Fragonards „Junges Mädchen beim Lesen“ – Zur (Be)Deutung weiblichen Lesens im 18. Jahrhundert, 2025 – Justine Ney

Ein Beispiel aus der Kunst, welches Aufschluss über den Diskurs rund um weibliche Sexualität im 18. Jahrhundert und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen gibt, ist das Gemälde „Junges Mädchen beim Lesen“ von Jean-Honoré Fragonard. Die Kunsthistorikerin Melissa Percival verweist darauf, dass das Werk eine „erotische Possibilität“ birgt, eine Annahme, die im Beitrag differenziert ins Augenmerk genommen wird. Hierbei wird das Ziel verfolgt, ausgehend von Fragonards „Junges Mädchen beim Lesen“, darzulegen, inwiefern das einzelne weibliche Lesen sexuell gedeutet wurde. Um eine differenzierte Auseinandersetzung zu eröffnen, wird darüber hinaus betrachtet, welche Bedeutung das Lesen für weibliche Personen des 18. Jahrhunderts innerhalb patriarchaler Strukturen gehabt hat.

Jean-Honoré Fragonards (1732 – 1806) Œuvre ist von erotischen Bildmotiven durchzogen, die in ihrer sexuellen Dimension klar zu lesen sind. Sie zeigen vielfach Szenen in Schlafgemächern, in denen weibliche Figuren oftmals entblößt dargestellt sind und wodurch jene Bilder für die Betrachtenden schnell als erotisch eingeordnet werden können. Besonders interessant wird es, wenn man nun auf ein Kunstwerk trifft, das in der kunsthistorischen Forschung erotisch interpretiert wird, welches jedoch beim Betrachten der Darstellung keine eindeutige Erotik offenbart: Dies ist bei Fragonards Ölgemälde Junges Mädchen beim Lesen (ca. 1769) der Fall, welches der Gemäldegruppe der Fantasy Figures1 zugerechnet wird. Als Betrachter*in blickt man auf dieses Werk und der Blick trifft auf ein Mädchen, ihr Blick aber ist ganz auf das kleine Buch in ihrer Hand gerichtet – Sie scheint dessen Inhalte in sich aufzunehmen, gar zu absorbieren (Abb. 1).2

Abb. 1: Jean-Honoré Fragonard, Junges Mädchen beim Lesen, ca. 1769, Öl auf Leinwand, 81,1 x 64,8 cm, Washington, D. C., National Gallery of Art. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 283.

Auffallend ist die Kleidung des Mädchens, insbesondere das Gelb ihres Kleides, welches einen farbigen Blickfang darstellt. Über einer Lehne, auf der ihr linker Arm ruht, liegt erneut gelber Stoff – für das Auge ist es nur schwer festzustellen, zu welchem Teil des Kleides dieser gehört. Die Falten des Stoffes sind detailliert ausgeführt und durch geschickt gemalte Licht- und Schatteneffekte wird dessen Stofflichkeit betont. Auch das Kissen, an welchem der Rücken des Mädchens lehnt, ist mit gekonnten Pinselstrichen gemalt, so dass durch die evozierte Stofflichkeit und Volumen, das Kissen fast greifbar erscheint. Möchte man nun den Versuch unternehmen, alle Details der Darstellung zu erfassen, wird man schließlich mit rätselhaften Uneindeutigkeiten konfrontiert: es ist nicht auszumachen, was auf den Seiten des Buches geschrieben steht, da diese bloß mit schwarzen Linien angedeutet sind; zudem lassen sich über den Ort, an dem die Figur dargestellt ist, nur Vermutungen äußern. Es ist einzig ein brauner Hintergrund zusehen, in dem kein Mobiliar dargestellt ist. Rein die Lichtsituation lässt die Annahme zu, dass das Mädchen in einem Innenraum sitzt. Durch das Spiel mit den Uneindeutigkeiten lässt das Bild viele Fragen zu: Wer ist das Mädchen? Was liest sie gerade? Und welche Assoziationen werden beim Betrachten ausgelöst? Letztendlich kommt die Frage auf, wie sich dieses Werk deuten lässt. Auf diese bietet Melissa Percival in ihrer Publikation Fragonard and the Fantasy Figures eine Antwort an.3 Eine Antwort, welche im Folgenden differenziert betrachtet und als Ausgangspunkt genommen wird, um einerseits nachvollziehen, weshalb das einzelne, individuelle weibliche Lesen als Bildmotiv sexuell gedeutet wurde. Andererseits soll ihre Antwort um eine tiefergreifende Dimension erweitert werden, die beachtet, welche Bedeutung das Lesen für weibliche Personen des 18. Jahrhunderts innerhalb patriarchaler Strukturen abseits diskursiv wirkmächtiger Auslegungen hatte.4 Ein Vorhaben, welches den Versuch darstellt, eine differenzierte und kritische Lesart eines Gemäldes zu ermöglichen, welches sich durch seine künstlerische Ausführung, die den Fokus insbesondere auf die Farbkomposition und den lebendigen Duktus lenkt, einer direkten erotischen Lesart zu entziehen scheint.

