Die ICD in Verbindung mit Erklärungsansätzen aus dem biopolitischen Verständnis Michel Foucaults – Eva Scholl

Medizin gilt im Allgemeinen als objektive Wissenschaft, die sich aus den Ergebnissen zahlreicher Tests und Analysen zusammensetzt und so lösungsorientierte Antworten liefert – möchte man annehmen. Mit ihrem Essay zur Klassifizierung von Krankheiten, greift Eva Cathrin Scholl Überlegungen von Michel Foucault zur Biopolitik auf und zeigt am Beispiel der Gaming Disorder wie stark ebenfalls das Verständnis von Gesundheit und Krankheit abhängig von Machtdispositionen und gesellschaftlichen Normen ist.

Über vierzig Jahre ist es her, seitdem Michel Foucault seine Überlegungen zur Biopolitik aufgriff. Jedoch hat dieser Diskurs nicht an Aktualität verloren. Ob im Rahmen der Pandemie oder dem Überwachungskapitalismus, die Fragestellungen zur Biopolitik sind wortwörtlich in unsere Leben eingedrungen. Giorgio Agamben, Achille Mbembe, Michael Hardt und Antonio Negri, Paolo Virno, Donna Haraway, Roberto Esposito oder Paul B. Preciado sind nur ein Bruchteil der Theoretiker:innen, die die Gedanken zur Biopolitik im zeitgenössischen Diskurs weiterführen, kritisieren und erweitern.
Auch die elfte Revision des ICD, die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, lädt zum Nachdenken über vergangene, aktuelle und kommende biomedizinische Machtdispositive ein. Während die stigmatisierende Diagnose F64.0, Transsexualismus aus der ICD-11 entfernt wird, finden neue Diagnosen wie 6C51, Gaming Disorder oder selektiver Mutismus bei Kindern unter der Kodierung 6B06 Einzug in die ICD durch die neue Revision. Dies betrifft insbesondere psychiatrische Phänomene. Durch die Vergangenheit ist klar geworden, dass diese Phänomene eng mit gesellschaftlichen Normen und Konventionen verknüpft sind: Michel Foucault erlebte und beschrieb dies selbst anhand seiner Homosexualität. Im Folgenden wird eine Skizzierung der ICD anhand des Fallbeispiels der neuen Klassifizierung der Gaming Disorder in Verbindung mit Erklärungsansätzen aus dem biopolitischen Verständnis von Michel Foucault vorgenommen, wobei die Struktur, Geschichte und Bedeutung unseres Gesundheitssystems mit einbezogen wird. Das grobe Aufgreifen der Verständnisweisen des Terminus Biopolitik nach Michel Foucault erscheint mir im Zusammenhang der Analyse als notwendig.

Bedeutung und Funktion der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme

