Isolation – Cinyi Joh

In der malerischen Serie Isolation verarbeitete die Künstlerin zunächst ihre persönliche und private Beklemmung angesichts des Lockdowns im Frühjahr 2020. Sie portraitierte zunächst sich selbst, dann ihren schulpflichtigen Sohn. Als Inspirationsquelle kamen die Erlebnisse ihres Umfelds hinzu und größere Formate entstanden mit der Rückkehr ins Atelier. Die Gemälde zeigen menschliche Köpfe die räumlich eingeschränkt und eingeengt wirken. Aufgelöst sind die Figuren mit verzerrter Mimik in Glasbausteinen oder technischen Elementen, die an Fernseher und Smartphone erinnern.

Abb. 1: Cinyi Joh, fern_hören, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 50 x 65 cm
Abb. 2: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Papier, 50 x 60 cm
Abb. 2: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Papier, 50 x 60 cm
Abb. 4: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Papier, 50 x 60 cm

Abb. 5: Cinyi Joh, ich sehe was, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 50 x 65 cm
Abb. 6: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 45 x 60 cm
Abb. 7: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 55 x 62 cm

Abb. 8: Cinyi Joh, Arbeiten im Atelier, 2020, Fotoaufnahme, 55 x 62 cm

Biografie

Cinyi Joh

Cinyi Joh studierte zunächst Grafikdesign und Architektur in Taiwan. 1999 schloss sie mit einem Diplom in Architektur an der Universität Stuttgart ab, wo sie seitdem lebt und arbeitet. Seit längerer Zeit setzt sie sich zudem intensiv mit dem Medium Malerei auseinander. Seit vergangenem Jahr vertieft sie dies durch ein Studium an der Staatlichen Akademie für Bildende Künste Stuttgart. Cinyi Joh setzt sich in ihren Arbeiten mit Bildhaftigkeit und Räumlichkeit auseinander. Dafür ist die Frage nach dem Umfeld der menschlichen Figur für die Künstlerin bedeutend und sie verhandelt den Zustand der Selbstentfremdung.

Der Selbsterhaltung überlassen – Nora Manthei

Die Arbeit Der Selbsterhaltung überlassen umfasst kurze Beobachtungen der Künstlerin. Auf visueller und sprachlicher Ebene beschreibt sie autobiografisch angelegt flüchtige Kontakte. Man nimmt an anderen Realitäten teil, die dem*der unbestimmten Protagonist*in fremd scheinen und identifiziert sich damit. Es entsteht eine Spannung zwischen Einfühlung und Abgrenzung, Inklusion und Isolation. Die Ich-Perspektive und die Kamera-Einstellung begeben sich in die Rolle der Voyeuristin. Die Vergänglichkeit der Bilder kann analog zur Unfähigkeit über den kurzen Kontakt hinaus zu gehen gelesen werden.

PLÄDOYER ÜBER DIE ABWESENHEIT

Es ist kurz nach halb acht und ich sitze in der Tram, die voll besetzt ist mit morgendlichen Pendler*innen. Einige von ihnen halten Pappbecher oder Thermoskannen mit Kaffee in den Händen. Die Fensterscheiben sind beschlagen und die Heizung ist viel zu warm eingestellt. Während ich eine Nachricht in mein Handy tippe, geht ein junger Mann sehr schnell an mir vorbei und murmelt: „Das kann doch nicht sein… 8… 9… 10 von euch starren auf eure Handys.“ Er geht immer wieder die Länge der Tram nach auf und ab und hält sein Plädoyer über unsere Abwesenheit. Einige Leute haben – wie ich, das Handy weggesteckt. Fühlen sich ertappt. „Alter, auch wenn ich keine 3… 4… 5 Euro habe, bin ich trotzdem reicher als ihr.“ Dabei starren fast alle betreten auf den schneematschbesprenkelten Boden. Nach ein paar Augenblicken, in denen der Mann hin- und her tigert, heben einige ihre Köpfe, schauen sich gegenseitig an und fangen an zu schmunzeln – sie bilden eine Einheit, versuchen aus dieser Situation zu entfliehen. Sie können nicht aussteigen, sie müssen zur Arbeit, zum Kindergarten, zur Schule fahren. Und ich sitze neben diesen Menschen, fühle mich feige und stumm, weil ich auch nicht aussteigen kann, um der Situation zu entgehen, weil ich auch auf mein Handy geschaut habe, weil ich diesem Mann nicht folge bei seinem energischen Hin- und Hergehen, weil er die Wahrheit sagt, obwohl er dabei verrückt aussieht, weil seine Hose um seine Beine schlackert und man seine schmutzige Unterhose sehen kann, weil die Menschen in dieser Tram sich entschieden haben ihn zu ignorieren und weil ich, während ich dort saß, schon an diesen Text dachte.

TIEFDRUCKGEBIET MIT MÄNNLICHEM VORNAMEN

In der Nacht hat es gestürmt. Äste, Blätter und der Müll aus den gelben Tonnen, die umgekippt sind, liegen vereinzelt auf der Straße. Ich gehe früh am Morgen mit dem Hund über die Kreuzung, die zur Zeit wegen Gleisbauarbeiten gesperrt ist. Die Baustellenabsperrungen liegen wie Hindernisse bei einem missglückten Hürdenlauf auf dem Asphalt. Es ist immer noch sehr windig. Irgendwo kann man Metall knallen hören. Ein jugendlicher Mann spricht mich an und fragt nach dem Weg. Ich verstehe den Straßennamen nicht – weil er stark nuschelt – und schüttele den Kopf. Ich will schon weitergehen, als mir einfällt, welche Straße er meinen könnte. Er kommt ein paar Schritte zurück und zieht einen Zwanzig-Euro-Schein aus der Tasche. Auf dem Geldschein ist der Name der Straße mit blauem Kugelschreiber notiert. An den ausgefransten Rändern hängen ein paar weiße Krümel. Ich erkläre ihm den Weg und gehe weiterin die andere Richtung.

WARTEN

Es fühlt sich an wie drei Sonntage hintereinander. Sie haben die Heizung im Fernsehraum hochgedreht. Die Frau am Tisch mir gegenüber, fragt mich, ob auch Deutsche mitfahren würden. Draußen im eingezäunten Garten ist eine Bank. Neben der Bank steht ein Haltestellenschild mit dem aktuellen Busfahrplan. Ich sage, ich kenne mich nicht aus mit Autorennen, aber bestimmt fahren auch Deutsche mit. Ich trinke aus der Tasse mit dem dünnen Kaffee und schwitze in meinen Pullover.

DISPLAYS IM DUNKELN

Vor Kurzem habe ich im Radio einen Beitrag über ein wissenschaftliches Projekt zur Erforschung des Paarungsgesangs der Nachtigall gehört. Die männliche Nachtigall lockt das Weibchen mit seinem Gesang, der bis zu 200 verschiedene Strophen umfasst, vom Himmel, da diese später als die Männchen aus dem Süden eintreffen. Die Bürger*innen wurden aufgerufen mittels einer speziell entwickelten App die Gesänge aufzuzeichnen, um zu untersuchen, ob es regionale Dialekte unter den Nachtigallen gibt. Wenn ich abends spazieren gehe, dann kann ich eine Nachtigall in einem großen Gebüsch singen hören. In diesem Gebüsch treffen sich oft Menschen, die sich Crystal Meth auf den Displays ihrer Smartphones durch die Nase ziehen. Wenn man die leuchtenden Handydisplays im Dickicht nicht sehen würde, wüsste man nicht, dass sie dort sind. Ich sehe sie nie hinein- oder hinausgehen.

ICH HABE MEINEN EID GEBROCHEN

Der Türöffner summt und ich betrete das Wohnhaus. Meine Schuhe hinterlassen nasse Flecken auf den bunten Fliesen. Ein Mann Ende vierzig öffnet die Tür der Erdgeschosswohnung. Der Reißverschluss seiner Hose steht offen und die ebenfalls geöffnete Gürtelschnalle klingelt ganz leise, wenn er sich bewegt. Er nimmt das Paket für seinen Nachbarn entgegen und unterschreibt mit der linken Hand in ordentlicher Schreibschrift. Herr Triebfürst fragt, ob er Post bekommen hat. Aus der Wohnung dringen gedämpft Fernsehergeräusche und heiße, muffige Luft lässt meine Brillengläser beschlagen.

SCHAUM

In der Oberstufe habe ich einen Sommer lang als Barkeeperin in einer Diskothek gearbeitet. Das war eine Zeit, als Flatrate-Saufen noch angesagt war und wir viele Eiswürfel in die Gläser füllen sollten, um an Alkohol und Energydrinks zu sparen. Einmal im Monat gab es eine Schaumparty. Ich zog meine Gummistiefel zur Arbeit an und musste darauf achten, dass kein Schaum über die Theke schwappte. Je später der Abend wurde, desto überschwänglicher betätigte der DJ die Knöpfe der Schaumkanone. Die nackten Oberkörper der jungen Männer glänzten frisch rasiert im bunten Discolicht, während sie die jungen Mädchen mit ihren Mascara verschmierten Gesichtern von hinten antanzten. Vor der Theke auf einem Barhocker saß ein Mädchen rittlings auf dem Schoß eines Jungen. Ich konnte nur ihre Köpfe und Hälse und die wippenden Bewegungen sehen, alles andere war vom Schaum verborgen. Als ich gegen acht Uhr morgens die Diskothek verließ und meine Gummistiefel auszog, hatte ich einen roten Ausschlag an den Beinen, dort wo die Gummistiefel meine Haut nicht bedeckt hatten.

Abb. 1-7: Nora Manthei, aus der Serie, DER SELBSTERHALTUNG WEGEN, analoger Handabzug, 30 x 40 cm, 2018

Biografie

Nora Manthei

Nora Manthei studierte Bildende Kunst an der Bauhaus Universität in Weimar, der Burg Giebichenstein in Halle und der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Sie lebt und arbeitet in Leipzig.

In ihrer prozesshaften und medienübergreifenden Herangehensweise spielen das Zweifeln und Transformieren eine zentrale Rolle. Seit 2017 arbeitet sie vermehrt mit der Verbindung von Text und visuellen Medien, für die sie den Begriff Alltagsarchäologie verwendet. Wichtige Schlagworte sind für sie Distanz, Eintauchen und Entfremdung

Isolation als Hierarchisierungsprinzip im Historiengemälde des 18. Jahrhunderts – Shanice Page

Der Text hinterfragt zunächst den Begriff der Isolation und schlägt den Begriff der Micro-Isolation für ein subtiles Hierarchisierungsprinzip in Historiengemälden des 18. Jahrhunderts vor. Die bedeutende Rolle des*der Protagonist*in wird herangezogen um die Funktion der Hierarchisierung in Historiengemälden für ihre Narration zu erklären. Die Micro-Isolation des*der Protagonist*in wird als Lesehilfe verstanden, die den Betrachtenden die Komposition des Werks offen legt.

„Isolation: Absonderung, Getrennthaltung [von Kranken, Häftlingen o. Ä.]; Vereinzelung eines Individuums innerhalb einer Gruppe; Abkapselung einer Gruppe inner- halb eines sozialen Gefüges; […]“1

Nach der Definition des Dudens beinhaltet das Wort Isolation implizit Wörter wie Absonderung, Getrennthaltung oder Abkapselung. Der Begriff bekommt innerhalb des sozialen Gefüges unserer Gesellschaft eine negative Konnotation dadurch, dass wir ihn mit Ausgrenzung gleichsetzen. Im Duden scheint Isolation nur dann zu bestehen, wenn sich eine einzelne Person komplett von einer Gruppe abwendet. Das Wort besitzt eine gewisse Absolutheit in ihrer Bedeutung. Doch gibt es auch eine positiv besetzte Isolation? Oder so etwas wie Micro-Isolation?

Natürlich gibt es die romantischen Vorstellungen von Wanderern in einsamen Landschaften, welche die Reflexion anregen und oft religiös oder poetisch aufgeladen sind. Caspar David Friedrichs (1774–1840) Mönch am Meer ist ein solches, ruhiges Bild, welches uns eine Figur in Rückenansicht kontemplierend an einem düsteren Ufer zeigt. Der Mensch erscheint klein und machtlos vor der Urgewalt der Natur und dennoch haben die Bilder Friedrichs etwas beruhigendes, da sie uns von einer Einheit des Menschen mit der Natur berichten. Diese Art der Isolation entspricht der Definition des Dudens, dadurch, dass die Figur auf der Leinwand getrennt von der Menschheit abgesondert erscheint. Doch können wir auch von Isolation sprechen, wenn wir uns Historienmalereien des 18. Jahrhunderts anschauen? Die Pluralität der Figuren auf der Leinwand würde in erster Instanz gegen die Verwendung des Begriffes sprechen. Doch, so möchte ich argumentieren, dass sich gerade in dem Format der Historienmalerei die Isolation in weniger offensichtlicher Form verbirgt.

Die Historienmalerei in Frankreich wurde infolge der Theoretisierung und der Literarisierung des Kunstgeschehens im 17. Jahrhundert durch die Académie Royale de Peinture et Sculpture als die höchste Kunstgattung auserkoren. Es wurde argumentiert, dass für die Darstellung einer Erzählung auf der Leinwand besonderes Wissen nicht nur über die Techniken der Malerei, sondern ebenso über den Inhalt der literarischen Quelle nötig war. Als Leitspruch galt das Horazsche Ut Pictura Poesis (Wie die Malerei so die Poesie) und der so zum Pictor Doctus erhobene Historienmaler war angehalten, den entscheidenden Moment der Erzählung in seinem Werk mithilfe eines*r Protagonist*in darzustellen.2 Die Historienmalerei orientierte sich allerdings nicht nur an der Literatur sondern darüber hinaus an der Geschichtsschreibung. Der Rückgriff auf diese erlaubte es der Malerei, Ciceros Diktum Historia Magistra Vitae (Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens) und damit eine erzieherische Aufgabe für sich in Anspruch zu nehmen.3 Das wiederzugebende Ereignis musste bedeutsam und auch für spätere Generationen vorbildlich sein. Die Gattung erfuhr, ähnlich wie die Literarisierung, gleichzeitig eine sukzessive Politisierung und avancierte zu einem der bevorzugten künstlerischen Mittel politischer Selbstdarstellung. Hierfür war natürlich besonders der Held wichtig, für dessen Hervorhebung die Malerei vielfältige Formen entwickelte, die eine deutliche Hierarchisierung des Bildpersonals erlaubte. Die klassische Form einer solchen Hierarchisierung ist die Dreieckskomposition, an deren Spitze die inhaltlich zentrale Person gezeigt wird.4

Die Betonung des*r Protagonist*in war von entscheidender Bedeutung, denn um diese*n Protagonist*in sichtbar und erkennbar zu machen, musste die Figur hervorgehoben werden. Diese Hervorhebung geschah meist durch eine detailliertere Ausmalung oder eine zentrale, gesonderte Position der Figur. Der*die Protagonistin wurde dem entsprechend isoliert, folglich kann Isolation im Historiengemälde als eine Sonderstellung der Figur beschrieben werden. Da in dem Wort Isolation jedoch eine gewisse absolute Erwartung liegt, werden im Folgenden die subtilen Kennzeichen als Micro-Isolation bezeichnet. Micro-Isolation beschreibt die Strategie, dem*r Betrachter*in die Hierarchie der Figuren, durch die Hervorhebung und somit malerischer Ausgrenzung, vor Auge zu führen. Um die Form der Micro-Isolation herauszuarbeiten wird das Werk Lever du Soleil von François Boucher (1703–1770) herangezogen (Abb. 1). Bei dem Werk handelt es sich um einen Karton, welcher als Vorlage für das endgültige Kunstwerk, eine Tapisserie, diente. Es wurde 1753, sein Pendant Coucher du Soleil jedoch schon ein Jahr zuvor, vom Künstler gefertigt und beide Werke hängen heute im Grand Staircase der Wallace Collection in London. Bei der Herstellung von Tapisserie galt, dass die Szenen, die darzustellen waren gut ausgestaltet werden mussten, damit die Herstellung erfolgreich verlaufen konnte. Große einfarbige Flächen sollten vermieden werden, da sie im Wandteppich lediglich wie leere Stellen Stoff erschienen. Ebenso war es wichtig, dass die Darstellung lebendig wirkte, gleichzeitig durfte sie aber weder von der Hauptfigur ablenken noch so überfüllt sein, dass sie nur noch an ein wildes Muster aus Farbe und Form erinnert.5

Abb. 1: François Boucher, Lever du Soleil, 1753, 321 x 270 cm, London, Wallace Collection. Abbildungsnachweis: Ingamells, John: Die Wallace Collection London, München 1990, S. 88.

Die Szene des Kartons Lever du Soleil ist eine Darstellung aus Ovids Metamorphosen, in der beschrieben wird, dass aus dem Fluss Oceanus, welcher die Erde umrundet, jeden Tag Apollo mit seinem Sonnenwagen aus den Wogen steigt und über den Himmel fährt. Bei Sonnenuntergang kehrt er zurück und sinkt mitsamt seines Wagens wieder in die Tiefen des Meeres zurück. Oceanus lebt als Personifikation zusammen mit seiner Frau Tethys und ihren Söhnen, den Tritonen und ihren Töchtern, den Oceaniden, im Fluss in den Apollo aufsteigt und wieder absinkt wenn seine Tagesfahrt über den Himmel vorüber ist.6

Das Werk zeigt im unteren Bildteil die wogenden Fluten des Flusses und öffnet sich nach oben hin zu einem wolkenverhangenen Himmel. Das Blau des Himmels ist nur an einer Stelle zu sehen, an der die Wolken kreisförmig aufreißen und wie bei dem Auge des Sturms einen Ausblick auf die helle Dämmerung erlauben. In den Wogen tummeln sich mehrere Figuren, links und rechts sind jeweils zwei Tritonen abgebildet. Sie halten große Muscheln in den Händen und lauschen dem Rauschen und Echo des Meeres. In den Wellen sind links zwei Delphine7 aufgetaucht. Sie haben rubinrote Augen und Nasenflügel sowie besonders große Köpfe, die sie über das Wasser halten und schaukelnd dahin treiben.8 Im mittleren Teil gehen die Gischt-gesäumten Wellen in dichte graue Wolken über. Ein Mann, Apollo, steht aufrecht und neigt sich leicht in die Mitte. Als Betrachter*innen sehen wir ihn in Untersicht, ein Eindruck, der durch die Neigung seines Körpers noch betont wird. Er schaut nach seinem Sonnenwagen, welcher gerade aus dem Gewässer und den Wolken hervordringt. Nur ein kleiner Teil ist von der Quadriga zu sehen, doch die Pferde werden schon am Zügel von einer Frau, Tethys, herbeigebracht. Wir sehen Tethys in Rückenansicht, sie wendet jedoch ihren Oberkörper, sodass ihr Gesicht im Profil zu sehen ist. Sie wendet sich Apollo zu, der beinahe bereit ist seine Fahrt anzutreten. Lediglich seine Schuhe werden ihm noch von zwei Frauen gebunden und eine dritte reicht ihm eine Harfe. Von Apollo geht die Helligkeit und ein Leuchten aus, das alle anderen Gegenstände im Bild in ein helles Licht hüllt.

Über ihm fliegen zwei Putten aus der Bildmitte hinaus und ziehen einen Schleier mit sich, welcher die nun beendete Nacht darstellt. Sie falten die Schatten zusammen und öffnen den Himmel für die Sonne. Auf ihrer Höhe sind zwei weitere Putten zu sehen, welche mit einem Pfeil und Blumen hantieren. Sie sind nach rechts gerichtet hin zu einer Frau, deren Kleid aus mehreren Schichten von Tüchern, voluminösen Falten formt. Diese Frau stellt Aurora dar, wie an ihrem Kopfschmuck, einem Diadem mit dem Morgenstern, zu erkennen ist. In ihren Händen hält sie ebenfalls Blumen und entfaltet diese zu den ersten rosigen Strahlen des Tages.9

In erster Instanz würde das Wort Micro-Isolation nicht auf das Werk Lever du Soleil von Boucher zutreffen, da sich auf der Bildfläche reichlich Figuren befinden. Gleichzeitig ist das Werk exemplarisch für die Definition einer Micro-Isolation. Die wichtigste Stelle im Werk ist im Historiengemälde der*die Protagonist*in. Dadurch, dass durch die Micro-Isolation die wichtigste Stelle im Werk markiert wird, wird gleichzeitig der malerische Vorsatz offenbart. Denn es ist davon auszugehen, dass die wichtigste Stelle im Werk, die mit der Micro-Isolation hervorgehoben wird, auch der Schlüssel im Verständnis des Kunstwerk liegt. Die Figur bekommt eine Doppelfunktion, indem sie durch die Micro-Isolation innerhalb des Werkes die Handlung steuert und gleichzeitig dem*r Betrachter*in das unterliegende Muster der Komposition aufzeigt, in dem ihre isolierte Sonderstellung das Vorhaben des Künstlers unterstreicht.