Weibliches Lesen erotisch gelesen

In ihrer Publikation widmet Percival eine recht kurze Passage der Interpretation des Gemäldes des lesenden Mädchens. Sie sagt, dass die Darstellung des Gemäldes eine „erotische Possibilität“5 birgt. Dies macht sie an der Position der linken Hand, welche die Kunsthistorikerin nah am Intimbereich des dargestellten Mädchens verortet sowie des vermutlichen Inhalts des kleinen Buches – womöglich ein Roman mit anzüglicher Handlung – fest. In ihrer Analyse wird zudem auf den männlichen Betrachter verwiesen, der auf dieses Bild eines konzentriert lesenden Mädchens mit Neugier und Lust blickt.6

Begibt man sich nun auf die Suche nach dieser erotischen Possibilität und schaut erneut auf das Werk, ist folgende Erkenntnis naheliegend: Blickt man heutzutage auf die Darstellung, scheint es, als ließe sich in der Darstellung des Mädchens keine explizite Erotik entdecken. Keine stark entblößten Körperstellen, kein verführerischer Blick zur betrachtenden Person des Gemäldes. Aber wie kann es sein, dass eine scheinbar so anständige Darstellung dennoch erotisch ist? Betrachtet man rein die Art und Weise der Darstellung, lässt sich die von Percival suggerierte Erotik anfechten: Die Hand, die laut ihr in der Nähe des Intimbereichs platziert ist und dessen Hinweis die Möglichkeit zur Selbstbefriedigung zu suggerieren scheint, lässt sich beim genauen Hinsehen als auf der Lehne ruhend, erkennen. Auch das so angespannte Halten des Buches mit der rechten Hand und der konzentrierte Blick auf dieses, erscheinen eher unschuldig und auf das vertiefte Lesen fokussiert als einer sexuellen Fantasie zu verfallen. Zudem verweist die Kunsthistorikerin an früherer Stelle selbst darauf, dass die Fantasy figures vergleichsweise anständig dargestellt sind.7 Die erotische Lesart gewinnt somit eigentlich erst an Form, wenn man die vorherrschenden Vorstellungen der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts mit in den Blick nimmt, welche Percival wie folgt beschreibt:

„Fragonard’s fantasy figures are comparatively modest. But […] solitary female subjects regularly provoked an erotic response in the male viewer. In the eighteenth-century, the trope of a woman reading was highly charged: novels were seen as immoral, and women’s imaginations, supposedly more volatile than men’s, were thought to be highly susceptible to their corrupting influences.”8

Dieser Aspekt, dass auch anständig wirkende Darstellungen im 18. Jahrhundert als erotisch anregend gelesen wurden, thematisiert ebenfalls die Kunsthistorikerin Mary D. Sheriff in ihrem Buch Moved by Love: Inspired Artists and Deviant Women in Eighteenth-Century France.Es sei im Jahrhundert in dem Fragonard lebte so gewesen, dass es einerseits explizit erotische Szenen auf die unmoralischen Auswirkungen weiblichen Lesens schließen lassen. Andererseits verweist sie darauf, dass in dieser Zeit auch in ‚genial verschleierten‘ Kunstwerken ein moralischer Verfall bzw. ein Verlangen nach Liebe – eine Auswirkung, die in Hinblick auf Diskurse um weibliche Sexualität vielseitig deutbar ist – von damaligen Betrachter*innen wahrgenommen wurde.9

