Naturdenkmäler und Biosphärenreservate: Über die Aura der Naturikonen, 2023 – Nari Sarmini

Natur und Kultur wurden lange Zeit in einem dualistischen Verhältnis zueinander gedacht. Welche Auswirkungen ergeben sich jedoch daraus, wenn man sie als ineinander zahnende, sich gegenseitig bedingende Komponenten betrachtet? Nari Sarmini versucht in einem essayistischen Gedankenexperiment die meist personenspezifische Konnotation von Ikonen auf unter Naturschutz gestellte Naturdenkmäler zu übertragen. Sie geht dabei der Überlegung nach, ob die Wahrnehmung der Naturstätten als ikonische Orte deren Schutz bedingen und inwiefern vermeintlich förderliche Maßnahmen auch politisch orientiert sein können.   

Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter einer Ikone meist eine Person, die aus verschiedenen Gründen — sei es ihr Auftreten, ihr herausstechender Charakter, ihr Schaffen und ihre Errungenschaften — ein erstrebenswertes Ideal für eine bestimmte Gruppe repräsentiert und damit viel Ansehen und Verehrung erfährt. Eine personenspezifische Form der Ikonisierung soll nicht Thema dieses Essays sein, auch wenn sie wichtig ist, um einen ersten Anhaltspunkt zur weiteren Auseinandersetzung mit dem von mir behandelten Sujet zu geben und ein erstes Gefühl für das zu bringen, was eine Ikone in einem Individuum auslösen kann. Im folgenden Text möchte ich mich der Idee widmen, wie es um die Ikonisierung von Naturelementen steht. Hat die Verehrung von Naturgebilden einen Mehrwert für den Menschen sowie den Planeten? Der Essay ist als ein Gedankenexperiment zu verstehen, das versucht, überholte Naturkonzepte zu sprengen und ein progressiveres Naturverständnis zu präsentieren. Dabei soll keinerlei Anspruch auf konkrete Vorschläge zur ‚Lösung‘ der ökologischen Krise erhoben, sondern vielmehr die Reflexion des jetzigen Istzustands aus einer Menschenperspektive gefördert werden.

Als Kunsthistorikerin möchte ich den Begriff der Ikone zunächst aus einer fachlichen Perspektive ableiten, nämlich vom Stand- bzw. Heiligenbild, das in der Liturgie der Ostkirche für die kultische Verehrung von Heiligenfiguren zur Verwendung kommt. Mit derselben Bedeutung wurde das Wort im 19. Jahrhundert aus dem Russischen икона (ikona) ins Deutsche übernommen; letztlich geht es allerdings auf das griechische Wort für ‚Bild(nis)‘ — εἰκών (eikōn) — zurück. Die Bildikone ist dementsprechend eine Tautologie, bringt dennoch das Herausstechen bestimmter Medienträger aus der heutigen Bilderflut und deren Einbrennung in ein kulturell spezifisches, kollektives Gedächtnis zum Ausdruck.

Walter Benjamin bezog die einzigartige Präsenz von Ikonen in ihrer religiösen Bedeutung auf eine eigensdefinierte ‚Aura‘. Er verband die visuelle Reizüberflutung, welche durch die Möglichkeit zur Vervielfältigung von Kunstobjekten (vor allem in Film und Fotografie) und der damit einhergehenden Ortsungebundenheit entfacht wurde, mit dem Verlust einer bestimmten Mystik, die von der Authentizität eines Einzelbildes ausgeht, wie es den orthodoxen Ikonen zugesprochen wird. Er illustrierte dieses fast übersinnliche Ambiente, welches solch ein Objekt in seiner Umgebung schafft, auf folgende Art: 

Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese [Aura] definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft — das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.1

