiden. Die Zuschauenden, die wahrscheinlich eine ähnliche Sozialisierung und Prägung der Sinne erfahren haben, erlebten hier einen kollektiven Moment. Mit dem Wissen, dass es sich um eine Performance handelte, versuchten die Zuschauenden dennoch diesen Warnsignalen zu widerstehen, um Else Gabriels Umgang und Ausdruck spezifisch zu verfolgen. Diese war maßgeblich dem Geruch, Geschmack und der Haptik ausgesetzt. Es gab also einen Bezug zwischen Darstellenden und Zuschauenden, der jedoch deutlich differenzierbar ist. Die Verbindung passierte unerwartet und führte zu einem überraschenden Moment, wodurch es zu unterschiedlichen Reaktionen des Publikums kam. Unter anderem musste eine Person aufgrund von Übelkeit den Raum verlassen.6 Der Angriff gegen sich selbst, die Autoperforation, greift durch kollektive Sinneserfahrung also auch das Publikum an.
In der Performancekunst ist der Ekel als wiederkehrendes Stilmittel bestimmbar, das in der Kunstgeschichte eine lange Tradition hat und zeitlich nah auch bewusst im Wiener Aktionismus, von Künstler:innen der Abject Art oder im Fluxus eingesetzt wurde.7 Einflüsse gab es besonders von Joseph Beuys, der als populäre Referenz der Autoperforationsartisten und der generellen zweiten Öffentlichkeit galt.8 Julia Kristeva prägte den Begriff des Abjekten, indem sie die Kunstgattung der Abject Art in den 1980er definierte. Sie beschrieb die Gattung als Versuch Zuschreibungen von Ekel und daran gekoppelte soziale oder geschlechtsspezifische Positionen durch Zitieren zu verschieben.9 Jedoch ging es bei den Autoperforationsartisten nicht unbedingt um die Verschiebung von Positionen, sondern einerseits um eine Überhöhung, um aus der Wirklichkeit zu flüchten und andererseits, um die gelebte Realität zu verdeutlichen. Zu ihrer Diplompräsentation Herz Horn Haut Schrein 1987 an der Hochschule der Bildenden Künste Dresden nannten sich Gabriel, Lewandowsky und Brendel erstmals Autoperforationsartisten, deren Stilistik Gabriel 1988 beschrieb als „Selbstlöcherung, handhabbar zum Unschädlichmachen von Gefühlsüberschuß, der entsteht, wenn sich einer gut- oder bösartig akuten Gemütsbewegungen der Gegenstand entzieht bzw. ihr entzogen wird. Auto-Perforations-Artistik ist die Fortsetzung dieses Regulationsprozesses mit anderen Mitteln – gebohrt wird an den dicken Brettern, die für die Köpfe dahinter die Welt bedeuten. Auge in Auge sind wir (fast) symmetrisch.“ 10
Das heißt der Ausdruck durch das Abjekte am eigenen Körper war zentrales Mittel der Gruppe und bei Alias, oder die Kunst der Fuge nicht neu. Bereits bei Performances wie Spitze des Fleischbergs sonderte Brendel, aufgehängt in einem Netz, eine angedickte grüne Farbe ab. Bei Panem et circenses spielte sich die Performance hinter Gittern ab, wobei eine Entgrenzung des Menschen im Hinblick auf dessen tierischen Ursprung stattfand, indem Schamlosigkeit in Form von Ausscheidung, Sexualität und Ernährung in der Öffentlichkeit offenbart wurde. Via Lewandowsky versenkte bei Verlesung der Befehle seinen Kopf wiederholt in einer großen Messingbowle mit rosigem Grießbrei.11 Die Autoperforationsartisten setzten sich also mit ihrem eigenen Körper auseinander und benutzten diesen als Bildträger, als Mittel um sich auszudrücken. Die Kunstwissenschaftlerin Hiltrud Ebert sieht in dieser erzwungenen Beschäftigung mit sich selbst einen „Akt der Verweigerung“. Die Gruppe ließ sich selbst nicht auf die Emotionen des Abjekten ein. Daraus schließt Ebert, dass in den Performances die Strukturen präsent bleiben, die Unmündigkeit und Bevormundung permanent reproduzierten.12 Ebenso beschreibt sie, dass „der