Das Werk Bouchers baut sich um die Hauptfigur Apollo, dem Protagonisten der Erzählung auf. Er steht als einzige Figur aufrecht, wobei das restliche Bildpersonal in verschiedenen Posen um ihn liegt oder schwebt. Sein Inkarnat leuchtet am hellsten und erweckt den Anschein, als würde es tatsächlich Licht abstrahlen, da die Figuren um ihn von seinem Glanz erhellt werden. So sind zum Beispiel die Arme der Nymphe, die Apollo eine Harfe reicht heller erleuchtet als ihre restliche Haut. Farblich begegnet uns das Werk ebenfalls mit einer eindeutigen Betonung Apollos. Das Werk ist hauptsächlich in Blau und Grüntönen gehalten, die sich von der typisch rosigen Haut des 18. Jahrhunderts abhebt. Lediglich das Tuch, das sich um Apollos Körper windet ist von einer kräftigen roten Farbe.

Das Werk ist in der Komposition und der Farbigkeit nach Roger de Piles (1635–1709) Theorie zum Chiaroscuro, dem Hell-Dunkel, visualisiert. Demnach sollten Bilder den visuellen Eindruck einer konkaven oder konvexen Leinwand erschaffen, sie führen also den Blick in die Bildmitte und saugen den*die Betrachter*in förmlich in das Werk hinein.10 Das Licht, die Schatten und die Farben sind so angelegt, dass sie diesen Eindruck hervorrufen und verstärken. In seinem theoretischen Diskurs verhandelt de Piles seine Grundsätze an einer Weintraubenrebe und einzelnen Weintrauben. Bei einer einzelnen Weintraube sind die dunkelsten Stellen jene, an die gar kein Licht dringt und je weiter zur Lichtquelle man sich neigt, desto heller zeigt sich die Weintraube. Mit der Rebe verhält es sich ein wenig anders, da es nicht nur die individuellen Schatten der einzelnen Trauben gibt, sondern vielmehr einen Kollektivschatten den die Rebe wirft. In der Malerei sieht de Piles also vor, dass es Bereiche des Lichts, des Schattens und des partiellen Schattens geben muss.11 Diese perspektivische Theorie zur Darstellung von Licht und Schatten kann in dem Werk Bouchers wiedergefunden werden. Die Leinwand erzeugt einen konkaven Eindruck, welcher direkt hinter der Apollfigur angelegt ist. Die Wolken auf denen er steht reißen an seinem Knie auf, sodass der blaue Himmel hinter seinen Oberkörper zum Vorschein kommt. Der konkave Eindruck und der helle Himmel unterstreichen abermals die Betonung Apollos als Lichtquelle.

Die Figuren in dem Werk sind so aufgebaut, dass sie den Strudel nach innen unterstreichen. Um Apollo und Tethys sind die Nereiden, Tritonen und Amoretten in grazilen Formen und Posen dargestellt und schauen auf Apollo, als die Hauptperson im Bild und beschreiben so einen vorgefertigten Weg für das Auge des*r Betrachter*in.12

Die Micro-Isolation legt die Komposition für den*die Betrachter*in offen und kann demnach als Lesehilfe des Werks verstanden werden. Die Isolation der Figur vom restlichen Bildpersonal funktioniert dabei in ähnlicher Weise wie bei Werken wie der Mönch am Meer. Obgleich die Isolation im Historiengemälde des 18. Jarhunderts in unauffälliger Form, der Micro-Isolation auftritt, entspricht sich die Funktion: Die Identifikationsfigur wird durch die Komposition hervorgehoben.

Biografie

Shanice Page

Shanice Page studierte Kunstgeschichte an den Universitäten in Frankfurt am Main und Hamburg. Ihre Masterarbeit widmete sie der Inszenierung familiärer Verbundenheit in der Herrscherrepräsentation der spanischen Bourbonen. In ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich besonders mit der Malerei Spaniens und Frankreichs des 18. Jahrhunderts und Hierarchisierungsstrukturen in Historiengemälden.

Eine Frage des Framings. Francis Bacon und die Narrative der Pandemie – Julia Schaake

Der zweiteilige Essay untersucht die unterschiedlichen Narrative der aktuellen Coronapandemie und vergleicht sie mit den von Susan Sontag an Tuberkulose und Krebs zugeschrieben Eigenschaften der Erkrankten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend auf die Kunst ausgeweitet. Am Beispiel Francis Bacons erörtert die Autorin, unter Einbeziehung der Theorien Gilles Deleuze, die Folgen auf die zeitgenössische Wahrnehmung der Gemälde. Dabei wird der Isolation in den Werken eine zentrale Rolle zugeschrieben.

Abb. 1: Dan Perjovschi, Social Distancing, 2020, schwarzer Marker auf Papier, 29,7 x 21 cm, aus: Virus Diary Series. Abbildungsnachweis: Günzel, Ann-Kathrin: Dan Perjovschi. Gespräch über die Auswirkungen der Corona-Krise, in: Kunstforum International Bd. 268, Juni–Juli 2020, S. 234–245, hier S. 237.

Ob sich COVID-19 schon bald in die Riege der großen Krankheitsmetaphern einreiht, wie sie am Beispiel von Tuberkulose (TB) und Krebs von Susan Sontag 1978 in Illness as metaphor1 beschrieben wurden, kann in der Kürze der Zeit wohl noch nicht abschließend beurteilt werden. Naheliegend ist jedoch, dass die derzeit grassierende Pandemie, wie vielleicht kein historisches Ereignis zuvor, global mit social distancing und einem Gefühl der Isolation und Einsamkeit assoziiert wird. Eine Vielzahl zeitgenössischer Künstler:innen, darunter z.B. Dan Perjovschi mit seinen Virus Diary (Abb. 1), greifen diese Stimmung in ihren Kunstwerken auf. Dass die Pandemie jedoch auch Einfluss auf die Rezeptionsästhetik bereits bestehender Kunstwerke haben kann, wird deutlich, wenn man sich Werken wie den Seated Figures von Francis Bacon zuwendet, deren Motive, Formen und Techniken bislang unabhängige, nunmehr jedoch – wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird – an COVID-19 gebundene, Eigenschaften aufweisen. Doch was sind diese spezifischen Eigenschaften der Pandemie, welche Narrative bildet sie heraus und was bedeutet all dies für unser Verhältnis zur Kunst? Im Dialog mit Literatur- und Kunsttheorie sucht der folgende Essay Antworten auf diese Fragen. In Rückbezug auf Susan Sontag werden dafür zunächst die Narrative von Krebs und Tuberkulose behandelt, um in der Folge Rückschlüsse über die gegenwärtig zirkulierenden Narrative von COVID-19 zu ziehen. Die Konsequenzen dieser neuen Erzählungen auf die Rezeptionsästhetik schon bestehender Kunstwerke werden daraufhin am Beispiel von Gilles Deleuzes Logique de la Sensation,22 seiner Monographie über die Malerei Francis Bacons, dargelegt. Denn wie sich in der Auseinandersetzung mit Deleuze und Francis Bacons Self-Portrait herausstellen wird, haben jene Elemente, die Deleuze einst als anti-narrativ bezeichnete, durch die Narrative der Pandemie an neuer Bedeutung gewonnen.

Vom Krankheitsbild zum Sprachbild: There’s a killer on the road

Ob mysteriösen Ursprungs oder weitestgehend erforscht, Krankheiten provozieren mit ihren jeweiligen Symptomen, Risikogruppen und räumlichen wie auch sozialen Konsequenzen, spezifische Bilder – nicht umsonst ist vom Krankheitsbild die Rede. Dass diese Bilder zu moralisierenden Sprachbildern führen können, wird besonders deutlich, wenn man an die Verklärung und Ästhetisierung von TB während der Romantik3 oder an die wiederkehrende metaphorische Verwendung des Tumors oder der Krebszelle in politischen Reden denkt.4 In Illness as metaphor untersucht die Essayistin und Publizistin Susan Sontag (1933-2004) diese spezifische Entwicklung von Krankheits- und Sprachbildern am Beispiel von TB und Krebs.5 Eindringlich plädiert sie für einen besonneneren, weniger an moralische Urteile gebundenen, sprachlichen Umgang mit Krankheiten:

„Nothing is more punitive than to give a disease a meaning – that meaning being invariably a moralistic one. Any important disease whose causality is murky, and for which treatment is ineffectual, tends to be awash in significance. First, the subjects of deepest dread (corruption, decay, pollution, anomie, weakness) are identified with the disease. The disease itself becomes a metaphor. Then, in the name of the disease (that is, using it as a metaphor), that horror is imposed on other things. The disease becomes adjectival. Something is said to be disease-like, meaning that it is disgusting or ugly. In French, a moldering stone facade is still lepreuse.”6

So polarisierend Sontags Kritik am metaphorischen Gebrauch von Krankheiten in der Folge ihrer Publikation 1978 auch aufgenommen wurde7, so eindeutig scheint auch ihre Beobachtung, dass Krankheiten spezifische Narrative zugeschrieben bekommen und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Ruft man sich internationale Schlagzeilen der Tagespresse aus den letzten Monaten ins Gedächtnis, wird klar, dass die Produktion spezifischer Narrative und Bilder für COVID-19 schon längst in vollem Gange ist. Der Guardian spricht vom „Job-killer of the century“,8 der Spiegel tauft COVID-19 die „Seuche der Einsamkeit“,9 die MIT Technology Review vergleicht die Pandemie mit einer Zitterpartie russischen Roulettes10 und erkrankte Personen werden in nahezu allen Medien als Opfer betitelt. Sprachlich trägt das Virus längst das Gesicht ein:er Profikiller:in – der Rückzug in die Einsamkeit und selbstgewählte Isolation scheint nicht nur in Romanen und Filmen eine der sinnvollsten Schutzmaßnahmen zu sein. Auch in unserer aktuellen Lebensrealität bieten die eigenen vier Wände und die soziale Isolation die effektivsten Schutzmaßnahmen gegen das Killervirus. Dies stellt in vielerlei Hinsicht ein Novum im Vergleich zu den noch von Sontag beschriebenen Krankheitsbildern dar. Denn wenngleich Krebs lange Zeit einem vergleichbaren metaphorischen Gebrauch unterlag und noch immer unterliegen mag,11 unterscheidet sich das Framing der von Sontag untersuchten Krankheiten wesentlich von der aktuellen Pandemie. So wurde Krebs- oder Tuberkulosepatient:innen ein spezifischer Charakter und Lebensstil zugeschrieben, durch den die Krankheit mitverschuldet wurde12 Diese, von Sontag zurecht problematisierten, Zuschreibungen scheinen in der heutigen Situation jedoch nicht mehr zu greifen. Krebspatient:innen, so Sontag, wurde lange Zeit unterstellt, sie würden ihre Emotionen reprimieren, hätten sich einem schädlichen westlichen Lebensstil hingeben und damit ihre Krankheit mitverursacht.13

Ein vergleichbares Phänomen lasse sich auch im Falle von TB erkennen. Entsprechend Erkrankte wurden jedoch als melancholische Künstler:innen und Freigeister gerühmt, die durch die Intensität ihrer eigenen Gefühlswelt und erschwerten Lebensbedingungen – denn im Gegensatz zu Krebs galt TB als Erkrankung der Armen – von der Krankheit zu früh in den Tod gerissen wurden.14 TB und damit verbunden selbst der Tod, hätte somit bereits in der Romantik eine starke Ästhetisierung und Romantisierung erfahren. Wie man den Gemälden Edvard Munchs ebenso entnehmen könne, wie den Romanen James Joyces oder Stendhals, wurde das fiebrige und fragile Erscheinungsbild der Tuberkulosekranken schnell als neue Mode von der Bohème und Aristokratie aufgegriffen.15 Es galt als chic von einer Krankheit befallen zu sein, die lange Zeit als Folge eines zu leidenschaftlichen Lebens aufgefasst wurde.16 Bleiben wir bei der Killermetapher, so haben Krebs und TB als Mörder:innen in den Augen Sontags damit ein ganz klares, wenn auch gegensätzliches, Opferprofil: Krebs schlägt bei den vermeintlichen Gewinner:innen des Kapitalismus zu. Besonders gefährdet sind eben jene, die ihre Emotionen unterdrücken und einem ungesunden Leben im Überfluss nachgehen.17 TB, so die romantisierte Sichtweise, suche jene freien Individuen heim, die in Armut leben und sich mit Leidenschaft der Fülle ihrer Emotionen hingeben.18

Im Gegensatz dazu könnte man COVID-19 als unberechenbare Mörder:in aus der Feder des Schriftstellers Bret Easton-Ellis’ beschreiben, der:die zunächst ungeachtet vom individuellen Lebensstil, Charakter und Herkunftsort, jede Person gleichermaßen zur Zielscheibe erklärt und attackiert. Die Opfer von COVID-19 scheinen damit gesichtslos, sie zeichnen sich durch keine signifikante Gemeinsamkeit aus. Zwar stellen ältere Generationen eine besondere Risikogruppe dar, doch kann es ebenso junge Leute treffen. Die finanziellen Belastungen erfolgen wiederum global und erfassen untere Einkommensklassen ebenso wie höhere. Wer jedoch mit einem blauen Auge davon kommt oder aber in den physischen oder finanziellen Tode gerissen wird, hängt in der Folge neben der individuellen physischen Verfassung insbesondere von den länderspezifischen Ausbeutungs-, Herrschafts- und Ausschließungsmechanismen ab. „The virus alone does not discriminate, but we humans surely do, formed and animated as we are by the interlocking powers of nationalism, racism, xenophobia, and capitalism”19 konstatiert in diesem Zusammenhang die Philosophin Judith Butler. Doch was hat all das nun mit Kunstwerken zu tun, die bereits lange Zeit vor der Pandemie entstanden sind? Ein Blick auf die Gemälde Francis Bacons kann Aufschluss geben.

Abb. 2: Francis Bacon, Triptych Inspired
by The Oresteia of Aeschylus
, 1981, Öl auf Leinwand, jedes Panel 198 x 147,5 cm, Oslo, Astrup Fearnley Museet. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Bacon en toutes lettres, Paris (Centre Pompidou) 2019, S. 24f.

Eine ungeahnte Vertrautheit. Die Malerei von Francis Bacon

Der Maler Francis Bacon (1909-1992) zählt wohl zu den bekanntesten britischen Künstler:innen des vergangenen Jahrhunderts. Im letzten Jahr wurde unter dem Titel Bacon en toutes lettres dem Spätwerk des Künstlers eine große Einzelausstellung im Centre Pompidou in Paris gewidmet. Eines dieser dort erst kürzlich ausgestellten Werke, das Triptych Inspired by the Oresteia of Aeschylus (Abb. 2), erzielte Ende Juni diesen Jahres einen Rekordsumme von 84 Millionen US Dollar auf einer virtuellen Sotheby’s Auktion.20 Die daraus ablesbare Begeisterung für Bacons oftmals verstörende Gemälde scheint auch in Zeiten der Krise ungebrochen. Doch was ist es, was Menschen an den grotesken Figuren des Malers so fasziniert? Die eindringlichen, verfremdeten Körper in Bacons Gemälden sind meist alleine. Der Maler positioniert seine Figuren oft in einem eng begrenzten, abstrakten, geradezu bühnenartigen Raum, der ein Gefühl des Eingesperrtseins hinterlässt und doch stets heimische Züge aufweist. In diesen Räumen begegnet man seinen Figuren wartend, sitzend, stehend, urinierend, penetrierend; aber nahezu niemals draußen in der Natur oder Stadt. Eine ungeahnte Vertrautheit kann die Rezipient:innen beim Betrachten der Bilder erfassen – dieses isolierte Verharren im wohnlichen Ambiente wirkt beinahe wie ein Spiegel der aktuellen Lebenssituationen. Eine solche Rezeption steht jedoch im diametralen Gegensatz zu dem, was lange Zeit als essenzielles Wesensmerkmal von Bacons Malerei beschrieben wurde.

Von der Isolation zur Sensation – und zurück zur Narration

In seiner, dem Maler 1981 gewidmeten, Monographie Logique de la Sensation geht der Philosoph Gilles Deleuze (1925-1995) am Beispiel von Bacons Gemälden Fragen der Repräsentation nach. In intensiver Auseinandersetzung mit Bacons malerischer Technik, seinem Bildaufbau und -sujet entwickelt er den Begriff der Sensation als ästhetische Kategorie, die in Bacons Werken Ausdruck finde und sich auf das direkte sinnliche Empfinden der Betrachter:innen beziehe.21 Bacons Malerei der Sensation, so Deleuze, sei eine Malerei, die sich vom Paradigma der Repräsentation losgesagt habe und sich nicht länger einem reinen Abbildrealismus oder der Darstellung narrativer Handlungen verschrieben habe.22 Der Bruch mit der Repräsentation kann für Deleuze dabei über zwei Wege erfolgen: den der Abstraktion oder den des Figuralen.23 Bacons Malerei sei dem zweiten Weg zuzuordnen. Doch um sich zugunsten des Figuralen von den Narrativen und Klischees zu befreien, die sich bereits über Jahrhunderte hinweg in die Leinwände und die darauf abgebildeten Figuren eingebrannt haben, müsse jegliche illustrierende Tendenz zunächst unterbunden werden24. Für Deleuze führt der leichteste Weg zum Figuralen dabei über die Isolation der Figuren.25 

In Bacons Gemälden befinden sich die Figuren zumeist alleine auf ihre eigene Existenz zurückgeworfen. Doch die Isolation der Figuren erfolgt mitnichten nur durch die Unterbindung sozialer Begegnungen. Selbst seine Paarbilder, in denen oft gewaltsam wirkende, sexuelle Interaktionen zum Bildsujet gemacht wurden, weisen isolative Züge auf. Den Grund dafür erkennt Deleuze in der Kontur. Sie agiere als isolierende Instanz, welche die Figuren in einen runden, rechteckigen oder ellipsenförmigen, leeren Raum, in eine geschlossene, abstrakte Welt frei von Signifikanten, einsperre; sie auf eine Bühne stelle und als eine Art Ikone von der Außenwelt und Rezipient:innenschaft abgrenze.26 Darüber hinaus spricht Deleuze auch der materiellen Struktur der Gemälde eine isolierende und damit zentrale Rolle für den Bruch mit der Repräsentation zu:

„Die materielle Struktur rollt sich um die Kontur zusammen, um die Figur zu umfangen, die die Bewegung mit all ihren Kräften begleitet. Eine äußerste Einsamkeit der Figuren, eine äußerste Einschließung der Körper, die jeden Zuschauer ausschließt: Die Figur wird zur Figur nur durch diese Bewegung, in der sie sich einschließt und durch die sie eingeschlossen wird.“27

Demnach krümme sich die materielle Struktur der Farbe um die Kontur; sie sperre die Figur mitsamt all ihrer Kräfte ein – und ihre Betrachter:innen aus. Doch dieses Eingesperrtsein der Figur führe nicht etwa zu einer Bewegungslosigkeit; im Gegenteil, sie lenke den Fokus auf die unsichtbaren, prozessierenden Kräfte und Bewegungen des Körpers, die nun unmittelbar auf die Betrachter:innen einzuwirken drohe. Da die Vorstellung von Körpern jedoch seit jeher eng mit Bedeutungszuschreibungen verknüpft sei, genüge diese isolierenden Elemente nach Deleuze nicht, um die Narration final zu zerschlagen. Aus diesem Grund habe Bacon in seinem Bestreben Leinwände und Bildsujets von ihren eingeschriebenen Vorbildern zu lösen, neben der Isolation die radikale Deformation von Körpern betrieben.28 Die Körper machen den Eindruck aus sich selbst entweichen zu wollen, wobei ihre unsichtbaren Kräfte wie in einer Art Krampf aufeinandertreffen und wieder auseinander streben. Sie scheinen ihre von Organen strukturierte Form aufzugeben, sich in der Intensität des Fleisch- und Nervengewebes aufzulösen und damit in einen unbewussten, gewissermaßen vorgeschichtlichen Körper überzugehen, den Deleuze in Anlehnung an Antonin Artaud auch als organlosen Körper29 bezeichnet. Jene, von narrativen Zusammenhängen losgelöste, Zuspitzung und Zurschaustellung der kontraktierenden, prozessierenden Kräfte des organlosen Körpers mündet für Deleuze schließlich in der unmittelbaren, geradezu gewaltvollen, visuellen Empfindung, die als Sensation direkt auf die Zuschauer:innenschaft übergreife und zur einzigen Realität von Bacons Malerei, zum unmittelbar erfahrenen Faktum des organlosen Körpers, werde.30

Nach Deleuze führen Bacons Techniken der Isolation und Deformation also zu einer radikalen Abkehr von Narration und Repräsentation, die es ihm ermöglicht die Sensation, das heißt die unmittelbaren Kräfteeinwirkungen auf Fleisch und Nerven seiner Figuren, in ihrer gesamten Intensität erfahrbar zu machen. Doch kann die Gleichung: Isolation der Figur = Ausschluss von Narration und Repräsentation in einer Zeit überhaupt noch aufrecht erhalten werden, in der vielen Betrachter:innen beim Anblick einer isolierten Figur im wohnlichen Ambiente die aktuelle Lebensrealität in den Sinn kommt? Dient Isolation noch als probates Mittel, um die Bildung von Narrativen im Keim zu ersticken oder ist sie nicht schon längst von der Pandemie als Teil ihrer Erzählung einverleibt worden?