– Walter Benjamin

Wie aus dem Zitat zu entnehmen ist, leitet Benjamin seine Umschreibung der Aura interessanterweise von der ‚unbelebten’ Natur ab. Er appliziert das Gefühl bei Anbetracht eines Gebirges, welches aufgrund seiner Wucht und Enormität unnahbar erscheint, auf klassische Kunstwerke wie beispielsweise von Rembrandt. Beide als Beispiele herangezogene Objekte sind in ihrer Existenz einzigartig; ihnen ist an erster Stelle eine räumliche Singularität inhärent. Aber auch auf einer zeitlichen Axis sind sie in dem Sinne ephemer, da sie in einem unmittelbaren Moment erfahren werden müssen, also nicht kontinuierlich abgerufen werden können, so wie digitalisierte Inhalte. Demnach existiert die Aura eines authentischen Kunstwerks für die Betrachtenden lediglich innerhalb eines bestimmten Augenblicks, der in seiner Singularität nicht reduzierbar ist. Benjamin zieht daraus die Konsequenz, dass dieser metaphysische Moment bei der Reproduktion von Kunstwerken verloren gehe. Wie sieht es aber mit dem Verfall der Aura bei natürlichen Objekten wie einem Gebirgszug, einem Berg, einem Fluss oder einem Baum aus?

Abbildung hergestellt mit dem KI-Programm DALL•E; Variation aus folgender Eingabe: „a romantic painting of a mountain that has a certain aura”. 

Wenn die Aura des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit verfallen würde, dann würde die Aura des Naturwerks aus einem ähnlichen Grund zerstört werden: Technologische Errungenschaften führen einerseits zu einer Verbesserung der Lebensumstände vieler Menschen, andererseits bewirken sie neben der Ausbeutung von Natur auch einen Wahrnehmungsverlust in ihrer grundlegenden Wichtigkeit und Wertschätzung. Der urbane Mensch kennt ‚Natur‘ primär als etwas Zähmbares und Nützliches — ihre Erzeugnisse werden im Supermarkt gekauft oder als Dekor ins Wohnzimmer oder in den Garten gestellt. In der Gegenwart wird anhand technischer Mittel eine Beziehung mit der natürlichen Umgebung eingegangen, welche einseitig und extraktiv ist. Natur wird als unbelebter, passiver Projektionsraum verhandelt, der zu Gunsten des Menschen existiert. Als invasive Spezies hat der homo sapiens sapiens das gesamte Ökosystem des Planeten durchdrungen: Seine materielle Präsenz — damit ist der menschliche Körper selbst, genauso wie seine Verlängerung in Form von technischen Erzeugnissen gemeint — ist selbst an Orten nachweisbar, die erst kürzlich ‚entdeckt’ wurden und erforscht werden.2

Die Illusion einer vom Menschen unberührten Natur scheint mir heute persistenter als die Illusion der Unbegrenztheit von Ressourcen zu sein. Es gibt keine freie Wildnis, keine unbefleckte Landschaft; selbst wenn der Mensch körperlich nicht präsent ist, so sind es seine (Abfall-)Produkte. Er ist dem, was er von sich gesondert unter Natur versteht, sehr nahgekommen und hat sich zugleich — paradoxerweise — stark von dieser entfremdet. Auf diese Weise ist es möglich, dass sich eine Spezies in einer so extremen Art von ihrem Dasein distanziert, dass es zum Verlust von Biodiversität, Artensterben und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zur Ausrottung seines Selbst führt. In der Realität sind wir nämlich der Natur nicht nur sehr nah, sondern mit ihr verflochten. Die Natur ist keine Umgebung, die wir bewohnen; sie ist die Grundlage für unsere Existenz.

Ein ausschlaggebender Punkt mag der Drang des Menschen sein, seine Umgebung zu formen bis hin zu kontrollieren — motiviert von lebenssichernden Notwendigkeiten, aber genauso auch aus der Lust heraus, etwas zu kreieren, seine Handschrift in etwas zu hinterlassen. Darunter fällt aus meiner Perspektive all das, was grob als ‚Kultur‘ bezeichnet wird. Die Kreation von Bau- und Kunstwerken mag aus verschiedenen Gründen ein essentieller Baustein in sozialen Strukturen sein: kommunikative und/oder religiös-spirituelle Zwecke oder auch der Ausdruck von Kollektivität wie auch von Individualität treten hier zutage. Am Beispiel der christlichen Ikone lässt sich das gut vorführen: Sie ist ein aus Menschenhand gefertigtes Bild, das in den Glaubensritus eingebunden ist und neben seiner transzendentalen Wirkung auch soziale Aspekte wie die Festigung einer religiösen Gemeinschaft fördert. Manche bedeutende kulturelle Erzeugnisse wie Bauwerke, Monumente, Artefakte, Reliquien, Kunstwerke etc. besitzen einen erheblichen Stellenwert in der Menschheitsgeschichte und weisen darum ikonischen Charakter auf. Über den immateriellen Wert eines solchen kulturellen Erbes mögen die meisten übereinstimmen. Doch teilt man dieselbe Wertigkeit auch über das Naturerbe?

