Isolation als Hierarchisierungsprinzip im Historiengemälde des 18. Jahrhunderts – Shanice Page

Der Text hinterfragt zunächst den Begriff der Isolation und schlägt den Begriff der Micro-Isolation für ein subtiles Hierarchisierungsprinzip in Historiengemälden des 18. Jahrhunderts vor. Die bedeutende Rolle des*der Protagonist*in wird herangezogen um die Funktion der Hierarchisierung in Historiengemälden für ihre Narration zu erklären. Die Micro-Isolation des*der Protagonist*in wird als Lesehilfe verstanden, die den Betrachtenden die Komposition des Werks offen legt.

„Isolation: Absonderung, Getrennthaltung [von Kranken, Häftlingen o. Ä.]; Vereinzelung eines Individuums innerhalb einer Gruppe; Abkapselung einer Gruppe inner- halb eines sozialen Gefüges; […]“1

Nach der Definition des Dudens beinhaltet das Wort Isolation implizit Wörter wie Absonderung, Getrennthaltung oder Abkapselung. Der Begriff bekommt innerhalb des sozialen Gefüges unserer Gesellschaft eine negative Konnotation dadurch, dass wir ihn mit Ausgrenzung gleichsetzen. Im Duden scheint Isolation nur dann zu bestehen, wenn sich eine einzelne Person komplett von einer Gruppe abwendet. Das Wort besitzt eine gewisse Absolutheit in ihrer Bedeutung. Doch gibt es auch eine positiv besetzte Isolation? Oder so etwas wie Micro-Isolation?

Natürlich gibt es die romantischen Vorstellungen von Wanderern in einsamen Landschaften, welche die Reflexion anregen und oft religiös oder poetisch aufgeladen sind. Caspar David Friedrichs (1774–1840) Mönch am Meer ist ein solches, ruhiges Bild, welches uns eine Figur in Rückenansicht kontemplierend an einem düsteren Ufer zeigt. Der Mensch erscheint klein und machtlos vor der Urgewalt der Natur und dennoch haben die Bilder Friedrichs etwas beruhigendes, da sie uns von einer Einheit des Menschen mit der Natur berichten. Diese Art der Isolation entspricht der Definition des Dudens, dadurch, dass die Figur auf der Leinwand getrennt von der Menschheit abgesondert erscheint. Doch können wir auch von Isolation sprechen, wenn wir uns Historienmalereien des 18. Jahrhunderts anschauen? Die Pluralität der Figuren auf der Leinwand würde in erster Instanz gegen die Verwendung des Begriffes sprechen. Doch, so möchte ich argumentieren, dass sich gerade in dem Format der Historienmalerei die Isolation in weniger offensichtlicher Form verbirgt.

Die Historienmalerei in Frankreich wurde infolge der Theoretisierung und der Literarisierung des Kunstgeschehens im 17. Jahrhundert durch die Académie Royale de Peinture et Sculpture als die höchste Kunstgattung auserkoren. Es wurde argumentiert, dass für die Darstellung einer Erzählung auf der Leinwand besonderes Wissen nicht nur über die Techniken der Malerei, sondern ebenso über den Inhalt der literarischen Quelle nötig war. Als Leitspruch galt das Horazsche Ut Pictura Poesis (Wie die Malerei so die Poesie) und der so zum Pictor Doctus erhobene Historienmaler war angehalten, den entscheidenden Moment der Erzählung in seinem Werk mithilfe eines*r Protagonist*in darzustellen.2 Die Historienmalerei orientierte sich allerdings nicht nur an der Literatur sondern darüber hinaus an der Geschichtsschreibung. Der Rückgriff auf diese erlaubte es der Malerei, Ciceros Diktum Historia Magistra Vitae (Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens) und damit eine erzieherische Aufgabe für sich in Anspruch zu nehmen.3 Das wiederzugebende Ereignis musste bedeutsam und auch für spätere Generationen vorbildlich sein. Die Gattung erfuhr, ähnlich wie die Literarisierung, gleichzeitig eine sukzessive Politisierung und avancierte zu einem der bevorzugten künstlerischen Mittel politischer Selbstdarstellung. Hierfür war natürlich besonders der Held wichtig, für dessen Hervorhebung die Malerei vielfältige Formen entwickelte, die eine deutliche Hierarchisierung des Bildpersonals erlaubte. Die klassische Form einer solchen Hierarchisierung ist die Dreieckskomposition, an deren Spitze die inhaltlich zentrale Person gezeigt wird.4