Um dies deutlicher zu machen, ist es hilfreich ein anderes Werk zum Vergleich heranzuziehen. Ein wichtiges Werk, welches im Zusammenhang mit weiblichen Lesenden im 18. Jahrhundert und dem dazugehörigen Diskurs referiert wird, ist Pierre-Antoine Baudouins (1723 – 1769) Die Lektüre. In Gegenüberstellung mit Junges Mädchen beim Lesen hilft es zudem nachzuvollziehen, weshalb eine ‚verhüllte‘ Darstellung, wie die von Fragonard, dennoch erotisch gelesen wurde.10

Abb. 2: Pierre-Antoine Baudouin, Die Lektüre, um 1765, Gouache auf Papier, 29 x 22,5 cm, Paris, Musée des Arts Décoratifs. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard Amoureux. Galant et libertin, Paris (Musée du Luxemburg) 2015, S. 181.

Die Lektüre (Abb. 2) zeigt eine barbusige Frau, die in einem Boudoir auf einem Sessel sitzt, mit ihrem Kopf leicht zur Seite geneigt. Auf einem neben dem Sessel platzierten Hundehäuschen liegt ein aufgeschlagenes, kleinformatiges Buch, welches der weiblichen Figur offenbar aus der Hand gefallen zu sein scheint. Ihr Körper wirkt entspannt – zum einen durch ihre Kopfhaltung, zum anderen durch ihre schlaff herabhängenden Gliedmaßen. Sie lehnt zudem an einem voluminösen blauen Kissen, welches an das im Gemälde Fragonards erinnert. Das Werk von Baudouin wird vielfach als aufreizend und provokant aufgefasst sowie als eine Darstellung von Masturbation gedeutet.11 Darüber hinaus wird es als eine der wichtigsten Darstellungen, die einen Einblick in weibliche Sexualität im 18. Jahrhunderts gibt, gesehen.12 Wenn man Baudouins Werk mit Fragonards Junges Mädchen beim Lesen vergleicht, dann unterscheiden sie sich in ihren Darstellungsweisen: Die Figur aus Die Lektüre lässt sich durch ihre entspannte Körperhaltung und entblößten Brüsten deutlicher in einen erotischen Kontext setzen. Diese beiden expliziten Entscheidungen der Darstellung weichen von Junges Mädchen beim Lesen ab. Das Mädchen, das von Fragonard gemalt wurde, ist noch immer in ihre Lesetätigkeit vertieft. Sie hält das Buch weiterhin in der Hand und sie ist – ausgehend von dem, was der Bildausschnitt erkennen lässt – vollständig bekleidet. Es gibt aber auch Aspekte, die die beiden Werke miteinander verbinden: Beide sind, beziehungsweise im Fall der weiblichen Figur Baudouins waren, mit der Lektüre eines kleinformatigen Buches beschäftigt.

Abb. 3: Pierre-Antoine Baudouin, Die Lektüre, Detail, um 1765, Gouache auf Papier, 29 x 22,5 cm, Paris, Musée des Arts Décoratifs. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard Amoureux. Galant et libertin, Paris (Musée du Luxemburg) 2015, S. 181.
Abb. 4: Jean-Honoré Fragonard, Junges Mädchen beim Lesen, Detail, ca. 1769, Öl auf Leinwand, 81,1 x 64,8 cm, Washington, D. C., National Gallery of Art. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 283.