Abb. 3: Francis Bacon, Self-Portrait, 1973,
Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm, Paris, Collection Claude Bernard. Abbildungsnachweis: Leiris, Michael: Francis Bacon. Full Face and in Profile, Barcelona 1983, Abb. 92.

Betrachtet man aus heutiger Perspektive Bacons Self-Portrait (Abb. 3) aus dem Jahr 1973, so scheint das Narrativ der Pandemie – die notwendige Selbstisolation zum Schutz vor einem:r willkürlichen Killer:in – bereits Einfluss auf die Rezeption zu nehmen und Deleuzes Gleichung zu entkräften. Das Gemälde zeigt eine männliche Figur alleine im wohnlichen Ambiente eines Innenraums, augenscheinlich eine Privatwohnung. Keine soziale Interaktion, keine Handlung ist zu erkennen. Ebenso wie es Einigen sicher zum Höhepunkt des Lockdowns ergangen ist, scheint auch der Protagonist des Ölgemäldes völlig auf sich selbst und seinen Körper zurückgeworfen zu sein. Das Alter Ego Bacons sitzt auf einem Stuhl in einem leicht abgerundeten Innenraum mit Parkettboden. Eine ellipsenförmige Kontur umschließt die sitzende Figur, exponiert sie auf eine Art Bühne. Die Raumkonstruktion verdeutlicht die Isolation der Figur; sie lenkt den Blick auf den Körper. Ein klaustrophobisches Gefühl setzt ein. Die Konturen und Körperumrisse changieren zwischen harten Umrissen und weichen Übergängen, doch dort wo Gesicht und Hände klar umrissen sein sollten, lösen sie sich in dynamischer Bewegung auf. Die Gesichtszüge verschwimmen, klare Gesichtskonturen, Mimik, ja der gesamte Kopf, lösen sich in einem dynamischen Kräftespiel auf. Ebenso wie die Opfer der Pandemie im Narrativ frei von Charakterzuschreibungen sind und eine anonyme, gesichtslose Masse bilden, erscheint auch die Figur Bacons anonym, gewissermaßen befreit von individuellen Merkmalen. Ganz wie Deleuze es beschreibt, wird der Körper als ein Aufeinandertreffen prozesshafter Kräfte dargestellt. Fleisch- und Nervengewebe scheinen sich zu winden und den Körper zu deformieren. Die Intensität des Körpers ergreift die Figuren in Bacons Œuvre ebenso willkürlich, wie das Virus die Körper seiner Opfer. Alles was bleibt, ist in beiden Fällen das körperliche Empfinden. Doch entgegen der Annahme von Deleuze, die Figuren Bacons seien durch die Deformation und Isolation vor narrativen Zusammenhängen geschützt, scheint es, als würde die auf die Betrachter:innen übergreifende Sensation – das unmittelbar empfundene Faktum des Körpers – aus heutiger Perspektive gerade dann, wenn es sozial isolierte Personen erfasst, Erfahrungen und Empfindungen mit COVID-19 widerspiegeln. Die ehemals leeren Signifikanten erhalten im Kontext des Virus aus zeitgenössischer Sicht neue Bedeutungszuschreibungen und entfalten bis dato unbekannte Lesarten. Darunter auch diese: Ein Mann sitzt isoliert von Freunden und Bekannten untätig alleine zuhause. Zu seinen Füßen liegen die verschiedenen Zeitungsartikel, die ihn über die neuesten Entwicklungen der Pandemie informieren. Eine beklemmende Stimmung greift um sich. Allein auf sich gestellt, nimmt die Angst körperliche Züge an. Ob das Virus bereits im eigenen Körper auszubrechen droht? Bacons Figuren avancieren durch das Narrativ der Pandemie zu ungeahnten Identifikationsfiguren der heutigen Krisenzeit – und steigern damit möglicherweise ihren Marktwert, wie die erfolgreiche Sotheby’s Versteigerung nahelegt.

Biografie

Julia Schaake

Julia Schaake arbeitete nach ihrem Bachelor in Kunstgeschichte in der Marketingabteilung der SCHIRN. Währenddessen schrieb sie für das hauseigene Magazin der Kunsthalle. Aktuell setzt sie ihr Studium im Master an der Goethe-Uni in Frankfurt fort. Seit Juli ist Julia als Redakteurin des Second Nature Labs im Rahmen des NODE20-Festivals tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf zeitgenössischer Kunst und Ausstellungen, die an der Schnittstelle zu Naturwissenschaft und Technologie operieren. Darüberhinaus interessieren sie die vielfältigen Interferenzen zwischen Kunst, Literatur und Theorie.

Speaking to the City – Denise Lee und Margarita Valdivieso

Speaking to the City ist eine Komposition aus einem dreiteiligen Video, Fotografien und einem Essay. Aufnahmen verschiedener urbaner Räume Weimars werden von einem Dialog zwischen den Künstlerinnen begleitet, der die Wahrnehmung der Stadt aus der Perspektive zweier Migrantinnen beleuchtet. Die Gegensätze zwischen privater und öffentlicher, historischer und moderner Architektur, wurden durch einen Wechsel zwischen Totalen und Nahaufnahmen von Gebäuden und Orten filmisch umgesetzt. Sie finden eine Analogie in den Erinnerungen über die Stadt und ihre menschlichen Beziehungen, von denen die Protagonistinnen, im Format eines Interviews, aber auch teils theatralisch inszeniert, berichten. Durch die sehr körperlichen Fotografien wird das, durch den Lockdown verstärkt empfundene Gefühl der Entfremdung und Mangel an Intimität auf einer weiteren, persönlichen Ebene reflektiert. In Verbindung mit dem Text stellt die künstlerische Arbeit einen Zusammenhang zwischen dem öffentlichen, städtischen Umfeld, dem Innenraum sowie dem eigenen Körper her und kommuniziert die Bedürfnisse, die durch soziale und architektonische Einschränkungen unerfüllt bleiben. 

Video 1 (Klicke auf die Abbildung zum abspielen des Videos)

Abriegelung hat so viele verschiedene Bedeutungen, wie es Orte und Menschen gibt. Die vernetzte Natur der Welt von heute bedeutet, dass wir die Kämpfe und Triumphe jeder Stadt sehen und fühlen, doch die physische Distanz bedeutet, dass wir nur unsere eigene Realität vollständig verarbeiten können.

Eine gedankenlose Berührung kann als Gewalt an unserem Körper empfunden werden. Unbekannte Körper auf der anderen Straßenseite, die sich einander immer näher und näher kommen, fühlen sich wie eine Bedrohung für die Gemeinschaft an.

Die Worte fließen weiterhin unaufhörlich zwischen den Menschen und zwischen den Entfernungen im virtuellen Raum, aber was wir jetzt vermissen, sind die Momente, die wir damit verbringen nichts zueinander zu sagen, während wir so viel sagen, indem wir einfach die selbe Körperlichkeit bewohnen.

Video 2 (Klicke auf die Abbildung zum abspielen des Videos)

In ihren eher chronischen Momenten hat mich die Last der Einsamkeit gelehrt, an meine Grenzen zu gehen. Sie hat mir gesagt, wenn ich zu bequem und selbstgefällig geworden bin, und mich daran erinnert, dass Veränderungen und Erfahrungen nicht immer passieren, sondern manchmal gemacht werden müssen.

Ich fand mich selbst auf der Suche nach Gesellschaft, die die Einsamkeit nicht wirklich linderte; Gesellschaft, die am Ende oberflächlich und manchmal sogar schädlich war, indem ich versuchte, den Menschen nahe zu kommen, um die Einsamkeit für den Augenblick loszuwerden. Ich musste lernen mit meiner Einsamkeit im Frieden zu sein.

Vielleicht hat uns die Einsamkeit manchmal in verletzliche Positionen gebracht, aber die Lektionen, die wir aus diesen Situationen lernen, lehren uns weiterhin die feine Balance zwischen Verletzlichkeit und Sicherheit.

Video 3 (Klicke auf die Abbildung zum abspielen des Videos)

Bildcredits: Denise Lee & Margarita Valdivieso, Speaking to the City, 2020 ©Denise Lee & Margarita Valdivieso

Biografie

Denise Lee & Margarita Valdivieso

Denise Lee ist in den USA geboren, wuchs in Hongkong auf und verbrachte eine prägende Zeit in Taiwan. Zurzeit studiert sie an der Bauhaus-Universität Weimar und beschäftigt sich mit Oral History, dialogbasierten Interaktionen, dem Zustand der Städte, seltsamen Intimitäten, Wissensaustausch und Raumbildung. Vor den Hintergründen öffentlicher Kunst, postkolonialer Studien und Möbeldesign schafft und fördert sie physische und nicht-physische Räume für Kontakt und Dialog. Dies tut sie stets mit der Absicht, die Barrieren und Missverständnisse abzubauen, die an der Aufrechterhaltung hierarchischer Strukturen mitschuldig sind.

Margarita Valdivieso ist bildende Künstlerin und derzeitige MFA-Kandidatin an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihr kreativer Prozess findet im Bereich der Fotografie statt. Sie hat an nationalen und internationalen Ausstellungen teilgenommen, wie z.B. Close Up in der C/O Berlin photography foundation, Misse Connections in der Fountainhead gallery, Miami und Clay Street Press in Cincinnati. Marga- rita ist Teil der Native Agency und ihre jüngste Veröffentlichung ist Further II von der Fotobus Society. Derzeit lebt und arbeitet sie zwischen Deutschland und Kolumbien.

IsoLoosion – Adolf Loos‘ „Das Schlafzimmer meiner Frau“ – Xenia Mura Fink

Anhand des Schlafzimmerentwurfs von Adolf Loos für seine Ehefrau wird die Rolle der Frau in der Wiener Moderne verhandelt. Das Schlafzimmer wird sexuell aufgeladen und gleichzeitig mit einem Käfig verglichen. Dabei wird eine Analogie zwischen dem Taktilen und dem Weiblichen gezogen und Loos‘ Abneigung gegenüber dem Ornament hinterfragt. Die Autorin arbeitet ein wiederkehrendes Muster in dem Zurschaustellen von Loos‘ Angebeteter heraus. Loos’ Raumgestaltungen können dabei Machtstrukturen herstellen und eine Imagination bedienen.

Der Tastsinn ist in einer Zeit, in der die COVID-19-bedingte soziale Distanzierung gefordert wird, zur neuen Grenzlinie avanciert, oder wie Paul B. Preciado feststellt: „The new frontier is your epidermis.“1 Zu Beginn der Epidemie waren wir davon abgeschreckt, jede potenziell kontaminierte Oberfläche zu berühren. Auf jeden Fall ist das Streifen von Menschen an öffentlichen Orten zu vermeiden (da das Bewegen durch letztere sich nicht vermeiden lässt) und physischer Abstand zu halten. Dies hat zur Folge, dass es zur Zeit keine freundschaftlichen oder vertrauten Umarmungen und Küsse zwischen guten Bekannten mehr gibt, keine neugierigen Berührungen einer Oberfläche, zur Erforschung eines Materials, der Haut oder der Kleidung von jemandem, mit dem man nicht verpartnert ist oder mit dem man nicht zusammenlebt. Und immerzu: Berühren Sie nicht Ihr Gesicht – oder das Ihres Gegenübers (bevor Sie nicht Ihre Hände gründlich gewaschen haben)! Plötzlich ist der körperliche Kontakt eines:einer Fremden nicht mehr eine rüde Begegnung auf der Straße und unerwartete Nähe, weder ein Moment der Kontingenz noch der Belästigung, sondern potenziell gefährlich. Berührung ist plötzlich zum Privileg der Gebundenen und derer geworden, die als Familie oder im häuslichen Verbund zusammenleben. Zu einer Zeit, in der wir immer mehr auf das subtil personalisierte, massenmediale Visuelle fixiert sind, brachte das Coronavirus nicht nur die Bedeutung von Gemeinschaft und Bewegungsfreiheit, sondern auch von physischer Nähe zum Vorschein. Wenn wir in Isolation leben, was bedeutet das für das taktile Empfinden? Wird dieser Sinn verstärkt oder eher verkrüppelt?

Abb. 1: Adolf Loos, Das Schlafzimmer meiner Frau, (Fotograf:in unbekannt). Abbildungsnachweis: Kunst. Halbmonatsschrift für Kunst und alles Andere, Österr. Verlagsanstalt, Heft 1 (1903), S. 13.

Das Phantasma Schlafzimmer

Als ich zu ersten Mal das schwarzweiße körnige Foto des Schlafzimmers sah, welches Adolf Loos 1903 für seine erste Ehefrau Lina entworfen hatte, war ich gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Auf der Abbildung (Abb. 1) ist der blaue Filzteppich als solcher nicht zu erkennen, nur helle amorphe Oberflächen. Ein weißer langhaariger Pelz bedeckt den Boden und kriecht das Podestbett halb hoch, weiße, in Falten fallende Vorhänge bedecken die Wände und Möbelstücke. Was bedeutet dieses Zimmer? Wie ist es zu bewerten? Es ließ mich an das Raumschiff in Roger Vadims Film Barbarella denken, an ein himmlisches Bordell-Zimmer, eine perverse Spielwiese. Faszinierend, und dabei vollkommen unhygienisch. Die Reinigung der Angorafelle, die das Bett am Boden einrahmen, konnte um 1900 nur mittels Teppichstange und Teppichklopfer erfolgen, was sadomasochistisch anmutet – ganz zu schweigen davon, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass Loos diese Aufgabe je übernommen hat. Das weiße Angorafell erinnerte mich an James-Bond-Bösewicht Blofeld, der in den ersten Filmen der Serie nie als ganze Figur gezeigt wurde, stattdessen in Close-Ups, eine weiße Perserkatze streichelnd.
Es stoßen verschiedene Themen aufeinander: Loos entwarf ein Zimmer für seine Frau, welches einerseits eine selbstbezogene Intimität, die die Welt außen vor lässt, zum zentralen Motiv erhob, andererseits sie von der Wahrnehmung der Außenwelt isolierte. Das Zimmer wirkt durch die Prominenz von Textur auf sämtlichen Oberflächen erstickend, gleichzeitig entrückt aus Zeit und Raum und fern von Status. Loos war für mich der Architekt stilprägender Bauten, die mir gefielen, und ich hatte mich mit seinem polemischen Text Ornament und Verbrechen auseinandergesetzt. Erst kürzlich befasste ich mich mit seiner Biografie, und dadurch mit dem Gerichtsverfahren gegen ihn wegen „Schändung sowie Verführung zur Unzucht“.2 Er hatte 1928 mehrere acht- bis zehnjährige Mädchen unter dem gesellschaftlichen Vorwand, sie für ein Austauschprogramm kennenlernen zu wollen, in seine Wiener Wohnung gelockt. Zuerst fragte er bei einem männlichen Modell der Akademie der Künste an, ob er ein Kind als Modell zum Aktzeichnen empfehlen könne, woraufhin dieser seine Tochter zu Loos schickte. Das Mädchen wurde wohl aufgefordert weitere Gleichaltrige mitzubringen, die Loos nackt zeichnete, ihnen Fotografien nackter Kinder zeigte, sie zu gegenseitigen Berührungen aufforderte und sie schließlich sexuell berührte, bzw. sie auffordert ihn zu berühren. Er wurde nur wegen Verführung zur Unzucht schuldig gesprochen und aufgrund von ihn bevorteilenden Charakterzeugen ohne weitere Haftstrafe entlassen – die Untersuchungshaft war hier angerechnet worden. Das Wissen über diesen Aspekt der Person Loos, über Vorkommnisse, die 25 Jahre nach der Realisierung des Schlafzimmerentwurfes stattfanden (wobei ähnliche Missbrauchssituationen sich auch schon vorher zugetragen haben könnten) lässt diese Betrachtung nicht unberührt. Ich möchte versuchen, mich mit diesem Wissen, oder trotz dieses Wissens, über diesen Raum als Vorstellungsraum auseinanderzusetzen, über das, was er für mich über Sinne, Sinnlichkeit, Sexualität, Raum und Enge, psychischer und physischer Beklemmung aussagt. So verschränkt sich in diesem Text, die im Werk selbst liegende Ambivalenz und meiner Lesart derselben mit meiner ambivalenten Haltung zu der Frage, ob man Autor und Werk getrennt voneinander betrachten kann. Der junge Loos hatte sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts durch journalistische Texte über Architektur, Kunst und Design einen Namen gemacht. 1899 wurde er mit der Innengestaltung des Café Museums in Wien beauftragt. Sofort gingen die Künstler des benachbarten Secessionsgebäudes dort ein und aus. Das revolutionär schlichte Interieur brachte ihm große Sichtbarkeit; es folgten viele Aufträge im Bereich der Innenarchitektur. Adolf Loos erarbeitete sich seine Karriere über viele Jahre ausschließlich mit der Gestaltung bürgerlicher Wohnungen und Geschäfte. „Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die Jahrhundertwende im Jugendstil. Allerdings scheint er, seiner Ideologie nach, die Vollendung des Interieurs mit sich zu bringen. Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel. Der Individualismus ist seine Theorie“,3 schreibt Walter Benjamin. Loos lehnte das modische Ornamentale, wie zum Beispiel im Werk Otto Wagners oder des gleichaltrigen Josef Hoffmanns, ab. Doch das Potenzial der Innenarchitektur zur Präsentation des wohlhabenden, ästhetisch gebildeten Bürgers – und damit als empfehlende Visitenkarte – war ihm bewusst. Die Tätigkeit als Gestalter von Wiener Wohnungen diente ihm als Entwicklungsfeld für seinen später gereiften Raumplan, den er erst als Hochbauarchitekt vollends verwirklichen konnte. Als Loos 1903 die Realisierung seines Entwurfs Schlafzimmer meiner Frau in Peter Altenbergs Zeitschrift Kunst. Halbmonatsschrift für Kunst und alles Andere vorstellte, stand er an der Spitze der architektonischen Avantgarde Wiens. Die Veröffentlichung ist eine Selbstdarstellung, denn Loos präsentierte hier einen Entwurf ganz frei von Kompromissen zugunsten eines:einer Auftraggeber:in.

Loos macht das Intime unverhohlen öffentlich, er inszeniert es. Die Betitelung im Magazin verleiht den Anschein von Authentizität, während die spärlich erklärenden, in Versalien gesetzten Unterzeilen eine selbstbewusste Nonchalance vermitteln: „WEISSE TÜNCHE / WEISSE VORHÄNGE / WEISSE ANGORAFELLE“4. Die weißen Vorhänge, günstig und wirkungsvoll, sind an einfachen umlaufenden Kupferrohren angebracht und umfangen den Raum. Der Stoff verbirgt nicht nur Praktisches wie Schränke, sondern auf Augenhöhe auch Wände und Fensteröffnungen. So ist dieses Schlafzimmer nicht mehr ein Raum in einer Wohnung, der Menschen und Gebrauchsgegenstände beherbergt, sondern er wird in einen Vorstellungsraum verwandelt, bei dem die Realität und das Tageslicht nur wage von außen durchschimmern. Der gesamte Raum wird zum Himmelbett.

Irene Nierhaus liest den Raum als imaginäre Braut, in dem die Absenz und Präsenz der weiblichen Sexualität erst durch den Mann konstituiert wird. Die Beziehung von Loos zu seiner Frau sei von einem Frauenbild bestimmt, welches von einer aus Lust und Askese konkurrierenden Ambiguität bestimmt wird, die als letztendlich unvereinbarer Gegensatz gedacht wurde.5 Das Zimmer wird zur Manifestation unergründlicher Sehnsüchte: Eine ätherische Höhle mit einem altarhaften Podestbett. All das, was Loos auf das Ornament projizierte – Degeneration, Amoral, Kleinbürgerlichkeit, Verschwendung – wollte er unterbinden, er schrieb dagegen an;6 doch das Sinnliche, besonders in seiner fetischistischen Facette, kriecht aus seinen Entwürfen hervor. „Die transluzide Zartheit des weissen Stoffes verweist auf Schleier und der auf das Hymen. […] Die Felle hingegen deuten auf ‚natürlich‘ Wucherndes, das – ins Weiss verharmloste – Triebhafte und das endlos Uterine.“7

Das Taktile als das Weibliche

So ist das Haar, der Pelz, die Haut und vor allem die Vorstellung davon, etwas, wo Perverses, Raffiniertes und Archaisches zusammentreffen. Inge Stephan schreibt über Erinnerungen, die im Haar schlummern: Sie „reichen in eine mythische Zeit zurück, in der die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier noch fließend und der Geruchssinn der Leitsinn war.“8 Das weibliche Haupthaar eröffnet kulturhistorisch ein weites Assoziationsspektrum. Wenn ich an die Bilderwelt um 1900 denke, den Höhepunkt des Symbolismus, kommen mir sofort Gustav Klimts Wasserschlangen I und II sowie Goldfische in den Sinn: Gemälde, die schöne, im Wasser treibende Frauen abbilden, nackt, aber von ihren tentakelgleichen Haaren umgeben – oder gleich Franz von Stucks Die Sünde, in dem die bläulich-weiße Schönheit von Haaren und einer riesigen Schlange eingerahmt wird. Christina von Braun erläutert, wie die Frau in der Kunst des fin de siècle als Projektionsfläche und Verkörperung männlicher Sexualität dient, ihr aber keine eigene selbstbestimmte Sexualität zugesprochen wird.9 Die einwickelnden, in die Tiefe herabziehenden Haare der Nixen und Undinen verweisen auf das Überthema der femme fatale. „Zu den am häufigsten ein fetischistisches Fluidum ausstrahlenden Teilen des Kopfes gehört das Haar“10, konstatiert der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Das Haar bei Loos ist jedoch nicht lang und ornamental, und als weißer Angorapelz in seiner Symbolik weniger eindeutig. Nichtfigürlich und amorph, steht hier nicht der optische Reiz im Vordergrund, sondern der taktile.

