Der Drachenlord als Anti-Ikone. Cyberbullying als radikale Form der Partizipation, 2023 – Moritz Konrad

Der Fall des Drachenlords veranschaulicht, wie das demokratisch-partizipative Potenzial digitaler Plattformen ins Gegenteil kippen kann. Hiermit zeigt sich eine Art Dialektik des Web 2.0, in der Personen der Öffentlichkeit eben dieser Öffentlichkeit ausgeliefert sind. Der Drachenlord ist somit in gewisser Weise eine Anti-Ikone: Hier wird nicht mehr um das goldene Kalb getanzt; stattdessen wird das goldene Kalb zum Tanzen gezwungen.

„Man braucht nur der eigenen Nichtigkeit innezuwerden, nur die Niederlage zu unterschreiben, und schon gehört man dazu.“1

 –  Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

„Unbesigt auf ewig“2

 –  Graffiti auf dem ehemaligen Wohnhaus Rainer Winklers [sic]

Denkt man im populären Sinn an eine Ikone, meint man damit vermutlich so etwas wie ein Idol, einen Star, eine Figur des öffentlichen Lebens, die bewundert und verehrt wird, um die sich ein Personenkult gebildet hat und die einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Massenkultur hat. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Personen spielen die Medien – und insbesondere die digitalen Massenmedien – eine kaum zu überschätzende Rolle. Letztere ermöglichen nicht nur einen direkteren Kontakt zwischen der Ikone und ihren Verehrer:innen, sondern öffnen auch erst ganz neue Wege zum Ikonenstatus.

Bei Rainer Winkler, besser bekannt unter seinem Pseudonym Drachenlord, liegt der Fall etwas anders. Zwar hat sich um die von ihm produzierten Videos eine vergleichsweise große Anzahl an Zuschauer:innen gesammelt, aber davon zu sprechen, dass sie ihn verehren, wäre nicht ganz richtig. Im Gegenteil ist Winkler in der breiten Öffentlichkeit vor allem für das spannungsvolle Verhältnis zwischen ihm und seiner Zuschauerschaft bekannt, das 2021 beinahe zu seiner Inhaftierung geführt hätte. Der Kolumnist Sascha Lobo bezeichnete die Winkler drohende Haftstrafe als „katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft“.3 Seiner Meinung nach stellten sich die Behörden auf die Seite des Mobs der den Drachenlord seit Jahren quält und belästigt, und machten aus dem Opfer dieser andauernden Gewalt einen Täter.4

Der koordinierte Hass, den Winkler durch seine Fans erlebt, ist ein Zeugnis dafür, dass Rezipient:innen von Medieninhalten nicht länger nur passive Zuschauer:innen sind, sondern ihr Machtpotenzial längst erkannt haben und die technologischen Möglichkeiten digitaler Plattformen nutzen, um diese Macht auszuüben. Gleichzeitig offenbart sich hier die hartnäckige Fehlannahme, dass die mit dem Web 2.0 konnotierte Partizipationskultur durchweg unproblematisch und in ihrer Struktur demokratisch wäre. Vielmehr zeigt sich, dass auch in diesem technologischen Fortschritt – mit Adorno und Horkheimer gesprochen – bereits der Keim des Rückschritts in die Barbarei enthalten ist.

Die Geschichte des Drachenlords

Seit 2012 produziert Winkler unter dem Nutzernamen Drachenlord Videos und Livestreams auf Plattformen wie YouTube, YouNow und twitch, um die sich über die Jahre eine regelmäßige Zuschauer:innenschaft bildete, die auf Winklers Videos mit Hasskommentaren reagiert und die sich selbst als Hater (beziehungsweise in Anlehnung an Winklers fränkischen Dialekt auch als Haider bezeichnet).5 Die Provokationen der Hater:innen fanden ihren ersten Negativhöhepunkt in einem Drohanruf an Winklers Schwester, auf den dieser mit einem Video antwortete, in dem er die verantwortlichen Personen zu einer Prügelei herausfordert.6 Im selben Video nennt er auch seine Adresse, die er bis Frühjahr 2022 weiterhin bewohnte, was dazu führte, dass über die Jahre eine große Anzahl von Zuschauer:innen Winklers Haus im mittelfränkischen Altschauerberg besuchten, die unter dem Namen Drachenschanze zu einer Art Pilgerstätte der Community wurde. Nicht selten war das Ziel dieser Pilgerfahrten eine Fortsetzung des Hasses und der Provokationen in der offline-Welt und häufig führten sie zu Beschädigungen an Winklers Wohnhaus, sowie zu verbalen und auch körperlichen Auseinandersetzungen, von denen eine der Anlass für den bereits erwähnten Gerichtsprozess war.7