Zudem lehnen beide an einem Kissen (Abb. 3 und 4), welches sehr voluminös ist, was durch die Setzung von Licht und Schatten sowie die Farben erreicht wird. Diese Kissen verbinden die beiden Darstellungsweisen miteinander. Melissa Percival legt dar, dass Fragonard solch füllig wirkende Kissen auch in anderen Gemälden malte, in denen leicht oder gar nicht bekleidete Frauen in Schlafzimmerszenen dargestellt und die dadurch deutlich in einen erotischen Kontext gesetzt sind – wie beispielsweise Le Feu aux poudres, welches sich in der Sammlung des Louvre in Paris befindet (Abb. 5) und ein Exempel für die eingangs beschriebenen erotischen Werke Fragonards ist.13 Die erotische Lesart lässt sich also scheinbar durch den diskursiven Kontext rund um das Lesen von Romanen im 18. Jahrhundert sowie die – direkte oder gedankliche – Gegenüberstellung mit anderen Kunstwerken unmissverständlich erotischen Bildinhalts, erklären.

Abb. 5: Jean-Honoré Fragonard, Le Feu aux poudres, vor 1778, Öl auf Leinwand, 37 x 45 cm, Paris, Musée du Louvre. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 163.

In Hinblick auf die Betrachtung des Gemäldes Junges Mädchen beim Lesen wurde von Percival auf den männlichen Betrachter verwiesen, der auf das Kunstwerk blickt und eine solche erotische Komponente hineinprojiziert. Wolfgang Kemp, der sich umfassend mit dem Verhältnis zwischen Kunst und betrachtender Person auseinandergesetzt hat, bemerkt, dass jedes Kunstwerk an jemanden adressiert ist und dadurch eine Kommunikation mit den Betrachter*innen entsteht. Darüber hinaus verweist das Kunstwerk dadurch auf seinen Platz und seine Auswirkungen in der Gesellschaft, in der es situiert ist.14 Dies kann eng mit dem Konzept des Male Gazes, insbesondere von Laura Mulvey in den 1970er Jahren geprägt, gedacht werden. Ein Auszug ihres Textes Visuelle Lust und narratives Kino gibt einen pointierten Einblick: „In einer Welt, die von sexueller Ungleichheit bestimmt ist, wird die Lust am Schauen in aktiv/männlich und passiv/weiblich geteilt. Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird.”15 Es wird deutlich, dass der Blick und somit die Rolle des männlichen Betrachters eine Machtkomponente beinhaltet, da er durch seinen Blick auf die weibliche Person einwirkt. Dieses Machtverhältnis wird insbesondere erkennbar, wenn beachtet wird, dass das Konzept des Gazes in den visuellen Künsten Blickakte – hier durch den männlichen Betrachter – beschreibt, die durch ein vorherrschendes Verlangen und den Wunsch Kontrolle über das betrachtete Objekt zu erlangen, gekennzeichnet sind.16

Leserinnen im Spannungsfeld patriarchaler Strukturen

Dass zwischen Frauen und Männern ein Ungleichgewicht – nicht nur in Hinblick auf betrachtendes männliches Subjekt und betrachtetes weiblichen Objekt – herrscht, wird auch in den Bildvergleichen, die Melissa Percival anführt, deutlich. Sie vergleicht Junges Mädchen beim Lesen mit zwei anderen Werken der Gruppe Fantasy Figures. Als erstes wählt sie eine andere Frauendarstellung mit dem Titel Die Studie (Abb. 6).

Abb. 6: Jean-Honoré Fragonard, L’Étudie, dit aussi parfois Le Chant [Die Studie, teilweise auch genannt Der Gesang], 1750/1775, Öl auf Leinwand, 82 x 66 cm, Paris, Musée du Louvre. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 273.

Statt dem für Frauen verbreiteten kleinen Buchformat ist die Frau mit mehreren großformatigen Büchern – eines davon geöffnet – dargestellt. Sie verweist diesbezüglich darauf, dass diese Darstellungsweise trotzdem immer noch davon abweicht, wie im Kontrast dazu Männer bei der Lektüre dargestellt werden. Dafür wählt sie als weiteren Vergleich das Portrait von Denis Diderot17 (Abb. 7), eine männliche Figur, abgebildet mit Büchern. Die schwere Kleidung des Mannes sowie seine Kette suggerieren laut Percival eine gewisse Professionalität, wie beispielweise die eines Anwaltes. Dadurch wird ihm ein größeres Eintauchen in das Lesen und somit in das Dazulernen zu gesprochen als der dargestellten Frau zuvor – für diese sei Lesen ein bloßer Zeitvertreib.18

Abb. 7: Jean-Honoré Fragonard, Portrait de Mr Meunier, dit autrefois Denis Diderot [Portrait von Mr Meunier, oder auch Portrait von Denis Diderot], um 1769, Öl auf Leinwand, 82 x 65 cm, Paris, Musée du Louvre. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 264.

