Impulse einer materialisierten Dialektik. In Felix Gonzalez Torres’ Untitled (1991) ist der Widerspruch in Auflösung begriffen – Imke Felicitas Gerhardt

Im Zentrum des Essays steht die Arbeit Untitled von Felix Gonzales Torres, wobei die Arbeit kein lokales Zentrum markiert sondern eher ein Netz aufspannt. Genauso spannt auch Imke Felicitas Gerhardt ein Netz aus Aspekten, Perspektiven und Themenbereichen auf, die alle strukturell zusammenhängen. Zudem wird das Konzept der Gegensätzlichkeit.

Felix Gonzalez-Torres, Untitled 1991, Fotografie, Maße variieren

Jenen, die 1992 durch die Straßen New Yorks streiften, mag die großformatige Fotografie eines verlassenen, leeren Bettes aufgefallen sein. Aufgefallen gerade vielleicht, weil die vom ihm ausgehende, unaufdringliche Stille, still in die Betrachtenden eindrang, während sie sich durch das laute Getöse der Metropole bewegten. An vierundzwanzig Stellen New Yorks war diese leise Fotografie auf sonst so lauten Billboardflächen installiert – erhaben, weil enthoben, ruhte sie über dem regen Geschehen der Stadt. Die vierundzwanzig Fotografien bildeten, trotz ihrer verstreuten Existenz, gemeinsam das Werk Untitled (1991), welches als Teil der MoMA Ausstellung Projects 34 1992 im öffentlichen Raum ausgestellt wurde1. Ein Kunstwerk, welches als solches also vielleicht gar nicht „erkannt” wurde, fehlte doch die direkte Referenz zum Künstler, ebenso wie ein sichtbarer Werktitel, oder ein exklusiver, das Objekt oft erst in den Status des Kunstwerks erhebender, Ausstellungsort. Was sind die Parameter, die die Wahrnehmung der Betrachtenden bedingen, die beeinflussen, ob die Fotografie als Werbung oder als Kunst zu rezipieren sei? Und was sind die Konsequenzen, die sich aus einer veränderten Perspektive ergeben? Gerade das Erkennen des Werks als Werbung, also seine Verkennung als Kunstwerk, wird zur Voraussetzung zur Bildung einer diffusen Spannung, die der Künstler bewusst durch die Nebeneinanderstellung von Gegensätzen erschafft, um sie im gleichen Augenblick versöhnend aufzuheben. Dabei werden gesellschaftliche Wahrheiten unmittelbar hinterfragt, die auf einem Denken in strengen Gegensätzen zu ruhen scheint. Es ist eine Art zu denken, in welchem die gegenseitige Ausschließbarkeit zur Bedingung von Wahrheit wird. Männlich oder weiblich, hell oder dunkel, emotional oder rational. Indem er die Gegensätze inszeniert, hinterfragt Gonzalez-Torres’ genau diese Art der Wahrheitskonstitution, hinterfragt das wechselseitige Bedingungsverhältnis, das erst Einheiten schafft, indem es sie trennt. Indem er diese Einheiten, jene, die sich doch ausschließen sollen, zusammenführt, zeigt er die Willkürlichkeit ihrer Opposition. 
Mit Einheiten meine ich beispielsweise Identitäten. Und mit Identität meine ich die Übereinstimmung des Selbst mit der Vorstellung von diesem. Diesem Selbst und dessen Begrenzung zum Anderen, die meine und seine Existenz bedeuten. Unweigerlich basiert dieses Denken in Gegensätzen auch, ja hat seinen Ursprung in der proklamierten, scheinbar unauflösbaren Opposition von Körper und Geist. In deren behaupteter Nichtidentität, behauptet sich eine Trennung in mir.
Gonzalez Torres inszeniert diese großen Gegensätze über das liebevolle Zeigen kleiner Details. Subtil inszeniert er den Schmerz, welcher die Gewalt des in Opposition-Setzens, des gegenseitigen Ausschließens hervorrufen kann. 
Am offensichtlichsten in der Fotografie ist natürlich der Gegensatz zwischen Innen und Außen — die Opposition von privat (symbolisiert durch das Bett) und öffentlichem Raum (Ausstellungsort). Ebenso spielt der Künstler innerhalb des Werks mit dem Kontrast von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, der sich aus den gezeigten sichtbaren Spuren, im Gegensatz zu den abwesenden unsichtbaren Körpern, die diese erzeugt haben, ergibt. Unweigerlich evoziert dieser Kontrast einen weiteren Widerspruch: jenen zwischen Nähe und Distanz, sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart.  

Signifikant ist, dass all die gezeigten Gegensätze wie Leitlinien unser Denken zu lenken scheinen, im Grunde wie ein sinnstiftendes Raster, durch welches wir die Welt erkennen und unsere eigene Realität erzeugen. Tief verinnerlicht ist diese dualistische Art zu denken, eben weil sie über die Sozialisierung so tief in uns eindringt. Weil man sich entlang dieser Gegensätze subjektiviert, die man im Zuge dessen unweigerlich naturalisiert. Als natürlich erscheint dann die Trennung von privat und öffentlich ist man im Liberalismus sozialisiert. Und von Natur aus kann das Vergangene auch nicht gegenwärtig sein, hat man ein lineares Zeitverständnis internalisiert. Wer sichtbar ist, kann nicht zugleich unsichtbar sein, denkt der weiße, heterosexuelle Mann, dem die Gleichzeitigkeit der Gegensätze, beispielsweise körperlich besonders sichtbar und zugleich gesellschaftlich unsichtbar zu sein, unbekannt zu sein scheint. Und ebenso scheint Distanz Nähe auszuschließen, oder eben die Nähe die Distanz – dabei fühlt man doch, dass man all diese Gegensätze, die sich angeblich ausschließen, in sich selbst einschließt. 

Plakativ sind die Gegensätze – nicht nur hier. Unnachgiebig drängen sie sich den Menschen auf, dringen schamlos in ihre Körper ein, ja erzeugen überhaupt erst diese Körper und oft auch deren Scham. Unwahrgenommen bleibt dabei ihr konstruierter Charakter und unhinterfragt die Machtverhältnisse, deren Effekte sie sind. 
Felix Gonzalez Torres’ Werk Untitled (1991) jedoch schafft eine Wahrnehmung für deren Geworden-sein und hinterfragt die Dynamiken der Macht, die sich im Körper materialisieren und dabei diesen und dessen Wahrnehmung formen. Über die performative Bestätigung, also die Wiederholung der Gegensätze, wird das Subjekt erst zu diesem. Zu dieser vermeintlichen Einheit, die, basierend auf einer Idee von Identität, welche sich auf ein dualistisches Prinzip stützt, die Vielheit und die widersprüchlichen Stimmen zum Verstummen zwingt. Verstummt ist beispielweise die Mannigfaltigkeit der Geschlechter, die sich der binären Ordnung beugen. Als einer der unnachgiebigsten Oppositionen, wird auch in meiner Interpretation von Gonzalez-Torres’ Werk Geschlecht und Sexualität eine zentrale Rolle spielen, auf welche das verlassene Bett so eindeutig verweist.
Als Motiv wird das Bett (Sexualität) quasi zum verbindenden Element aller anderen Gegensätze (privat/öffentlich – sichtbar/unsichtbar – Vergangenheit/Gegenwart – Nähe/Distanz), die allesamt unser Subjektsein bedingen. Gemeint ist, dass beispielsweise die Trennung von privat/öffentlich zentral mit Geschlecht und Sexualität verwoben ist. Ebenso ist Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in unserer Gesellschaft nie unabhängig von Geschlecht denkbar. 
Der Künstler beleuchtet die Gegensätze, indem er sie nebeneinanderstellt und er durchleuchtet, also hinterfragt sie, indem er das Widersprüchliche spielerisch in eine dialektische Bewegung setzt, die zu einer erkenntnisgenerierenden Synthese führt – die Gegensätze aufhebend. Zentral ist dabei die nötige „Mitarbeit” der Betrachtenden, die bei der Rezeption in die dialektische Bewegung verwickelt werden und die Synthese quasi am eigenen Leib erfahren. Beispielsweise indem ich als Betrachtende realisiere, dass das, was ich für privat und intim halte (mein Geschlecht/meine Sexualität) von außen, also gesellschaftlich beeinflusst wird – konkret: die Projektion des Außenstehenden auf das leere Bett. 