eigene Körper als das einzig verfügbare Reale“ für die Gruppe galt und damit jeder Auftritt ein Versuch war, die Realität zu durchbrechen.13 Durch eine absolute Überhöhung und Zuspitzung der Realität des Alltags in der DDR war dessen Wirklichkeit möglich und spürbar. Die inszenierte Wirklichkeit bewirkte zugleich eine kritische Spiegelung der Realität und war positives Modell für einen gelebten Freiraum. Der Raum der Performance spiegelte die Sehnsucht nach einem freien, selbstbestimmten Leben wieder. „Der eigene Körper, ein in Szene gesetzter, inszenierter und auch abwesender, war der Austragungsort dieser einzig möglichen Wirklichkeit.“14
Unter Wirklichkeit ist zu verstehen, dass einerseits die Freiheit im spezifischen künstlerischen Schaffen und andererseits der Alltag der allgemeinen Bevölkerung eingeschränkt waren. Es war nicht möglich, künstlerisch frei zu arbeiten oder eine (Produzent:innen-) Galerie zu gründen, da die Duldung vom Verband Bildender Künstler abhing. Dieser folgte der SED-Kulturpolitik, um sich für die Förderung des sozialistischen Realismus einzusetzen weshalb der erweiterte Kunstbegriff sich somit nicht etablieren konnte – zumal dieser als westlich und kapitalistisch angesehen wurde. Wer sich nicht an die Richtlinien des Verbands Bildender Künstler hielt, hatte mit Repressionen zu rechnen. Diese zeigten sich in Form von Überwachungen, Schließungen von Ausstellungsorten, wie die der Galerie Arkade von Klaus Werner und wurde durch Verhaftungen oder Ausbürgerungen, wie die von Else Gabriel im Jahr 1989, verschärft.15 Zum anderen war das öffentliche Leben geprägt von der nicht vorhandenen Reisefreiheit, Mangelwirtschaft, Überwachung und dem Leben in einem undemokratischen System.16Alias, oder die Kunst der Fuge war eine Gruppenperformance, dennoch ist die Rolle Gabriels besonders zu betonen. Sie nahm hier den aktiven Teil der Autoperforation ein, die mit der direkten Auseinandersetzung des Abjekten am eigenen Körper einherging, um so der Wirklichkeit zu entfliehen. Dies führte wiederum zu einer Betonung der Realität des Alltags in der DDR. Gabriels Umgang mit dem Körper ist folglich als Protestkörper benennbar – ein Protest gegen die Repressionen der Kulturpolitik und gegen die Allgemeinheit. Genau das rief eine Sensation bei den Zuschauenden hervor, jedenfalls bei denen, die die DDR kritisch betrachteten. Wie Claudia Reiß den Umgang mit dem Abjekten in der Kunst exemplarisch beschreibt, führt „der Konservatismus, mit welchem diesen Werken zum Teil gegenübergetreten wird, […] nicht selten zu deren Denunziation oder völliger Ignoranz.“17
Selbst die offiziell geduldete Permanente Kunstkonferenz führte zu Verhaftungen und schlussendlich zur Ausbürgerung Else Gabriels.
Die Inszenierung des Abjekten als Stilmittel prägte die Überhöhung der Wirklichkeit in den Performances und wurde so kollektiv erfahrbar. Nur noch der eigene inszenierte Körper war Austragungsort dieser Wirklichkeit. Der Ausdruck der Überhöhung eines überwältigenden Alltags scheint nie an Aktualität zu verlieren. Dieser war auch in der zweiten Öffentlichkeit nicht neu, sondern wurde nur in anderer Weise praktiziert.
Biografie
Christian Platz hat Europäische Kunstgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg studiert und absolviert derzeit seinen Magister in Kunstwissenschaft an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Er befasst sich unter anderem mit künstlerischen Positionen während gesellschaftlichen Umbrüchen im 20. und 21. Jahrhundert. Sein besonderes Interesse gilt der Kunst im öffentlichen Raum, von Architektur bis hin zur Performance-Kunst.