Durch die Vergleiche wird deutlich, dass die Darstellungen weiblichen Lesens nicht nur in Hinblick auf Diskurse um beispielsweise die weibliche Sexualität im 18. Jahrhundert gesehen und gedeutet werden können, sondern ferner eine Auseinandersetzung mit diesen Darstellungen Aufschluss darüber bietet, wie die Lesetätigkeit von Frauen in Abweichung von männlichen Lesenden gesehen wurde – eine Dimension, der Percival keine weitere Beachtung schenkt.

Lesen kam im 18. Jahrhundert, insbesondere für Frauen, ein neuer Stellenwert zu. Es war der Fall, dass damals immer mehr Personen lesen lernten, da Lesen zunehmend als bedeutende Fähigkeit angesehen wurde und dies auch in der Bildung sowie Erziehung weiblicher Personen einbezogen wurde. Viele von Ihnen, die Teil der Bildungsschicht waren, besaßen inzwischen auch Zeit zum Lesen, da es zu veränderten Haushaltsaufgaben kam.19 Wie durch die Vermutung erkennbar wird, dass es sich der möglichen Buchgattung der Lektüre des Jungen Mädchens beim Lesen um einen Roman handeln könnte, kam es, dass dieses Genre im 18. Jahrhundert eine zunehmende Beliebtheit bei Leser*innen erfahren hatte. Jedoch gab es auch Kritik bezüglich des Lesens von Romanen, insbesondere wenn diese von Frauen gelesen wurden, da der Verdacht bestand, dass diese Buchgattung das weibliche Geschlecht negativ beeinflussen würde. Es wurde angenommen, dass Romane sexuelle Fantasien hervorrufen würden, eine Annahme, die sich auch in den Darstellungen und Interpretationsansätzen von Bildmotive individuell lesender Frauen widerspiegelt.20 Es wurde befürchtet, dass eine extensive Lesetätigkeit möglicherweise außerdem dazu führen könne, dass die „soziale Ordnung“ aufgewühlt und gefährdet werde.21 Eine Annahme, die auf eine mögliche Furcht hinweist, dass hierdurch die patriarchale Gesellschaft, in der der Mann die vorherrschende Position und Macht besitzt, ins Wanken geraten könne. Um die Strukturen zu sichern, die eine Gesellschaft mit männlicher Vormachtstellung festsetzt, ist es ein Instrument, die Frau aus der politischen Öffentlichkeit, in der Entscheidungen besprochen und gefällt, sowie Machtverhältnisse festgesetzt werden, auszuschließen. Dies geschieht insbesondere durch die Abtrennung der öffentlichen Sphäre von der privaten, häuslichen Sphäre.22 Laut der Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer wurde insbesondere mit der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert „eine Reihe von Konventionen, Regeln und Institutionen geschaffen, die die Frau der Privatheit, Männer dagegen der Öffentlichkeit und der Politik zuordneten, also die gesellschaftlichen Sphären geschlechtlich kodierten und hierarchisierten.“23