Das Außen, innerlich 
Im Innen, äußerlich 

Der Versuch, die tatsächliche Freiheitsausübung der Menschen, die Praxis gesellschaftlicher Beziehungen, trennen zu wollen von den räumlichen Unterteilungen, in denen sie sich befinden, ist meines Erachtens ein wenig willkürlich. Trennt man die beiden Seiten, so wird es unmöglich, sie zu verstehen. Die eine ist nur durch die andere zu begreifen.“2

— Michel Foucault

Die vierundzwanzig Plakate zeigen die Fotografie eines benutzten, jedoch verlassenen Bettes. Das Close-Up-Format und auch das Motiv selbst, das Bett mitsamt den Spuren zweier nun abwesenden Personen, vermitteln ein Gefühl von Nähe und Intimität. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch den gewählten Ausschnitt gesteigert, der die Betrachtenden nah an das Kopfende des Bettes rückt. Die schräge aufsichtige Nahaufnahme des Kopfendes setzt die Kopfkissen mit den zwei ausgeprägten, auf (nun) abwesende Köpfe/Körper verweisenden Abdrücke, auffällig in Szene. Das Close-Up vermittelt der Betrachter:in das Gefühl, sich selbst im Bett oder zumindest in dessen unmittelbarer Nähe zu befinden. Das heißt, es wird nicht nur innerbildlich mit der Evokation von Nähe gespielt, sondern auch perspektivisch, nämlich mit einer Nähe zur/zum Betrachter:in. Die Konsequenz aus letzterem ist die Identifikation der Rezipient:in mit der Person, welche die Aufnahme machte, was ebenso unweigerlich dazu führt, dass die dargestellte räumliche Leere mit eigenen innerpsychischen Projektionen (zum Beispiel Imagination eigener intimer Momente) zu einer Belebung des Werks von außen führt. Gerade die Homogenität der Abbildung (vierundzwanzigmal die gleiche Fotografie), die die verstreuten Teile überhaupt erst zu einem ersichtlichen Werk verbinden, scheint die Fokusverschiebung auf die Differenz erzeugende Variable des Werks, das gesellschaftliche Außen (die/den das Werk belebende Betrachter:in) an dieser Stelle sinnvoll zu machen. 

Das Bedingende wäre also besonders in einem beweglichen Außen zu suchen, das, indem es in einen produktiven Austausch mit dem Plakat tritt, dessen permanente Aktualisierung bedeutet. Dieser Moment des „Zugriffs“ durch das gesellschaftliche Außen, ein Prozess, der von der präsenten Leere, die das Werk zeigt, fast eingefordert zu sein scheint, kann symbolisch für den Zugriff auf das Private durch die Gesellschaft stehen. Die theoretische Vorstellung von einer abgetrennten Totalität des Privaten wird hier bereits als Illusion entlarvt, indem das Werk, das hier über das Motiv vertretend für das Private steht, nicht nur in sich fragmentiert ist (vierundzwanzig Teile), sondern auch von Außen, also von der Gesellschaft „fragmentiert“ oder besetzt wird.
Dass hier aber nicht nur ein einseitiger, sondern viel eher ein dialektischer Prozess stattfindet, wird deutlich, wenn man die „aktive“ Rolle der Plakate, die an dieser Stelle als Ausdruck des Privaten verstanden werden, ebenfalls zu erfassen versucht: Der von der Gesellschaft abgetrennt geglaubte Bereich des Privaten dringt über das von Felix Gonzalez-Torres verwendete Symbol des Bettes unmittelbar in den Öffentlichen Raum ein. Die Nutzung des Wortes „Eindringen“ mag irritieren, suggeriert es doch eine Aktivität und in gewisser Weise auch ein gewaltvolles Moment, welches ein libertäres Staatsverständnis, das die klare Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit bedingt, für gewöhnlich nur dem Staat, also der öffentlichen Sphäre negativ zuschreibt. Gerade aber dieses Entrücken, Verschließen und Passivieren des Privaten wird durch Gonzalez-Torres als theoretische Illusion entlarvt und über das Medium in ihrer ebenfalls aktiven Rolle gekennzeichnet: – Indem das „Private“ auf einem werbenden Medium vierundzwanzig Mal in der Stadt erscheint, wird dessen Aktivität bei der Gestaltung der Gesellschaft veranschaulicht. Das permanente gegenseitige Bedingungsverhältnis des getrennt geglaubten wird verständlich.

Ausgeschlossene Freiheit

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert dominiert der Liberalismus mit seiner strengen Trennung von öffentlich und privat das Selbst- und Staatsversändnis westlicher Gesellschaften. Dessen proklamierte, normativen Handlungsfreiheiten wurden in diesem Zeitraum so stark gesellschaftlich verinnerlicht, dass jeglicher Staatseingriff in die Sphäre des Privaten, und sei es beispielsweise ein von feministischer Seite gegen patriarchale Gewalt geforderter, in Gesellschaften mit einem besonders ausgeprägten Verständnis des Liberalismus unweigerlich als verwerflicher Freiheitsangriff gedeutet wird. Dabei ist klar, dass der räumliche Verschluss des „Innen/Privaten”, dessen Unantastbarkeit als Maßstab für den Grad der Freiheit in einer Gesellschaft verklärt wird, von Anbeginn — weil auf einer patriarchalen heteronormativen Gesellschaftsstruktur basierend und sie über die Trennung weiter reproduzierend — wirkliche Freiheit nur für den weißen Mann bereithielt. Die Freiheit desselben forderte seit jeher den gewaltsamen Ausschluss aus der bürgerlichen Öffentlichkeit von all denen, die diesen beiden Kategorien nicht entsprachen. 

Räumlich ist dieses Private daher vielleicht als ein doppelt abgetrenntes vorstellbar, als ein abgetrenntes Innen im Außen des öffentlichen Außen, oder eben am Rand des öffentlichen Außens. Gleichzeitig ist evident, dass diese Momente des gewaltvollen Marginalisierens das theoretische Ideal einer klaren Trennbarkeit von privat/öffentlich bereits ad absurdum führen. Denn der Ausschluss aus der Öffentlichkeit, beziehungsweise das zwangvolle Einschließen im Privaten hat immer schon die öffentliche Stigmatisierung zur Voraussetzung und vice versa. Die Intimität eines Schlafzimmers wird ausgestellt im öffentlichen Raum. Und von diesem Außen wiederum wird die Leere des Motivs mit Projektionen gefüllt. Gleichzeitig sind diese Projektionen natürlich keine bloß individuellen Fantasien, sondern sind durchdrungen von den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Idealen. Vor allem in einer digitalisierten Gesellschaft werden diese medial vermittelt. Auch darauf verweist Gonzalez-Torres subtil, wenn er seine Fotografie auf riesigen Werbeflächen platziert. Andererseits, und für Werbeflächen sehr untypisch, ist die Fotografie eben nicht wie Werbung laut schreiend, bunt und aufdringlich, sondern irritierend sanft und leise. Die noch spürbare, aber vergangene Intimität, das Motiv, welches auf eine Situation äußerster Nähe verweist erzählt doch zugleich über seine Leere von einer Einsamkeit und einem Verlassen-Sein. Gesteigert wird dieser Eindruck vielleicht noch durch den exponierten Ausstellungsort: von allen Seiten sichtbar, also von den gesellschaftlichen Blicken in Besitz genommen ist es dennoch ein enthobener Teil, entrückt vom Geschehen. Kann das auch symbolisch für das Gefühl eines marginalisierten Daseins stehen? Den gesellschaftlichen Blicken ungefragt ausgesetzt zu sein? Direkt innerhalb der Gesellschaft zu leben, aber eben nicht dazuzugehören zu dieser? Nicht geschützt zu sein vor dem Eingriff ins Private, vor allem auf die Sexualität, die, wie hier die verlassenen Spuren, von gesellschaftlichen Projektionen (Normen) besetzt werden. Der Ehemann des Künstlers und ebenso einige Jahre später er selbst, starben an AIDS. Das schmerzhafte Gefühl des Stigmatisiert-Seins, das vor allem in Anbetracht der gesellschaftlichen Gewalt, die gegenüber Homosexuellen verstärkt im Zuge der AIDS-Krise ausgeübt wurde gegenwärtig war, ja dieses schmerzhafte Gefühl des Ausgestellt-Seins dieser Liebe, die überwacht und beobachtet und doch für die heteronormative Gesellschaft unsichtbar bleiben soll, all das kann man vielleicht aus diesen verlassenen Spuren herauslesen. Oder in sie hineinprojizieren. 