Die Betonung des*r Protagonist*in war von entscheidender Bedeutung, denn um diese*n Protagonist*in sichtbar und erkennbar zu machen, musste die Figur hervorgehoben werden. Diese Hervorhebung geschah meist durch eine detailliertere Ausmalung oder eine zentrale, gesonderte Position der Figur. Der*die Protagonistin wurde dem entsprechend isoliert, folglich kann Isolation im Historiengemälde als eine Sonderstellung der Figur beschrieben werden. Da in dem Wort Isolation jedoch eine gewisse absolute Erwartung liegt, werden im Folgenden die subtilen Kennzeichen als Micro-Isolation bezeichnet. Micro-Isolation beschreibt die Strategie, dem*r Betrachter*in die Hierarchie der Figuren, durch die Hervorhebung und somit malerischer Ausgrenzung, vor Auge zu führen. Um die Form der Micro-Isolation herauszuarbeiten wird das Werk Lever du Soleil von François Boucher (1703–1770) herangezogen (Abb. 1). Bei dem Werk handelt es sich um einen Karton, welcher als Vorlage für das endgültige Kunstwerk, eine Tapisserie, diente. Es wurde 1753, sein Pendant Coucher du Soleil jedoch schon ein Jahr zuvor, vom Künstler gefertigt und beide Werke hängen heute im Grand Staircase der Wallace Collection in London. Bei der Herstellung von Tapisserie galt, dass die Szenen, die darzustellen waren gut ausgestaltet werden mussten, damit die Herstellung erfolgreich verlaufen konnte. Große einfarbige Flächen sollten vermieden werden, da sie im Wandteppich lediglich wie leere Stellen Stoff erschienen. Ebenso war es wichtig, dass die Darstellung lebendig wirkte, gleichzeitig durfte sie aber weder von der Hauptfigur ablenken noch so überfüllt sein, dass sie nur noch an ein wildes Muster aus Farbe und Form erinnert.5

Abb. 1: François Boucher, Lever du Soleil, 1753, 321 x 270 cm, London, Wallace Collection. Abbildungsnachweis: Ingamells, John: Die Wallace Collection London, München 1990, S. 88.

Die Szene des Kartons Lever du Soleil ist eine Darstellung aus Ovids Metamorphosen, in der beschrieben wird, dass aus dem Fluss Oceanus, welcher die Erde umrundet, jeden Tag Apollo mit seinem Sonnenwagen aus den Wogen steigt und über den Himmel fährt. Bei Sonnenuntergang kehrt er zurück und sinkt mitsamt seines Wagens wieder in die Tiefen des Meeres zurück. Oceanus lebt als Personifikation zusammen mit seiner Frau Tethys und ihren Söhnen, den Tritonen und ihren Töchtern, den Oceaniden, im Fluss in den Apollo aufsteigt und wieder absinkt wenn seine Tagesfahrt über den Himmel vorüber ist.6