Bei Walter Benjamins Auffassung von Natur und Kunst handelt es sich um eine einseitige Beziehung zwischen der vom Objekt ausgehenden Aura und den Subjekten, die eine solche augenblicklich empfangen. Es ist eine dezidiert anthropozentrische, rezeptionsästhetische Erfahrung.

Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“3

– Walter Benjamin

Der Fokus liegt hier auf dem menschlichen Subjekt, das die Wirkung seiner Umgebung empfängt und erst dann mit und in ihr agieren kann. Dass sich Benjamin für die Umschreibung der Aura von Kunstwerken an Naturphänomenen orientiert, ist dahingehend bedeutungsvoll, da er keine herkömmliche Trennung zwischen dem, was als Natur bezeichnet wird, und dem, was unter Kultur verstanden wird, vollzieht.4 Die Dichotomie ist bei Benjamin sehr wohl vorhanden, in Bezug auf die Aura allerdings nicht, da diese auf Beides applizierbar ist. Genauer gesagt überträgt er das Gefühl, das der Anblick eines Gebirges evozieren kann, auf jenes, das bei Anbetracht eines authentischen Kunstwerks hervorgebracht wird. Wie stünde es aber um den Naturgegenstand, wenn man umgekehrt vorginge, also die Verehrung, die Kunstwerke heute erfahren, auf diesen übertragen würde? Was für Effekte hätte die Ikonisierung von Naturobjekten auf den menschlichen Umgang mit diesen?

Ich nehme dafür das Naturdenkmal als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Denkmäler und Monumente im Allgemeinen sind ein klassisches Beispiel für all das, was man eigentlich im Bereich der Kultur verortet. Sie repräsentieren im traditionellen Sinne eine bestimmte Person oder ein geschichtsträchtiges Ereignis und werden an einem spezifischen Ort errichtet, der mit dem jeweiligen Inhalt in Verbindung gebracht wird. Naturdenkmäler beziehen sich auf natürliche Landschaftselemente, die durch ihre Schönheit oder Seltenheit als schützenswert gelten. Diese können zum Beispiel einzelne Felsnadeln oder Bäume, Höhlen oder auch größere Gebiete mit klaren Abgrenzungen von ihrer Umgebung, wie Wiesen, sein.5

Naturdenkmäler zeichnen sich oft durch einen unmittelbaren ästhetischen Zugang aus. Auf eindrucksvolle Naturgebilde aufmerksam zu werden steht oft am Anfang einer tiefergehenden Beschäftigung mit der Natur. Ein wesentlicher Denkansatz ist die Betrachtung eines Naturdenkmals als Kulturdenkmal dort, wo menschlicher Einfluss für die Manifestation des Naturdenkmals verantwortlich gewesen ist.6

– Stadt Wien

In jedem Fall liegt das Hauptziel in der Bewahrung der natürlichen Elemente, sprich im Naturschutz. Dies ist allerdings nicht mit der Bewahrung des ansäßigen Ökosystems gleichzusetzen, auch wenn indirekt die Biodiversität davon profitieren kann. Naturdenkmäler werden in Österreich von den Bezirksbehörden verwaltet, in Deutschland macht dies der Bund.7 Sie sind dahingehend sinnvoll, weil damit auch Privateigentümer:innen zur Erhaltung eines bestimmten Naturobjekts verpflichtet sind. Wie aber aus dem Zitat zu entnehmen ist, spielt der ästhetische Zugang zu diesen Naturgebilden eine wesentliche Rolle bei der Deklaration zum Denkmal. Auch handelt es sich bei Naturdenkmälern nicht immer um natürlich entstandene Gebilde. Es werden auch vom Menschen kreierte Landschaftselemente wie (historische) Zeugnisse einer Kulturlandschaft zum Naturdenkmal erklärt.8