In der Intimität des Schlafzimmers wird die Öffentlichkeit kontrolliert 

Ganz unabhängig von der Biographie des Künstlers kann das Motiv natürlich auch ganz allgemein auf die Trennung von öffentlich und privat entlang heteronormativer, androzentrischer Normen verweisen, die die Organisation einer kapitalistischen Gesellschaft seit ihrer Entstehung bedingen. Die primär dem weiblichen Geschlecht zugewiesene private, unbezahlte Sphäre der Reproduktion wurde/wird der produktiven, wertgenerierenden männlichen Öffentlichkeit entgegengesetzt. Das heißt, die Trennung war von Anbeginn und ist bis heute eine gewaltvoll vergeschlechtlichte3. Das auf den Plakaten gezeigte Bett kann deshalb nicht nur als Indikator einer allgemeinen Privatheit, sondern ganz konkret als Symbol der im Privaten verschlossenen reproduktiven Sphäre verstanden werden, was das zuvor konstatierte wechselseitige Konstitutionsverhältnis zwischen Innen und Außen umso offensichtlicher erscheinen lässt. Es ist der Ort der Reproduktion, der, obwohl er räumlich quasi im Innersten des Innen am hermetischsten verschlossen, gerade der Bereich ist, der von der Gesellschaft über die performative Normierung der Sexualität und über die Überwachung der Geburtenrate am deutlichsten kontrolliert wird. Wichtig ist, dass Kontrolle aber nicht nur im Sinne von Überwachung einer ausgestellten Privatheit zu verstehen ist, auch wenn dieser Aspekt gerade durch die digitale Revolution ab den 90ern eine unfassbare Brisanz erfährt – viel eher wird durch die gezeigte Leere explizit die Vereinnahmung des Privaten von gesellschaftlichen Projektionen (Bedeutungsleere vs. Bedeutungsfülle), also von hegemonialen Vorstellungen, etwa wie ich zu leben, zu essen, zu schlafen habe, thematisiert. Kontrolle erfolgt also über Regulierung und Normalisierung.

Das geniale an Felix Gonzalez-Torres Werk ist es, dass er privat und öffentlich nicht nur als sich gegenseitig bedingende Sphären illustriert, sondern ihre Abgeschlossenheit, oder ihre abgeschlossene Räumlichkeit als solche in Frage stellt. Für den queeren Künstler gibt es keine abgeschlossenen Identitäten oder fixe Entitäten, sondern es gibt nur die (dialektische) Bewegung als einzige Konstante. Es sind viel eher permanente gesellschaftliche Prozesse der Bestätigung und Reproduktion von Normen, die die Vorstellung des Subjekts, das sich bei der Affirmation dieser Normen überhaupt erst subjektiviert, von öffentlich und privat bedingt. Über die Anzahl der Plakate, die die Betrachter:innen theoretisch abschreiten können, wird der sich wiederholende, permanente Prozess der Herstellung von privat und öffentlich symbolisiert. Dabei wird sich die Betrachter:in gewahr, dass, eben weil es nicht ein in sich geschlossenes Privates oder eine fixe öffentliche Entität gibt, sie sich immer unweigerlich in einem Dazwischen befindet, oder bewegt und sich daher die Frage, was gerade Außen und Innen ist, nie abschließend beantworten lässt.

Die Übernahme der Logik setzt deren Funktion außer Kraft 

Dass das Außen und das Innen bewusst nicht fest gesetzt werden, wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass die Plakate nicht nur als Symbol des Privaten (Motiv) gelesen werden können, sondern, dass sie auch gleichzeitig über das Medium (Plakat) Ausdruck des Außen, also des Öffentlichen sind. Die zuvor bekundete Gleichzeitigkeit, die vorausgesetzte Präsenz des Innen im Außen und umgekehrt, materialisiert sich also auch werkintern und wird damit für die Betrachter:in greifbar. Interessant erscheint, dass Werbung in einer kapitalistischen Gesellschaft, die die rigide Trennung von privat und öffentlich hegemonialisierte die Rolle einer Vermittlerin innehat. Werbung ist die zentrale Produzentin des gesellschaftlich Imaginären. Sie ist die Projektionsfläche persönlicher Glücksvorstellungen und das vermittelnde Moment zwischen dem produzierenden Außen und dem konsumierenden Innen.

Die künstlerische Indienstnahme dieser, einer klaren funktionalistischen Logik unterliegenden Werbeflächen, symbolisiert die Simultaneität von öffentlich und privat damit auf zweifache Art und Weise. Einerseits können die Plakate auf Grund des Motivs als Ausdruck des Privaten verstanden werden, wobei sich der Eindruck einer Gleichzeitigkeit von öffentlich/privat dann über deren Positionierung im öffentlichen Außen einstellt. Andererseits entsteht über die Zusammenführung von Medium (Außen) und Motiv (Innen) eben auch eine werkinterne Simultaneität, die von besonderer machtanalytischer Relevanz ist. Felix Gonzalez-Torres präsentiert ein leeres, verlassenes Bett, das Spuren der Benutzung, jedoch selbst keine Körper zeigt. Dennoch ist die Assoziation von der Intimität zweier Körper durch die zwei Kopfkissen samt Abdrücken unmittelbar gegeben (Belebung des Werks von Außen). Dieser Moment der Umkehrung des Negativs in ein von der/dem Betrachter:in imaginiertes Positiv ist insofern fundamental, als dass es auf mehreren Ebenen gleichzeitig auf die Konstitution und Reproduktion von Machtverhältnissen verweist, die durch die/den aktive:n Betrachter:in (re)produziert werden. Das Anfüllen der körperlichen Absenz durch die Betrachter:in, durch das sich diese der dialektischen Beziehung von Außen/Innen bewusst wird, führt also zu einer erkenntnis-bringenden Synthese, die sich zugleich auch über das Wechselspiel von Medium (Außen) und Inhalt (Innen) vollzieht. 

Die Produktion trennt — produktiv ist die Trennung 

Die Trennung von Öffentlich/Privat ist nicht nur Effekt oder Produkt eines historisch spezifischen Machtverhältnisses, das konkrete Wirtschaftsweisen, Wissens- und Gesellschaftsformen generiert und derer ebenso zur Reproduktion bedarf. Sondern die hegemonialisierte Trennung ist eben auch immer selbst produktiv und somit gewalt- und machtvoll. Dies soll besonders betont werden, weil die Entstehung der Trennung von privat und öffentlich, nicht einfach mit einer spezifischen Vorstellung des Staates und des Subjekts korreliert, sondern unser Staats- und Subjektverständnis zentral mitkonstituiert. Damit meine ich, dass sowohl die Vorstellung vom vorstaatlichen, rationalen Subjekt in Opposition zu dem als Entität gesetzten, machtvollziehenden Staat entlang der Trennungslinie von privat/öffentlich verläuft. Als auch, dass sich die gewaltvolle Binarisierung der Geschlechter, also das Verständnis vom aktiven, rationalen Mann in der Öffentlichkeit und der passiven, emotionalen, körperlichen Frau im Privaten, ebenfalls über die Spaltung von Innen/Außen organisiert und dabei naturalisiert.  Diese Naturalisierung, nicht nur der Gegensätzlichkeit der Geschlechter, sondern der Existenz des männlichen und weiblichen Geschlechts überhaupt — Judith Butler nennt es die „Metaphysik der Substanz“4— negiert das Bewusstsein für den performativen Charakter jeglicher Konstitution des Geschlechts, die sich entlang der Trennung von Innen und Außen (privat/öffentlich) vollzieht. Der Mensch, in der westlich kapitalistischen Dominanzgesellschaft, subjektiviert sich über den vergeschlechtlichten Körper, weshalb das Geschlecht für Gundula Ludwig das Scharnier zwischen Subjekt und Macht darstellt.5 Michel Foucault, Judith Butler und Gundula Ludwig sprechen von einer Macht, die sich in Körpern materialisiert.6