Die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ist die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung. Die zehnte Revision, German Modification (ICD-10-GM) wird seit dem 1. Januar 2021 in Deutschland angewendet. Sie ist eine Adaption der ICD-10-WHO, der Weltgesundheitsorganisation WHO und gehört zur Familie der internationalen gesundheitsrelevanten Klassifikationen.1 Herausgegeben wird die ICD-10-GM vom BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. Die ICD-10-GM ist in zwei Teile, in ein systematisches und ein alphabetisches Verzeichnis, aufgeteilt. Das systematische Verzeichnis besteht aus der eigentlichen Systematik, zusammengesetzt aus hierarchisch geordneten Kodes und ergänzenden Informationen. Das alphabetische Verzeichnis bildet sich aus „einer umfangreichen Sammlung verschlüsselter Diagnosen aus dem Sprachgebrauch in der ambulanten und stationären Versorgung“.2 Ebenso enthält es Informationen zur korrekten Verschlüsselung von Krankheiten. Als wichtige Grundlage für Vergütung und Finanzierung fungiert die ICD-10-GM im deutschen Gesundheitssystem. Nicht nur in der stationären Versorgung, sondern auch in der ambulanten Behandlung werden Vergütungen, der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich nach den ICD-10-GM Kodes berechnet.3 Laut DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information) dient die Kodierung und Diagnoseklassifikation der ICD-10-GM der Kooperation und kommunikativen Vernetzung im Gesundheitssektor, die durch gemeinsame Sprache, d.h. standardisierte Terminologien beziehungsweise terminologische Standards sichergestellt wird.4 Durch den Leistungskatalog des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) werden die Versorgungsleistungen der gesetzlichen Krankenkasse im ambulanten und stationären Bereich festgelegt.5 Seit 2004 erfolgt die Behandlung der Patient:innen durch die Zuordnung einer individuellen Fallpauschale auf Grundlage der Statistik, den routinemäßig durchgeführten Falldaten während eines Krankenhausaufenthalts, darüber hinaus auf Basis der medizinischen Klassifikationen und Diagnosen nach ICD-10-GM. Die Behandlungsfälle werden in verschiedene Schweregrade eingeteilt, Komplikationen und Komorbiditäten werden ebenso miteinbezogen. Behandlungsfälle werden zu den jeweiligen Fallgruppen zusammengefasst. Diese ähneln sich medizinisch und in Bezug zu ihrem Ressourcenverbrauch.6 Zuvor gab es statt der Fallpauschale tagesgleiche Pflegesätze, die laut DIMDI zu „einer im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen hohen Verweildauer führten“.7 Der Beitragssatz für die gesetzliche Krankenversicherung ist in Deutschland seit 2009 einheitlich. Die Beitragseinahmen aller Kassen fließen seither zusammen in einen Gesundheitsfond, aus dem die Kassen für jede:n Versicherte:n eine Grundpauschale der durchschnittlichen Pro-Kopf Ausgabe bekommen. Diese wird durch Faktoren wie Alter, Geschlecht sowie den ICD-10-GM kodierten Diagnosen abgestimmt, welche als Indikator für die Gesundheit der Versicherten genommen werden.8

Von der ILCD zur ICD-10

Seit Anfang des 17. Jahrhunderts befassen sich sämtliche Staaten Europas mit der Gesundheit ihrer Bevölkerung. Beherrscht durch das merkantilistische Zeitalter gewinnt Gesundheit im Kontext ökonomischer Theorie und politischer Praxis an Bedeutung. Diese zielt darauf ab, die internationalen Geldströme, die entsprechenden Warenflüsse und die produktive Tätigkeit der Bevölkerung zu regulieren. In diesem Zusammenhang beginnen die Staaten Österreich, Frankreich und England mit der Evaluierung von Geburts- und Sterblichkeitsstatistiken.9 Im Jahr 1593 werden in England Aufzeichnungen über Beerdigungen und Taufen gemacht, die bis 1837 im London Bills of Mortality aufgeführt werden, in welchem insbesondere Statistiken über Todesfälle durch die Pest festgehalten werden.10 Die ersten systematischen Einteilungen von Krankheiten gab es bereits im 18. Jahrhundert. William Cullens Synopsis Nosologiae Medhodicae11 war zu Beginn des 19. Jahrhunderts die meist genutzte Klassifikation. Jedoch war diese nie für statistische Zwecke geeignet und nie dem medizinischen Fortschritt entsprechend angepasst. Die Entstehung der ICD ist durch eine Abfolge von zehn Revisionskonferenzen gekennzeichnet, bei denen sich die ersten fünf auf das Todesursachenverzeichnis ILCD bezogen und erst die weiteren auf die Klassifikation ICD.12 Bis zu dem Zeitpunkt wurden Todesursachenverzeichnisse und Klassifikationsverzeichnisse voneinander getrennt. Durch die Problematik verschiedener Todesursachen im Totenschein und der Festlegung einer Haupttodesursache wurde ein Zusammenschluss von Krankheits- und Todesursachenverzeichnis beschlossen. So entsteht 1948 in Paris die erste ICD, die ICD-6 der WHO. In den folgenden Jahrzehnten wird es zu immer neuen Revisionen kommen.13