In der Vergangenheit kam es auch schon zu rechtlichen Konsequenzen für Winklers Provokateur:innen, wie zum Beispiel im Falle eines Users, der während eines Livestreams einen Feuerwehreinsatz an Winklers Haus auslöste.8 Die Ankunft der Feuerwehr sowie die Reaktion des Drachenlords sind im Livestream dokumentiert – Winkler ist somit das erste Opfer eines Swattings in Deutschlandalso einer gezielten und über das Internet übertragenen Belästigung einer Person des öffentlichen Lebens unter dem Vorwand von Notfallszenarien. Die Spannungen zwischen dem Drachenlord und seinem Publikum führen auch zu wirtschaftlichen Schäden und Beeinträchtigungen der Lebensqualität für Menschen im Umfeld des YouTubers. In Hotels und Restaurants in Altschauerberg und Umgebung wurden durch Anrufe der Hater:innen Tische und Zimmer reserviert oder Bestellungen aufgegeben. Die Präsenz der Hater:innen in der kleinen Gemeinde führte zu regelmäßiger Lärmbelästigung für die Anwohner:innen.9

Die koordinierten Ausschreitungen und Provokationen der Community gegenüber Winkler, die diese als das Drachengame bezeichnen, reichen bis in die intimsten Teile seines Lebens hinein. Eine Zuschauerin gab in Absprache mit anderen Hater:innen vor, romantisches Interesse an Winkler zu haben und mit ihm in einer Beziehung zu sein. Dieses unter Zuschauer:innen als Mettwoch bekannt gewordene Catfishing endete in einem Heiratsantrag Winklers während eines Livestreams und in der anschließenden Enthüllung der Inszenierung und Demütigung des Drachenlords.10

Seit Winkler sein Haus an die Gemeinde Emskirchen verkauft und es im März 2022 verlassen hatte, reist er ohne festen Wohnsitz durch Deutschland. Die Hater:innen-Community verfolgt seine Aktivitäten und tauscht sich über Telegram-Gruppen zu seinem aktuellen Aufenthaltsort aus. So zwingen sie Winkler dazu, immer weiter zu reisen.11

Das Drachengame als Anti-Fandom

Mit dem Vokabular des Medienwissenschaftlers Jonathan Gray lässt sich die Community um Winklers Videos als ein Anti-Fandom beschreiben. Der Begriff des Anti-Fans wurde von Gray als Kritik an der Publikumsforschung entwickelt, die sich in ihren Studienobjekten in erster Linie auf bekennende Fans eines Medientextes beschränkt.12Ergänzend hierzu etabliert Gray die Non-Fans, also Personen, die eine bestimmte Sendung nur gelegentlich oder mit mäßigem Interesse verfolgen13, sowie die Anti-Fans, deren Abneigung gegen einen bestimmten Medientext so stark ist, dass sie sich – ähnlich wie genuine Fans – zu Gruppen organisieren.14 Dies kann zum Beispiel daher rühren, dass sie den kulturellen Status oder die Qualität eines Films für überschätzt halten15, dass sie Entwicklungen einer Serie, deren Fan sie eigentlich waren, kritisieren16, oder aber einfach daher, dass sie der Rezeption des verhassten Textes eine gewisse Freude abgewinnen können.17 Gray hält die Anti-Fans als Studienobjekte auch deshalb für wertvoll, weil er in deren Kritik an bestimmten Medientexten ein kollektives Verhandeln ästhetischer Normen sieht:

„Behind dislike, after all, there are always expectations – of what a text should be like, of what is a waste of media time and space, of what morality or aesthetics texts should adopt, and of what we would like to see others watch or read. To study the antifan, then, is to study what expectations and what values structure media consumption.“18