Bezogen auf Gonzalez-Torres Werk könnte das wie folgt interpretiert werden: Wenn die Spaltung nicht nur vergeschlechtlicht ist (Reproduktion/Produktion), sondern sich Geschlecht entlang dieser Trennung überhaupt erst performativ konstituiert, dann bekommt das Motiv des leeren Bettes, welches von der/den Betrachter:innen mit deren Vorstellungen (imaginierten „Körpern“) gefüllt wird, eine neue Komplexität. Versteht man das Medium als Außen (öffentlich) und das Motiv als Innen (privat), dann können Sexualität/Geschlecht und Körper, auf die durch das Bett und die Spuren symbolisch verwiesen wird (beziehungsweise, die durch die Vorstellung der/des Betrachter:in auf das Bild projiziert werden), als eine bildinterne Verknüpfung von privat und öffentlich interpretiert werden. Geschlecht entsteht also einerseits erst entlang der Trennung, wird aber zugleich zum Vermittelnden, was im Werk gerade über die dialektische Bewegung, die die/der Betrachter:in ausführt und über das „Produkt“, das dabei entsteht, symbolisch vermittelt wird. Eine vermittelnde Rolle zwischen Innen und Außen wird in einer kapitalistischen Gesellschaft wie bereits erwähnt auch der Werbung zuteil. Werbung steht symbolisch für den Kapitalismus im Allgemeinen und für Marktfreiheit und freies Eigentumsrecht im Konkreten, steht also für eine Art und Weise des Wirtschaftens, dessen historische Entstehung mit der zuvor erklärten Hegemonialwerdung eines spezifischen Staats- und Menschenverständnisses zusammenfällt. Die Entstehung der Vorstellung eines freien Individuums, beziehungsweise Bürgers (explizit männlich), ist fulminant mit der Idee von Selbsteigentum/Privatbesitz verbunden, das es vor staatlichen Eingriffen (von Außen) zu schützen gilt.7 Folglich ist es nicht nur wahnsinnig spannend, dass sich Felix Gonzalez-Torres eines Mediums bedient, das zentralen Einfluss auf die Besitzverhältnisse einer Gesellschaft ausübt, und damit indirekt Anerkennungsfragen aufgreift, die nie losgelöst von Fragen der Redistribution behandelt werden können. Sondern vor allem interessant ist, und genau hier liegt die Verbindung von Dargestelltem und Medium, dass die Vorstellung von einer durch Eigentum bedingten Freiheit, in den westlichen Gesellschaften in dem Maße internalisiert ist, dass „Der moderne Mensch sich demnach [auch] über [ein] besitzindividualistische[s] Selbstverhältnis […].“8 subjektiviert. Das heißt, die Idee von einem vorstaatlichen, freien Subjekt ist zentral mit der Vorstellung von Körperbesitz als Wurzel der Souveränität verbunden.9

 Die Subjektivierung über ein hegemoniales besitzindividualistisches Selbstverhältnis lässt Körper und Geschlecht, obwohl eigentlich unentwegt performativ hergestellt, fälschlicherweise als innere Wahrheit erscheinen. Es wird folglich zur „Metaphysik der Substanz“ (Butler), obwohl es eben eigentlich das Innerste (Geschlecht/Körper) ist, das von der Macht, von Außen so maßgeblich durchdrungen wird.

Gerade mit diesem falschen Substanzdenken, also der Vorstellung von einem einheitlichen, vergeschlechtlichten, freien, in Opposition zur Macht gesetzten Subjekt bricht Gonzalez-Torres. Zum einen durch die impulssetzende Dialektik von Innen und Außen, der es gelingt, die gewaltvolle Trennung der beiden, als Entität gedachten Sphären, die die gewaltvoll vergeschlechtlichte Subjektivierung mitbedingen, zu überwinden. Zum anderen umgeht er es durch die Nicht-Abbildung von Körpern/Geschlecht und Sexualität, sexistische Normen fortzuschreiben. Außerdem kann die Absenz von Körpern, Geschlecht und Sexualität auf dem Motiv (Symbol der Privatheit) des werbenden Mediums symbolisch als Verneinung der theoretisch angenommenen privaten Besitzbarkeit des Körpers, der vielmehr gesellschaftlich besessen wird, interpretiert werden. Trefflich charakterisiert Renate Lorenz mit Verweis auf Judith Butler das Verhältnis zum eigenen Körper deshalb als eine Form von „Dispossession“.10

Das Sexualitätsdispositiv. Sex ist positiv

Felix Gonzalez-Torres bewusstes Nicht-Zeigen von Körpern und Sexualität kann nicht nur als eine gegen-hegemoniale Strategie verstanden werden, sondern zugleich auch als Verweis auf das, was Michel Foucault das Sexualitätsdispositiv nennt. In Der Wille zum Wissen beschreibt er dieses als die Gleichzeitigkeit von Veröffentlichung und Privatisierung der Sexualität. Foucault sieht den Sex weniger repressiv unterdrückt als viel eher seit dem 19. Jahrhundert stetig in einer Vielzahl von Diskursen verbreitet, die das sexuelle Verhalten der Gesellschaft „[…] gleichzeitig zum Gegenstand der Analyse und zur Zielscheibe von Eingriffen macht; […]. […] Der Sex ist zum Einsatz, zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden; ein ganzer Strang von Diskursen von Wissen, Analysen und Geboten hat ihn besetzt.“11 Dies bedeutet, dass der Staat ab dann Bereiche kontrolliert, beziehungsweise jene an einer Norm ausrichtet, die ihn zuvor nicht tangiert haben, zum Beispiel: die Ernährung, die Gesundheit, die Sexualität oder die Geburtenrate. Diese auf das Leben ausgerichtete Bio-Macht, die die Körper durchdringt und normalisiert, dem Subjekt also nie äußerlich ist, verbreitet und reproduziert sich demnach horizontal über jene Körper, die sie materialisiert.12 Das Paradoxon, das Foucault dabei diagnostiziert und was Gonzalez-Torres über die Gegensätze, die er illustriert und die dialektische Bewegung, die er daraus generiert, entlarvt, ist die Gleichzeitigkeit der Veröffentlichung und Privatisierung des Sex, die nicht nur eine dialektische Bewegung zwischen Außen und Innen beschreibt, sondern damit korrelierend, immer auch die Frage von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit aufwirft. 

Im Licht wird sichtbar was sagbar ist 

„Diese Repräsentationsordnung naturalisiert Sichtbarkeit und ebenso Evidenz und Wahrheit, und sie negiert, dass das, was zu sehen ist, ein Produkt diskursiver Prozesse ist – also ein Zu- Sehen-Gegebenes […]. Diese Privilegierung des Sehens, die als wahr erklärt, was sichtbar ist, ermöglicht darüber hinaus die Naturalisierung historisch spezifischer Identitäts- und Differenzkonstruktionen. Diese Identitäten und Differenzen werden als historisch/gesellschaftlich hergestellte negiert und statt dessen als körperlich sichtbare Evidenzen und körperliche Eigenheiten behandelt[…].“ 13

— Johanna Schaffer 

Dass die Dialektik von Innen und Außen aufs Engste mit jener von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit korreliert, erscheint logisch, vor allem, wenn erstere mit der räumlichen Nebeneinanderstellung von privat und öffentlich überschrieben ist (das verborgene Private/das sichtbare Öffentliche). Bei Gonzalez-Torres‘ Arbeit zeigt sich das Bedingungsverhältnis dieser beiden Dialektiken sicherlich auf einer ersten Ebene durch die bereits thematisierte Absenz von Körpern/oder der privaten Intimität eines Paares, was nicht nur als gegen-hegemoniale Strategie, sondern hier auch durchaus als Verweis darauf gelesen werden kann, dass das, was im Privaten verschlossen wird, also alles das, was nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht (im Bezug auf Sexualität wäre das das Abnormale und Perverse) keine anerkennende gesellschaftliche Sichtbarkeit erlangt.14 Gerade im Hinblick auf die Biographie des an AIDS verstorbenen Künstlers ist das gewaltvolle gesellschaftliche Unsichtbarmachen, das mit einem räumlichen Verschließen im Privaten, bei gleichzeitiger öffentlicher Ausstellung und Stigmatisierung einhergeht, von konkreter Relevanz. Sicherlich in unserer heutigen Gesellschaft subtiler als beispielsweise bei den Völkerschauen des 19. Jahrhundert, bleibt es jedoch bis heute offensichtlich, dass Sehen und Sichtbarkeit von Macht durchsetzte Prozesse sind, stets davon abhängig, was zu sehen gegeben wird und was lesbar ist. Macht und Wissen stehen demnach in einem ganz konkreten Verhältnis zueinander.15 Das Macht in sich aufnehmende Individuum subjektiviert sich in diesem „Feld der Visualität”16, welches sich durch das Zusammenspiel von Wissen und Macht generiert. Dies impliziert, dass das Sichtbare nicht nur passiv, als „Zu-Sehen-Gegebenes” verstanden werden kann, sondern zugleich als aktiv zu verstehen ist, eben weil ihm eine identitätsgenerierende und normalisierende Funktion zuteilwird. 
In seiner Analyse der Theorien Michel Foucaults gelingt es Gilles Deleuze die komplexe Verwobenheit zwischen Macht und Wissen, und letzteres verstanden als historisch spezifische Formation von Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten, als ein räumliches Verhältnis zwischen Innen und Außen zu denken. (Innen/Außen hier nicht synonym mit privat/öffentlich). Das Verhältnis von Macht und Wissen, eine Beziehung, die Wahrheiten und Wirklichkeiten schafft, ist laut Foucault durch gegenseitige Voraussetzung bei gleichzeitiger Wesensdifferenz gekennzeichnet.