Der Pelz und der Vorhang im Faltenwurf sind beides Materialien, welche die Oberfläche, die sie bedecken, indem sie nach außen, in den Raum gestülpt wird, stark vergrößern – und damit das Potential für Berührung. Derrida führt (sich auf Jean-Luc Nancy beziehend) aus, dass „berühren“ immer die Berührung einer Grenze darstellt. Grenze bedeutet hier nicht nur die Oberfläche; selbst wenn man das Innere von irgendetwas berührt, tut man es, indem man dem Punkt, der Linie oder der Fläche, der Begrenzung eines nach außen exponierten Körpers folgt, die zum Kontakt angeboten wird.11 Karen Barad zufolge ist die Berührung dieser Grenzen niemals rein und unschuldig, denn sie ist nicht von einem Spannungsfeld der Differenzbeziehungen zu trennen.12 Als Berührung einer Begrenzung, ist sie unweigerlich ein Übertritt – der willkommen sein kann oder nicht.

Den Ton-in-Ton-Effekt der hellen Oberflächen, das Verbergen von Form und Funktion der Möbelstücke und der Verzicht auf eine Strukturierung ziehen Objekte und Raum optisch zusammen, was einen Effekt der Unschärfe ergibt. Das Schlafzimmer wird zu einer textilen Höhle. Bei der Gestaltung von Interieurs war Loos bestrebt, dass die Funktion von Gegenständen offenbar ist, indem Möbel tradierte und lesbare Formen besitzen. Die Gestaltung dieses Zimmers steht im klaren Gegensatz zu den übrigen Räumen seiner Wohnung, deren Einrichtung funktional und klar ist. Das Amorphe und Texturierte des Schlafzimmers ist einzigartig in Loos’ Werk, und erstaunlich angesichts seiner Kampagnen gegen eine – in seinen Augen – verschwenderische, ornamentalen Feminisierung der zeitgenössischen Kultur.13 In einem kurzen Text erläutert Georges Bataille, wie das Formlose in einer Welt, die immerzu nach einer Form verlange, als Begriff abwertend verwendet werde: Was es bezeichne, habe keinerlei Rechte und werde zerquetscht wie eine Spinne oder ein Regenwurm. Weiterhin, dass Akademiker („hommes académiques“) erst glücklich seien, wenn das Universum eine Gestalt annehmen würde; denn zu sagen, dass das Universum nichts ähnle und nur formlos sei, komme der Aussage gleich, dass es so etwas wie eine Spinne oder ein Auswurf sei.14

Trotz aller Ästhetisierung verweist die Verortung des Weiblich-Konnotierten im Formlosen auf das Erhabene, welches potentiell immer ins Abjekte, ins Abstoßende abkippt. Welche Grenzen werden dabei überschritten (die des „guten Geschmacks“, die vom Mädchenhaften zum Animalischen oder von einem Frauenbild zu einem anderen), aber vor allem: Wessen Grenzen werden übertreten?

Ein Apparatus, um das Wuchernde festzuzurren

Während Loos das Schlafzimmer seiner Frau zum Fetisch machte, der die Anwesenheit dieser darin nicht benötigte, so ließ sein Freund Oskar Kokoschka einen Fetisch in Form einer Frau anfertigen, die ihn verlassen hatte. Einige Jahre nachdem die Beziehung zu Alma Mahler zu einem Ende gekommen war, gab er bei der Bildhauerin Hermine Moos eine Puppe in Auftrag. In Briefen erklärte und skizzierte Kokoschka die gewünschte Beschaffenheit der Puppe, der er Erinnerungen an Körperteile und Wunschvorstellungen des Objektes seiner Begierde zuordnete. “Liebes Frl. Moos, ich sandte Ihnen gestern durch meinen Freund Dr. Pagel eine lebensgroße Darstellung meiner Geliebten, welche ich Sie bitte recht getreu nachzuahmen und mit dem Aufgebot Ihrer ganzen Geduld und Sensualität in Realität umzuschaffen.”15 Weich wie ein Pfirsich soll die Oberfläche sein – Hermine Moos bezog die Puppe mit einem Plüsch. (Abb. 2)

Abb. 2: Henriette Moos, Hermine Moos mit Puppe, 1919, Oskar Kokoschka Zentrum, Wien.
Abbildungsnachweis: Kokoschka, Oskar: Briefe I. 1905–1919 (Hg.: Olda Kokoschka und Heinz Spielmann), Düsseldorf 1984, o. S.

Zwar forderte der Auftraggeber sie dazu auf, ihre Sinnlichkeit bei der Interpretation seiner Entwürfe einzusetzen, doch aus weiteren Umschreibungen ist herauszulesen, dass er sich eine Art von Sexpuppe gewünscht hatte. Als Kokoschka die Puppe erhielt, schriebt er ihr entsetzt: „Die äußere Hülle ist ein Eisbärenfell, das für die Nachahmung eines zottigen Bettvorlegerbären geeignet wäre, aber nie für die Geschmeidigkeit und Sanftheit einer Weiberhaut, wogegen wir doch immer die Täuschung des Taktgefühls in den Vordergrund gestellt hatten.“16 Vielleicht war es die Machart der Puppe, die ihn enttäuschte, doch möglicherweise war ihm, mit der Realisierung seines Wunsches konfrontiert, die Perversion des Unterfangens erst bewusst geworden. Die Alma-Puppe zauberte nicht die eigenwillige Alma Mahler herbei. Kokoschka malte jedoch ein Alma-Porträt mit der Puppe als Modell und ein Selbstporträt mit Puppe (dazu wohl unzählige Zeichnungen) und inszenierte sich mit ihr, indem er Besuch in Gesellschaft der Puppe empfing und öffentlichkeitswirksam mit ihr als Begleitung auftrat. Schließlich betrieb er eine Art Exorzismus von seiner Alma-Puppen-Obsession, indem er sie bei einer Party im Garten köpfte und mit Rotwein übergoss. Diese Geschichte ist bekannt, auch weil Kokoschka sich damit brüstete – die der Hermine Moos wesentlich weniger.17 Kokoschka gab die Erstellung der Puppe in Auftrag, in der Hoffnung, sich selbst von der physischen Manifestation seiner Fantasie überzeugen zu lassen. In der Anleitung, die er Moos schickte, war das Haptische äußerst wichtig, er wollte die ehemalige Geliebte wieder fühlen und halten. Es hat den Anschein, als wäre die Beauftragung selbst, das Heraufbeschwören von Erinnerung und Fantasie zur Beschreibung und schließlich die Kommunikation mit Moos erregend für ihn gewesen. Ihren vier erhaltenen Fotos nach zu urteilen, hat Moos mit der Puppe ein eigenes Kunstwerk geschaffen, welches Kokoschka das Sinnlich- Ungeheuere seines Begehrens vor Augen führte.

Loos und Kokoschka materialisierten ihre erotischen Obsessionen bezeichnenderweise nicht (nur) als pornografisches Bild, sondern dreidimensional und taktil anregend. Eine Puppe, die man nach belieben manipulieren kann; ein heimischer Raum, in den man eindringen kann. Benjamin schreibt in Das Passagen-Werk: „Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist um so dringlicher, als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar.“18 Farès el-Dahdah bedient sich des Begriffes der „Junggesellenmaschine“ als Bezeichnung für einen Apparatus der Verführung, „a machine idly waiting for some force to make it work.“19 Auf Loos und Kokoschka übertragen, ist die Kraft, die den Apparatus zum funktionieren bringt, nicht die Verführbarkeit von Lina oder Alma, sondern die durch das Begehren hervorgebrachten Phantasmen.


1974 stellt die Schweizer Künstlerin Manon Das lachsfarbene Boudoir aus, ein intimes Environment, welches vorgeblich ihr Schlafzimmer darstellte. Die Wiederauflage der Arbeit 2006 im Swiss Institute New York schildert Andrea Kirsch wie folgt: „[S]he placed the entire contents of her maximalist and erotically-charged bedroom on display[…]; a satin and fur-covered bed at its center was surrounded by mirrors and every square centimeter of the room was covered with objects to indulge touch, taste, smell, sight, and that most erogenous organ, the mind; among the stuff which crowds the space are Colette’s novels, plastic lingams, seashells displayed vertically to emphasize their distinctly vaginal apertures, jewelry and clothing strewn about, a left-over plate of oyster shells, pictures of people she admires“20. Manon kreiert die Kunstfigur Manon, deren häusliche Umgebung sie in Kunst verwandelt der Öffentlichkeit präsentiert.

Der fiktiv-private Raum erinnert in seiner textilen Struktur Lina Loos’ Schlafzimmer. Manon treibt dessen Charakteristika jedoch durch den Überfluss anspielungsreicher Requisiten auf die Spitze. Hier inszeniert sich die Künstlerin als sexuelle Person, indem sie Klischees weiblicher Erotik appropiiert und als Ausstattungsobjekte versammelt. Bereits der Titel der Arbeit nimmt eindeutig Bezug auf das Boudoir des 18. Jahrhunderts, einen eher kleinen, jedoch elegant eingerichteten Raum, bei dem es sich um „einen Ort weiblicher Selbstdarstellung und nicht um ein männlich kontrolliertes Serail21 handelt. Die Herrin des Boudoirs bestimmt, wer hier Eintritt findet. Sie ist auch für die Innenausstattung zuständig.“22 Die charmant inszenierte Unordentlichkeit der Toilette war ein beliebtes Motiv in den modischen Gemälden der Zeit; verführerische Anspielungen finden sich in den kostümgeschichtlichen Begriffen des Negligé oder Déshabillé wieder. Einerseits wird das Boudoir als Sphäre definiert, an dem sich die sexuelle Macht der Frau entfalten durfte, und gleichzeitig zum Inbegriff von moralischer Dekadenz, welche die Liebe zum Verborgenen und Privaten auf die Spitze trieb.23 So ist das Boudoir ein Raum, der weiblich konnotiert ist, und in dem Frauen Gestaltungsfreiheit, ja gar Macht, zugesprochen wird, gleichzeitig ein Ort, der aufklärerischen, moralischen und gesellschaftlich fortschrittlichen Werten entgegensteht.

In Loos’ Zimmer trifft das Klaustrophobische des Rokoko-Boudoirs auf einem avantgardistischen Minimalismus; das Ungezähmte und das Abjekte werden in der Gestaltung kontrolliert. Es gibt drei Oberflächen in Loos’ Schlafzimmer, die nicht textiler Natur sind: die horizontalen Flächen der Nachttische und der Kommode. Diese scheinen mit Glasplatten belegt zu sein. Die aufgeräumte Strenge auf diesen einzigen benutzbaren Oberflächen und die ganzheitliche Reduktion macht deutlich, dass es sich bei Loos’ Schlafzimmer nicht um ein Boudoir handelt, trotz der erotischen Aufladung, die es mit dieser Art von Raum gemein hat. Es entspricht bei näherer Betrachtung eher dem oben erwähnten Serail. Die Vorhänge erinnern plötzlich an einen Stoff, den man über einen Käfig hängt, um eingesperrte Vögel ruhig zu stellen.

Isolation des Objektes der Begierde

„Un homme cultivé ne regarde pas par la fenêtre; sa fenêtre est en verre dépoli; elle n’est là que pour donner de la lumière, non pour laisse passer le regard.“24 Beatriz Colomina führt mit diesem Wortzitat Loos’ (nach Le Corbusier in seinem Buch Urbanisme) den Gedanken ein, dass in Loos’ Entwürfen oftmals Möbel oder Spiegel die Fenster blockierten oder Vorhänge Blicke versperrten.25 Darüber hinaus veranschaulicht sie, wie Loos vor allem im Haus Moller (1927) und der Villa Müller (1930) mittels Durchgängen, Öffnungen und variierender Höhen der Stockwerke den Blick leitet. Weiterhin wird der Körper im Raum skopophilisch eingerahmt, also die Schaulust, das Vergnügen am Sehen fördernd, was durch strategisch gesetzte Durchblicke noch gesteigert wird.

Der spekulative, nie realisierte Entwurf eines Hauses für den 22-jährigen Tanzstar Josephine Baker ist nicht nur äußerlich radikal (schwarze und weiße Marmorplatten sollten in horizontalen Streifen die Fassade bedecken), sondern vor allem in der Konzeption des innenliegenden Swimmingpools. Eine Galerie sollte parallel zu den beiden Längsseiten auf dem Niveau des Beckens gebaut werden; an einer der kurzen Seiten war ein Petit Salon geplant. Diese Flanierräume wurden mit Fenstern zum Inneren des Pools erdacht. Von einem Oberlicht beleuchtet, wäre die schwimmende Baker dadurch wie in einem Schaufenster – oder einer aquatischen Peepshow – ausgestellt; durch die Reflexionen auf der Innenseite der Pool-Fenster wären Außenstehende, ähnlich dem Effekt eines halbdurchlässigen Spiegels, kaum sichtbar. „The inhabitant, Josephine Baker, is now the primary object, and the visitor, the guest, is the looking subject. The most intimate space—the swimming pool, paradigm of a sensual space—occupies the center of the house, and is also the focus of the visitor‘s gaze.“26

Sowohl das Schlafzimmer von Lina Loos als das Haus „für“ Josephine Baker hat Loos zur Befriedigung seines eigenen ästhetischen wie erotischen Begehrens entworfen. Das Bild der schwimmenden Josephine Baker bereitet zwar Genuss, aber ruft nach Colomina auch die Kastrationsangst hervor, die vom „Anderen“ ausgeht: die Frau im Wasser als nicht fassbar und unkontrollierbar. Eine Strategie, diese Bedrohung zu verdrängen, ist die Fetischisierung.2727 Es zeichnet sich ein klares Bild der Frau ab, die Loos als Geliebte suchte: Tänzerisch-beweglich, selbständig-intelligent (seine drei Ehefrauen haben sich journalistisch betätigt und ihn zum Teil finanziell unterstützt), und beinahe gleichbleibenden Alters.2828 Als Objekt der Begierde wird die sehr junge, attraktive Frau verallgemeinert und exotisiert.29 Hirschfeld spricht von einer Teilanziehung oder partieller Attraktion, die bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und solche körperlicher Natur ausüben – und, Krafft-Ebbing zitierend, vom „individuelle[n] Fetischzauber“.30

Loos wurde nie von Baker mit einem Entwurf beauftragt, so kann man diesen als anzüglichen, wenn auch hochästhetischen, Fanbrief eines Verehrers lesen.31 El-Dahdah interpretiert das Bauwerk als imaginäre Verlängerung von Loos’ Tastsinn, um ihren abwesenden Körper begehren zu können.32 Ähnlich wie beim Schlafzimmer für Lina Loos ist die imaginierte Bewohnerin trotz ihrer Abwesenheit präsent: Man antizipiert als Betrachter:in des Raumes das Auftreten der Figur: Das Wunschbild einer nackten, schwimmenden Baker wird erzeugt, ebenso das einer sich räkelnden Lina Loos. Sowohl das Wasser als auch das Angorafell berühren den Körper auf imaginäre Weise.

Schlafzimmer und Verbrechen

Und dann stellt sich die Frage, welche Haltung wir zu den hinterlassenen Werken von einem verurteilten Sexualstraftäter einnehmen. Denn so sehr mich das ästhetische Universum des Schlafzimmers innerhalb des Loos’schen Gesamtwerks anregt, es als Ausgangspunkt für weitere Gedankengänge zu nehmen, so wenig ist es von der Hand zu weisen, dass dieser Raum, von eindeutig sexueller Natur, kaum vom Wissen um Loos, dem mutmaßlich Pädophilen, zu entwirren ist. Nicht nur wegen der sinnlich-erotischen Konnotation, die dieses Schlafzimmer besitzt.

Das Schlafzimmer im Allgemeinen ist ein mehrdeutiger Raum: Einerseits eine Stätte des Schlafes und der Ruhe, andererseits ein privater Bereich, in dem – im Gegensatz zu den öffentlichen und repräsentativen Räumen einer Wohnung – Nacktheit und Sexualität erlaubt sind und erlebt werden. Mit dem idiosynkratischen Schlafzimmer für seine erste Frau baut Adolf Loos ein Psychogramm, in dem er seine Vorstellungen von Geschlechtlichkeit Skulptur werden lässt. Die kupferne Vorhangstange umschreibt losgelöst von einem Bezug zur Architektur einen Raum im Raum. Das Haarige-Pelzige ist formal indifferent, unheimlich und dabei dem Tastsinn schmeichelnd. Das Podestbett kann als ein Altar der weiblichen Sexualität interpretiert werden, doch Anbetung ist hier nur eine Variante von Kontrolle. Die Vorhänge bedecken die Fenster nicht in voller Höhe und ermöglichen dadurch eine Blickachse von schräg oben in das Zimmer hinein. Sie lassen tagsüber ein gestreutes Licht in den Raum, aber verhindern knapp über Augenhöhe den Ausblick. Als Tageslichtraum konzipiert, steht die Frau darin, von der Zeit entrückt, in ebenmäßigem Schein gebadet, zur Verfügung.

Mit dem Wissen um Loos’ Gerichtsverfahren und die dadurch offengelegten Aussagen von Mädchen im Alter zwischen acht und zehn Jahren, sind die Vorhänge als Sichtblenden vor dem Außen zu lesen, um etwas zu verstecken. Sie dienen dazu, Geheimnisse zu bewahren, Taten, die nicht an das Licht der Öffentlichkeit dringen sollen, zu verbergen. Vielleicht wollte 1903 der noch lange nicht bestrafte und möglicherweise noch nicht tätig gewordene Loos etwas vor sich selbst verschleiern. Das Loos-Zitat „Das haus sei nach außen verschwiegen, im inneren offenbare es seinen ganzen reichtum“33 liest sich, wie auch das Schlafzimmers für Lina Loos, nach der Lektüre der Gerichtsakte, anders.

Dieser Raum, in den ich sinnlich-taktile Alternativen zu den Theorien des Blicks einziehen lassen wollte, ist ein Raum, in dem das Außen verdrängt wird, wo wahrscheinlich schon ein Vierteljahrhundert vor dem Fall Loos die Bedürfnisse anderer unterdrückt wurden – ein Schlafzimmer der Isolation. Isolation gibt die Möglichkeit zu kontrollieren, manipulieren, missbrauchen. Isolation lässt die Grenze zwischen dem eigenen und dem fremden Körper verschwinden. Isolation entzieht den Bezugsrahmen. Isolation sensibilisiert, wie eine Augenbinde, vielleicht kurzzeitig die Sinne, die auf die Nähe ausgerichtet sind, wie Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn; doch letztlich führt sie zu einer Desorientierung und einer Abstumpfung.

Biografie

Xenia Mura Fink

Xenia Mura Fink studierte an der Burg Giebichenstein in Halle, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und der Universität der Künste Berlin, wo sie 2009 ihr Studium als Meisterschülerin abschloss. Seit 2017 hat sie einen Lehrauftrag für Zeichnung an der Burg Giebichenstein. Außerdem promoviert sie an der Bauhaus Universität in Weimar. In ihrer künstlerischen Forschung bewegt sie sich im Spannungsfeld der Figuration, des Begehrens und des Blicks vor dem Hintergrund feministischer Diskurse. Die Zeichnung ist in ihrer Praxis das zentrale Medium. Xenia transformiert Zitate und Gesten aus der visuellen Kultur zu etwas Neuem, das jenseits des Formats geschieht.

Abb. 3: Xenia Mura Fink, Venus In Furs, 2020, Tinte auf Bristolkarton, 32 x 47 cm.

Poesie der Isolation bei Angelo Morbelli. „Il Natale dei rimasti“ von 1903 – Alexander Schuhbauer

Die Bilder des um 1900 arbeitenden, italienischen Künstlers Morbelli könnten in der Darstellung isolierter Menschen im Altersheim nicht aktueller sein. Morbelli verfolgt jedoch keine dokumentarische Strategie, um auf Missstände seiner Zeit aufmerksam zu machen, sondern er erhebt Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie.