Eine wichtige Praxis im Kontext der Anti-FanTheorie ist das so genannte hatewatching, also die Rezeption von Medieninhalten, die man hasst, gerade weil man sie hasst.19 Diese Rezeption ist häufig damit verbunden, die über den Text entstandene Frustration mit anderen zu teilen, was gemeinsam mit der affizierenden Mischung aus Hass und Freude ein effektives Werkzeug sein kann, um eine Gemeinschaft zu erzeugen.20Hatewatching ist jedoch streng von der Rezeption eines guilty pleasures zu trennen, also zum Beispiel einer Serie, die man gerne schaut, obwohl man weiß, dass sie kitschig ist:21„the ‚bad object‘ is enjoyable not because it is secretly good but because of the entertainment it offers through chronicling and categorizing its badness“.22

Der Drachenlord und seine Hater:innen scheinen für dieses Phänomen ein nahezu perfektes Beispiel darzustellen. Ganz offensichtlich hat sich um Winklers kontinuierliche Videoproduktion ein Anti-Fandom formiert das seine Videos hatewatcht, sich online über sie austauscht und ganz wortwörtlich auch chronologisiert. So findet sich zum Beispiel auf dem Anti-Fan-Blog Drachenchronik. Eine Dokumentation über den Weg ins Verderben ein extensiver Zeitstrahl, der Winklers Leben und seine Online-Aktivitäten auf den Tag genau dokumentiert, bis hin zum Wetter in Altschauerberg und den von ihm getragenen T-Shirts.23

Winkler wird somit zum Hassobjekt eines Kollektivs, das seine Abneigung ihm gegenüber immer wieder aufs Neue performt und sich dadurch in seiner eigenen Identitätskonstruktion immer weiter festigt.24 Das Internet, beziehungsweise die so genannte convergence culture, spielt hierbei eine ausschlaggebende Rolle. Digitale Plattformen liefern neue Möglichkeiten für Rezipient:innen, sich zu vernetzen und schaffen beispielsweise in Form von Foren Plattformen, auf denen einerseits Medieninhalte diskutiert, dadurch andererseits aber auch Identitäten konstruiert werden können. Die hierbei kultivierte, als Mittel der Distinktion gedachte, übermäßig kritische Haltung kann dazu führen, dass die etablierten Machtverhältnisse zwischen Produzent:innen und Konsument:innen neu verhandelt werden.25

Grenzen des Anti-Fan-Modells

Aus Sicht der Medienforscherin Emma A. Jane ist nicht nur dieses Machtverhältnis im Wandel, sondern die Grenzen zwischen den Polen Produzent:in und Rezipient:in in Auflösung begriffen. Insbesondere letztere sollten nicht weiter als ausschließlich passive Empfänger:innen verstanden werden.26 Stattdessen produzieren sie vermehrt selbst Medieninhalte und üben gleichzeitig mehr Macht aus als in der Ära der analogen Massenmedien.27 Die Protagonist:innen des Drachengames scheinen hierfür nahezu ideale Beispiele zu sein: Gerade prominente Hater:innen wie zum Beispiel der User Regenbogenschaf produzieren reichweitenstarke parodistische Videos, Songs und Hörspiele, die in mehr als einer Hinsicht auf Winklers Kosten gehen.28

Jane vertritt die Ansicht, dass es unter anderem explizit die On-Demand-Struktur der digitalen Massenmedien ist, die Anti-Fandoms begünstigt: Rezipient:innen sind es gewohnt, zu jedem Zeitpunkt zu sehen was sie wollen und dementsprechend auch gehört zu werden, wenn sie Kritik äußern.29 So entwickeln Zuschauer:innen einen starken Besitzanspruch auf die Inhalte der Populärkultur und versuchen über diese mithilfe von online koordinierten Kampagnen zunehmend Kontrolle auszuüben.30 Jane zeigt anhand verschiedener Beispiele, wie fließend bei diesen Kampagnen der Übergang zwischen Kritik, Anti-Fandom und Cyberbullying ist.31

„[C]ontemporary anti-fandom often involves ‚ordinary‘ people directing explicit, ad hominem invective toward other ‚ordinary‘ people who may be more vulnerable to anti-fan campaigns than seasoned celebrities.“32