Während Macht lokal und instabil, als formlose Strategie, als mobiles Diagramm, als Außen verstanden wird, beschreibt Foucault Wissen als eine historisch sedimentierte Schicht, und im Gegensatz zum diffusen Charakter der Macht, als eine historisch konkrete Form, die generiert und reproduziert, was sagbar und sichtbar ist. Dabei ist das Sagbare abhängig von der Sprache und das Sichtbare von dem es bedingenden Licht.17
Licht als Bedingung für Sichtbarkeit und Wirklichkeit kann in Bezug auf Gonzalez-Torres‘ Arbeiten nicht nur metaphorisch abstrakt gedacht werden, sondern erhält hinsichtlich des genutzten Mediums, der Fotografie, wo sich Licht existenzerzeugend in das Produkt einschreibt, eine doppelte Gewichtung.

Im Körper macht sich die Macht unsichtbar

Für Foucault besteht Macht aus einer Vielzahl an Praktiken, die jedoch eine partielle Integration erfahren, um eine gemeinsame Kraftlinie zu erzeugen. Orte dieser Implementierung sind beispielsweise der Markt, der Staat, die Familie, Religion, Kunst usw. Die Ausführenden sind laut Foucault Agenten, die die Singularitäten der Macht zu einer Linie verbinden.18 Sie sind jedoch nicht fälschlicherweise als Substanz zu denken, denn diese Agenten „[…] besitzen weder Wesen noch Innerlichkeit. Es sind Praktiken […].[…]. Es gibt nicht den Staat, sondern lediglich eine Durchstaatlichung [étatisation], […].“19 Die Agenten schaffen über Regeln und Apparate Wissen. Das heißt, sie bedingen Sprache und Licht und schaffen damit den Raum für Sagbares und Sichtbares. Die Singularitäten der Macht werden demnach aktualisiert, also reproduziert und verbunden durch die beiden Formen des Wissens (Aussagen und Sichtbarkeiten), die wiederum durch Regeln und Apparate der Agenten produziert werden. Hier ist der zentrale Moment, der die Dialektik des Außen und Innen (hier bezogen auf die Macht, die ich als Subjekt in mein Inneres aufnehme und gleichzeitig im Außen reproduziere) mit der von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zusammenführt.20

„Ein Außen, entfernter als alle Äußerlichkeit und daher unendlich näher.“21

Dieses Zitat von Deleuze macht Sinn, wenn man das Individuum, ebenso wie Foucault diagrammatisch versteht und damit als Träger einer Vielzahl der sich im Außen befindenden Singularitäten der Macht.22 Unmittelbar auf die Arbeit von Gonzalez-Torres bezogen wären also die Betrachter:innen, die diagrammatischen Individuen, die sich zwischen den Singularitäten der Macht (symbolisiert durch die Plakate, welche sie aktualisieren) bewegen. Das Heimtückische dieser Macht ist ihre Ungreifbarkeit, ihre bloß indirekte Sichtbarkeit. Materialisiert im Subjekt, das die Macht im Zuge seiner Subjektivierung in sich aufnimmt, wird sie unbewusst in den Körper aufgenommen, formt und bewegt diesen. Die Macht wird in diesem Prozess naturalisiert und die historisch-spezifischen Kräfteverhältnisse werden dabei Apriori gesetzt, obwohl natürlich „[…] die Aprioris der Geschichte selbst geschichtlich [sind].“23

Die Objektivität der Fotografie ist objektiv gesehen gewaltvoll 

In doppelter Hinsicht bedarf es für die Sichtbarmachung des Diagramms der Macht, also dem Diagramm, welches die Wirklichkeit für die Subjekte sichtbar und sagbar werden lässt, eines Lichts. Und so wie es eines „Lichts”, also einer Form des Wissens bedarf, um die Dinge für uns überhaupt sichtbar werden zu lassen, so benötigt das Medium der Fotografie ebenfalls eines Lichts, des Sonnenlichts, um ihr Bild zu erzeugen. 
Bei Gonzalez-Torres‘ Arbeit ergibt sich hier eine komplexe Zusammenführung, denn die Geschichte des im 19. Jh. entstandenen Mediums der Fotografie schreibt sich in die Entstehungsgeschichte des Disziplinarregimes und des Sexualitätsdispositivs zentral mit ein.  Mit der Fotografie entsteht laut Louis Comolli die „Ideologie des Sichtbaren“.24 Johanna Schaffer nennt es in Rekurs auf Allan Sekula ein „fotografisches Archiv typologischer Ordnung.“25 Was bedeutet, das Normalität und „Andersheit“ als visuelle Wahrheiten über die Fotografie ganz zentral miterzeugt werden. Die Fotografie wird Teil juridischer und medizinischer Diskurse, also ein Teil der Bio-Macht, indem sie hilft die Subjekte systematisch entlang körperlicher Evidenzen zu ordnen. Die Fotografie erzeugt ein Bild des psychisch Kranken, des Häftlings, des Perversen. Indem sie die Wirklichkeit festhält, fest und erzeugt sie dabei auch diese, ja schafft eine gesellschaftliche Vorstellung vom Abnormalen, was dem bürgerlichen Porträt quasi als Antinorm entgegengesetzt wird. Das Medium wird ab dann für die Ordnung und Kontrolle der Gesellschaft und für die Normalisierung des Einzelnen zentral26, nicht nur, weil es als Reproduzierbares die schnelle räumliche Ausbreitung der Norm und damit die Beeinflussung der Masse in einem neuen Ausmaß ermöglicht, worauf nicht nur die Anzahl, sondern auch das Plakat als Träger in der Arbeit von Gonzalez-Torres verweist, sondern, weil die Fotografie seit ihrer Entstehung und bis zum heutigen Tage mit einem Wahrheitsdiskurs einhergeht. Der Biologismus des 19. Jahrhunderts, der Wahrheiten an körperlich (sichtbaren) Merkmalen festschreibt, wird von der Fotografie ganz zentral mitgetragen, die als Klassifikationsinstrument trennende „Wahrheiten“ oder gewaltvolle Wirklichkeiten über äußere Merkmale schafft beziehungsweise reproduziert.27 Das bedeutet: Die Differenzbildung im Visuellen erzeugt eine Vorstellung von Identität, die vor allem über die Abgrenzung zum Anderen funktioniert. 

Dass das „Licht“ Sichtbarkeiten erzeugt, ist bezüglich der Fotografie demnach in doppelter Hinsicht zutreffend. Gonzalez-Torres gelingt es in seiner Arbeit nicht nur subtil zu illustrieren, wie die Fotografie Sichtbarkeiten schafft, sondern ihm gelingt es zugleich die Gewalt des fotografischen Archivs zu durchbrechen: Die Einschreibung von Sonnenlicht wird über die Spuren symbolisiert und über die Nicht-Abbildung von Körpern wird das fotografische Archiv durchbrochen.

Zwei Momente sind hier zentral, die Johanna Schaffer in ihrem Buch Ambivalenzen der Sichtbarkeit ebenfalls anführt: Zum einen verbindet sich Sichtbarkeit mit Anerkennung, und zum anderen impliziert Sichtbarkeit nicht nur das Repräsentierte, sondern immer auch das Vorgestellte.28 An früherer Stelle kam bereits zur Sprache, dass die Absenz eines Paares, oder allgemeiner, von Körpern, auf die jedoch indexikalisch durch die Benutzungsspuren verwiesen wird, die Betrachter:in explizit anregen, das Werk mit eigenen Vorstellungen zu füllen. Dass diese Imagination immer schon von gesellschaftlichen Normen, die eben zentral von Medien, also auch dem Format, auf das die Betrachter:in ihre Vorstellung rückprojiziert, machtvoll geformt wird, wurde über das Wechselverhältnis von Innen/Außen beschrieben. Oder auf das Verhältnis von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, beziehungsweise auf die Verschränkung der beiden Dialektiken bezogen: Selbst das „Innerste“, die eigene Wahrheit, die eigene Vorstellung, bewegt sich in einem Möglichkeitsfeld, das von Außen durch das Licht generiert wird. In diesem Feld bewegen sich also beide Momente von Sichtbarkeit: Repräsentation und

Vorstellung, die wiederum selbst in einem dialektischen Verhältnis gedacht werden können (wie etwas repräsentiert wird, beeinflusst meine Vorstellung von diesem und vice versa). Um Missverständnissen vorzubeugen, soll hervorgehoben werden, dass hier Sichtbarkeit nicht bloß gleichzusetzen ist mit dem, was das Auge erfassen kann, sondern es geht im Sinne Foucaults auch um eine Sichtbarkeit, die abseits des Blickes liegt („unsichtbare Sichtbarkeit“).