Die Bedeutung der Klassifikationen und Revisionen 

Die Klassifikation einer Krankheit wird auf Grundlage einer statistischen Auswertung gebildet. Dafür werden ähnliche Krankheitsbilder durch gemeinsame bzw. gruppenbildende Merkmale oder Symptome zusammengefasst. Das Klassifizieren einer Krankheit gründet somit auf einer Verallgemeinerung, bei der das Interesse einer Gruppe von Fällen gilt, nicht einem einzelnen Fall innerhalb dieser Gruppe. Das Einteilen der Krankheitsbilder in die verschiedenen Gruppen hängt aber auch mit der Häufigkeit, Bedeutung und Definierbarkeit dieser zusammen. Das Ziel ist es, dass im Falle einer Diagnoseklassifikation so viele Krankheiten wie möglich einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden können.14 Bevor eine Diagnose nach einer Klassifikation erteilt wird, muss ein medizinischer Zustand so detailliert wie möglich beschrieben werden. Durch den rasanten medizinischen Fortschritt müssen Klassifikationen sowie die damit verbundene Terminologie einem kontinuierlichen Prozess der Weiterentwicklung unterliegen. Somit unterliegt auch das ICD einer ständigen Revision.15 Am 1. Januar 2022 soll das ICD-11, die Nachfolgerversion des ICD-10, in Kraft treten.16

Einzug der Diagnose Gaming Disorder

Auch neue Diagnosen finden den Einzug in die ICD-11. Die Gaming Disorder wird nun als Disorder due to addictive behavior eingestuft. Dabei unterscheidet die WHO zwischen Gaming Disorder, predominantly online, Gaming Disorder, predominantly offline und Gaming Disorder, unspecified, die als bereits beschriebene sonstige Kategorie angesehen werden kann.17 Die Disorders due to addictive behaviours werden wie folgt in der ICD-11 aufgeführt: 

„Disorders due to addictive behaviours are recognizable and clinically significant syndromes associated with distress or interference with personal functions that develop as a result of repetitive rewarding behaviours other than the use of dependence-producing substances. Disorders due to addictive behaviours include gambling disorder and gaming disorder, which may involve both online and offline behaviour.“18

Die Gaming Disorder wird von der WHO dabei insbesondere mit einer Beeinträchtigung der Kontrolle über das Spielen in Bezug zum Beginn, Häufigkeit, Intensität, Dauer, Beendigung und Kontext klassifiziert. Sowie mit einhergehendem Leidensdruck und der Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.19 So wird im Online Portal der ICD-11 der WHO unter dem Kode 6C51 folgendes beschrieben: 

„Gaming disorder is characterised by a pattern of persistent or recurrent gaming behaviour (‘digital gaming’ or ‘video-gaming’), which may be online (i.e., over the internet) or offline, manifested by: 1. impaired control over gaming (e.g., onset, frequency, intensity, duration, termination, context); 2. increasing priority given to gaming to the extent that gaming takes precedence over other life interests and daily activities; and 3. continuation or escalation of gaming despite the occurrence of negative consequences. The pattern of gaming behaviour may be continuous or episodic and recurrent. The pattern of gaming behaviour results in marked distress or significant impairment in personal, family, social, educational, occupational, or other important areas of functioning. The gaming behaviour and other features are normally evident over a period of at least 12 months in order for a diagnosis to be assigned, although the required duration may be shortened if all diagnostic requirements are met and symptoms are severe.“20

Im dritten Kapitel möchte ich den Einzug der Gaming Disorder in die ICD im Kontext der biopolitischen Konzepte von Foucault näher betrachten. Doch zunächst soll ein grober Überblick der Genealogie der Foucault’schen Biopolitik erfolgen.

Foucaults Genealogie der Biopolitik 

Den Begriff der Biopolitik führte Foucault erstmals in den Vorlesungen des Jahres 1978–1979 sowie in Der Wille zum Wissen ein, den er in der Zusammenfassung des Collége de France auf folgende Weise skizzierte: 

„Hierunter verstand ich die Weise, in der man seit dem 18. Jahrhundert versuchte, die Probleme zu rationalisieren, die der Regierungspraxis durch die Phänomene gestellt wurden, die eine Gesamtheit von als Population konstruierten Lebewesen charakterisieren: Gesundheit, Hygiene, Geburtenziffer, Lebensdauer, Rassen…“21