Was hat das nun mit Fragonards Junges Mädchen beim Lesen zu tun? Das Gemälde zeigt, wie die weibliche Person dem Lesen als selbstständiger, einzelner Aktivität nachgeht – vermutlich in einem privaten Innenraum. Im Hinblick darauf sind Überlegungen von Griselda Pollock gewinnbringend, die sie in ihrem Text Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne, die sie in Bezug auf die Kunst des Impressionismus entwickelte, festhält und die eine differenzierte Lesart des Gemäldes ermöglichen, welche über die Kunst dieser Zeit die Rolle der Frau und ihre Verortung in der Gesellschaft bestimmt und reflektiert. Pollocks Darlegungen sind aber auch für die Kunst aus Fragonards Zeitalter fruchtbar, da sie gesellschaftliche und politische Strukturen thematisieren, die sich im 18. Jahrhundert entfaltet haben, wie anhand der Ausarbeitungen von Birgit Sauer deutlich wurde. Griselda Pollock thematisiert in ihren Ausführungen die Orte, an denen Frauen in Kunstwerken dargestellt wurden.24 In einer ihrer Betrachtungsebenen verweist sie darauf, dass Frauen in der Regel in der „häusliche[n] oder private[n] Sphäre“25 gezeigt werden und bekundet damit, dass die Trennung auch in der Kunst Eingang gefunden hat. Durch diese Perspektive ist es möglich über die Kunst dieser Zeit die Rolle der Frau und ihre Verortung in der Gesellschaft zu bestimmen und zu reflektieren. Auch wenn man den genauen Raum, in der sich das lesende Mädchen befindet, nicht benennen kann, scheint es so, als ob sie sich in einem Innenraum aufhält. Sie ist also räumlich sowie im Hinblick der gesellschaftlichen Ebene in die häusliche Sphäre verwiesen, also in einen Bereich in denen explizit Frauen verortet wurden und der niedriger angesehen war. Darüber hinaus bot dieser Bereich weniger Handlungsmöglichkeiten als die politische Öffentlichkeit, in der sich männliche Personen bewegten.26 Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit stellt ein Instrument dar, welches eine „hierarchisch[e] Zweigeschlechtlichkeit“ herstellt und als Rechtfertigung der „Unterordnung von Frauen“ genutzt wurde.27 Von der Literaturwissenschaftlerin Ursula Becher wird das individuelle Lesen zudem als „Teil der Privatsphäre“ aufgefasst.28 Sie hebt die Bedeutung des Lesens für Frauen in einer Welt in der Öffentlichkeit und Privatheit geschlechterbasiert voneinander getrennt sind folgendermaßen hervor:

„Zeit zum Lesen zu finden, war so wichtig, weil Lesen für die meisten dieser Frauen einem existentiellen Bedürfnis entsprach. Im Lesen fanden sie Zugang zu einer fernen Welt, die ihre eigene Welt werden mußte. Ihre alltägliche Welt zählte nicht, verglichen mit der herrlichen Welt, die die Bücher ihnen erschlossen, der Alltag freilich wurde – vom Glanz der Buchwelt erstrahlt – erträglicher. Die Lektüre anspruchsvoller Bücher verbindet sie mit der Welt, die für sie, die sie aufs Haus, auf die private Innenwelt verwiesen sind, Außenwelt, Öffentlichkeit darstellt. Viele Anstrengungen der Leserin sind darauf gerichtet Einblick in diese Welt und Zugang zu ihr zu gewinnen.“29

Es wird deutlich, dass Leserinnen durch ihre Tätigkeit in die unpolitische private Sphäre verortet wurden. Dies ist repräsentativ für den Platz den Frauen im patriarchalen Europa des 18. Jahrhunderts hatten und somit aufschlussreich, um zudem Darstellungsweisen in Kunstwerken kritisch zu reflektieren und dabei zu schauen, ob Deutungsansätze ausschließlich diskursiv wirkmächtige Narrative reproduzieren. In der Auseinandersetzung wird nämlich darüber hinaus erkennbar, dass Frauen zu dieser Zeit nicht nur Romane lasen und deren potenziell sexuellen Inhalten verfielen, sondern auch auf Literatur zurückgriffen, um sich weiterzubilden. Bechers Ausführungen zeigen zudem auf, dass Frauen vermehrt das Verlangen hatten Zutritt zur politischen Öffentlichkeit zu erlangen.30 Dies zeichnet sich auch in Hinblick auf Aktivistinnen zum Ende des Jahrhunderts ab. Als 1789 in Frankreich die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte verfasst wurde, wurden Frauen nicht als Bürgerinnen angesehen. Dies ist der Grund, weshalb sich beispielsweise Olympe de Gouges (1748 – 1793) – eine bedeutende Frauenrechtlerin – für die Gleichstellung der Frau und den Erhalt gleicher Rechte für das weibliche Geschlecht einsetzte.31

Schon ein Ende in Sicht?