Das Werk zeigt im unteren Bildteil die wogenden Fluten des Flusses und öffnet sich nach oben hin zu einem wolkenverhangenen Himmel. Das Blau des Himmels ist nur an einer Stelle zu sehen, an der die Wolken kreisförmig aufreißen und wie bei dem Auge des Sturms einen Ausblick auf die helle Dämmerung erlauben. In den Wogen tummeln sich mehrere Figuren, links und rechts sind jeweils zwei Tritonen abgebildet. Sie halten große Muscheln in den Händen und lauschen dem Rauschen und Echo des Meeres. In den Wellen sind links zwei Delphine7 aufgetaucht. Sie haben rubinrote Augen und Nasenflügel sowie besonders große Köpfe, die sie über das Wasser halten und schaukelnd dahin treiben.8 Im mittleren Teil gehen die Gischt-gesäumten Wellen in dichte graue Wolken über. Ein Mann, Apollo, steht aufrecht und neigt sich leicht in die Mitte. Als Betrachter*innen sehen wir ihn in Untersicht, ein Eindruck, der durch die Neigung seines Körpers noch betont wird. Er schaut nach seinem Sonnenwagen, welcher gerade aus dem Gewässer und den Wolken hervordringt. Nur ein kleiner Teil ist von der Quadriga zu sehen, doch die Pferde werden schon am Zügel von einer Frau, Tethys, herbeigebracht. Wir sehen Tethys in Rückenansicht, sie wendet jedoch ihren Oberkörper, sodass ihr Gesicht im Profil zu sehen ist. Sie wendet sich Apollo zu, der beinahe bereit ist seine Fahrt anzutreten. Lediglich seine Schuhe werden ihm noch von zwei Frauen gebunden und eine dritte reicht ihm eine Harfe. Von Apollo geht die Helligkeit und ein Leuchten aus, das alle anderen Gegenstände im Bild in ein helles Licht hüllt.

Über ihm fliegen zwei Putten aus der Bildmitte hinaus und ziehen einen Schleier mit sich, welcher die nun beendete Nacht darstellt. Sie falten die Schatten zusammen und öffnen den Himmel für die Sonne. Auf ihrer Höhe sind zwei weitere Putten zu sehen, welche mit einem Pfeil und Blumen hantieren. Sie sind nach rechts gerichtet hin zu einer Frau, deren Kleid aus mehreren Schichten von Tüchern, voluminösen Falten formt. Diese Frau stellt Aurora dar, wie an ihrem Kopfschmuck, einem Diadem mit dem Morgenstern, zu erkennen ist. In ihren Händen hält sie ebenfalls Blumen und entfaltet diese zu den ersten rosigen Strahlen des Tages.9

In erster Instanz würde das Wort Micro-Isolation nicht auf das Werk Lever du Soleil von Boucher zutreffen, da sich auf der Bildfläche reichlich Figuren befinden. Gleichzeitig ist das Werk exemplarisch für die Definition einer Micro-Isolation. Die wichtigste Stelle im Werk ist im Historiengemälde der*die Protagonist*in. Dadurch, dass durch die Micro-Isolation die wichtigste Stelle im Werk markiert wird, wird gleichzeitig der malerische Vorsatz offenbart. Denn es ist davon auszugehen, dass die wichtigste Stelle im Werk, die mit der Micro-Isolation hervorgehoben wird, auch der Schlüssel im Verständnis des Kunstwerk liegt. Die Figur bekommt eine Doppelfunktion, indem sie durch die Micro-Isolation innerhalb des Werkes die Handlung steuert und gleichzeitig dem*r Betrachter*in das unterliegende Muster der Komposition aufzeigt, in dem ihre isolierte Sonderstellung das Vorhaben des Künstlers unterstreicht.

Das Werk Bouchers baut sich um die Hauptfigur Apollo, dem Protagonisten der Erzählung auf. Er steht als einzige Figur aufrecht, wobei das restliche Bildpersonal in verschiedenen Posen um ihn liegt oder schwebt. Sein Inkarnat leuchtet am hellsten und erweckt den Anschein, als würde es tatsächlich Licht abstrahlen, da die Figuren um ihn von seinem Glanz erhellt werden. So sind zum Beispiel die Arme der Nymphe, die Apollo eine Harfe reicht heller erleuchtet als ihre restliche Haut. Farblich begegnet uns das Werk ebenfalls mit einer eindeutigen Betonung Apollos. Das Werk ist hauptsächlich in Blau und Grüntönen gehalten, die sich von der typisch rosigen Haut des 18. Jahrhunderts abhebt. Lediglich das Tuch, das sich um Apollos Körper windet ist von einer kräftigen roten Farbe.