Sichtbarkeit wird eher verstanden als an gesellschaftliche und epistemologische Möglichkeitsbedingungen geknüpft – also historisch spezifisch durch das Verhältnis von Macht und Wissen bedingt, das über Sichtbarkeit und gesellschaftliche Anerkennung bestimmt.29 Dementsprechend erscheint es erstmal nur logisch, dass vor allem innerhalb identitätspolitischer Bewegungen stets mehr Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen gefordert wird. Aber genau dabei entsteht ein Problem, das Antke Engel mit dem Ausdruck „Aporie der Differenz“30 beschreibt. Denn einerseits bedeutet mehr Sichtbarkeit mehr intelligible Identitäten, andererseits führt man dabei zwangsläufig eine visuelle Ordnung weiter, die über die Ablesbarkeit einer Identität am Körper funktioniert. Neue Grenzziehungen entlang äußerlicher Merkmale sind die Konsequenz, die häufig zu neuen Formen der Stigmatisierung führen. Genau auf diese Problematik sollte angespielt werden, als es kurz zuvor hieß, Gonzalez-Torres verstünde es, das problematische Verhältnis von „Licht“/Fotografie/Sichtbarkeit subtil zu illustrieren und zu überwinden. 

Unsichtbarkeit als queere Strategie?

Wenn man die Arbeiten von Felix Gonzalez-Torres betrachtet, wird offensichtlich, dass der Versuch, die herrschende visuelle Ordnung und damit Grenzziehungen entlang körperlicher Differenzen, zu verneinen, eine (queere) Strategie darstellt, die sich durch sein gesamtes Oeuvre zieht. 

Renate Lorenz greift diese Problematik auf: „How can artworks pick out bodies, gender, and sexuality as their topics without providing a body for identification, disidentification, or counteridentification? How can a body be ‘there’ if distance from the body is simultaneously suggested?“31

Distanz ist hier im Sinne Bertolt Brechts als ein überdachtes Distanzschaffen zu verstehen, das ein Bewusstsein für die Konstruktion selbst ermöglicht.32 Erst in diesem Moment wird die Wurzel der Souveränität, der Körperbesitz, als Illusion entlarvt und damit die Möglichkeit geschaffen, Körper nicht als Substanz, sondern als eine soziale Praxis zu verstehen, und damit das Subjekt nicht als Einheit, sondern als ein sich relational Subjektivierendes zu denken.

Lorenz verweist auf Butler und spricht von einer „decentered subjectivity“ und von „identity as dispossession“.33 Genau dies scheint Gonzalez-Torres zum einen über die Anzahl und Dispersion der Plakate im öffentlichen Raum, die die permanent sich wiederholenden Momente der Subjektivierung als relationalen Prozess zwischen Innen und Außen darstellen, zu illustrieren. Zum anderen zeigt er dies auch über die Nicht-Darstellbarkeit von Körper als etwas Privates, Besitzbares und verneint damit zugleich die Logik des Mediums Werbung, die verspricht: du kannst alles besitzen.
Unweigerlich ist sein Werk also eine gegen-hegemonialen Strategie, weil es die eindeutige (Ab)lesbarkeit von Geschlecht hinterfragt und damit Identitätsbildung über körperliche Merkmale und entlang von Sexualität ablehnt.
Renate Lorenz versucht derartige künstlerische Strategien, die sich subjektivierungsbedingenden gesellschaftlichen Normen wie beispielsweise Körper, Geschlecht oder Zeit entziehen, allgemein unter dem Begriff „Drag“, und spezifisch in den Konzepten „Radical Drag“, „Transtemporal Drag“ und „Abstract Drag“ zu erfassen.34 Für mein Verständnis von „Drag“ sei an dieser Stelle Lorenz zitiert, die sich wiederum auf Judith Butler bezieht:

„Drag would thus not be a kind of acting, distinguished from everyday practice by its performative operations. Instead it would show everyday activities, costumes, embodiments, and narratives in a way that makes it possibe to understand all everyday practices of subjectification as performance and mimetic repetition. Fundamentally, it is the function of drag to make it visible that all practices of subjectivization are „drag“.“35 Gerade das Konzept des Abstract Drag scheint sich in Gonzalez-Torres Werk wiederzufinden, welches sich der klassischen Visualisierung von Körpern verwehrt und jene vielmehr durch Objekte, Situationen oder Spuren ersetzt.

Vergangene Nähe – Gegenwärtig distanziert?

„Abstract Drag can thus be characterized as the paradox of a presence of human bodies and their activities in absence.“36

— Renate Lorenz 

Das Konzept Abstract Drag impliziert in seiner Definition bereits eine dialektische Bewegung, die sich in Bezug auf Gonzalez-Torres‘ Arbeit sowohl zwischen den Gegensätzen von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Nähe/Distanz als auch zwischen Gegenwart und Vergangenheit vollzieht. Denn die Benutzungsspuren, die das fotografierte Bett zeigt, können im Sinne Charles Sanders Peirce als Indikatoren, also als eine Form von Zeichen verstanden werden, die mit dem, was es bezeichnet, in direkter Kontinuität, oder anders formuliert in einer existenziellen Relation stehen.37 Demnach ist das Unsichtbare (die Körper) und das Sichtbare (die Spuren) als ein ko-konstitutives Verhältnis zu denken, welches immer auch eine Bewegung zwischen Nähe und Distanz und ebenso zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf materieller, als auch imaginärer Ebene impliziert. Das Verdienst von Abstract Drag ist es, eine Verschiebung, eine erkenntnisschaffende Distanz zu evozieren, indem eben der Körper beispielsweise durch Spuren ersetzt wird. Dieser bewusst gezogene Abstand kann in mehrfacher Hinsicht fruchtbar sein: Zum einen umgeht er Momente der Identifikation und Disidentifikation mit normativen Körperbildern, die infolgedessen nicht reproduziert werden.38 Zum anderen wird über das Erfahren der stetigen Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz (Der Körper ist anwesend [Nähe], obwohl er zugleich abwesend ist [Distanz]) ein Bewusstsein für die Konstruiertheit und die kontinuierliche Bestätigungsbedürftigkeit von Geschlecht geschaffen. Und zuletzt, quasi als Konsequenz der vorangegangenen Effekte, erlaubt die durch die Absenz geschaffene Distanz eine queere produktive Neubesetzung.

Dieses bewusste „unsichtbar machen“ und „Distanz schaffen“ regt aber nicht nur die gedankliche Gegenbewegung (queere Neubesetzung) an, sondern es hat im Werk von Gonzalez-Torres die Gegenbewegung oder das (vergangene) Gegenteil quasi als existenzielle Voraussetzung (die Körper müssen dagewesen sein, um die Spuren entstehen zu lassen). 
Deutlich wird dabei, dass den Dialektiken von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit und von Nähe/Distanz unweigerlich eine zeitliche Komponente innewohnt. 

Wie bereits erwähnt schaffen die Benutzungsspuren als Indikatoren ein direktes Verhältnis zum vergangenen Körper, den sie also zur Voraussetzung haben und sind zugleich Symbole für das Ephemere, Vergängliche im Allgemeinen. Bedeutungsvoll ist, dass sich im Werk nicht nur die für die Fotografie typische Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart (Roland Barthes nennt es die Nabelschnur, die das vergangene, fotografierte Objekt mit der gegenwärtigen Betrachter:in verbindet)39 vollzieht, sondern, dass darüber hinaus mit der gedachten blockhaften Homogenität des Vergangenen und mit der Einheit der Gegenwart generell mehrfach gebrochen wird. Das heißt, zum einen wird das wechselseitige Bedingungsverhältnis des nur theoretisch linear Geordneten (Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft) evident, zum anderen wird mit der Einheit der Vergangenheit als solche gebrochen, und die Linearität derselben als Konstruktion, also als gesellschaftliche, sowie subjektive Selektion und Anordnung von Momenten, entlarvt.

Hier gilt es kurz auf die progressiven Porträts und Selbstporträts von Gonzalez-Torres zu verweisen. Anstatt Personen und sich selbst über die Physiognomie zu erschließen, verfasste er schriftliche Porträts, bestehend aus einer Auflistung beziehungsweise Selektion vergangener Ereignisse. Dabei fügen sich private Erinnerungen und gesellschaftliche Ereignisse in explizit nicht chronologischer Reihenfolge aneinander und können/sollen durch, aber auch unabhängig vom Künstler erweitert werden.40 Anschaulich wird dadurch die Konstruiertheit von „Geschichte“, die nicht im Singular und chronologisch, sondern vielmehr plural gedacht werden muss, als ein überlagern und verweben von Geschichten. 

Ein identitätsprägendes Ereignis vor 20 Jahren kann präsenter und mir damit näher sein, als eine Banalität von Vorgestern. Ebenso wird die Symbiose von gesellschaftlichen und individuellen (vergangenen) Momenten deutlich, welche die eigene Identität formen. 