Trotz der Bestrebungen, die die Gleichberechtigung im Zusammenhang mit den politischen Veränderungen der französischen Revolution forderten, blieben patriarchale Strukturen bestehen und Frauen wurden politisch noch immer nicht als Bürgerinnen und Teil der politischen Öffentlichkeit gefasst.32 Im darauffolgenden Jahrhundert ist die Verortung der Frau in die private Sphäre weiterhin üblich und hierbei auch in den Darstellungen der Kunst präsent, wie Grisdela Pollock in ihrem Text zu den Räumen der Weiblichkeit in der Moderne festhält.33 Auch lesende Frauen sind weiter als Bildsujet in der Kunst des neuen Jahrhunderts beliebt, wie beispielsweise zahlreiche Werke impressionistischer Maler*innen zeigen. Pollock hebt hervor, dass Frauen auch in der Kunst weiter der Privatsphäre zu geordnet sind, „[s]eltener werden Frauen in der Öffentlichkeit abgebildet und wenn, dann in einer beschränkten Weise. Frauen gingen im Park spazieren, fuhren aus und besuchten Orte respektierlicher Unterhaltung wie das Theater oder die Oper, Räume bürgerlicher Muße und des rituellen sich Zeigens.“34 Um einen weiterführenden Blick zu wagen, wäre es nun interessant zuschauen, wie sich möglicherweise Deutungen einer erotischen Possibilität übertragen oder auch weiterentwickelt haben könnten. Wird weibliches Lesen – im Impressionismus auch in Parks oder anderen öffentlichen Orten dargestellt – noch immer mit einer möglichen sexuellen Komponente assoziiert? Oder sind es nun andere Bildmotive, z.B. Szenen in Vergnügungsorten der Bourgeoise, die eine erotische Lesart suggerieren – wie beispielsweise Édouard Manets (1832 – 1883) Un bar aux Folies Bergère (1882)?35


Biografie

JUSTINE NEY studiert Kunstgeschichte und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit Juni 2022 ist sie studentische Mitarbeiterin in dem DFG-Forschungsprojekt „Klimagipfelkunst. Kunst und politisches Event, 1972 – 2022“, welches von Dr. Linn Burchert geleitet wird. Ferner ist sie Redaktionsmitglied im Open-Access Journal re:visions, das seinen Fokus auf Kunst und visuelle Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts legt. Ihr Forschungsinteresse umfasst theoretische Diskurse und verschiedene künstlerische Medien, wobei sie einen besonderen Schwerpunkt auf Fotografie sowie kritische und feministische Zugänge zu Kunst und Kunstgeschichte hat.