Das Werk ist in der Komposition und der Farbigkeit nach Roger de Piles (1635–1709) Theorie zum Chiaroscuro, dem Hell-Dunkel, visualisiert. Demnach sollten Bilder den visuellen Eindruck einer konkaven oder konvexen Leinwand erschaffen, sie führen also den Blick in die Bildmitte und saugen den*die Betrachter*in förmlich in das Werk hinein.10 Das Licht, die Schatten und die Farben sind so angelegt, dass sie diesen Eindruck hervorrufen und verstärken. In seinem theoretischen Diskurs verhandelt de Piles seine Grundsätze an einer Weintraubenrebe und einzelnen Weintrauben. Bei einer einzelnen Weintraube sind die dunkelsten Stellen jene, an die gar kein Licht dringt und je weiter zur Lichtquelle man sich neigt, desto heller zeigt sich die Weintraube. Mit der Rebe verhält es sich ein wenig anders, da es nicht nur die individuellen Schatten der einzelnen Trauben gibt, sondern vielmehr einen Kollektivschatten den die Rebe wirft. In der Malerei sieht de Piles also vor, dass es Bereiche des Lichts, des Schattens und des partiellen Schattens geben muss.11 Diese perspektivische Theorie zur Darstellung von Licht und Schatten kann in dem Werk Bouchers wiedergefunden werden. Die Leinwand erzeugt einen konkaven Eindruck, welcher direkt hinter der Apollfigur angelegt ist. Die Wolken auf denen er steht reißen an seinem Knie auf, sodass der blaue Himmel hinter seinen Oberkörper zum Vorschein kommt. Der konkave Eindruck und der helle Himmel unterstreichen abermals die Betonung Apollos als Lichtquelle.

Die Figuren in dem Werk sind so aufgebaut, dass sie den Strudel nach innen unterstreichen. Um Apollo und Tethys sind die Nereiden, Tritonen und Amoretten in grazilen Formen und Posen dargestellt und schauen auf Apollo, als die Hauptperson im Bild und beschreiben so einen vorgefertigten Weg für das Auge des*r Betrachter*in.12

Die Micro-Isolation legt die Komposition für den*die Betrachter*in offen und kann demnach als Lesehilfe des Werks verstanden werden. Die Isolation der Figur vom restlichen Bildpersonal funktioniert dabei in ähnlicher Weise wie bei Werken wie der Mönch am Meer. Obgleich die Isolation im Historiengemälde des 18. Jarhunderts in unauffälliger Form, der Micro-Isolation auftritt, entspricht sich die Funktion: Die Identifikationsfigur wird durch die Komposition hervorgehoben.

Biografie

Shanice Page

Shanice Page studierte Kunstgeschichte an den Universitäten in Frankfurt am Main und Hamburg. Ihre Masterarbeit widmete sie der Inszenierung familiärer Verbundenheit in der Herrscherrepräsentation der spanischen Bourbonen. In ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich besonders mit der Malerei Spaniens und Frankreichs des 18. Jahrhunderts und Hierarchisierungsstrukturen in Historiengemälden.

Fußnoten

  1. Duden:„Isolation“, in: Duden, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Isolation (Stand: 15.05.2020).
  2. Wolf, Norbert: Die Kunst des Salons. Malerei im 19. Jahrhundert, München 2012, S. 138.
  3. Warnke, Martin; Fleckner, Uwe und Hendrik Ziegler: Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 1, Art. Historienbild, München 2011, S. 506.
  4. Mai, Ekkehard (Hrsg.): Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie, Mainz 1990, S. 10.
  5. Ausst.Kat.: François Boucher 1703–1770, Metropolitan Museum of Art New York, New York 1986, S. 326.
  6. Ingamells, John: The Wallace Collection – Catalouge of Pictures. III. French before 1815, London 1989, S. 68.
  7. Anm.: Zum Vergleich der Darstellung der Delfine bei Boucher siehe das Werk Arion reitet einen Delfin, Princeton University Art Museum.
  8. Goncourt, Edmond und Jules de: Die Kunst des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1908, S. 122.
  9. Goncourt, Edmond und Jules de: Die Kunst des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1908, S. 121.
  10. Hedley, Jo: François Boucher. Seductive Visions, London 2004, S. 110.
  11. Ward, Gerald W. R.: Chiaroscuro, in: The Grove Encyclopedia of Materials and Techniques in Art, Oxford 2008, S. 105.
  12. Hedley, Jo: François Boucher. Seductive Visions, London 2004, S. 111.

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