Und auch im Falle des Drachenlords scheint genau dies der Fall zu sein. Während Winkler im Internet durchaus prominent ist, wird er von Behörden und Nachbar:innen in erster Linie als Privatperson verstanden und die professionellen Aspekte seiner Online-Tätigkeiten werden marginalisiert.33

Vom Telefon zum Radio und wieder zurück: Adorno und die sozialen Medien

Denkt man an die demokratischen Potenziale der digitalen Plattformen, ohne deren Existenz Winklers Situation undenkbar wäre, und den Optimismus hinsichtlich einer Emanzipation der vormals ausschließlich passiven Empfänger:innen, mag es zunächst überraschend wirken, dass diese Grundlage so schnell in eine neue Form der Ungerechtigkeit umschlagen konnte.34 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer kritisieren den „Schritt vom Telephon zum Radio“ als einen Schritt weg von der Partizipation und damit auch weg von der Demokratie. Ausgehend von ihrer Kritik an der Struktur der Massenmedien der Kulturindustrie als eine geringe Anzahl zentralisierter Sender:innen und vielen machtlos-passiven Empfänger:innen35 wäre es im Umkehrschluss gerechtfertigt in der dezentralen Organisation digitaler Massenmedien einen Fortschritt zu sehen. Der Medienwissenschaftler Christian Fuchs warnt jedoch davor, dass eine solche Sichtweise die Eigentumsverhältnisse digitaler Plattformen nicht berücksichtigt. Die vermeintlichen Freiräume des Internets existieren nicht außerhalb kapitalistischer Logik und die Möglichkeiten, die Nutzer:innen auf den entsprechenden Plattformen haben, werden durch die Konzerne bestimmt, denen diese Plattformen gehören.36 Im Falle von YouTube manifestieren sich diese Rahmenbedingungen zum Beispiel darin, welche Videos durch den Algorithmus besonders häufig empfohlen werden und welche Videos mithilfe von Werbung monetarisiert werden können.37

Auch Fuchs‘ These, dass „[d]ie Kultur in den sozialen Medien […] eine Kulturindustrie“38 sei, scheint durchaus gerechtfertigt: Wo die analogen Massenmedien, wie sie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung beschreiben, auf Casting-Shows und Talentscouts angewiesen sind, um die „Spontaneität“ des Publikums zu absorbieren und nutzbar zu machen, scheint diese Arbeit im Falle der sozialen Medien auf das Publikum selbst ausgelagert zu sein.39 Letzteres übernimmt gewissermaßen kollektiv die Rolle der Talentscouts, die entscheiden, welche Personen und Formate sich auf der Plattform durchsetzen. Bereits in den Anfängen des Internets ist ersichtlich wie abhängig digitale Plattformen von der kostenlosen Arbeit ihrer Nutzer:innen sind.40 In gewisser Weise sind Plattformen wie YouTube also eine neoliberale Kulturindustrie.

Über die Kulturindustrie der analogen Massenmedien schreiben Adorno und Horkheimer, dass das System nur diejenigen unterstützt und am Leben erhält, die sich ihm genügend unterwerfen.41 Und gerade der Fall des Drachenlords macht deutlich, wie drakonisch die Strafen der digitalen Kulturindustrie an denjenigen ausfallen können, die sich diesem Schritt der Unterwerfung widersetzen. Winkler bleibt unangepasst und verweigert sich den Qualitätsstandards der Plattform und der Kritik der Hater:innen. Wo andere vermutlich schon vor Jahren aufgehört hätten Videos zu machen, will sich der Drachenlord nicht von seinen Anti-Fans besiegen lassen. Genau wie es das System der analogen Kulturindustrie so aussehen ließ, als hätten diejenigen die erfolglos bleiben, lediglich ihre Chancen nicht richtig genutzt und hätten deshalb ihr Scheitern verdient,42 zeigt der Fall Winklers wie ein Internet-Mob seine Aggression gegen einen Außenseiter anhand dessen Außenseiter-Status legitimiert und damit gewissermaßen dessen Scheitern verdoppelt. Dass er gegenüber dem Hass den er im Internet erfährt nicht kapituliert, wird ausgelegt, als sei Winkler selbst an seiner Situation schuld. So erheben die Hater:innen die Aggression die sie selbst ausüben zu einer Art Naturgewalt und legen sich sogar zurecht, dass die inzwischen abgewendete Gefängnisstrafe für Winklers Leben vorteilhaft gewesen wäre, da ein mehrjähriger Gefängnisaufenthalt den aus ihrer Sicht notwendigen Neustart für Winkler hätte darstellen können.43 So scheint für die digitalen Medien dasselbe zu gelten was Adorno auch schon über das Fernsehen schreibt: „Vermutlich macht das Fernsehen [die Menschen] nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind.“44