Zentral sind Aspekte und das Verhältnis von Todesfällen, Geburtenzahlen und die Geburtenreproduktion, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts im Zuge der Demographie an zunehmender Bedeutung gewinnen. Zum Beispiel wird die Mortalität nicht mehr nur an dem Auftreten von Epidemien gemessen, sondern ebenso an Endemien, worauf die Vorstellung einer allgemeinen Volksgesundheit entsteht.22 Die Biopolitik zielt auf die Verwaltung und Regulation von Lebensprozessen auf der Ebene der Bevölkerung ab, die sich nicht unbedingt auf Handlungen beziehen lassen, sondern vielmehr auf Wissensformen, Kommunikationsstrukturen und Subjektivierungsweisen. Leben wird dabei zu einer objektivierbaren und messbaren Größe, die von subjektiven Lebenserfahrungen abgelöst werden kann. Insbesondere die Entstehung der neueren Disziplinen, wie Demografie, Statistik, Biologie oder Epidemiologie begründet die Entwicklung eines spezifischen politischen Wissens, das Bevölkerung analysiert und Individuen normalisiert und letztendlich regiert.23 Das besondere an der Biomacht, die unmittelbar mit der Biopolitik verknüpft ist,24 ist dass sie nach Foucault Sterben lässt und Leben macht, im Gegensatz zur Souveränität, die Sterben macht und Leben lässt.25 Bei dieser politischen Technologie des Lebens unterscheidet Foucault zwischen der Biomacht und der Disziplinartechnologie, die letztendlich eng miteinander verzahnt sind. Die Letztere tauchte schon im 17. Jahrhundert auf und zielt auf die individuelle Überwachung und Abrichtung des Körpers26, die insbesondere in Überwachen und Strafen anhand eines architektonischen Beispiels, dem Panopticon von Jeremy Bentham, erläutert wird.27 Es geht bei der Biopolitik um einen expliziten Bruch sowie darum, politische Prozesse auf biologische Determinismen zurückzuführen und die strukturelle Machtausübung historisch zu erfassen. Die Konzepte politischer Souveränität sollen durch die Überlegungen zur Biopolitik nicht erweitert, sondern grundlegend reformiert werden. Foucaults Begriff der Biopolitik ist kein einheitlicher, er verschiebt sich in den Schriften permanent. Dadurch ist eine einheitliche Deutung des Begriffs ausgeschlossen.28

Leben machen und sterben lassen 

Durch den schon zuvor aufgegriffenen Satz Leben machen und Sterben lassen, den Foucault in den Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft nennt, stellt er der Souveränitätsmacht die Biomacht gegenüber. Die Souveränitätsmacht zeichnet sich durch ein Machtbeziehung einer Abschöpfung aus: als Entzug von Gütern, Produkten und Diensten, der im Zweifelsfall über das Leben von Untertanen verfügen konnte. Diese Macht über Leben und Tod wird seit dem 17. Jahrhundert von einem neuen Machttypus, der Biomacht, überlagert, welche darauf aus sei, das Leben zu verwalten und zu bewirtschaften. Die Elemente der Disziplinarmacht sind dadurch nur noch eines unter vielen anderen der Biomacht, wie der Kontrolle, Überwachung oder Verstärkung, wodurch die Körper nicht mehr gebeugt oder vernichtet werden, sondern neue und nützliche Kräfte hervorbringen sollen. So schreibt Foucault: 

„In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen wir, wie mir scheint etwas Neues auftreten, das eine andere, diesmal nicht disziplinäre Machttechnologie darstellt. Eine Machttechnologie, die erstere nicht ausschließt, die die Disziplinartechnik nicht ausschließt, sondern sie umfasst, integriert, teilweise modifiziert und sie vor allem benutzen wird, indem sie sich in gewisser Weise in sie einfügt und dank dieser vorgängigen Disziplinartechnik wirklich freisetzt“.29