Das Werk verweist auf den vergangenen intimen Moment eines Paares, der quasi die „abgeschlossene (Vor)-Vergangenheit” darstellt. Über die dabei produzierten Spuren wird jedoch eine Kontinuität zur „jüngeren Vergangenheit” hergestellt: zu dem ebenfalls vergangenen Entstehungsmoment der Fotografie. Durch die Einschreibung des Lichts in das Medium wird dieser Moment wiederum spurenartig in die Gegenwart getragen. Das heißt in gewisser Weise gibt es eine Verdopplung der Kontinuität bildenden Spuren, eine Zusammenführung von mehreren Ebenen des Vergangenen und wiederum eine Weiterführung des Vergangenen durch die Plakate in die Gegenwart. Die Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart verweist auf die Interferenz von getrennt geglaubten „Zeiten“. Über den ephemeren Charakter des Motivs wird diese Zusammenführung als eine dialektische Bewegung zwischen Nähe und Distanz illustriert, die sich in Gleichzeitigkeit auflöst.

Krankheit und Gesellschaft 

Renate Lorenz charakterisiert die Autoimmunerkankung AIDS weniger als eine körperliche denn als eine soziale Krankheit. Sie spricht von: „[…] bodies that carry the traces of the respective violations.“41

Diese gesellschaftliche Stigmatisierung ist dabei nicht nur eine exkludierende, Distanz erzeugende und unsichtbar machende Praxis, sondern ebenso gewaltvoll ist das rückwirkende Ausschließen, das nicht der Erinnerung würdig sein, das Fehlen im kollektiven Gedächtnis.

Eine Beobachtung von Simon Watney zur westlichen Erinnerungskultur soll an dieser Stelle kurz angeführt werden: Für Watney stellt die Abschaffung des Fegefeuers durch die Reformation, einhergehend mit der lutherischen Theorie der Memoria den Ausgang der angloamerikanischen Erinnerungskultur dar. Das Fegefeuer gab den Lebenden die Möglichkeit, betend mit den Toten in Kontakt zu treten. Es war damit folglich eine Form des Aufschubs oder ein Nähe schaffender Zwischenbereich.42 „The ending of purgatory thus caused grievous psychological damage; from that point forward the living were, in effect, distanced from the dead … to balance the traumatic effect of the loss of purgatory the Protestant churches gradually developed the theory of memoria, which stressed the didactic potential of the lives and deaths of the virtuous.“43 Das heißt, die neue Distanzierung der Verstorbenen durch die Beseitigung des Fegefeuers war ein gewaltsamer und psychisch extrem belastender Prozess, der eine Form des Ersatzes unabdingbar werden ließ, es brauchte eine neue protestantische Erinnerungskultur. 

Dass diese, fortan hegemoniale protestantische Erinnerungskultur, jedoch keinesfalls einen einseitigen Prozess des Wieder-Näher-Bringens der Verstorbenen beschreibt, sondern die gewaltvolle Erzeugung von Distanz, oder das Verweigern der Nähe ein unübersehbarer Teil dieser Kultur blieb, zeigt sich im konditionalen Charakter der Erinnerungspraxis. Die Gewaltsamkeit dieser Erinnerungspraxis erwächst aus ihrer Bindung an einen normativen Tugendbegriff, welche zu einem „Moralized seeing“ führt. Alles gesellschaftlich Abnormale, beispielsweise die „selbstverschuldet an AIDS-Erkrankten Homosexuellen“ usw. werden dabei aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis ausgelöscht.44 Die Schmerzhaftigkeit dieser Praxis wird an einem antiken Beispiel, der „Damnatio Memoriae“ (Verdammung des Andenkens) fassbar, eine Praxis, die im römischen Reich zu eine der schwersten Strafen zählte. Entscheidend ist vor allem, dass diese „antike“ Praxis nicht die völlige Auslöschung der betroffenen Person bedeutete, sondern dass gerade über die unvollständige Bereinigung (z. B.: nur partielle Beseitigung des Namens oder dem Stehenlassen von charakteristischen Gesichtsmerkmalen) der Akt des Verdammens und des gesellschaftlichen Ausschließens umso stärker betont wurde.45 Während die vollständige Beseitigung eine temporale Abgeschlossenheit bedeutet, erzeugt das lediglich partielle Auslöschen eine Form der Permanenz. Über die beständige Konfrontation, wird die Verurteilung permanent reaktualisiert und führt damit zu einer zeitenüberdauernden Verdammung. 

Oder, bezogen auf die Dialektik von Nähe und Distanz: Während die totale Tilgung zwar die maximale Distanz bedeutet, erreicht sie dennoch nicht den Grad an Gewalthaftigkeit, den eine partielle Beseitigung hervorruft, die nämlich eine besonders schmerzhafte Simultaneität von Nähe und Distanz erzeugt. Erst die dialektische Bewegung lässt die gewaltvolle Entfernung wahrnehmbar werden, erzeugt sie doch eine permanente Präsenz oder Nähe der Distanz, die die Schmähung konstant vergegenwärtigt. Dass der Spurencharakter im Werk von Gonzalez-Torres als Ausdruck dieses partiellen Auslöschens gelesen werden kann, erscheint traurigerweise plausibel. 1991 verstarb der Partner des Künstlers an AIDS. Der Untertitel des Werks könnte folglich auch auf seinen Tod verweisen. Die Stigmatisierung der an AIDS-Erkrankten ist untrennbar mit der Ausstellung und Herabwürdigung der Sexualität der Betroffenen verbunden, worauf natürlich das öffentlich ausgestellte Bett verweist. Die Tatsache, dass die Privatssphäre von Homosexuellen, hierfür steht besonders deutlich die Supreme Court Entscheidung „Bowers v. Hardwick“ von 1986, die Oral und Analverkehr kriminalisierte, staatlicher Willkür offen ausgesetzt war, kann Letztgenanntes nur bekräftigen.46 Demnach können die Plakate auch als Symbol eines gewaltvollen gesellschaftlichen Ausgeliefertseins interpretiert werden. Die omnipräsente Sichtbarkeit, auf die das Werk auch quantitativ verweist, eine Sichtbarkeit, die keine Anerkennung, sondern Stigmatisierung bedeutet, ist dialektisch untrennbar mit der gleichzeitigen Unsichtbarkeit verbunden,die das Werk über die dargestellte Absenz materialisiert. 
Die im Werk gezeigten Spuren können erneut vielfach interpretiert werden. In jedweder Interpretation offenbaren sie die Verknüpfung der analysierten Dialektiken.

Zum einen sind sie abstrakter Ausdruck des Vergangenen – eines verstrichenen intimen Moments, eines vergangenen Lebens. Zudem stehen sie sinnbildlich für die Spuren gesellschaftlicher Gewalt, die die über Geschlecht und Sexualität öffentlich Stigmatisierten und am Körper tragen. Indem sie das Vergangene indizieren, sind es außerdem Spuren des gewaltvollen gesellschaftlichen Vergessens, ganz im Sinne der dialektischen Praxis der Damnatio Memoriae – die Spuren der Stigmatisierung bleiben und schreiben sich in die Leere des Vergessens ein, die permanente gesellschaftliche Vergegenwärtigung erfährt. Der Zugriff von Außen auf die private Erinnerung wäre hier also als eine bewusste gesellschaftliche Praxis der Unsichtbarmachung, als eine Distanzierung der nicht erinnerungswürdigen Verstorbenen zu verstehen, wobei sich die Unwürdigkeit gerade aus einem abweichenden Sexus/Sexualität generiert, auf den das Werk motivisch verweist. Erst über die vom Künstler ausgelösten dialektischen Bewegungen wird sich die Betrachter:in der gewaltvollen Konstruiertheit des Natürlichen, und, indem sie selbst in den dialektischen Prozess verwickelt wird, ihrer eigenen Aktivität bei der Reproduktion der Machtverhältnisse bewusst. Das sich in diesem Moment öffnende subversive Potenzial, welches sich bei Felix Gonzalez-Torres‘ Werk quasi verdoppelt, weil es sich nicht nur aus der dialektischen Bewegung, sondern auch aus einer bewussten Normentziehung speißt, gilt es dringend zu nutzen!