Winklers sozialer Status als Mobbing-Opfer erscheint wie eine komplette Umkehrung von Max Webers Theorien zur charismatischen Herrschaft. Genau wie Webers charismatischer Herrscher seine Position an der Spitze des Volkes durch sein gottgegebenes Charisma legitimiert,45 leiten die Hater:innen Winklers Position als Cybermobbing-Opfer – gewissermaßen am Tiefpunkt der Gesellschaft, in charismatischer Knechtschaft – durch dessen mangelndes Charisma her. Anders als bei anderen Influencer:innen, bei denen man argumentieren könnte, dass sie in Webers Sinne mithilfe ihres Charismas Geld verdienen,46 könnte man in Winklers Fall argumentieren, dass er durch die Aufmerksamkeit die seine Internet-Präsenz generiert und die Sachschäden an seinem Grundstück, zu denen diese führt, finanziellen Verlust macht.

Zusätzlich hierzu interferieren die Anti-Fans des Drachenlords auch mit den Einnahmen, die er über seine Videos erwirtschaften kann. Indem sie seine Videos systematisch auf anderen Accounts und Plattformen neu hochladen, kann die Anti-Fan-Community diese hatewatchen, ohne dass Winkler über seinen Kanal Werbeeinnahmen generieren kann.47 Auch Jane beschreibt wie Rezipient:innen durch die Störung von Werbeeinahmen, beispielsweise durch Adblock-Plugins, auf eine neue Art und Weise Macht über Produzent:innen ausüben und diese damit in eine finanziell prekäre Situation bringen können.48

Frankfurter Schulhof

In seinem Buch Soziale Medien und Kritische Theorie problematisiert Fuchs, dass die von anderen Autor:innen beschriebene Partizipation in den digitalen Massenmedien Konsument:innen nicht zu dem Ausmaß ermächtigt, wie gerne behauptet wird.49 Der Fall des Drachenlords zeigt, wie eine gut organisierte Gruppe in großem Ausmaß Macht über das Leben einer Privatperson ausüben kann – Lobo nennt dies auch die „Schulhofisierung“ der Gesellschaft.50 Ganz entgegen der Figur des Underdogs machen sich Winklers Anti-Fans zu Agent:innen des Status quo: In einem mehrstündigen Video zu Winklers Auszug aus Altschauerberg diskutiert ein User wie ihm dessen Situation vor Augen geführt habe, dass ein bürgerliches 0815 Leben einem individualistischen, nach eigenen Prinzipien gestalteten Leben wie dem von Winkler vorzuziehen sei.51 Die Ironie, dass Winklers Leben ja maßgeblich deshalb so wenig erstrebenswert erscheint, weil er von Hater:innen wie dem User selbst terrorisiert wird, ist offensichtlich.

Die Macht, die Winklers Zuschauerschaft über sein Leben ausübt, reicht von unerwünschten Gastauftritten der Hater:innen in seinen Streams52 bis hin zu gefährlicheren Vorfällen wie dem Feuerwehreinsatz oder dem so genannten Mettwoch, die deutlich machen, dass die Interferenzen durch Winklers Anti-Fans sich nicht auf dessen Videoproduktion oder seine Online-Persona beschränken, sondern sich bis tief in sein Privatleben ziehen. Hervorzuheben sind auch Fälle, in denen Hater:innen bewusst Falschinformationen über Winkler streuen, um ihn in der Öffentlichkeit in Verruf zu bringen. So lassen sie beispielsweise anlässlich von Amokläufen Bilder zirkulieren, die Winkler als den Täter darstellen, oder bezeichnen ihn öffentlich als rassistisch oder sexistisch.53 Hier wird nicht mehr nur über den kulturellen Status einer Serie diskutiert, sondern vielmehr über die Deutungshoheit über Winkler als Person.