Diese Entwicklung beruht vor allem auf historischen Veränderungen in der Industrie und Landwirtschaft im 18. Jahrhundert.30 Entscheidend dabei ist die Produktionssteigerung sowie das wachsende wissenschaftliche und medizinische Wissen über den menschlichen Körper. Diese Entwicklungen erlauben eine relative Herrschaft über das Leben. Die in der Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehende Machttechnologie, die sich auf den kollektiven Körper der Bevölkerung richtet, definiert Foucault durch die Erfassung von Geburten- und Sterblichkeitsraten, Gesundheitsniveau, Lebensdauer etc. Bevölkerung wird somit nicht als rechtlich-politische Einheit, sondern als biologische Entität, als Gesellschaftskörper gedacht.31 „Nach dem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstruierend […]“.32 Die Gesamtheit der Lebensäußerungen dieses Gesellschaftskörpers liegt einer Sicherheitstechnologie zugrunde, die auf etwas wie einer durch Kontrolle erzeugte Homöostase33 zielt. Disziplinar- und Sicherheitstechnologie sind nach Foucault „zwei durch ein Bündel von Zwischenverbindungen verbundene Pole“34, die sich wechselseitig definieren, jedoch auch in ihren Zielen, Instrumenten, Zeiten des Auftretens und institutionellen Lokalisierungen unterscheiden. Zum Beispiel entwickelte sich die Disziplinarmacht in den Institutionen wie Schule, Gefängnis, Armee oder psychiatrischer Klinik, während die Regulierung der gesamten Bevölkerung über eine staatliche Zentralinstanz organisiert wurde. Das Sammeln demografischer Daten sowie Statistiken zur Gesundheit und Lebensdauer wurde Werkzeug jener Regulierung.35 In diesem Zuge gewinnt der Begriff der Norm an hoher Bedeutung, der durch die Logik des Messens, Vergleichens und Abwägens an die Stelle einer natur-rechtlich geregelten Gesellschaft tritt.36

Die ICD in Verbindung mit Erklärungsansätzen aus dem biopolitischen Verständnis Michel Foucaults

Erneut möchte ich den Satz Leben machen und Sterben lassen37 aufgreifen, der im Kontext der ICD wortwörtlich verstanden werden kann. Wie schon zuvor betrachtet, geht es bei diesem Klassifikationssystem seit der Zusammenführung von Diagnosen und Todesursachen letztendlich um die Betrachtung der Kranken, deren Leben gemacht werden soll, und denen, die man Sterben lässt. Egal ob krank oder tot, die Ursachen werden in Form von Datensammlungen oder Statistik in Klassifikationssystemen wie der ICD gesammelt und festgehalten. Wie Foucault es schon gesagt hat, wird das Leben an sich zu einer objektivierbaren Größe, die vom Subjekt und seinen Erfahrungen abgelöst werden kann. Im Dienste der Vorstellung einer allgemeinen Volksgesundheit werden die Einzelnen, auf die sich die Disziplinartechnologien ausgerichtet haben, zu Vielen, die einer staatlichen Instanz die Regulation eines Gesellschaftskörpers ermöglichen. Zwar gibt es in der ICD die Kategorie Sonstige Beschwerden, jedoch ist die Hoffnung auf eine Einordnung in eine der vereinheitlichten Diagnosen wünschenswert. Eine Einordung eines Behandlungsfalles in eine der Fallgruppen erleichtert die Zuordnung einer individuellen finanziellen Fallpauschale auf Grundlage der Statistik. Die 2004 eingeführte Reform der Behandlung der Einzelnen auf der Basis einer Diagnose stellt eine Strategie der Macht in Form der Normalisierung dar: Sie impliziert eine Norm einer Heilungs- und Erholungsdauer von einer Beeinträchtigung des Körpers. Faktoren wie Alter, Geschlecht und Komorbiditäten werden berücksichtigt und können der noch präziseren Spezifizierung des Gesundheitszustandes dienen. Auch schreibt Foucault folgendes über die Einrichtung der Medizin:

„Die Phänomene beginnt man gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu berücksichtigen; sie führten zur Einrichtung einer Medizin, deren Hauptaufgabe jetzt in der öffentlichen Hygiene liegt, mitsamt den Organisationen zur Koordinierung der medizinischen Versorgung, der Zentralisierung der Informationen, der Normalisierung des Wissens und die auch das Aussehen einer Aufklärungskampagne in Sachen Hygiene und medizinischer Versorgung der Bevölkerung annimmt“.38