Fußnoten

  1. Für einen umfassenden Einblick in diese Werkgruppe siehe Melissa Percival: Fragonard and the Fantasy Figure. Painting the Imagination, Farnham 2015. Die Gemälde, die zu dieser Gruppe gehören, zeichnen sich durch mehrere Ähnlichkeiten hinsichtlich der Formatgröße, Farbschema, Kleidung sowie Portraitausschnitt der dargestellten Personen, aus. Besonders ist zudem, dass sich ihre Gattung nicht eindeutig bestimmen lässt: „Fragonard’s series is an invitation to think of terms of a sliding scale of resemblance rather than clearly demarcated genre categories.“ (Ebd. S. 34).
  2. Das Konzept der Absorption in künstlerischen Darstellungen wurde von Micheal Fried in seinem Buch Absorption and Theatricality. Painting & Beholder in the Age of Diderot (Berkley/Los Angeles/London 1980) beschrieben. Dabei fasst er u.a. Lesen als Tätigkeit, bei der man sich in einem Zustand des Vertieftseins befindet, auf. (Vgl. Kapitel 1).
  3. Vgl. Percival 2015, S. 149.
  4. In ihrer Publikation Women and the Public Sphere in the Age of French Revolution (Ithaca/London 1988) werden von Joan B. Landes patriarchale Strukturen in Frankreich des 18. Jahrhunderts beschrieben. Sie verweist u.a. auf folgendes: „Indeed, I insist that the eighteenth century marked a turning point for women in the construction of modern gender identity: public-private oppositions were being reinforced in ways that foreclosed women’s earlier independence in the street, in the market place, and for, elite women, in the public spaces of the court and aristocratic household.“ (S. 22).
  5. Percival 2015, S. 149 [Übersetzung von J. N.].
  6. Vgl. ebd.
  7. Ebd, S. 147
  8. Ebd.
  9. Vgl. Mary D. Sheriff: Moved by Love. Inspired Artists and Deviant Women in Eighteenth-CenturyFrance, Chicago 2004, S. 97.
  10. Vgl. ebd., S. 94ff. und Guillaume Faroult: La lecture dangereuse, In: Ausst.-Kat. Fragonard Amoureux. Galant et libertin, Paris (Musée du Luxemburg) 2015, S. 178-191, hier S. 180.
  11. Vgl. ebd.
  12. Vgl. Faroult 2015, S. 180.
  13. Vgl. Percival 2012, S. 149. Das Werkbeispiel stammt nicht von Melissa Percival, sondern wurde von der Verfasserin des Beitrages ergänzend angeführt.
  14. Wolfgang Kemp: The Work of Art and Its Beholder. The Methodology of the Aesthetic of Reception, In: Mark A. Cheetham (Hg.): The Subjects of Art History: Historical Objects in Contemporary Perspectives, Cambridge 1998, S. 180-196, hier S. 183.
  15. Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino [1975], In: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt am Main 1994, S. 48-65, hier S. 55.
  16. Vgl. Marita Sturken/Lisa Cartwright: Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture. Oxford 2001, S. 355.
  17. An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass Melissa Percival das Gemälde als Portrait, das Denis Diderot zeigt, bezeichnet, aber diese Zuschreibung umstritten ist. Mittlerweile ist es als Darstellung von Ange Meunier de Querlon identifiziert (Vgl. Ausst.-Kat. Fragonard. The Fantasy Figures, Washington (National Gallery of Art) 2017, S. 22 und 129).
  18. Vgl. Percival 2015, S. 149.
  19. Ursula A. J. Becher: Lektürepräferenzen und Lesepraktiken von Frauen im 18. Jahrhundert, In: Aufklärung, 1992, Ausgabe 6, Nr. 1, Lesekulturen im 18. Jahrhundert (1992), S. 27-42, hier 27ff.
  20. Vgl. Faroult 2015, S. 178 und Vgl. Percival 2015, S. 6.
  21. Alfred Messerli: Gebildet, nicht gelehrt. Weibliche Schreib- und Lesepraktiken in den Diskursen vom 18. und 19. Jahrhundert, In: Gabriela Signori (Hg.), Die lesende Frau, Wiesbaden 2009, S. 295- 320, hier S. 307ff.
  22. Vgl. Birgit Sauer: Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte, Frankfurt am Main 2001, Kapitel 5.
  23. Ebd., S. 188f.
  24. Vgl. Griselda Pollock: Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne, In: Wolfgang Brassat/Hubertus Kohle (Hg.): Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft, Köln 2003, S. 131-147 (inkl. einl. Kommentar), hier S. 133.
  25. Ebd.
  26. Vgl. Sauer 2001, S. 189.
  27. Ebd., S. 184.
  28. Vgl. Becher 1992, S. 40.
  29. Ebd., S. 37.
  30. Dies wird zudem bei Messerli 2009 deutlich (Vgl. hierzu S. 308f.).
  31. Vgl. Olympe de Gouges: Die Rechte der Frau und Bürgerin. (1791). In: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen. Berlin 2001, S. 54-57, hier S. 54f.
  32. Siobhán McIlvanney: Women’s Roles, Rights and Representations in France, 1758–1848, in: Dies.:  Figurations of the Feminine in the Early French Women’s Press. 1758–1848, Liverpool 2019, S. 21-55.
  33. Vgl. Pollock 2003, S. 138.
  34. Ebd., S. 132.
  35. Hollis Clayson: Painted Love. Prostitution in French Art of the Impressionist Era, Los Angeles 2003, S. 151.