Im Prolog zum Fernsehen beschreibt Adorno, wie Medien und Realität zusehends miteinander verschwimmen: Einerseits wird die Welt der Medien zunehmend realer, andererseits nehmen wir „die Realität durch die Fernsehbrille“ wahr.54 Dies scheint treffend zu beschreiben, wie Winklers Anti-Fans ihn vollständig auf seine Online-Persona reduzieren und ignorieren, dass hinter dem zentralen Hassobjekt ihres Anti-Fandoms ein realer Mensch steckt. Dies äußert sich zum Beispiel auch in einer systematischen Fiktionalisierung von Winklers Lebensrealität, die von den Hater:innen in Anlehnung an die Struktur von Fernsehserien in Staffeln eingeteilt wird: die Team-Speak-Staffel beschreibt so beispielsweise die Zeit, in der Winkler vermehrt den Kontakt zu seiner Community über die gleichnamige Sprachkonferenzsoftware suchte. Nachdem man im Rahmen des Gerichtsprozesses zunächst die Knast-Staffel55 antizipierte, beschreiben die Hater:innen die immer noch laufende Jagd auf Winkler quer durch Deutschland als die Obdachlosen-Staffel:56 sobald die Zuschauer:innen Winklers Hotel oder Unterkunft ausfindig gemacht haben, verfassen sie gezielt negative Online-Rezensionen oder terrorisieren die Betreiber:innen per Telefon und zwingen diese so dazu, Winkler wieder vor die Tür zu setzen. Nach eigenen Angaben musste Winkler innerhalb des ersten halben Jahres nach dem Auszug aus seinem Haus sechzig bis achtzig Mal die Unterkunft wechseln.57 Auch wenn der Gerichtsprozess nicht zu einer Inhaftierung Winklers geführt hat, so hat er den Hater:innen doch ein nie dagewesenes Maß an Kontrolle über Winklers Leben ermöglicht.

Ausgehend von dieser Metapher von verschiedenen Lebensabschnitten als Staffeln scheint es nicht abwegig das Verhalten der Hater:innen im Kontext traditioneller Anti-Fan-Erklärungsmuster zu Ende zu denken: Wo traditionelle Anti-Fans sich dafür stark machen, einer vermeintlich überbewerteten Serie ihre Popularität abzusprechen, versuchen Winklers Zuschauer:innen seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu beeinflussen. Ihr Ziel ist es nicht, durch Twitter-Kampagnen eine Serie absetzen zu lassen, sondern vielmehr Winkler durch koordiniertes Verhalten on- und offline zu quälen und ihn – zumindest – ins Gefängnis zu bringen.

Die Dialektik des Web 2.0

Betrachtet man die Videos und das Leben des Drachenlords in der Terminologie der Hater:innen tatsächlich als eine Art Fernsehserie, wird klar, dass es längst nicht mehr Winkler selbst ist, der hier die Regie führt. Stattdessen hat sich das Machtverhältnis von Produzent:innen und Rezipient:innen gänzlich umgekehrt; möglicherweise sogar so sehr, dass eine sinnvolle Unterscheidung zwischen den beiden Polen gar nicht mehr möglich ist.

Autor:innen wie Fuchs kritisieren an den sozialen Medien und dem Web 2.0, dass diese hinter ihren demokratisch-partizipativen Potenzialen zurückbleiben und die Rezipient:innen nach wie vor vergleichsweise machtlos sind.58 Die Situation bei Menschen wie dem Drachenlord scheint jedoch einen Fall darzustellen, indem die Ermächtigung der Zuschauer:innen tatsächlich so weit fortgeschritten ist, dass sie sogar auf das Privatleben der Produzent:innen Einfluss nehmen können. Bildlich gesprochen wird bei Anti-Ikonen wie dem Drachenlord nicht um das goldene Kalb getanzt, sondern das goldene Kalb zum Tanzen gezwungen.

Genau wie Adorno und Horkheimer in der Aufklärung bereits den Keim des Rückschritts in die Barbarei identifizierten, scheint sich auch in der vermeintlich demokratischen Struktur der digitalen Massenmedien bereits ein Keim des Rückschritts zu finden, dessen Früchte die Lebensumstände von Menschen wie Rainer Winkler sind.