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Vierundzwanzig Plakate, die die Leere eines verlassenen Bettes zeigen, verstreuen sich 1991 über die Straßen New Yorks. Zwischen ihnen entsteht eine temporäre Verbindung, ein Netz, im Sinne einer äußeren Form. Die sich innerhalb dieser Form bewegenden Betrachter:innen werden zur Variablen, die die einzelne Plakate auf unzählige Weise verbinden können und dabei immer andere Netzformen erschaffen. Dabei wird die Bedeutung der eigenen Bewegung/Handlung realisiert, die eben nicht zwangsläufig bestehende Formen reproduzieren muss, sondern immer auch das subversive Potential birgt, die bestehende Form zu unterlaufen. Abstrakt formuliert soll konkret Folgendes ausgedrückt werden: „Indem ich mich orientiere und ausrichte, subjektiviere ich mich.“47  
Subjektivierung ist ein permanentes Kalibrieren, ein sich Ausrichten an gesellschaftlichen Normen. Und gleichzeitig gibt es eben auch die jedoch sehr mühsame Möglichkeit, sich anders auszurichten und einen anderen Weg einzuschlagen. 
Michel Foucault beschreibt eine horizontale, dynamische, durch die Individuen hindurchgehende produktive Macht, die Raum und Zeit ordnet. Sie kann nicht besessen, nur ausgeführt werden, weshalb sie nie lokalisierbar und immer instabil ist, was ihr zugleich eine innere Widerstandskraft verleiht. Das heißt, die transitorischen, mobilen Widerstandspunkte sind der Macht nie äußerlich, weil sie von den Subjekten getragen werden, beziehungsweise, weil es die Subjekte sind, die, weil sich Macht in ihren Körpern überhaupt erst materialisiert, immerTeil derselben sind.48 Widerstand als Bewegung bedeutet demnach, einen anderen Weg einzuschlagen als mir die Kompassnadel anzeigt. Wenn die Betrachter:innen im Werk von Felix Gonzalez-Torres die mobilen Widerstandpunkte darstellen, dann sind die vierundzwanzig Plakate der bewegungssetzende Impuls, keinesfalls jedoch ein Richtungsentscheid. Denn, was das Werk tunlichst vermeidet, ist, die alte Norm durch eine neue zu ersetzen und damit lediglich einen alternativen Weg vorzugeben, also Süden gegen Norden oder Westen gegen Osten einzutauschen. Viel eher versucht Gonzalez-Torres den Mechanismus des Kompasses zu verdeutlichen, die permanente Schwingung zwischen dem Entgegengesetzten, das permanente Dazwischensein. Ich bin immer zugleich im Süden und im Norden, im Osten und im Westen, es ist lediglich eine Frage der Betrachtung. Wenn der Kompass das Funktionieren der – und jedes Kalibrieren ein „auf-sich-Wenden“ von Macht darstellt, indem es eine Ausrichtung im Sinne einer Subjektivierung an der Norm bedeutet, dann ist es wiederum das Verdienst von Felix Gonzalez-Torres‘ Werk, mir den Kompass zu erklären. Indem er Normen, im übertragenen Sinne Norden und Süden, Westen und Osten nebeneinanderstellt, also die natürlich empfundene Opposition hinterfragt und mir über die dialektische Bewegung das Schwingen der Nadel verdeutlicht, vergegenwärtigt er mir auch mein permanentes Schwingen zwischen dem machtvoll Gesetzten, mein ewiges Sein im Dazwischen.


Biografie

Imke Felicitas Gerhardt

Imke Felicitas Gerhardt studierte Politik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, wo sie kürzlich ihren Master in Kunstgeschichte abgeschlossen hat. Ihr primäres Interesse gilt Moderner- und Zeitgenössischer Kunst, Media & Performance. Der Fokus ihrer theoretischen Analysen liegt stets auf der Verschränkung von Machtverhältnissen und visuellen Regimen. Im Moment studiert sie Zeitgenössischen Tanz am Trinity Laban Conservatoire London. Als Tänzerin ist sie interessiert die Effekte gesellschaftlicher Normen auf die Wahrnehmung und den Ausdruck des Körpers zu hinterfragen. Ihrem Interesse für Poesie geschuldet, versucht sich Imke Felicitas Gerhardt an einem experimentelleren akademischen Schreiben, da sie der Auffassung ist, dass Kritik nur eine Wirkung erzielen kann, wenn sie die Struktur der Sprache und Kommunikation herausfordert, in der sich Ideologie versteckt.

Fußnoten

  1.  Vgl. Nancy Spector, u. a. (Hrsg.), Felix Gonzalez-Torres: America, Ausst. Kat., U.S.-Pavillon der 52. Biennale Venedig, 10.06.2007–21.11.2007, New York 2007, S. 26.
  2. John Rajchman zitiert Michel Foucault in: Tom Holert (Hrsg.), Imagineering: Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln 2000, S. 51.
  3. Vgl. Eva Kreisky, Birgit Sauer (Hrsg.), Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1995, S. 15–44.
  4. Vgl. Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber (Hrsg.), Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven, Bielefeld 2012, S. 108.
  5. Vgl. Gundula Ludwig, Geschlecht regieren. Zum Verhältnis von Staat, Subjekt undheteronormativer Hegemonie, Frankfurt a. M. 2011, S. 24 –31.
  6. Vgl. Ebd., S. 150–160.
  7. Vgl. Kreisky/Sauer 1995, S. 11–47.
  8.  Ludwig 2011, S. 115.
  9. Vgl. Ebd., S. 116.
  10. Vgl. Lorenz 2012, S. 69.
  11. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (= Sexualität und Wahrheit, Band 1), Frankfurt a. M. 1986 (franz. Erstveröff. 1976), S.31f
  12. Vgl. Foucault 1986, S. 95–113.
  13. Schaffer 2008, S. 53.
  14. Vgl. Foucault 1986, S. 50ff.
  15. Vgl. Johanna Schaffer, Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen derAnerkennung, Bielefeld 2008, S. 13.
  16. Vgl. Ebd., S. 145. – Schaffer bezieht sich hier auf Kaja Silverman, die sich wiederum stark auf die Arbeiten von Jacques Lacan bezieht.
  17. Abschnitt vgl.: Gilles Deuleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1987 [franz. Erstveröff. 1986], S. 69–99.
  18. Vgl. Deleuze 1987, S. 105–108.
  19. Deleuze 1987, S. 106.
  20. – Gemeint ist, dass, wenn ich mich in einem Machtverhältnis subjektiviere, es also in mein Inneres von Außen aufnehme, Dinge überhaupt erst für mich sichtbar werden. Und gleichzeitig werde ich selbst überhaupt erst sichtbar, wenn ich Macht im mich aufnehme (nicht nur, weil ich mich in diesem Moment überhaupt erst „konstituiere“, sondern weil, um es andersherum zu beschreiben, ich für eine Gesellschaft, deren Normen ich nicht „in mich aufnehme“ auch unsichtbar, im Sinne von nicht anerkannt bleibe.)
  21.  Deleuze 1987, S. 120.
  22. Vgl.: Deleuze 1987, S. 127, S. 144.
  23. Deleuze 1987, S. 117.
  24. Vgl. Schaffer 2008, S. 86.
  25. Vgl. Ebd., S. 101.
  26.  Vgl. Ebd., S. 84–112.
  27.  Vgl. Ebd., S. 84–112.
  28. Vgl. Ebd., S. 12, S. 77ff.
  29. Vgl. es wird sich auf Foucault bezogen in: Holert 2000, S. 20.
  30. Vgl. Antke Engel, Bilder von Sexualität und Ökonomie: Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld 2009, S. 22.
  31. Lorenz 2012, S. 21.
  32. Vgl. Brecht in: Ault, Julie (Hrsg.), Felix Gonzalez-Torres, New York/Göttingen 2006, S. 60–67.
  33. Vgl. Renate Lorenz, Queer Art. A Freak Theory, Bielefeld 2012, S. 69f.
  34. Vgl. Ebd., S. 21ff.
  35. Ebd., S. 60.
  36. Ebd., S. 134.
  37. Vgl. Peter Geimer, Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009, S. 21f.
  38. Vgl. Lorenz 2012, S. 133.
  39. Vgl. Geimer 2009, S. 33ff.
  40. Vgl. Miwon Kwon in: Ault 2006, S. 303–309
  41. Lorenz 2012, S.134.
  42. Vgl. Watney in: Ault 2006, S. 333–337.
  43. Watney zitiert hier den Historiker Nigel Llewellyn in: Ault 2006, S. 336.
  44. Vgl. Watney in: Ault 2006, S. 333–347.
  45. Vgl. Eva Elm, Memoriae Damnatio, in: Schölgen, Georg/Brakmann, Heinzgerd, u. a. (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der Antiken Welt, Band XXIV, Stuttgart, 2012, S. 657–682
  46. Vgl. Spector 2007, S.2 3.
  47. Ludwig 2011, S. 75.
  48. Vgl. Ludwig 2011, S. 27–29 und S. 86–131. / Vgl. Foucault 1986, S. 93–99.

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