„Niemand sollte im Alter allein sein, dachte er. Aber das ist unvermeidlich.“1

Eine Handvoll alter Männer, die sich in einem kargen Saal zusammengefunden haben. Die langen Reihen aus Holzbänken und Pulten sind größtenteils leer, wenngleich sie den Raum ganz und gar einnehmen und gewiss dutzenden Menschen Platz bieten würden. Einige der Männer ruhen oder schlafen im Sitzen, ein anderer wärmt sich stehend am Kamin. Niemand spricht, man hält Abstand zueinander. Es ist Winter, und so wurden Kissen auf die Bänke gelegt, die Anwesenden tragen außerdem zur Schiffermütze passende Paletots. Auch das einfallende Sonnenlicht wird inmitten dieser ruhigen, handlungsarmen Szene bisweilen als willkommene Wärmequelle begrüßt.

Abb. 1: Angelo Morbelli, Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 62 x 111 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.  Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853–1919, Mailand (GAM) 2019, S. 54.

Dieser erste Absatz könnte „in den jetzigen Zeiten der sozialen Distanz“2, wie es im Call zu vorliegendem Text heißt, ohne weiteres eine Szene aus einem zeitgenössischen Pflegeheim beschreiben. Schließlich häufen sich seit Ausbruch der sogenannten Corona-Pandemie, die besonders Italien in diesem Frühjahr schwer trifft, auch Berichte über die Isolation von Senior:innen in Pflegeeinrichtungen. Doch der einleitende Abschnitt beschreibt ein Gemälde des italienischen Malers Angelo Morbelli (1853 – 1919): das 1903 entstandene Il Natale dei rimasti (dt. Weihnachten der Zurückgebliebenen, (Abb. 1).3 Für die fünfte Biennale von Venedig gemalt, zeigt die Szene das Pio Albergo Trivulzio, eine noch heute bestehende Einrichtung für Senior:innen in Mailand, am Weihnachtstag.4

Es ist längst nicht das einzige Mal, dass Morbelli das Trivulzio als Sujet wählt. Im Laufe seiner Karriere entstehen über dreißig Ölgemälde, dazu Pastelle, Zeichnungen, Skizzen und Fotografien des Heims.5 Im Natale zeigt Morbelli dessen lavorerio, den Arbeitsraum.6 Das Gemälde ist Teil einer Serie von Weihnachtsbildern. So zeigen auch Giorno di festa al luogo Pio Trivulzio (1892, Paris), eine gleichnamige Version in Monza (1903, Collezione Roberto Pancirolli) sowie Un Natale! Al Pio Albergo Trivulzio (1909, Turin) einsame, alte Männer, die sich – im Abstand zu den wenigen übrigen Figuren im Bild – in einem der Arbeitssäle des Heims eingefunden haben, wo sie jedoch selbst zu Weihnachten nicht besucht werden.

Diese Fixierung auf ein Bildthema wirkt sich unweigerlich auf die Rezeption Morbellis aus. Bereits ein Jahrzehnt nach seinem Tod feiert ihn ein Nachruf, publiziert in der Stampa an Heiligabend 1929, als „pittore dei ‚vecchioni‘“7, Maler der Alten. Zuschreibungen dieser Art finden sich noch heute. Für David Gilmour, dessen populärwissenschaftliches Buch Auf der Suche nach Italien unlängst wieder in deutscher Übersetzung aufgelegt wurde, gilt Morbelli zum Beispiel als „der einfühlsame Chronist der Alten und Einsamen“8

Was Gilmour mit dem Attribut des Einfühlsamen zu beschreiben versucht, nämlich dass es Morbelli in Bildern wie dem Natale um mehr geht als die bloße Dokumentation einer Altenheimsituation um 1900, wurde von Zeitgenossen des Künstlers im Begriff der Poesie gefasst. Carlo Carrà zum Beispiel, demzufolge Morbelli ein beinah kultisches Verhältnis zur eigenen Kunst pflegte, erinnert sich lobend: „Particolarmente nei disegni dei vecchioni egli [Morbelli, Anmerkung des Verfassers] riesce a precisare la sua peculiare effusione umana e poetica.“9 Auch die Kunstkritik seiner Zeit hat immer wieder auf das Poetische in Morbellis Bildern verwiesen. Der Kritiker Ugo Ojetti schreibt im Anschluss an die Biennale 1903, Morbelli habe noch nie so „poeticamente evidente“10 gemalt und attestiert den dort gezeig- ten Bildern einen „soffio lirico“, einen lyrischen Hauch, der in der Stille der Szenen begründet liege. 11 Der Turiner Literat Enrico Thovez bezeichnet seine Bilder als „scene composte con poesia di luce“12, und auch Morbelli selbst bedient sich des Poesiebegriffes, etwa wenn er in seinen Aufzeichnungen, der zwischen 1912 und 1917 entstandenen Via Crucis del Divisionismo, Poussin paraphrasiert: „I colori nella pittura sono come i versi nella poesia“13 Nicht zuletzt trägt auch der Bilderzyklus auf der Biennale, in dessen Kontext das Natale dei rimasti zu sehen ist, den Titel Poema della vecchiaia, Gedicht vom Alter.14 Anhand des für diesen Zyklus zentralen Natale soll im vorliegenden Text also gezeigt werden, dass Morbelli das Leben, das er im Pio Albergo Trivulzio beobachtet, nicht bloß dokumentiert, sondern im Sinne der Kunst poetisiert. Dabei ist der Begriff der Poetisierung zwar als die künstlerische Durchdringung eines Themas, keinesfalls jedoch als dessen pittoreske Verharmlosung zu verstehen. Im Sinne Kerstin Thomas’, die ähnliches bei Georges Seurat beobachtet, zielen Morbellis Poetisierungsstrategien vielmehr auf „eine Manifestation gesellschaftlicher Wirklichkeit oder ‚Welt‘“15 ab.

Il Natale dei rimasti (1903)

Für seinen Beitrag zur Biennale von Venedig wählt Morbelli ein markantes Querformat. Er zeigt den grün getönten und schmucklosen lavorerio, der von ebenso einfachen Reihen aus Holzbänken und zugehörigen Pulten bestimmt wird. Diese laufen perspektivisch auf den in Schatten getauchten Hintergrund zu.16 Was Kerstin Thomas über Georges Seurats Ein Badeplatz, Asnières und Pierre Puvis de Chavannes’ Heiteres Land schreibt, gilt auch hier: „gedämpfte Stille statt lärmenden Trubels, Innehalten statt bunten Treibens, Dauer statt Flüchtigkeit.“17 In diese stille Szene bricht Tageslicht durch jenseits des Bildraums liegende Fenster, fällt auf die Bänke und Pulte des Vorder- und Mittelgrundes und erzeugt klare Helldunkel-Kontraste. Besonders anhand der hellen Partien offenbart sich Morbellis Maltechnik. Als Maler, der sich dem Divisionismus verschreibt – jener Malweise, die sich durch das Teilen (dividere) reiner Farbpigmente und ihren getrennten Auftrag in feinen, komplementärfarbigen Pinselstrichen zum Zweck größtmöglicher Leuchtkraft auszeichnet –, versetzt er die Bildoberfläche in einen flimmernden Zustand der Vibration (vibrazione).18 Daraus erwächst ein „Gefühl des Uneindeutigen“19. Zusammen mit der überaus raffinierten Lichtregie Morbellis und seinem Gespür für Komposition wird schnell der Eindruck untergraben, dass wir hier die bloße Dokumentation einer alltäglichen Szene in einem Pflegeheim sehen. Allein durch den Weihnachtsbegriff im Bildtitel hebt Morbelli das Dargestellte aus der Sphäre des Alltäglichen heraus.

Das Bild zeigt fünf männliche Figuren, die, wie eingangs erwähnt, nicht miteinander kommunizieren. Zwei der Männer sitzen nur schemenhaft erkennbar im Halbdunkel des Hintergrundes, wo sich ein dritter am einzigen Kamin im Raum wärmt. Das Augenmerk der Betrachter:innen liegt indes auf den beiden Figuren im Vordergrund, die vom einfallenden Sonnenlicht getroffen werden. Der Mann in der Bildmitte sitzt gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen vor einem nicht näher bestimmten Gefäß. Der weiße Schnurrbart unterstreicht sein Alter, ansonsten zeigt Morbelli keinerlei Interesse an physiognomischen Details. Der hintere der beiden Männer im Vordergrund ist genauso gekleidet und scheint zu schlafen, während Arme und Kopf auf dem Pult vor ihm ruhen. Die uniforme Kleidung der Bewohner, so Lara Pucci, erlaube es dem Künstler aufzuzeigen, „wie sich unterschiedliche Lichtverhältnisse auf unsere Farbwahrnehmung auswirken“20. Sie führt anschaulich aus: „Was im Schatten als schlammiges Grünbraun erscheint, verwandelt sich in den von der Sonne beschienenen Bereichen in ein goldenes Beige.“21 Betrachtet man die Kleidung des Mannes und die Pulte im Vordergrund aus der Nähe, fällt auf, dass dieser Effekt durch das Nebeneinandersetzen feinster, abwechselnd grüner und roter Pinselstriche gelingt (Abb. 2).

Abb. 2: Il Natale dei rimasti, Detail. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 53

Zudem steigert das Beimengen von Weiß in den sonnen- beschienenen Partien die Leuchtkraft (luminosità) des Gemäldes. Wenden wir uns dem Bild nun wieder als Ganzem zu, offenbart sich in Morbellis Lichtregie noch eine andere Qualität. Vor dem Hintergrund des Weihnachtsbegriffs im Bildtitel, der der Szene inhärenten Ruhe, der gefalteten Hände und der gebeugten Haltung der Figur im Vordergrund vermag das Licht die Assoziation eines Sakralraums hervorzurufen, auf dessen Bank- und Pultreihen sich zudem der kreuzförmige Schlagschatten der Fenstersprossen abzeichnet. Morbellis Zeitgenoss:innen teilten diese Assoziation offenbar. Enrico Thovez schreibt irrtümlich über das Bild, es zeige uns eine Kirche mit betenden Männern.22Diese in ihrem Kern durchaus treffende Beobachtung Thovez’, die ihn dennoch zu dem vorschnellen Schluss verleitet, Morbelli zeige uns anstatt eines Arbeitsraumes einen Sakralraum, ist bis in die Kunstgeschichte der Gegenwart hinein präsent. Im aktuellen Sammlungskatalog der Ca’ Pesaro – das Bild ist seit der Biennale 1903 im Besitz der Stadt Venedig – ist die Rede von der „proiezione di una croce, determinata dall’ombra degli infissi della finestra su uno dei banchi che sembra trasformato in un ‚altare‘ per il vecchio chino in un silenzio soraccoglimento.“23 Gleichwohl ist die hier getroffene Formulierung vorsichtiger, heißt es schließlich, das Pult wirke (sembra) wie ein Altar. In der Tat liegt dem Natale trotz seines einschlägigen Titels kein sakrales Sujet zugrunde, das klar zu benennen wäre. Schließlich können alle Bildelemente, die Thovez dazu veranlassen, von einer Kirche zu schreiben, auch profan gedeutet werden. Dass Zeitgenossen wie Thovez oder Calzini, der wiederum die „santa vecchiaia“24 der Figuren Morbellis beschreibt, dennoch gerade den sakralen Charakter der Szene betonen, muss andernorts begründet liegen – jenseits traditioneller Ikonografie. Meines Erachtens zeichnet sich das Bild durch die ihm inhärente Stimmung aus – nach Thomas ein poetisches Mittel, das hier eine sakrale Note erhält.25 

Morbelli ist also kein Maler, der schonungslos die zweifelsohne gegenwärtigen Probleme in einem Pflegeheim, wie Krankheit oder Tod, aufzeigt. Seine Figuren sind alt und einsam. Nur in Details, wie im Motiv des Mannes am Ofen, der uns als Versatzstück bei Morbelli immer wieder begegnet, wird indes angedeutet, dass sie frieren. Zudem tragen sie, durchaus angemessen für einen späten Dezembertag in Norditalien, Paletots. Das Gemälde schreit nicht auf, wie eine der ausgemergelten „mad women“26 in Telemaco Signorinis Bild des San Bonifacio-Heimes in Florenz (Abb. 3).

Abb. 3: Telemaco Signorini: La sala delle agitate al Bonifazio, 1865, Öl auf Leinwand (?), 66 x 59 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.
Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853– 1919, Mailand (GAM) 2019, S. 4.

Oder wie es Luciano Caramel fasst: „Morbelli non guarda ai vagabondi, agli esclusi, alle vittime. Non v’è intenzionalità di denuncia, né di protesta.“27 In dieser Hinsicht treffend erscheint auch der Titel des gesamten Zyklus: Poema della vecchiaia. Auch hier, bezogen auf die Titelwahl, könnte man mit Caramel folgern: Non v’è intenzionalità di protesta. Dazu passen sowohl die „abitudini borghesi“ des Künstlers als auch seine Herkunft aus einer Familie von Kleingrundbesitzer:innen im piemontesischen Colma di Rosignano bei Casale Monferrato, einer Weinbauregion.28

Offenbar zielt Morbelli in seinem ruhig flimmernden Bild der Alterseinsamkeit auf einen größeren Zusammenhang „des menschlichen Daseins, der ‚conditio humana‘“29, wie es bei Annie-Paule Quinsac heißt. Diese These ist eng mit dem Begriff der Dauer verwoben. So schreibt Kerstin Thomas über Georges Seurat, dieser habe es sich zur Aufgabe gemacht, „sowohl ein Chronist seiner Zeit zu sein als auch ein Kunstwerk zu schaffen, das die Essenz dieser Zeit für die Dauer festhält“30. Auch der sechs Jahre ältere Morbelli entwickelt meines Erachtens malerisch-poetische Strategien, die auf Dauer zielen. Nicht ganz zufällig überschreibt er seine Via Crucis del Divisionismo mit dem leicht abgewandelten, hippokratischen Aphorismus ars longa vitae brevis – die Kunst ist lang, das Leben kurz.31 

Abb. 4: Angelo Morbelli: Schizzi al volo, fol. 45, 1901–02, Bleistift auf Papier, 9 x 13,5 cm, o. O. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Tra realismo e divisionismo, Turin (GAM) 2001, S. 30.
Abb. 5: Fotografia dell’Archivio Morbelli con la stanza più volte effigiata nei suoi quadri, ca. 1901-02. Abbildungsnachweis: Aurora Scotti: Un pit- tore per il Trivulzio. Angelo Morbelli, in: 200 anni di solidarietà milanese nei 100 quadri restaurati da Trivulzio, Martinitt e Stelline, hg. v. Paolo Biscottini, Mailand 1990, S. 151–156.

Um diese These zu stützen lohnt es sich, den Arbeitsprozess am Natale dei rimastinachzuzeichnen. Am Beginn dieses Prozesses stehen bei Morbelli Skizzen, die er Schizzi al volo nennt, wobei der Zusatz al volo – im Sinne des flüchtigen Duktus einer Skizze – augenblicklich bedeutet. Eine seiner Skizzen für das Natale zeigt eine in suchender Linie schraffierte männliche Figur mit charakteristischer Schiffermütze und Paletot, die mit verschränkten Armen den Kopf in Richtung einer miniaturisierten Frauenfigur unterhalb des Pultes vor ihm senkt. Diese scheint indes einer anderen Sphäre zugehörig. Die Bleistiftzeichnung in den Maßen 9 x 13,5 cm, die einem kleinen Skizzenbuch für die Jackentasche entsprechen, zeigt das Ausschnitthafte des Entwurfes. Dennoch weisen die Kreuzschraffuren, etwa am Kragen, bereits in Richtung der divisionistisch-vibrierenden Malweise des ausgeführten Bildes (Abb. 4). Hinzu treten Fotografien, derer sich Morbelli seit den 1880er-Jahren bedient.32 Unter den Künstler:innen, Intellektuellen und Literat:innen, die das Landhaus der Morbellis im Monferrato besuchen, ist auch der Fotograf Francesco Negri, dem es 1885 zum ersten Mal gelingt, das Cholera-Bakterium zu fotografieren.33 Unter dem Eindruck Negris richtet sich Morbelli eine Dunkelkammer in seinem Atelier in der Villa Maria ein.3434 Scotti veröffentlicht zwei Fotografien, die sie passend zu den Schizzi al volo in die Jahre 1901 und 1902 datiert (Abb. 5). Die hier abgebildete Aufnahme zeigt den nun bereits bestens bekannten lavorerio, ausgestattet jedoch mit den 1898 neuinstallierten Heizkörpern.3535 Das fertige Ölbild macht deutlich, dass Morbelli an diesen Umbauten kein Interesse zeigt. In der Fotografie, rechts oben an der Wand, ist zudem noch der Schriftzug FUMARE zu lesen, der wohl zu dem Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE gehört, der uns in einer quadrierten Vorzeichnung zum Natale begegnet (Abb. 6). Diese datiert aus dem Jahr 1902 und markiert den nächsten Schritt auf dem Weg zum ausgeführten Ölgemälde. Auch hier handelt es sich um eine Bleistiftzeichnung, allerdings in den monumentalen Maßen von 96 x 170 cm. Rechts unten liegen Zylinder, Mantel und Gehstock auf einem Pult, in der Bildmitte hängt eine Lampe von der Decke und links des Kamins ist das erwähnte Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE, Rauchen verboten, angebracht. Vergleicht man dieses Blatt mit der ebenfalls quadrierten Pastellzeichnung (nicht abgebildet), die das Ölbild unmittelbar vorbereitet, sind diese Details verschwunden. Morbelli schreibt dazu:

„Col subordinare tutto il quadro ad un’unica e complessa visione, non preoccu- pandosi dei singoli dettagli del vero, e col divisionismo serrato ai colori puri per lecose vicine, ecco le due chiavi!? (Via Crucis, §55)“

In Morbellis Wendung des subordinare tutto […] ad un’unica e complessa visione, ohne sich in veristischen Details zu verlieren, klingt eine Einschätzung Mario Morassos an. Der Chefredakteur der Gazzetta di Venezia erkennt in Morbellis Poema della vecchiaia eine

„universalità a cui perviene la rappresentazione del Morbelli. Egli è penetrato così addentro nella costituzione, nella essenza dei suoi tipi, dei suoi vecchi e delle sue vecchie, ne ha sentito così distintamente il battito del cuore stanco, il ritmo della vita lenta, ne ha osservato così acutamente sotto tutti gli aspetti le pose inerenti alla loro grave età , alla loro condizione […] che non solo egli ci ha dato una riproduzione vera ed evidente di quiei tali vecchi raccolti in quell’ospizio, ma ha potuto altresì fare di ognuno di essi un tipo rappresentativo e di ogni scena lo schema generale di ogni vecchiaia […].“36

Diese künstlerische Strategie der universalità kann mit Morbellis Anspruch, Gemälde zu harmonisieren, in Einklang gebracht werden (vgl. Via Crucis, §17). Im ausgeführten Bild übermalt er gar noch die Figuren am linken Bildrand der Pastellzeichnung, wie Poldi mittels Infrarotreflektografie nachgewiesen hat.37 Die einzig verbliebenen dettagli del vero sind das nicht näher bestimmbare Gefäß vor der Figur in der Bildmitte, ein Schrank rechts im Hintergrund und der Kamin. Dass dieser für Morbelli ebenfalls entbehrlich ist, zeigt indes ein kleines Ölbild, das sich heute in der Collezione Roberto Pancirolli in Monza befindet (Abb. 7).

Abb. 6: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1902, Bleistift und Conté auf Papier, 96 x 170 cm, Privatsammlung. Abbildungsnachweis: Teresa Fiori (Hg.): Ar- chivi del Divisionismo, Bd. 2, Rom 1968, S. 28.

Dennoch geht Morbelli nie so weit, aus seinen Räumen ein beliebiges Altenheim zu formen. Der Begriff des Wahren steht mit seinen Poetisierungsstrategien also keineswegs im Widerspruch. Das verbindet ihn mit Zeitgenossen wie Seurat.38 Die bewusst gesteuerte Wiedererkennbarkeit der Trivulzio-Räume führt dazu, sie als etwas persönlich Vertrautes wahrzunehmen, zugleich führt das poetische Mittel der universalità zu deren Verallgemeinerung.39 Eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Quelle ist ein Brief Morbellis an seinen Freund und Kollegen Giuseppe Pellizza aus dem Jahr 1901, in dem er schreibt:

„Ho subito una tremenda illusione al Pio Trivulzio! tutto fu restaurato imbiancato sino al delirio, sparí quel giallume d’antico che armonizzava così bene col costume e incartapecorite faccie dei ricoverati!! i muri i plafoni tutto fu odiosamente imbiancato, disposizione banchi, cambiata, insomma un disastro […].“40

Morbelli missfallen also einige Veränderungen am Palast, in dem das Pio Albergo Trivulzio untergebracht war.41 Verschwunden sei der Gelbton der Wände, der Morbelli zufolge mit der Kleidung und den faltigen Gesichtern der Bewohner:innen harmoniert habe, die Mauern und Decken seien in einem hässlichen Weiß gestrichen und die Anordnung der Bänke geändert worden. Wütend schließt er mit den Worten: un disastro, ein Desaster. Offenkundige Fehler in der Groß- und Kleinschreibung, ausgelassene Wörter und doppelt gesetzte Ausrufezeichen untermauern seinen Ärger.