Biografie

MORITZ KONRAD studierte Malerei und Grafik an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste und schloss sein Studium dort 2019 mit Ernennung zum Meisterschüler ab. Im Anschluss begann er ein Studium in Kunstwissenschaft, Medienphilosophie und Ausstellungsdesign an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. In verschiedenen Disziplinen und Medien arbeitet er zu Internetkulturen, Bildphänomenen des digitalen Alltags und den Wechselwirkungen zwischen Hoch- und Populärkultur.

Fußnoten

  1. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S.162.
  2. Vgl. z.B. Unbesigt auf ewig, URL: https://drachenchronik.com/date/2019/8/17 (21.02.2023).
  3. Sascha Lobo: »Drachenlord«: Ein jahrelanges Martyrium in Deutschland – und niemand hält es auf, URL: https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/der-fall-drachenlord-ein-jahrelanges-martyrium-in-deutschland-und-niemand-haelt-es-auf-kolumne-a-91b94ce3-ab01-4ac1-9286-d85bea144928 (21.02.2023).
  4. Vgl. ebd.
  5. Vgl. Haider, URL: https://drachenchronik.com/tag/haider (21.02.2023); oder auch Haider (Drachenlord), URL: https://youtube.fandom.com/de/wiki/Haider_(Drachenlord) (21.02.2023).
  6. Vgl. Adresse preisgegeben, URL: https://drachenchronik.com/date/2014/2/2 (21.02.2023).
  7. Lobo, »Drachenlord«.
  8. Vgl. Der erste Feuerwehreinsatz, URL: https://drachenchronik.com/date/2015/7/15 (21.02.2023).
  9. Vgl. Drachenlord vs. Hater – wenn Cyber-Mobbing Realität wird., 2016, URL: https://www.youtube.com/watch?v=JeIjvCSuO0U.
  10. Vgl. Der Mettwoch, URL: https://drachenchronik.com/date/2015/8/19 (21.03.2023); oder Drachenlord vs. Hater – wenn Cyber-Mobbing Realität wird.
  11. FOCUS online, Youtuber ‚Drachenlord‘ obdachlos – trotzdem jagen ihn Hater weiter, URL: https://www.focus.de/kultur/medien/hauptfigur-in-erfolgspodcast-drachenlord-obdachlos-trotzdem-jagen-ihn-hater-weiter_id_180417972.html (21.02.2023).
  12. Vgl. Jonathan Gray: New Audiences, New Textualities: Anti-Fans and Non-Fans, in: International Journal of Cultural Studies 6, Nr. 1 (1. März 2003): S.64-65, URL: https://doi.org/10.1177/1367877903006001004.
  13. Ebd., S.74.
  14. Vgl. ebd., S.70-71.
  15. Vgl. Jonathan Gray: How Do I Dislike Thee? Let Me Count the Ways, in Anti-Fandom, Bd. 24 (NYU Press, 2019), S.28-29, URL: http://www.jstor.org/stable/j.ctvwrm46p.
  16. Vgl. ebd., S.30-32.
  17. Vgl. ebd., S.34-39.
  18. Gray: New Audiences, New Textualities: Anti-Fans and Non-Fans, S.73.
  19.  Vgl. Gray: How Do I Dislike Thee? Let Me Count the Ways, S.34-35; Vgl. Anne Gilbert, Hatewatch with Me Anti- Fandom as Social Performance, in Anti-Fandom, Bd. 24 (NYU Press, 2019), S.63, URL: http://www.jstor.org/stable/j.ctvwrm46p.
  20.  Vgl. Gilbert: Hatewatch with Me Anti- Fandom as Social Performance, S.67-68.
  21. Vgl. ebd., S.64.
  22. Ebd., S.72.
  23. Kalender, URL: https://drachenchronik.com/date (21.11.2021).
  24. Vgl. Melissa A. Click: Introduction, in Anti-Fandom, Bd. 24 (NYU Press, 2019), S.14-15, http://www.jstor.org/stable/j.ctvwrm46p.
  25. Vgl. ebd., S.10-11.
  26. Vgl. Emma A. Jane: Hating 3.0. Should Anti- Fan Studies Be Renewed for Another Season?, in Anti-Fandom, Bd. 24 (NYU Press, 2019), S.42, http://www.jstor.org/stable/j.ctvwrm46p.
  27.  Vgl. ebd., S.45-46.