Erinnern wir uns an die Entstehung von Klassifikationssystemen im 18. Jahrhundert, wie der Synopsis Nosologiae Medhodicae, waren diese unmittelbar als Werkzeug der neuen Medizin gedacht. Die Staatsmedizin entstand hauptsächlich in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Auf Grundlage von instabileren Verhältnissen von Politik und Ökonomie im damaligen Preußen im Vergleich zu Frankreich oder England, konnte sich aus Preußen ein moderner Staat entwickeln, der der Nährboden für die neue Staatsmedizin war.39 Im Zuge dieser Heranbildung lässt sich die Organisation einer Gesundheitspolitik und der Anerkennung von Krankheiten als politisches und ökonomisches Problem, das sich dem Gemeinwesen stellt, feststellen. Die Gesundheit aller wird zur dringenden Angelegenheit für alle. Auf dieser Grundlage werden auch staatliche Unternehmungen gestartet, um die Anhänger:innen des Müßiggangs zu unterbinden. Die Befürchtung war groß, dass sie im Krankheitsfall ihre eigene Erkrankung und ihre vorübergehende oder endgültige Arbeitsunfähigkeit selbst nicht finanziell bewältigen können. Es stellte sich somit die Frage, inwiefern man diese Individuen nützlich machen kann, um sie in den Produktionsapparat einzubinden. Oder, wie sich das Gesundheitsniveau des Sozialkörpers40 herstellen lässt.41 In diesem Kontext werden Arbeit oder Nicht-Arbeit sowie Gesundheit unmittelbar in Zusammenhang gebracht. Dieser Zusammenhang lässt sich auch in unserem Beispiel der Diagnose der Gaming Disorder nachzeichnen: Die Aktivität der spielenden Person wird indirekt dem Müßiggang, der Nicht-Arbeit, gleichgesetzt. Als pathologisch gilt diese Aktivität, wenn die Leistungsfähigkeit des Individuums innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht mehr gesichert ist. In der Diagnoseklassifikation wird ein Kontrollverlust und die Priorisierung des Spielens als problematisch anerkannt. Kontrollverlust fungiert dabei auch als biopolitisches Paradigma. Schon seit der Romantik ist das Spiel mit Kontrollverlust verbunden und wird dem zweckrationalen Handeln entgegengesetzt. Der Kontrollverlust ist dem Spielen an sich schon inhärent, da das Subjekt der Kontrolle erst beim Spielen ausgehandelt werden muss. Außerdem impliziert die Formulierung “The pattern of gaming behaviour results in marked distress or significant impairment in personal, family, social, educational, occupational, or other important areas of functioning”42 einen Zusammenhang zwischen ausgeprägtem Leidensdruck und einer Beeinträchtigung in persönlichen, schulischen, beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen, den es geben kann, aber nicht geben muss. Spannend ist letztendlich warum genau das Computerspielen eben jene pathologische Konnotation mit sich bringt. Andere Aktivitäten, wie zum Beispiel das Lesen, bilden scheinbar einen Vorteil innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Wenn ich extrem viel lese, gelte ich als leistungsfähig, intellektuell oder wissbegierig. Extremes Lesen lässt sich hervorragend in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse einbinden, ohne als pathologisch oder beeinträchtigend gewertet zu werden.43 Extremes Online Gaming ist dahingehend gesellschaftlich als eher unproduktive Aktivität stigmatisiert. Sichtbar werden Parallelen zwischen der Stigmatisierung des Müßiggangs während der Entstehung der neuen Gesundheitspolitik im 18. Jahrhundert und Formen der vermeidlichen Nicht-Arbeit oder Nicht-Tätigkeit aus einem normierenden Blickwinkel. Spannend wird der Kontext der zukünftigen Vergabe dieser Diagnose sein. Wird diese aus dem Leidensdruck oder Insuffizienzgefühlen der betroffenen Personen resultieren oder auf der Grundlage besorgter Eltern, die die Freizeitaktivität ihrer Kinder für problematisch halten und Ärzt:innen aufsuchen? Wie sich die Aufnahme dieser Diagnose in die ICD auf die Individuen auswirkt, wird sich mit der Zeit zeigen. Interessant ist es zu beobachten, ob es zu einem Diagnosetrend kommen wird, wie zum Beispiel bei ADHS und der damit einhergehenden Verordnung von Psychopharmaka wie Methylphenidat.44