Der Brief an Pellizza zeigt, dass Morbelli in den Räumen des Trivulzio vor den Renovierungsarbeiten, die letzten Endes mehr Platz und damit eine vermeintlich höhere Lebensqualität für dessen Bewohner:innen bedeuten, eine Stimmung erkennt, die er für bildwürdig erachtet, während er später die sterilen weißen Innenräume herabwürdigt. Diese Haltung zu Veränderungen, die den Bewohner:innen zum Vorteil gereichen sollen, lässt den Schluss zu: Morbelli liegt mehr am Beobachten einer konkreten Stimmung und an der Entwicklung malerisch-poetischer Strategien, um diese ins Bild zu setzen, als an einer dokumentarischen Sicht auf die Situation im Heim oder gar am Anprangern derselben. Besonderes Interesse zeigt Morbelli dabei an der Isolation der Menschen im Trivulzio. Dies wird bei einem Schulterblick auf das zwei Jahre nach dem Natale entstandene Triptychon Sogno e realtà (dt. Traum und Wirklichkeit, nicht abgebildet) deutlich. Darin macht der Künstler von den Charakteristika des Bildträgers Gebrauch, um Frau und Mann gemäß den Bestimmungen der Heimverwaltung voneinander zu trennen. Insgesamt gilt für viele von Morbellis Trivulzio-Bildern, für die das Natale stellvertretend steht: Figuren werden – auf der Ebene der Komposition – voneinander getrennt und – bei gleichzeitiger Wiedererkennbarkeit des Trivulzio – aus ihrer Zeit heraus isoliert, indem Morbelli Details wie Heizkörper, Deckenlampen oder Verbotsschilder im Laufe seines Arbeitsprozesses aufgibt und das Endergebnis, das fertige Ölbild, mit seiner typisch-vibrierenden Malweise umfängt. Damit erhebt er Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie. Vor diesem Hintergrund wünschenswert wäre, doch dies nur als Ausblick, das hier mittels des Poesiebegriffs angeschnittene Verhältnis Morbellis zur Literatur zu beleuchten. Schließlich treffen Gedichte aus dem Umfeld des Malers, wie Giovanni Cenas Vecchiaia sterile aus der Sonettsammlung Homo von 1907, einen ganz ähnlichen Ton wie dessen Bilder: „Chè solo augusta è la vecchiezza cinta / d’opere e di memorie, che s’adagia / benedicendo nell’eterna pace.“42

Abb. 7: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 35 x 55 cm, Monza, Collezione Roberto Pancirolli. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 85.

Biographie

Alexander Schuhbauer

Alexander Schuhbauer machte seinen Master Abschluss in Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart. Bereits im Bachelor Studium setzte er seinen Forschungsschwerpunkt auf italienische Kunst der Moderne und entwickelte – auch durch sein Nebenfach Germanistik – sein Interesse an Text-Bild-Korrelationen. Die Verbindung dieser beiden Interessensfelder zeigt sich deutlich an der Thematik seiner Masterarbeit mit dem Titel Poesie des Alters: Angelo Morbelli malt das Pio Albergo Trivulzioin Mailand. Zwischen 2016 und 2019 hatte er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie bei Hans Dieter Huber an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart inne.

mulch – Helen Weber

Das gesprochene Wort hat im Vergleich zum geschriebenen Text abweichende Qualitäten und Wirkungen: Wir können die Augen schließen und unsere Vorstellungskraft walten lassen. Die Stimme ist stets gekoppelt an ein Individuum. Sie vermittelt eine Stimmung und eröffnet Beziehungsgeflechte – auch zum Zuhörer. Die Stimme kann während eines Textes variieren, sich von der Handlung distanzieren oder Nähe zulassen.

Jetzt schwingt die Stimme isoliert in einem unklaren, kontextfreien Raum – nur der Titel regt Assoziationen zu einem möglichen Setting an. Wie fühlt sich dieser Mulch an, wie riecht er, dämpft er unsere Schritte? Auch zeitlich ist das Geschehen zunächst schwierig einzuordnen. Handelt es sich um eine mittelalterliche Jagd oder ist es ein Ausschnitt aus dem aktuellen Zeitgeschehen? Die romantische Vorstellung der einsamen Jagd bricht mit der Realität.

Biografie

Helen Weber

Helen Weber studierte Bildende Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, davon ein Semester in Istanbul. Sie arbeitet individuell und kollektiv zwischen Innen- und Außenraum. Sie ist Teil des Schwäbischen Online-Albvereins, des kollektiv_mitteperformance und ROSANNAWIDUKIND. Sie wirft sich mit feldforscherischem Anspruch in Kontexte, woraus Videoinstallationen, Interventionen, Skulpturen und Texte entstehen. Seit Längerem gilt ihr Interesse den Widersprüchen des „Deutschen Waldes“, einer ideologischen Spielwiese voll Identitätsphantasien zwischen Survival, Volkstum und Naturschutz.

Slave to the Rhythm – Patrick Angus‘ Darstellungen der schwulen New Yorker Subkultur – Tobias Bednarz

Die Bilder des amerikanischen Malers Patrick Angus führen uns mitten in die Szenelokale der schwulen New Yorker Subkultur der 1980er Jahre. Eines der Charakteristika dieser Werke ist deren Betonung einer Atmosphäre von Einsamkeit und Isolation. Das gezielte Inszenieren dieser pessimistischen Stimmung und die Anreicherung seiner Werke mit einer emotionalen Schwere stehen bei Angus jedoch einer rein dokumentarischen Schilderung des Geschehens entgegen.

Oh oh oh 
You you you take my heart and shake it up 
You you you take my heart and break it up 
Get me to the doctor 
My heart goes bang bang bang bang 
My heart goes bang bang bang bang 
My heart goes bang bang bang bang 
My heart goes bang bang bang bang“

Auf den ersten Blick passen diese eingängigen Lyrics des Refrains eines Songs der Band Dead or Alive aus dem Jahr 1985 durchaus zum extrovertierten Gepose des nackten Tänzers im Gemälde My Heart Goes Bang, Bang, Bang, Bang (Abb. 1) des US-amerikanischen Malers Patrick Angus (* 1953 in North-Hollywood, † 1992 in New York, USA) von 1986. Wie in diesem Falle, entlieh Angus die Titel vieler seiner Gemälde mit Motiven der schwulen New Yorker Subkultur der 1980er Jahre beliebten Popsongs der Zeit, zu denen die Tänzer in den Striplokalen performten.1 Bei genauer Betrachtung wird Angus‘ Bild der Spannung und Erregung, die dieser rhythmische Titel vermittelt, jedoch nicht gerecht. Der Fokus liegt nicht auf dem – bis auf die weißen Nike-Sneaker – völlig nackten Stripper, sondern hauptsächlich auf dem Publikum, das dieser Stripvorführung beiwohnt. Über die nackte Rückenansicht des Tänzers blicken wir über die Bühne hinweg in die starren Mienen der Besucher, die verhalten, vielleicht fast ein bisschen gelangweilt, das „beste Stück“ des jungen Tänzers fixieren. Interaktionen zwischen den Männern im Publikum zeigt Angus kaum. Das Interesse der Männer gilt allein dem Objekt ihrer (sexuellen) Begierde auf der Bühne. Kommt es dann doch einmal zu Annäherungen, so sind diese meist von „käuflicher“ Natur, wie in der Kontaktaufnahme eines älteren Freiers mit einem jungen Stricher, die Angus uns schemenhaft abseits des Zuschauerraumes auf der rechten Seite zeigt. Eine Ausnahme bilden lediglich die zwei Besucher in der letzten Reihe, die sich engumschlungen küssen. Doch diese glücklichen Momente schwulen Lebens lässt Angus – wenn überhaupt – nur am Rand passieren, während ein Schleier pessimistischer, fast melancholischer Stimmung über der Darstellung liegt. Diese Atmosphäre der Einsamkeit und Isolation ist ein charakteristisches Element fast aller Arbeiten mit dieser Motivik, die Angus schuf. 1980 kam Patrick Angus von Kalifornien, wo er geboren wurde, aufwuchs und studierte, an die Ostküste nach New York und fand dort in den Lokalen der schwulen Szene die Inspiration und Motivik für viele seiner Gemälde und Zeichnungen.2 Mit seiner dauerhaften Übersiedlung nach Manhattan in der Mitte der 1980er Jahre wurden diese Darstellungen dann zum zentralen Sujet.3

Abb. 1: Patrick Angus, My Heart Goes Bang, Bang, Bang, Bang, 1986, Acryl auf Leinwand, 122 x 152,5 cm, Berlin, Schwules Museum*. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Patrick Angus. Private Show, Stuttgart (Kunstmuseum) 2017, S. 139. [© 2017 Douglas Blair Turnbaugh; Fotonachweis: Berlin, Schwules Museum*]

My Heart Goes Bang, Bang, Bang, Bang ist ein charakteristisches Beispiel für Angus‘ offenen Umgang mit einem schwulen Bildthema. In Bildern wie diesem thematisiert der junge Maler seine eigene Identität als schwuler Mann und zeigt die Orte, an denen er sich oft selbst aufhielt. Diese Orte der Subkultur, in der schwule Männer trotz gesellschaftlicher Tabuisierung und Verbote ihren sexuellen Begierden nachgehen konnten, sind keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Doch gerade ab den 1970er Jahren kam es mit einer neuen Offenheit gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität, sowie besonders durch das Nachlassen der polizeilichen Verfolgung von Homosexuellen im Zuge der Schwulen- und Lesbenbewegung zur Entstehung einer ausgeprägten schwulen Subkultur in Großstädten wie New York, die sich speziell an diese „Kundschaft“ wandte. Es entstanden neben Bars auch Schwulensaunen, Striptheater und Pornokinos, häufig mit Hinterzimmern für sexuelle Handlungen, sogenannten „back- oder darkrooms“, die von vielen schwulen Männern besucht wurden.4

Trotz des liberaler werdenden Klimas in den Jahrzehnten nach dem Stonewall-Aufstand 1969,5 waren zu Angus‘ Lebzeiten diese Szeneorte für viele schwule Männer die einzige Möglichkeit, ihre sexuellen Neigungen auszuleben und mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen. Ein solcher Treffpunkt der Szene – und besonders beliebt – war das berühmte Gaiety Male Burlesque Theatre, ein Striplokal, das sich unweit des Times Squares befand und von 1975 bis 2005 betrieben wurde.6 Es sind dessen legendäre Bühne und Zuschauersaal, die Angus in My Heart Goes Bang, Bang, Bang, Bang detailliert wiedergibt. Genau wegen dieser Präzision der Darstellung wird Angus immer wieder als „Chronist der Schwulenszene“ bezeichnet. Wie sehr er in dieser Rolle gesehen wird, verdeutlicht ein Artikel der New York Times mit der Überschrift Quietly a Bawdy Beacon Goes Dark aus dem Jahr 2005, der über die Schließung des Gaiety Theatre berichtete. Neben dem Artikel wurde ein Detail des Gemäldes Hanky Panky (Abb.2) von Angus abgedruckt (Abb.3). Die Bildunterschrift dazu lautete: „‘Hanky Panky‘ […], a 1990 painting by Patrick Angus that immortalized the world of the Gaiety.“7 Angus hat demnach diesen legendären Ort der schwulen Subkultur in seiner Kunst verewigt. Unrecht hat die Autorin sicherlich nicht, denn Angus nimmt uns in seinen Bildern tatsächlich mit in eine Szene, die hauptsächlich hinter verschlossenen Türen existierte. Ihn als Chronist zu bezeichnen hat daher also sicherlich auch eine Berechtigung, denn viele seiner Bilder besitzen durchaus einen dokumentarischen Charakter. Im Zuge der Aids-Epidemie schlossen die Badehäuser und Striptheater nach und nach. Die Orte und damit die Subkultur, wie Angus sie in seinen Bildern zeigt, existieren so heute nicht mehr.8 Dass Angus besonders bedacht war, die Orte wie das Gaiety exakt wiederzugeben, zeigt sich nicht nur im Vergleich mit den wenigen überlieferten Fotos, sondern auch anhand mehrerer Skizzen wie Untitled (Study for Gaiety Painting Triptych) (Abb.4), in denen Angus die räumlichen Gegebenheiten des Striptheaters genauestens festgehalten und nachvollzogen hat, um sie dann in Bildern wie My Heart Goes Bang, Bang, Bang, Bang korrekt darzustellen. Doch Angus scheint es nicht um eine rein naturalistische Wiedergabe der Lokalitäten und erlebten Szenen zu gehen. Denn dagegen sprechen das bewusste Komponieren seiner Werke, sowie der gezielte Einsatz bestimmter malerischer Mittel.9 Mit diesen künstlerischen Strategien macht Angus seine Bilder zu höchst subjektiven Darstellungen und geht weit darüber hinaus, ein bloßer Chronist zu sein.

Abb. 2: Patrick Angus, Hanky Panky, 1990, Acryl auf Leinwand, 102 x 137 cm, Leslie-Lohman, New York, Museum of Gay and Lesbian Art. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Patrick Angus. Private Show, Stuttgart (Kunstmuseum) 2017, S. 124. (© 2017 Douglas Blair Turnbaugh; Fotonachweis: Leslie-Lohman Museum of Gay and Lesbian Art, New York).
Abb. 3: Zeitungsauschnitt aus: The New York Times vom 24. April 2005. Abbildungsnachweis: Zeitungsauschnitt aus den Unterlagen des Nachlassverwalters Douglas Blair Turnbaugh, gescannt vom Autor. (© Douglas Blair Turnbaugh; Genehmigung zur Verwendung an Tobias Bednarz erteilt)
Abb. 4: Patrick Angus, Untitled (Study for Gaiety Painting Triptych), undatiert, Bleistift auf Papier, 45,5 x 120 cm, Courtesy Galerie Thomas Fuchs. Abbildungsnachweis: © Douglas Blair Turn- baugh; Fotograf: Thomas Fuchs

Ein Werk, das zeigt, wie hoch komplex Angus‘ Bildaufbau und Darstellungsweise sind, ist das bereits erwähnte Gemälde Hanky Panky (Abb.2), das nur zwei Jahre vor dem aidsbedingten Tod des Malers 1992 entstand. Auch hier zeigt Angus uns eine Szene aus dem Gaiety Theatre. Diesmal ist das Bildthema jedoch nicht eine der Stripshowvorführungen, sondern der Konsum eines Schwulen-Pornos auf einer Leinwand oberhalb der Bühne.10 Über die Rückenansichten der Besucher hinweg blicken wir auf eine Pornoszene, die in pastelligen Farben den ansonsten dunklen Vorführsaal schwach beleuchtet. Die Umrisse der Männer im Publikum treten durch diese Lichtgebung aus dem Schatten des Raumes hervor. Ihre Köpfe sind auf das gezeigte Techtelmechtel (englisch: hanky panky) zweier nackter Pornodarsteller an einem sonnigen Pool gerichtet. Im linken Drittel des Gemäldes fällt die stehende Figur eines oberkörperfreien Tänzers ins Auge, der sich neben den Zuschauerreihen lässig an eine Wand lehnt und an seiner Zigarette zieht. Schräg links hinter dieser Figur zeigt Angus einen zweiten Tänzer, der im Licht eines Türrahmens steht. Ein älterer Herr mit Glatze und untersetzter Figur scheint, unbeeindruckt von der Pornovorführung, den Blickkontakt zu diesem muskulösen Stricher-Tänzer zu suchen. Angus macht mit dieser Figurenkonstellation – wie auch schon in My Heart Goes Bang, Bang, Bang, Bang – subtil auf die Aspekte käuflicher Liebe innerhalb der schwulen Subkultur aufmerksam, die sich in vielen seiner Darstellungen in der Annäherung deutlich älterer Herren und sportlichen Jungen präsentiert.11 An Orten wie dem Gaiety ging es in erster Linie um die Befriedigung sexueller Begierden, indem junge, schöne und meist muskulöse Männerkörper sowohl auf der Bühne als auch in privaten Treffen zwischen Besuchern und Tänzern vom schwulen Publikum konsumiert wurden. In Hanky Panky verweist Angus gleich doppelt auf diesen Aspekt des Konsumierens: Neben der Kontaktaufnahme am Rand des Bildes, rückt er den Konsum von Pornografie mit der leuchtenden Farbigkeit der Leinwandszene in den Fokus. Im Nachlass des Künstlers fand sich die Vorlage für dieses Bild-im-Bild-Motiv: Ein Pornomagazin aus den 1980er Jahren (Abb.5). Mark Gisbourne bringt es auf den Punkt, wenn er Hanky Panky als „[…] eine komplexe und vielschichtige Zusammenfassung verschiedener Ideen“ beschreibt.12 Denn diese Pornoszene referiert gleichzeitig auch auf ein bekanntes Werk des offen schwulen Malers David Hockney (*1937). Angus zitiert die Komposition eines berühmten Gemäldes des britischen Künstlers mit dem Titel Portrait of an Artist (Pool with two Figures) von 1972 (Abb. 6). Wie im Folgenden gezeigt werden soll, lässt sich dieses Zitat als deutlicher Kommentar von Angus zu Hockneys Werk verstehen. Angus ist selbstverständlich nicht der erste Maler, der Bilder mit offen schwulen Sujets schuf. Er reiht sich vielmehr in eine Reihe von Kunstschaffenden ein, die seit der Antike eine Thematisierung oder Visualisierung von Homosexualität in Literatur und bildender Kunst auf unterschiedliche Weise vollzogen. Besonders in verschlüsselter Form oder in Gestalt nackter und erotischer Männerkörper durchziehen die Themen Homosexualität und Homoerotik die gesamte Kunstgeschichte.13 David Hockney nimmt in diesem Kontext aber sicherlich eine besondere Rolle ein, denn er gilt als einer der ersten Künstler, der offen zu seiner Homosexualität stand und das auch in seiner Kunst thematisierte. In seinen frühen Werken experimentierte Hockney bei der Darstellung seiner Figuren und einer schwulen Thematik noch mit Abstraktion, im Laufe der Zeit wurde sein Umgang jedoch immer offener und er schuf mit Selbstverständlichkeit homoerotische Bildwelten.14 Hockneys Werke – und vor allem sein freier Umgang mit der eigenen Sexualität darin – prägten Angus als Student in Santa Barbara nachhaltig.15 Auch wenn Hockney mit seinen Darstellungen wie Portrait of an Artist (Pool with two Figures) zwar eine Visualisierung schwulen Lebens lieferte, so haben Kritiker verständlicherweise angemerkt, dass es seinen Los Angeles-Werken mit der Reduzierung auf Pools und schöne Jungs an sozialem Kontext mangelt und sie die gesellschaftliche Realität Kaliforniens in dieser Zeit ausblenden.16 Auch Angus scheint die Arbeiten Hockneys, trotz aller Bewunderung für den Maler, als „unehrliche“ Repräsentationen schwulen Lebens zu sehen. Das belegt die Verbannung dieser pastelligen Bildwelten auf die Pornoleinwand seiner Subkulturdarstellung. Jens Hinrichsen findet die richtigen Worte, wenn er den Unterschied zwischen dem Ins-Bild-Bringen schwuler Lebensrealitäten der beiden Maler wie folgt zusammenfasst: „Anders als David Hockney […] schildert Angus nicht das hedonistische Homoglück unter kalifornischer Sonne, das für die meisten ohnehin ein unerreichter Traum blieb.“17 Angus zeigt in seinen Gemälden eine andere Realität vieler schwuler Männer, die ein Leben, wie es Hockney in seinen Bildern präsentiert, lediglich auf der Bühne oder der Kinoleinwand der Szene-Lokale konsumieren konnten.

Abb. 5: Bildvorlage für das Leinwandmotiv in Patrick Angus‘ Gemälde Hanky Panky. Die Fotos stammen aus einem Pornomagazin, das sich im Nachlass des Künstlers fand. Abbildungsnachweis: Pornomagazin aus dem Nachlass von Patrick Angus, gescannt vom Autor.
(© Douglas Blair Turnbaugh; Genehmigung zur Verwendung an Tobias Bednarz erteilt)
Abb. 6: David Hockney, Portrait of an Artist (Pool with Two Figures), 1972, Acryl auf Leinwand, 213,5 x 305 cm, Privatsammlung. Abbildungsnachweis: Livingstone, Mark: David Hockney, London 2017, S. 137. (© Art Gallery of New South Wales; Fotogra- fin: Jenni Carter)

Angus scheint offensichtlich ein besonderes Interesse an der Betonung einer melancholisch-pessimistischen Stimmung seiner Darstellungen der schwulen Subkulturszene gehabt zu haben. Denn liest man die Berichte von Zeitgenossen wie Robert B. Stuart, der laut eigener Aussage auch mehrmals gemeinsam mit Angus in Schwulenbars und Stripvorführungen des Gaietys war, so zeigt sich eine gewisse Diskrepanz zu Angus‘ Bildern. Während die Protagonisten bei Angus häufig einsam und isoliert erscheinen, betont Stuart das rege Treiben und die sexuellen Begegnungen zwischen den Besuchern der Stripshows und Pornokinos.18 Es kam dabei wohl nicht nur zu sexuellen Kontakten zwischen den Besuchern und den Stricher-Tänzern, sondern auch zwischen den Besuchern untereinander. In Hanky Panky (Abb. 2) ist ein subtiler Hinweis hierauf gegeben: Hier nähern sich die Arme zweier Männer auf einer Rückenlehne einander an. Angus macht damit zurückhaltend darauf aufmerksam, dass vielleicht noch mehr zwischen den beiden Männern passieren wird.