  28. Vgl. z.B. Regenbogenschaf besucht Emskirchen! #1 REUPLOAD, 2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=_yfvghez3Mw; Regenbogenschaf: Lügenlord Song, URL: https://drachenchronik.com/music/xuE4eeKIZR4 (21.02.2023); oder Hörspiel:  Der Lügenlord ermittelt!, 2019, URL: https://www.youtube.com/watch?v=v2V-xEWAfaM.
  29. Vgl. Jane: Hating 3.0. Should Anti- Fan Studies Be Renewed for Another Season?, S.54.
  30. Vgl. T. Martens: Creators, Fans and Death Threats: Talking to Joss Whedon, Neil Gaiman and More on the Age of Entitlement. Los Angeles Times, July 25.zitiert nach Jane, Hating 3.0. Should Anti- Fan Studies Be Renewed for Another Season?, S.54.
  31. Vgl. Jane: Hating 3.0. Should Anti- Fan Studies Be Renewed for Another Season?, S.56.
  32. Ebd., S.56.
  33. Lobo: »Drachenlord«.
  34. Vgl. Christian Fuchs: Soziale Medien und kritische Theorie: eine Einführung, München 2019, S.106.
  35. Vgl. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, S.128-129.
  36. Vgl. Fuchs: Soziale Medien und kritische Theorie, S.113.
  37. Vgl. ebd, S.120.
  38. Ebd., S.113.
  39. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, S.130.
  40. Vgl. Tiziana Terranova: Free Labor, in: Social Text 18, Nr. 2 (2000): S.36, URL: https://doi.org/10.1215/01642472-18-2_63-33.
  41. Vgl. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, S.158.
  42.  Vgl. ebd., S.158-159.
  43. Vgl. Abgang Bühne Links dieses Urteil ist ein Witz (meine Meinung), 2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=lzNgGKDcFqQ.
  44. Theodor W. Adorno: Prolog zum Fernsehen, in Gesammelte Schriften. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe, Stichworte, Anhang / Theodor W. Adorno, 2003, S.408.
  45. Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft :Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, S.140, URL: https://external.dandelon.com/download/attachments/dandelon/ids/AT0011B37E.pdf.
  46. Vgl. ebd., S.141.
  47. Vgl. Ein Drachenlord Archiv, (23.03.2022), URL: https://drachenchronik.com/.
  48. Vgl. Jane: Hating 3.0. Should Anti- Fan Studies Be Renewed for Another Season?, S.46.
  49. Vgl. Fuchs: Soziale Medien und kritische Theorie, S.111.
  50.  Vgl. Lobo: »Drachenlord«.
  51. Vgl. VeganerJaMetzger Der Tag der Tage ist gekommen ! vom 01 03 2022 (Reupload), 2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=tJyYjX3bUWA.
  52. Vgl. Die Geschichte des Drachenlord – Episode 28: Feuer des Drachen, 2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=2OVzTI1yVLQ.
  53. Vgl. Lobo: »Drachenlord«.
  54. Adorno: Prolog zum Fernsehen, S.411.
  55. Vgl. Die Geschichte des Drachenlord – Episode 7: Die Teamspeak Staffel – YouTube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=Xmz936tl2Ns;Drachenlords Knaststaffel |Trailer, 2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=4iqXNFjKkww; oder auch Drachenlord: Das große STAFFELFINALE, 2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=_LMRtR-qyVA.
  56. Vgl. Die Obdachlosenstaffel: Drachenlord auf Reisen, 2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=7Qic29xfxZQ; oder reine Rainer Winkler Memes, Keiner will an Rainer vermieten.. 😱😱 Schocker!, URL: https://www.instagram.com/p/CaQVGvQMWRx/ (21.02.2023).
  57. Vgl. FOCUS online, Youtuber ‚Drachenlord‘ obdachlos – trotzdem jagen ihn Hater weiter
  58. Vgl. Fuchs: Soziale Medien und kritische Theorie, S.111-114.

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