Das Gegenteil von Intimität ist Angst, 2024 – Friederike und Lieselotte Illig als ILLIG & SÖHNE

HINWEIS: In diesem Beitrag geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Was bedeutet es, nachts als Frau im öffentlichen Raum unterwegs zu sein? Friederike und Lieselotte Illig als ILLIG&SÖHNE veranschaulichen in einer eindringlichen Text-Bild-Arbeit die beklemmende Realität, in der Frauen kontinuierlich der Gefahr vor sexuellen und verbalen Übergriffen im nächtlichen öffentlichen Raum ausgesetzt sind. Reale Angst durch die ständige Bedrohung und die stetige Wachsamkeit durch das fehlende Sicherheitsgefühl werden für die Leser:innen aus der ICH-Perspektive erlebbar. Indem sie persönliche Situationen schildern, machen die Künstler:innen die kollektive Erfahrung vieler Frauen sichtbar, die sonst häufig ungehört bleibt.

„Immer, wenn ich im Dunkeln nach Hause gehe, habe ich mein Pfefferspray in meiner Hand in meiner Jackentasche. Den Daumen am Abzug. Ich kann nie unbesorgt einfach los gehen. Ich muss immer wachsam sein. Ich scanne meine Umgebung und wäge ab, wo ich gehe.“

Das Gegenteil von Intimität ist nicht nur Distanz, sondern vor allem Angst.


„Sag Bescheid, wenn du zu Hause angekommen bist oder ruf an, wenn es unterwegs unheimlich ist.“

„Ich fahre nachts mit dem Fahrrad auf der Straße und muss an einer roten Ampel anhalten.  Aus dem Busch springt jemand und versucht mich vom Fahrrad in den Busch zu ziehen.“

„Jemand wildfremdes quatscht mich an, will meine Handynummer haben und lässt nicht locker.“

„Ich stehe an der roten Ampel. Gegenüber sehe ich schon einen Mann, der mich anstarrt. Ich gehe extra ganz links um den Abstand zu vergrößern. Er kreuzt absichtlich meinen Weg und geht mit offenen Armen auf mich zu. Ich drehe mich weg und versuche wegzugehen. Er geht mir hinterher und fasst mich an der Schulter an. Ich sage, dass ich das nicht will. Er hört nicht auf. Ich schreie ihn an, er soll aufhören. Keiner hilft mir.

Ich schreie einen anderen Mann an, dass er mir helfen soll. Er macht nichts.“

Das verlorengegangene Gefühl für Abstand, Nähe und Distanz changiert mit der tatsächlichen Gefahr, die immer mit schwebt.

In jeder Situation muss ich damit rechnen, dass etwas passiert. Auch wenn nichts passiert, hängt die Gefahr wie ein Schleier über mir. Sexuelle Übergriffe und gefährliche Situationen sind mir oft passiert.

„Guten Abend, guten Abend, sagt der Mann. Ich gehe weiter, ohne stehen zu bleiben.“

„Eine Gruppe kommt auf mich zu. Ich laufe ganz rechts am Weg, schaue auf den Boden und atme flach. Ich versuche, möglichst unauffällig zu sein. Ein Mann bleibt stehen und ruft laut: ‚Kannst ruhig mal hallo sagen. Das ist höflich.‘ Ich bin wie in Schockstarre. Halte den Atem an und bete, dass nichts passiert. Für mich geht es nicht ums ‚Hallo‘ sagen – für mich geht es ums Überleben.“

„Ich gehe nach Hause, hinter mir stößt jemand die Tür auf. Ich drehe mich um und sehe einen komplett vermummten Mann mit heruntergelassener Hose. Er läuft mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Zwei Wochen später packt mich der Gleiche Typ vor der Haustür am Arm reißt mich rum und sagt: ‚Diesmal entkommst du mir nicht.‘“

Ich bleibe nicht mehr still. Ich beleuchte die dunklen Situationen. „ICH“ bin stellvertretend für meine Schwester, meine Mitbewohnerin, meine Freundin, meine Tochter. „ICH“ bin stellvertretend für alle.

„Jemand verfolgt mich.“

Die intimen Situationen werden schlaglichtartig beleuchtet. Das Wechselspiel zwischen intimen/inneren Raum und Außenraum erzeugt die Spannung in unserer Auseinandersetzung.

„In der Bahn sitzt ein Haufen Betrunkener. Die ganze Fahrt versuche ich nicht aufzufallen, weil sie versuchen alle weiblichen Fahrgäste zu begrapschen. Als ich aufstehe, greift sich einer in den Schritt und wirft mir einen Kuss zu. Seine Freunde grölen.“

„Auf meinem Heimweg lungert ein Typ rum, der mich mit seinen Blicken auszieht. Ich biege ab, um ihm auszuweichen. Ich laufe einen helleren, aber viel weiteren Weg nach Hause.“

Wo bin ich privat, wo öffentlich? Kann ich als Frau überhaupt noch öffentlich sein?

„In jeder Situation muss ich damit rechnen, dass mir irgendetwas passiert. Auch wenn nichts passiert, hängt die Gefahr über mir.“

Biografie

FRIEDERIKE ILLIG studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sie war in Heidelberg, Gießen und Worms als Lichttechnikerin bzw. Lichtdesignerin in Theatern, bei Festivals und in der freien Szene tätig. Sowohl in künstlerischen als auch in technischen Kontexten setzt sie sich performativ mit aktuellen Themen, Alltagssituationen und dem öffentlichen Raum auseinander. Seit 2018 lebt und arbeitet sie in Berlin.

LIESELOTTE ILLIG studierte Freie Kunst an der Bauhaus Universität in Weimar, Ethnologie in Frankfurt und Raumstrategien in Österreich. Performative, raumspezifische und interdisziplinäre Ansätze sind Grundlage ihrer künstlerischen Arbeit. Schwerpunkte sind der öffentliche Raum, Stadterforschungen und Körperräume. Nach Stationen in Worms, Mainz, Weimar, Frankfurt und Linz lebt und arbeitet sie seit 2022 in Berlin.