Erotisches Knistern vermitteln aber auch solche stillen Momente nicht. Ob Angus uns nun stumme Rückenansichten in schummrig beleuchteten Sitzreihen oder die ausdruckslosen starren Mienen des Publikums zeigt, immer mangelt es an Interaktion zwischen den Protagonisten, von sexueller Erregung ist keine Spur. Vielmehr wird uns der Eindruck von Isolation und Einsamkeit vermittelt. Mit dieser pessimistischen Stimmung rückt Angus seine Bilder in die Nähe der Bildwelten Edward Hoppers (1882-1962). Der amerikanische Maler ist bekannt für das Gefühl der Distanz und die Vereinzelung der Figuren seiner Gemälde. Angus scheint fasziniert von dieser Vermittlung menschlicher Gefühle und verlieh vielen seiner Subkultur-Motive eine ganz ähnliche Wirkung. In seiner Pornokinodarstellung Hanky Panky bezieht sich Angus mit der Komposition sogar ganz bewusst auf Hopper und dessen Gemälde New York Movie von 1939 (Abb. 7). Angus‘ an die Wand gelehnter halbnackte Tänzer erscheint in seiner Haltung fast wie die gespiegelte Version von Hoppers Platzanweiserin mit der Melancholie-Geste in New York Movie.19 Als eines der bedeutendsten Werke des Amerikaners gilt Night-Hawks aus dem Jahr 1942 (Abb. 8), das den Blick von einer dämmrigen Straße in das Innere eines beleuchteten Diners zeigt, an dessen Tresen dem Wirt drei Gäste gegenübersitzen. Hubert Beck beschreibt treffend die Stimmung, die zwischen den Figuren in diesem Gemälde herrscht: „Die Menschen sind sich anscheinend fremd, scheinen sich nicht zu trauen, sie schweigen und sind erstarrt, als liege eine unsichtbare Last auf ihnen.“20 Wie diese Beschreibung verdeutlicht, liegt die Stärke Hoppers darin, selbst in Werken mit mehreren Figuren Vereinzelung und Einsamkeit zum Thema zu machen, indem er eine Beziehungslosigkeit zwischen ihnen ins Bild bringt.21 Genau diesen Moment der Beziehungslosigkeit bringt auch Angus in seinen Bildern zum Ausdruck. Den Figuren im Publikum scheint meist jegliche zwischenmenschliche Beziehung zu ihrem Umfeld zu fehlen. Diese für Angus charakteristische Betonung einer Stimmung der Vereinzelung im Kollektiv lässt sich als subjektiver Kommentar des Künstlers zu jener Subkulturszene, von der er selbst ein Teil war, lesen.

Angus selbst äußerte sich kurz vor seinem Tod in einem Interview zu seinen Gemälden der schwulen Subkultur folgendermaßen: „People go to places I’ve depicted looking for sexual adventure, and my paintings show what they end up with. I mean, it’s all about men standing around looking at each other, which is pretty much what I’ve seen ever since I’ve been out in the gay world. When I went out to bars or any situation in which gay men gather, all of them regard each other with distrust in dark little places. So when I made my paintings, that’s what I depicted.“22

Abb. 7: Edward Hopper, New York Movie, 1939, Öl auf Leinwand, 81,9 x 101,9 cm, New York, Museum of Modern Art. Abbildungsnachweis: Beck, Hubert: Edward Hopper, Hamburg 1992, Abb. 30.
Abb. 8: Edward Hopper, Night-Hawks, 1942, Öl auf Leinwand, 76,2 x 152,4 cm, Chicago, The Art Institute of Chicago. Abbildungsnachweis: Beck, Hubert: Edward Hopper, Hamburg 1992, Abb. 32.

Wir können Angus‘ Darstellung so als Selbstreflexionen seiner eigenen Erfahrungen verstehen. Er liefert uns seine subjektive Übersetzung der Welt der schwulen Subkultur in die Malerei. Sebastian Preuss sieht die pessimistische Sicht auf die Szene darin erklärt, dass Angus „[…] selbst an der Beziehungslosigkeit in der Szene [litt], wo viele keinen anderen Sex haben, als den schnell wechselnden Verkehr in Saunen und Clubs.“23 Eine gewisse Kritik an diesem Aspekt der Schwulen-Szene, die an diesen Orten ihre Begierden zu befriedigen sucht, ist deutlich in Angus‘ Bildern zu spüren. Für Angus scheinen die Männer zu sehr nach unnahbaren Idealen, wie sie auf der Stripbühne oder in Pornofilmen gezeigt und von den jungen Strichern verkörpert werden, zu suchen, als sich auf die realen Männer um sich herum einzulassen.24 Indem er auf verschiedene Vorbilder referiert und sich durch seine Kompositionen und Malweise von der „schwulen Bildtradition“ einer Idealisierung nackter Männerkörper sowie der homoerotischen und pornografischen Darstellungsweise entfernt, gelingt es Angus, Bilder mit einem ganz eigenen Charakter zu schaffen. Mit seiner Betonung einer pessimistischen Stimmung der Einsamkeit an Orten wie den Striptheatern und Pornokinos macht Angus „[…] die Sehnsüchte und Enttäuschungen, de[n] Kampf auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten und des Jugendwahns [, sowie] die Isolierung des Einzelnen, die in der Gay Community genauso präsent sind, wie überall sonst […]“ zum eigentlichen Thema 25 Es geht nicht nur um die sexuellen sondern auch um die emotionalen Bedürfnisse der Männer, die in dieser Szene unterwegs sind. Es geht um das „[…] Hamsterrad aus Sehnsucht, Hoffnung, Erfüllung und Enttäuschung […]“,26 in dem sie sich befinden. So verweisen Angus‘ Bilder darauf, was wir im Grunde alle teilen: den Wunsch nach Nähe, Zuneigung und Anerkennung. Es geht also nicht allein um die Darstellung einer gesellschaftlichen Minderheit und deren Szenelokale, sondern um universelle menschliche Erfahrungen. Denn gewissermaßen sind wir alle doch „Slaves to the Rhythm“, wie es Grace Jones 1985 in ihrem berühmten Song zusammenfasst, wenn sie singt:

„Work to the Rhythm 
Live to the Rhythm 
Love to the Rhythm 
Slave to the Rhythm“

Und es verwundert nicht, dass Angus auch diesen Titel für eines seiner Gaiety-Bilder adaptierte (Abb.9).

Abb. 9: Patrick Angus, Slave to the Rhythm, 1986, Acryl auf Leinwand, 101,5 x 150 cm, Privatsammlung. Abb. Nachweis: © Douglas Blair Turnbaugh; Fotograf: Thomas Fuchs.

Biografie

Tobias Bednarz

Tobias Bednarz studiert Kunstgeschichte im Master an der Universität Stuttgart. Sein Schwerpunkt liegt in der Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts, wobei er sich besonders für soziale Kontexte und popkulturelle Rezeption interessiert. Bereits während seines Bachelorstudiums arbeitete er  in der Galerie Thomas Fuchs, die seit 2015 den Nachlass des Malers Patrick Angus vertritt. In seiner Bachelorarbeit vertiefte Tobias seine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Oeuvre des Malers. Seit 2018 arbeitet er als freier Kunstvermittler für verschiedene Institutionen in Stuttgart sowie als wissenschaftliche Hilfskraft der Professur der Moderne am Institut für Kunstgeschichte.

Vergessene Lichter – Robin Goetze

Alle sind da, viele vermutlich noch wach, aber niemand zeigt sich auf den Straßen. Zurück bleiben leere Gehwege, die von Laternen begleitet werden, Bewegungsmelder, die auf einen Marder reagieren, oder Deckenleuchten, die in verlassenen Räumen noch brennen. Das Licht zeugt davon, dass wir alle zwar da sind. Doch beleuchtet es auch die Einsamkeit.

„Minus 10 grad, doch wir müssen raus wie ‘ne Katze die Auslauf braucht im Haus ist es schön, warm ist es auch.“1

Es erwartet mich jedoch keine Clubtür. Es sind auch keine Betrunkenen auf dem Weg zur Partymeile, keine tiefer gelegten Schlitten die vorbei brummen, oder sonstige Autos auf den Straßen.

Es ist eine geheimnisvolle und zugleich melancholische Stille zu spüren. Die Einsamkeit, die wir in der Covid-19 Pandemie erfahren, spiegelt sich im öffentlichen Raum wider.

Biografie

Robin Goetze

Robin Goetze studierte Integriertes Produktdesign an der Hochschule Coburg und schrieb in seiner Bachelorarbeit über Oberflächen von Produkten aus nur einem Material. Als Designer bewegt er sich zwischen der Kommunikation und dem Objekt. Er ist überzeugt, dass Design sich der Nachhaltigkeit annehmen muss, wie es sich der Ästhetik und der Funktion verpflichtet. Die Kamera dient ihm dabei als Tool um Ideen und Zustände zu vermitteln. Sich mit anderen Disziplinen zu vernetzen, um gemeinsam an einer ganzheitlichen Lösung für eine nachhaltigere Welt zu arbeiten, ist für ihn essentiell.

Stories During Lockdown – Noé Duboutay

Das Tagebuch als Medium bewegt sich zwischen langer künstlerischer Tradition, intimer Selbstreflexion und Dokumentation. Die kurzen Notizen werfen uns zurück in die Vergangenheit. Die Worte oszillieren zwischen Sinnlichkeit, Intimität, Verletzlichkeit und Humor. Alltägliches wird poetisch, formt Bilder in unserer Vorstellung mit denen wir uns möglicherweise identifizieren und Brücken zu eigenem Erlebten schlagen können.

11.04.2020 

My friends are in my tummy.  

My creams for hands, face, body, and feet are a way to let my body feel needed, cared for. I  crave for human bodies. I long for nearness, smelling, and touching of them, the feeling to  share a warm, soft surface of skins.  But all I have is my dog, and he is not the cuddling character as we imagine our pets to be. I  picked some stuffed animals out of a box in my sisters’ bedroom, a crocodile which is as  long as my bed is wide and a pig with which I learned kissing as a teenage girl. 

My skin needs a lot of attention. I am washing my hands much more consciously, definitely  more frequently. Always before eating, after having a walk, caressing the dog, or going to  the toilet. On shopping days, I wash them much more often, because I feel sick after leaving  the house for the city. Even when people are covering half of their faces with masks, one can feel the fear. It makes me feel strange, separated.  

Note: The gloves may not help if you wear them while smoking a cigarette right after you  went shopping.  

I imagine a reunion with a friend during a lockdown easing. I visualize meeting but not being  allowed to hug. I fear this moment will break me. My feelings are already on a rollercoaster when I think of it.  

​Instagram is a great tool to stay in touch. But touching the screen of my phone every day  right after I wake up until late at night when I fall asleep is disgusting me. I feel sick  afterwards. I dreamed of having hard skin on my thumb, like the paws of a dog.  

13.04.2020 

I already forgot several online meetings. Not because I was busy. I was certainly not doing  anything other than laying down. The dates are not relevant anymore. But my alarm is. It is my only reference point of time. I am losing it. The days seem shorter, but it is April, they should become longer every day.  

It made me furious when I discovered that my face cream had disappeared. I desire the  smell, a layer of grease before going to bed. Somehow this is calming me. Occasionally I put it several times a day. It is a ritual to touch my face with soothing movements, watching  myself in the mirror. I like my face.  

15.04.2020

Die Luft ist dick, sie staut sich im Zimmer. Die Fenster und Türe zu öffnen hilft nicht. Die Luft ist kompakt wie eine dunkle Schokoladenmasse, die sich um den Körper schmiegt und nicht  mehr weg geht. Wie klebriger Schleim, der anfangs unbemerkt ankroch bis er das Zimmer füllte und den Sauerstoff nahm. Fenster und Türe öffnen hilft nichts, es kann mich niemand hören.  

I feel my body is becoming an undefinable form of soft material. 

18.04.2020 

​What does it mean to live in an isolated body? The way we are forced to distance from  bodies, known or unknown, is impacting the way we relate to our bodies. The daily stretching or workout is the only time I feel my body existing. 

During video classes, I have the feeling of tiredness invading my body. My eyes are telling me that they don’t want to stare any longer at a screen. My body suddenly feels heavy and  sinks into where I am sitting. On the screen, I see the faces of the people I once knew. Now  they are faces without bodies sitting on my screen and watching towards me.  

​Mostly I am looking at myself. I am the only person I am looking at. Should I’ve put some  makeup? Just for a moment I look at the other faces to verify my appearance. I start to look  for validation in my mirroring. I can’t know who is looking at me at that moment. I am still  looking at myself. 

20.04.2020 

​I was afraid of crossing the borders, I couldn’t sleep. Being in public feels so strange right  now. Everything seems strange. I am wearing a mask, but I feel uncomfortable and impolite  with it. The mask is distancing me from my surroundings. When my headphones are plugged in, I feel like swimming in a place I don’t belong. I am not present here, but neither somewhere else. 

For one particular thing, my mask protects me. People don’t see my pimples.

24.04.2020 

​Today I wasn’t waking up, but the bright sun was shining on my bed. I pulled off my pajamas  and lay down in the sunbath for an hour. 

I saw a friend, no screen was dividing us. I took off my sunglasses to make sure this was  real; it was. It was.  

Maybe I have to train my face muscles more, I look tired. 

26.04.2020

What happens if this situation isn’t improving, and no one is getting back to “normal”? What  does it mean for all those who now have difficulties working? What will the lack of social  interaction do with us? Even during this lockdown, we are asked to do our jobs, to be  productive. But what does “productive” still mean? Maybe I am spending my time doing  nothing, or doing a lot of things without being productive. 

28.04.2020 

​I like to be naked in cold weather.  

Ich war bereits wach. Ich erinnere mich an das Gefühl zu sinken. Ich bin gesunken, in das  Material der Matratze als würde sie mich halten. Wie eine tiefe seufzende Umarmung. Ich  konnte mich nicht bewegen, meine Glieder waren zu schwer. War ich gefangen oder gab ich  mich hin?  

Ich spreche in Gedanken in zweiter Person zu mir selbst. Es ist jetzt zwölf Uhr und ich habe  Hunger. Mit wem redet sie?  

I like rain, but I hate it that people act like cats on those days. 

I am wondering why cats are so popular? I hate cats. 

​Ich liebe es Kinder schreien zu hören, wie die Energie aus dem ganzen Körper strömt. Ich errinnere mich an die Halsschmerzen danach. 

​Ich mag es nicht am Bauch angefasst zu werden, es fühlt sich an als sei ich ausgeliefert. Der Rücken hingegen sehnt sich nach gleitenden Fingerspitzen und warmen Handflächen. Ich frage mich, ob Schildkröten dies auch mögen.

05.05.2020 

​Mama, was mache ich gegen meine Rückenschmerzen? Ich habe niemanden, der mich  massieren kann! 

11.05.2020 

​Ich fange an zu vermissen. Und doch frage ich mich, ob das Vemissen nicht ein Ablenken ist. Etwas das ich mir vorsetze wie ein schlecht riechendes Essen und krampfhaft in mich  hineinschaufele. 

12.05.2020

​Ich trinke zu bitteren grünen Tee, der Traum kommt mir wieder in den Sinn. Das Gesicht ist ganz nah, fast so nah dass ich mir nicht mehr sicher bin dass er es überhaupt ist oder  jemand mit dem ich auf Tinder schrieb. 

14.05.2020 

​Es ist nicht, dass das Arbeiten von zu Hause anstrengend ist, sondern das zu Hause bleiben und zu arbeiten. 

21.05.2020 

​Was würdest du lieber verlieren: den Geschmack oder den Tastsinn? Gibt es überhaupt Menschen ohne Tastsinn? 

25.05.2020 

​Als er sich langsam auszog, hatte er Damenunterhosen an und als es dann zum Sex kam begriff ich, dass nicht er es war mit dem ich schlief, sondern ich selbst es war. 

09.06.2020 

​Ich fühlte mich umarmt, es war wie ein zu fester jedoch liebevoller Druck. Ich übergab. Gab mich hin. Der Druck war real, ich war mir sicher. Die Bauchdecke drückte in meine  Eingeweide, mein Mund füllte sich. Vielleicht Kaffee oder Brot mit Schokoladenaufstrich, das  ich kurz davor gegessen hatte. Ich erinnere mich kaum. Vielleicht schlief ich noch. Jemand  hielt mich, doch da war niemand außer mir. Ich fühlte mich besser, doch dann schlief ich  wieder ein. Zu persönlich.


Biografie

Noé Duboutay

Noé Duboutay studierte im Bachelor an der Hochschule der Bildenden Künste Saar und aktuell Fine Arts an der Hochschule für Künste in Zürich. Noé nutzt Medien wie Video, Performance und Installation. Thematisch behandeln die künstlerischen Arbeiten Körperlichkeit sowie Identität – unter Anderem durch Metaphern, die geschlechtliche Fluidität verbildlichen.

Bahnhof-Balkon – Franziska Holbach

Die digitale Zeichnung Bahnhof-Balkon ist unmittelbar während des ersten Lockdowns der Corona-Pandemie entstanden. Diese Isolation forderte uns auf, den Alltag in den eigenen vier Wänden zu bestreiten, völlig abgeschottet und allein, während die Welt draußen im Stillstand verharrte – oder doch nicht? Der Blick vom Bahnhof-Balkon zeigt, dass mit dem Blickwechsel auch eine völlig neue Sicht auf die Dinge zum Vorschein kommen kann. Wir sehen Züge, wie sie ein und aus fahren, folgen ihnen gedanklich und bemerken, wie sich dieses Schienennetz immer weiter zieht und erkennen, wie weitreichend diese Welt eigentlich vernetzt ist. Die Ruhe und hoffnungsvolle Stimmung in Bahnhof-Balkon vermitteln uns, dass wir letztendlich durch die vielen technischen und digitalen Errungenschaften unserer Zeit gar nicht so isoliert sind, wie wir vielleicht im ersten Moment denken.

Franziska Holbach, Bahnhof-Balkon, 2020.

Franziska Holbach

Franziska Holbach studiert Mathematik und Philosophie im Master of Education an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz sowie Kunst in der Zeichenklasse bei Megan Francis Sullivan an der Kunsthochschule Mainz. Sie interessiert sich besonders für die vielfältigen Erscheinungsformen der Linie und versucht in ihren Arbeiten vor allem zeichnerische Ausdrucksformen für non-hierarchische Strukturen und Vernetzungen zu finden.  

Buchantwort – Pirmin Wollensak

Die Arbeit Buchantwort geht auf eine langjährige Auseinandersetzung mit Deniz Yücel zurück. Der Journalist war wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda fast ein Jahr lang in Untersuchungshaft in der Türkei. Seine Erfahrungen publizierte er 2018 in dem Buch Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Pirmin Wollensak baute bereits für seine Masterarbeit die Zelle Yücels im Maßstab 1:1 nach. Bei einer Lesung begegneten die beiden sich persönlich. Yücel hinterließ eine Widmung in Pirmin Wollensaks Ausgabe. Buchantwort ist die daraus resultierende E-Mail an den Autor und Aufarbeitung des Künstlers. Die Arbeit zeigt die mehr oder weniger lose beziehungsweise intensive Verbundenheit der beiden Personen und ihrer Werke auf sprachlicher wie visueller Ebene. Eine Antwort gab es nicht.

Hallo Deniz, 

ich schreibe dir, weil du deine Emailadresse auf meinem Buch hinterlassen hast. Ich bin der junge Herr aus Stuttgart, der sich die komische Signatur „Für Pirmin und seine Zelle“ gewünscht hatte. Du hast sie mit dem Zusatz „(welche eigentlich meine wahr[sic])“ unterschrieben. 