Darüber hinaus hat sich in Deutschland ab dem 18. Jahrhundert eine medizinische Praxis entwickelt, die effektiv der Verbesserung der öffentlichen Gesundheit gewidmet war. Im Jahr 1764 tauchte erstmals der Begriff medicinische Policey auf, bei der es sich um ein staatliches Programm handelte, ein System zur Überwachung der Krankheitsanfälligkeit sowie zur Normierung von medizinischer Praxis und Ausbildung. Nicht nur die Krankheitsanfälligkeit der Bevölkerung unterliegt der Normierung, sondern als allererstes die Medizin und die Ärzt:innen selbst. Durch den Aufbau einer Verwaltung wurde das Tun der Ärzt:innen kontrolliert: Es wurde überprüft, welche Behandlungen verordnet wurden, zentralisierte Informationen gesammelt, ärztliche Funktionäre einer Region sowie Kreisärzt:innen eingeführt.45 Letztendlich führten diese Veränderungen zu einer Organisation eines medizinischen Staatswissens, bei welchem die Ärzt:innen einer allgemeinen Verwaltung untergeordnet wurden. Betrachten wir die Strukturierung unseres zeitgenössischen Gesundheitssystems, hat sich die Organisation eines medizinischen Staatswissens bis in die heutige Zeit durchgesetzt, nur bewegt sich dieses Wissen nicht mehr nur auf nationaler, sondern auch auf globaler Ebene. Die WHO ist Akteur unseres gegenwärtigen Wissens, die ICD ist ihr Werkzeug. Die Transparenz und Kontrolle des Agierens von Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen unterliegt der ICD. 

Fazit 

Es gibt innerhalb unseres neoliberalen Gesundheitssystems keine Behandlung, die nicht einem Klassifikationssystem unterliegt. Der Gebrauch dieser versichert eine effiziente Behandlung gesundheitlicher Probleme, die ohne Klassifikationen nicht möglich wäre. Letztendlich sind wir darauf angewiesen, damit möglichst viele Menschen in kurzer Zeit eine medizinische Versorgung erhalten können oder dass nach Foucault’schem Verständnis die „Homöostase einer allgemeinen Volksgesundheit“46 gesichert ist. Jedoch basieren diese auf der Normierung der einzelnen Individuen. Foucaults Überlegungen zur Biopolitik liefern kritische Gedanken zur Untersuchung der aufgegriffenen Sachverhalte zur ICD. Fragen, inwiefern Wissenssysteme durch Machtmechanismen produziert werden und dadurch Körper zum Teil eines Subjektivierungsprozesses werden, sind in diesem Zusammenhang nützlich. Die Aufnahme der Gaming Disorder in die ICD ermöglicht ein anschauliches Beispiel, um historische Entwicklungen des Gesundheitssystems mit zeitgenössischen Paradigmen zu verknüpfen und zu vergleichen. Gleichzeitig werden Fragestellungen um die Einordnung von Aktivität in produktiv und unproduktiv aufgegriffen. Abschließend lässt sich festhalten, dass Foucaults Überlegungen zur Biopolitik ein nützliches Werkzeug sind, um einen Verständnisansatz auch für aktuellere Problematiken durch Klassifikationssysteme zu entwickeln. Jedoch wäre für eine detailliertere Analyse der Miteinbezug neuerer Positionen zur Biopolitik unumgänglich.


Biografie

Eva Scholl

Eva Scholl studiert Kunstwissenschaft und Medienphilosophie an der HfG Karlsruhe. Zuvor studierte sie Kunstgeschichte an der Universität Wien. Inhaltlich beschäftigt sie sich mit biopolitischen Fragestellungen, die die Normierung von Körpern hinterfragen.