Ich schreibe dir so spät, weil ich zuerst dein Buch lesen wollte, um noch mehr über deine Haft und deine Geschichten zu wissen, bevor ich dich mit meiner Geschichte überrumple. Außerdem bin ich durch meinen Beruf während des Corona-Lockdown nicht weiter dazu gekommen diesen Text zu komplettieren – ich wünsche dir ein schönes 47. Lebensjahr: 

Mein Name ist Pirmin Wollensak und ich habe Architektur in Weimar, Tokyo und Stuttgart studiert. Während meines Masters beschäftigte ich mich immer mehr mit Kunst am Institut für Darstellen und Gestalten (idg) an der Fakultät für Architektur an der Uni Stuttgart. Nach einer intensiven Beschäftigung mit dem 1:1 und einem Praktikum in einem Atelier in Rotterdam (S. 1), beschloss ich meine Masterarbeit als einen Abschlussstein meiner Universitätslaufbahn unter dem Titel o.T. (Epitaph) anzumelden. Schon diese Handlung war im Zeichen meiner Masterarbeit und zu Arbeitsbeginn hatte ich einen Ofen (S. 2) gebaut für die Architekturmodelle meines gesamten Studiums. Ich verbrannte die Modelle; es war wahrhaftig ein Abschluss und zugleich ein Neubeginn. 

In diesem Ofen fing ich dann an die ersten Überlegungen für meine Masterarbeit zu konkretisieren. Ich baute eine Plastik für den heiligen Sebastian (S. 3) um zu veranschaulichen, dass sich die Axiome des Modellbaus schon an der Dicke einer Tischplatte – oder eben einem Stahlrohr und einem Stahlblech – verstehen lassen. 

Kurz darauf bohrte ich heimlich eine Serie von Löchern durch den gesamten Brandschutzabschnitt meines Ateliers, ich verband 6 Räume mit 5 Löchern und fasste diese mit Aluminiumrohren. Damit sie nicht weiter auffielen, verdeckte ich sie mit Steckdosenabdeckungen. Es war in gewisser Weise der Gegenpol zum Sebastian am anderen Ende der Maßstäblichkeit, denn das optische Wahrnehmen so einer Arbeit ist schlichtweg nur im 1:1 möglich.

Als sich die Frage stellte, was ich darüber hinaus analysieren würde, begann ich zu hadern… ich wusste, dass es eine raumgroße Arbeit sein musste, aber wusste nicht welcher Formulierung ich diesen Rang zusprechen sollte. Nur eine künstlerische Form hätte nicht genügt. Ich hatte bei Porsche angefragt, ob ich das lehrstehende Gebäude der ZEG (S. 4) in Stuttgart(-Zuffenhausen) mit einer Gordon-Matta-Clark-ähnlichen ‚Hausverschnitt‘-Arbeit bespielen dürfte, aber bekam auf Grund der begrenzten personalen Kapazität eine Absage.

Es war eines Abends, als mir mein Vater – der mir sonst auch oft Artikel aus dem Feuilleton der Welt zum Thema Architektur gibt – den Artikel zum 300. Tag deiner Verhaftung in die Hand drückte. 

Ich war sofort angerührt und riss mir den Grundriss deiner Zelle von der Titelseite ab. Ich entnahm nur die Zeichnung und den Artikel, denn ich wollte ihm nicht die ganze Zeitung abknüpfen. Nach einiger Recherche und Überlegung zeichnete ich deinen Grundriss nach, um die Zelle in 1:1 nachzubauen. Ich war fasziniert von der Vorstellung, dass du in deiner äußerst prekären Situation dazu kamst, den Grundriss deiner Zelle per Hand zu zeichnen. Ich wollte wissen, wie es wohl sei, die Dimension der Zelle physisch nachzuvollziehen. 

Ich stellte eine Anfrage an die Universität, ob ich die Zelle auf dem Campus an dem Jahrestag deiner Verhaftung ausstellen dürfe. Ich schrieb der Welt und gab ihnen über mein Vorhaben Bescheid, fragte nach redaktioneller und ggf. finanzieller Hilfe.

Für mich war die Zelle eine Studie im Rahmen meiner Masterarbeit, aber darüber hinaus auch eine grunddemokratische Geste, von welcher Aussage ich mir sicher war: Die Pressefreiheit ist eines der höchsten Güter unserer Demokratie. Die Meinungsfreiheit ist auch dafür da, um Leuten genau das zu sagen, was sie nicht hören wollen. 

Während ich auf die Antwort von der Welt wartete, meldete sich die Uni. Ein Mitarbeiter des Hörsaalmanagements sagte zu und stellte die Bedingung zum Einhalten der Landesbauordnung, allgemeiner Formalitäten und Zustimmung der Nachbarn. Ja, das war die offizielle Position der Universität für 43 Minuten, aber dann meldete sich der Leiter des Hörsaalmanagements per Email und selbst nach späteren Telefonaten mit dem Rektor war klar: „Die Universität Stuttgart als Ort der Wissenschaft und Forschung ist zur politischen Neutralität verpflichtet. Diese Vorgabe steht im Gegensatz zu Ihrem [meinem] Wunsch, die Zelle öffentlichkeitswirksam auf den Flächen der Universität Stuttgart zu positionieren.“ 

Ich berichtete der Welt über die veränderten Gegenheiten, doch bekam keine Rückmeldung. 

Frustriert über die Absage der Universität und das Auslassen einer Antwort der Redaktion, führte ich den Bau meiner Zelle weiter. Eigentlich hatte sich ja nichts für mich und meine Arbeit geändert. Vielleicht geriet mein Glaube an Institutionen ins Wanken, aber das war eben nicht von Relevanz. Ich bin Bildhauer/Student/Architekt einer freien demokratischen Ordnung und hatte mich dafür entschieden ein Manifest zu präsentieren, dies konnte mir keiner verwehren. 

Die Luft war natürlich trotzdem ein bisschen raus, denn ich hatte ja keinen Ausstellungsort mehr, also noch nicht einmal für meine gesamte Masterarbeit (den Ofen und alles was folgen würde). Ich haderte mit mir selbst und wusste nicht, ob die Redaktion mein Schaffen als zu opportun gesehen hatte und ich deshalb keine Antwort auf meine Schreiben bekam. 

Am Valentinstag saß ich in der fast fertigen Zelle in meinem Atelier, las dein Buch Wir sind ja nicht zum Spaß hier und fragte mich, wie lang’ du noch in Haft sein würdest. Ich wollte wissen, wie es ist im Nachbau deiner Zelle zu sein und zu denken, dass du in einem gleich großen Raum zur selben Zeit sein würdest. 

Als du am 16. Februar freikamst, fragte ich mich, wie sich die Arbeit nun verändert hatte. Ich stellte fest, dass die Zelle ein essentieller Teil meiner Masterarbeit geworden war. Nicht nur physisch, sondern auch in dem, wie sich meine Situation entwickelt hatte und ich wusste, dass ich sie fortentwickeln müsste. 

Ich suchte nach einem geeigneten Ausstellungsort, betätigte Anfragen an die Stadt Stuttgart, Galerien und andere Orte für die Präsentation meiner Masterarbeit. 

Nach der Absage für die Ausstellung der Zelle im öffentlichen Raum der Stadt Stuttgart (S. 6), war ich doch sehr enttäuscht. Ich empfand es als eine Absage der Bildhauerei gegenüber, denn ich kannte ja eigentlich die Einnahme des öffentlichen Raums durch die wöchentlichen Proteste der Kurden und der Stuttgart21-Gegner. Der Meinungsfreiheit gegenüber ein ‚Ja‘, der Kunst gegenüber ein ‚Nein‘ (so fühlte sich das an). Die Masterarbeit lehrte mich viel über öffentliches Recht und Demokratieverständnis. 

Als letzten Teil meiner Masterarbeit widmete ich Josef Süß Oppenheimer ein Monument. Oppenheimer war ein erstes Opfer des Antisemitismus, man ließ ihn 1738 in Stuttgart vom Volk erhängen, als der katholische Herzog Karl Alexander an einem Lungenödem verstarb. Sein Fall wurde unter den Nationalsozialisten im 1940 Film Jud Süß als Vorbild für den typischen, geizigen und volksverräterischen Juden. Ich stelle keine Anfrage für die Ausstellung dieses Käfigs an die Stadt, denn obwohl die Stadt schon seit Jahren nach einer Verschönerung des Josef-Süß-Oppenheimer-Platzes suchte, wusste ich nun, warum es der Stadt noch nicht gelungen war. 

Für die Abschlusspräsentation brachte ich meine Werke als räumliche Aphorismensammlung auf das Werksgelände der Baufirma Gustav-Epple in (Stuttgart-)Degerloch. Es war ein Zufall, dass die Firma ihr Hauptgebäude abreißen wollte und dieses leer stand. Es war ein Zufall, dass ich jemanden kannte, der das wusste und mir die Möglichkeit geboten wurde allen Werken überdacht genügend Raum geben zu können. Ein Loch im Dach ließ es auf die Zelle herabregnen, bei der Präsentation hatte sie schon Flugrost gefangen. 

Am Abend vor meiner Abgabe fertigte ich die letzten Züge der beiliegenden Dokumentation an, welche ich auch in dem Gebäude in einem Nebenraum präsentierte. Der Rundgang meiner Präsentation sollte dort enden und, um einfach in den Raum zu gelangen, nahm ich mit einem Freund ein Stück aus der Wand: eine Hommage an Gordon Matta Clark (S. 7), das letzte Stück Bildhauerei der Masterarbeit. 

Für die Absolvent:innenfeier schlug meine Professorin vor, dass man meine Arbeit nicht in dem Uni-Hauptgebäude (Keplerstraße 11) zeigen sollte, sondern vor den Ateliers, wo ich eingangs auch die Verbrennung meiner Architekturmodelle vorgenommen hatte.

Ich transportierte die einzelnen Arbeiten zurück an die Uni und der Flugrost deiner Zelle breitete sich aus. Ich entnahm Scheiben aus dem Hauptgebäude der Firma Gustav-Epple, um die Dokumentation auch draußen zu präsentieren. Ich war immer noch ein Außenseiter, aber wenigstens hatte ich es auf den Campus zurück geschafft. Um ehrlich zu sein, bin ich mir gar nicht sicher, wie viele Leute wirklich die Arbeit gesehen haben und große Werbung konnte und wollte ich wirklich nicht machen. 

Die Anerkennung kam durch die unabhängige Jury, welche den jährlichen Absolvent:innenpreis vergibt. Sie richteten in diesem Jahr einen Sonderpreis ein, nur für die Arbeit (https://www.architektur. uni-stuttgart.de/aktuelles/preise-auszeichnun- gen/studierende/winter-201819/#link523). 

Ich denke, sie haben das eigentlich nur wegen der Zelle gemacht, ich bin gespannt, was du darüber denkst. 

Ich wünsche noch einen angenehmen Abend, feierliche Grüße,

Pirmin * 

* Der Text wurde von der Redaktion in Absprache mit dem Künstler angepasst; sowohl die Seitenzahlen, als auch die Rechtschreibung wurden korrigiert; außerdem wurde gegendert.

Biografie

Pirmin Wollensak

Pirmin Wollensak studierte Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar, der Waseda-Universität in Tokyo und der Universität Stuttgart. In seinem Masterstudium in Stuttgart spezialisierte er sich auf das Themenfeld Kunst und Architektur. Dort unterrichtet er mittlerweile Bildhauerei und arbeitet nebenbei als Schreiner und Architekt. Schwerpunkte seiner künstlerischen Praxis sind Selbstreflexion und -entlarvung. Die Conditio Humana spannt einen Bogen zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und künstlerischer Narrenfreiheit. Seine Arbeitshaltung bezeichnet er gerne als Scharlatanerie (ital. ciarlare, reden) und sieht sein Œuvre als eine moderne Kabale.

You are your own prison, my dear – Lena Keller

In der jetzigen Zeit erfahren wir Isolation als einen von außen auferlegten und notwendigen Zustand. Dieser Zustand bringt für jede:n von uns neue Erfahrungen, sowohl positiv als auch negativ, zwingt unweigerlich zu einer Beschäftigung mit uns selbst. Doch wie steht es um Menschen, denen Isolation nicht fremd und neuartig, sondern ein selbst erwählter Zustand ist?

Lena Keller führt uns in ihrer vierteiligen Arbeit sehr eindrücklich und intim vor Augen,  wie sich die bewusste Selbstisolation auf den psychischen Zustand und das soziale Verhalten eines Menschen auswirken kann.

Lena Keller, you are your own prison, my dear, 2020
Lena Keller, you are your own prison, my dear, 2020
Lena Keller, you are your own prison, my dear, 2020
Lena Keller, you are your own prison, my dear, 2020

Biografie

Lena Keller

Lena Keller studiert Kunst und Kunstvermittlung an der Universität Paderborn und ist Mitglied im Naturtrüb Kollektiv, einer feministischen Vereinigung von Illustratorinnen und Wissenschaftlerinnen in Bielefeld. Als Künstlerin legt Lena sich auf kein bestimmtes Medium fest und arbeitet sehr frei in der Mixed-media art. Sie interessiert sich vor allem für die Abgründe des menschlichen Innenlebens, welche psychischen Zustände oder emotionalen Vorgänge sie verursachen und wie diese zu Abweisungen der Menschen untereinander und in der Gesellschaft führen können. 

苦盡甘來 (gojinkamle) –Garyung Kim

Ein geometrischer Tisch, eckig und gläsern, gibt den Blick auf einen organisch geformten Baum im Inneren frei. Die stählernen Streben des Tisches stehen im Widerspruch zu den amorphen, aus Kupfer geformten Ästen des Baumes, bilden jedoch in ihrer Gesamtheit eine Einheit.

So wie der Spross durch den Zementboden scheinen die Äste des im Glaskasten wurzelnden Baumes ebenfalls die gläserne Hülle zu durchbrechen und an der Oberfläche ihre goldenen Früchte zu entwickeln. Die sprachliche Wendung findet hier ihre künstlerische Bildhaftigkeit. Isoliert und von seiner Außenwelt abgeschlossen entwickelt der Baum Kräfte, die ihn seine umgebende gläserne Hülle sprengen lassen und ihn nach der Bitterkeit der Isolation die Süße der Freiheit kosten lassen.

Die Stärke des Baumes, der es schafft, sich aus seiner Abgeschiedenheit zu befreien, soll Menschen ermutigen, die selbst die Erfahrung des Alleinseins und der Isolation gemacht haben. Gerade zu Zeiten der Pandemie, die viele Menschen gezwungen hat, sich zu isolieren und sich mit Gefühlen der Einsamkeit zu konfrontieren, soll der Baum vor Augen führen, dass es nicht aussichtslos ist nach einem Weg aus der Abgeschiedenheit zu suchen.

Garyung Kim, 苦盡甘來 (gojinkamle), 2020 © Garyung Kim

Biografie

Garyung Kim

Garyung Kim studiert im Master Bildende Kunst an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. Sie hat ihren Bachelor an der Sungshin Women’s University in Seoul gemacht und dort ihren Schwerpunkt auf Metallarbeiten und Kunsthandwerk gelegt. Ihr Interesse sowohl an der Arbeit mit Metall als auch am Design zeigt sich an der Ausführung verschiedenster Möbelstücke, die sie in einen künstlerischen Raum überführt. Bei ihrer aktuellen Arbeit setzt sie sich mit 3-D Prints auseinander.

Isolation, 2020 – Adiella Bachshe

Die digitale Arbeit zeigt menschliche Figuren, die in Embryonalstellung in einem Tablettenblister eingeengt sind. Damit verleiht sie gleichzeitig der medizinischen Notwendigkeit der Isolation, wie auch den damit einhergehenden Gefühlen der physischen Bedrängnis durch die soziale Distanz, Ausdruck. Sie arbeitet mit der Kombination gesättigter Komplementärfarben und verwendet Texturen, welche die Oberfläche ihres Bildes verzerren. 

#1 isolation Adiella Bachshe

Adiella Bachshe

Adiella Bachshe studiert Kommunikationsdesign an der Hochschule München. Prägend für ihre Arbeit ist die Beschäftigung mit Einflüssen visueller Konzepte und der Popkultur auf den Alltag. Die daraus resultierenden Ideen setzt sie sowohl in analogen wie auch digitalen Medien um. Für ihre Bachelorarbeit verbindet Adiella ihr Interesse an der Mode mit den visuellen und technischen Möglichkeiten der 3D Modellierung, um sich mit der komplexen Beziehung zwischen Mensch und Maschine auseinanderzusetzen.

#1 Editorial

Issue #1 Isolation, 2020

Liebe Leser:innen,

in einer Zeit, wie dieser, in der wir uns von einer Ungewissheit in die nächste stürzen und uns neuen Herausforderungen gegenüber sehen, gilt es die Potentiale, die Veränderungen mit sich bringen zu entdecken und auszuschöpfen. frame[less] ist aus dem Wunsch entstanden, genau dieses Reservoir an Möglichkeiten zu nutzen und dabei Verbindungen zu erschaffen, die oftmals durch starre Rahmen und Konzepte verborgen bleiben. Als digitales Magazin für Kunst in Theorie und Praxis ist es unser Anliegen einen fruchtbaren Nährboden zu kreieren, auf dem sich vermeintlich distinktive Konzepte gegenseitig beeinflussen können. Dabei ist es der digitale Raum, der uns zur Verfügung steht und den wir nutzen wollen, um diesen Austausch anzuregen. frame[less] möchte eine Plattform bieten, die im Gegensatz zum klassischen Bilderrahmen keine Abgrenzung erzeugt, sondern einen, der permeabel ist und immer wieder gesprengt und neu zusammengesetzt werden kann. Deshalb freuen wir uns euch unsere erste Ausgabe präsentieren zu können, die mittels verschiedener Positionen von Künstler:innen und Autor:innen einen offenen Rahmen entstehen lässt, den es aus unterschiedlichen Perspektiven zu durchblicken gilt. 

Kein Thema erschien uns für diese Ausgabe naheliegender und passender als — die Isolation. Sie begegnet uns überall: Zuhause, am Telefon, im Supermarkt, vor geschlossenen Ausstellungshallen und wieder Zuhause. Aber sind daraus nicht auch innovative Formate entstanden? Hat die Kultur als Vorreiter für Neues und Mutiges etwa keine kreativen Formen gefunden den digitalen und analogen Raum zu bespielen? Der Rückwurf auf sich selbst als Individuum, aber auch der Wunsch nach Gemeinschaft sowie ein durch die Menge Raunen der Solidarität hat Beträchtliches entstehen lassen. Isolation hängt immer mit einer gewissen Spannung zusammen, außer man befindet sich in einem Zustand der vollkommenen Kontemplation. Isolation besteht nie alleine, ständig steht sie in Wechselwirkung mit dem Außen, sozialen Gefügen aber auch mit dem Selbst.

Das Heft nähert sich dem Thema interdisziplinär, mittels unterschiedlicher Medien und beleuchtet verschiedenste Aspekte der Isolation – sowohl Negative als auch Positive, wenn nicht gar Hoffnungsvolle.

Wir eröffnen diese Ausgabe mit einem Blick auf ein sich weit verzweigendes Netz aus Schienen, das trotz allem ein Gefühl der Verbundenheit hervorruft. Treffen dann innerhalb der Bildwelten Angelo Morbellis auf Szenarien in Pflegeheimen, die für die aktuelle Situation nicht sprechender sein könnten, jedoch aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts stammen. Tagebucheinträge aus dem Lockdown geben uns intime Einblicke und thematisieren Körperlichkeit und Identität. Aspekte sozialer Gefüge im öffentlichen Raum, mangelnde Inklusion – schon vor der Pandemie – und Erinnerungen an Schaumparties werden verhandelt. Nicht nur der Blick auf vergangene Aktionen hat sich verändert, auch die Rezeptionsästhetik bereits bestehender Kunstwerke, wie die Francis Bacons, hat einen Wandel erfahren. Auch die Betrachtung leerer, nächtlicher Straßenzüge bleibt für uns nicht ohne Bedeutung und wird zur Dokumentation unserer Zeit. Eine Stimme ist zeitlos, sie nimmt uns mit. Wir werden zu handlungsunfähigen Zuhörenden. Mit dem Zuhause-Sein rückt auch der Wohnraum in den Fokus: Die Architektur umschließt uns, digitale Geräte werden das Portal zur Außenwelt und ersetzten die Türen. Betrachten wir jedoch das Schlafzimmer von Adolf Loos‘ Ehefrau, wird in der Gestaltung des Raums explizit ein Gefühl der Isolation erzeugt. Wiederum so nah und intim kann die Sprache von Foto- und Videografie sein, wenn öffentliche und private Architektur gegenübergestellt und Bedürfnisse artikuliert werden, die durch die Einschränkungen unerfüllt bleiben. Gemälde von Patrick Angus zeigen die Ambivalenz sozialer Kühle in menschenbefüllten Veranstaltungsräumen. Kontakt ist jenes Element, das die Isolation auflöst. Manche solcher Kontaktanfragen bleiben aber unbeantwortet. Während Stahlkonstruktionen dazu gemacht sind Menschen oder Dinge einzusperren, ist es nur umso hoffnungsgebender, wenn etwas aus so einer Zelle herauswächst oder zumindest ein kleines Signal sendet. Und ist das dann überhaupt noch eine vollkommene Isolation? An einem Historiengemälde des 18. Jahrhunderts entdecken wir, dass die Isolation auch als Mittel zur Hierarchisierung genutzt werden kann.

Sprengt den Rahmen!

Euer frame[less]-Redaktionsteam