Die Dichotomie von Natur und Kultur wird bei den Begriffspaaren ‚Naturlandschaft/ Kulturlandschaft‘ wieder deutlich, wenn auch gleichzeitig für obsolet erklärt. Denn die unklare Trennung in dem, was letzten Endes zu einem Naturdenkmal erklärt werden kann, zeigt den Anachronismus in solch einem binären Verständnis von Natur und Kultur, vor allem, weil umgekehrt keine Naturgebilde zu Kulturdenkmäler erklärt werden. Nichtsdestotrotz wird nochmal deutlich, dass die Natur keine homogene Einheit ist. Manche Elemente der Natur entstehen durch gezieltes Einwirken des Menschen, also ausschließlich unter seinem Einfluss. Dies ist nicht immer negativ zu werten; es gibt viele Fälle, in denen dies positiven Nutzen für den Menschen wie auch für die ökologische Nische bringt, wie am Beispiel der Wiese festzustellen ist.9

Manchmal werden Naturgebilde gerade aus dem Grund zu Denkmälern erklärt, weil sie aufgrund ihrer Einzigartigkeit (und man könnte hier mit Benjamins Worten auch von ihrer Aura sprechen) viele Besucher:innen anziehen. Hier spielt wieder der Begriff der Ikone eine Rolle, denn ähnlich wie bei kultischen Ikonen erfahren diese Naturwerke auch eine Art von Verehrung. Ein positiver Effekt, der mit der Ikonisierung von Natur einhergeht, ist das steigende Interesse und die daraus resultierende profunde Beschäftigung mit der Umgebung sowie der Erhaltung des Naturwerks.10

Eine anerkannte Organisation, die weitgehend global zu agieren versucht und den Naturschutz verfolgt, ist die UNESCO. Ihre konventionellen Richtlinien vollziehen einerseits eine Trennung zwischen dem Kultur- und Naturerbe, weisen aber darüber hinaus Kulturlandschaften als eigene Kategorie aus, welche insgesamt genauso als Welterbe angesehen und gleichwertig vom Komitee verwaltet werden.

Cultural landscapes inscribed on the World Heritage List are cultural properties and represent the ‚combined works of nature and of man‘ designated in Article 1 of the Convention. They are illustrative of the evolution of human society and settlement over time, under the influence of the physical constraints and/or opportunities presented by their natural environment and of successive social, economic and cultural forces, both external and internal. […] The term ‚cultural landscape‘ embraces a diversity of manifestations of the interaction between humankind and the natural environment. Cultural landscapes often reflect specific techniques of sustainable land use, considering the characteristics and limits of the natural environment they are established in, and may reflect a specific spiritual relationship to nature. Protection of cultural landscapes can contribute to current techniques of sustainable land use and can maintain or enhance natural values in the landscape. The continued existence of traditional forms of land use supports biological diversity in many regions of the world. The protection of traditional cultural landscapes is therefore helpful in maintaining biological diversity.11

– Operational Guidlines for the Implementation of the World Heritage Convention

So können Naturreservate genauso als kulturelle Landschaften gesehen werden, da sie vom Menschen so gepflegt werden, dass sie einem erwünschten Zustand entsprechen. Sie werden von Menschen kultiviert und kontrolliert, auch wenn sie nicht bewohnt und/oder bewirtschaftet werden. Eine problematische Haltung, wie sich in der Geschichte der USA spätestens mit dem Wilderness Act 1964 zeigt, im Zuge dessen indigene Bevölkerungsgruppen von ihrem Lebensstandort vertrieben worden sind.12 Die Annahme, dass Naturschutz mit der Entfernung des Menschen von der zu schützenden Umgebung einhergeht, unterstützt die Aufrechterhaltung der Illusion, dass die Natur es ‚besser ohne uns’ hätte oder wie man es manchmal auch gerne hört, die Natur erst ‚heilen‘ kann, wenn der Mensch sich völlig von ihr entfernt. Der Abbau der Biodiversität ist sehr wohl den anthropogenen Auswirkungen auf dem Planeten verschuldet, aber das Verfallen in Schwarz-Weiß-Denken, das zu ‚entweder die Natur, oder der Mensch‘ führt, weckt radikale Ansichten und Handlungsweisen, denen am Ende kaum etwas abzugewinnen ist.13

Neuere Konzepte wie das Biosphärenreservat der UNESCO versuchen solch ein fatalistisches Denken sowie die Ausgrenzung des Menschen (vor allem von Minderheiten) in schützenswerten Gebieten, wie es im konventionellen Naturschutz meist der Fall ist, aufzuheben.14 Als weltweites Netz in Kooperation mit staatlichen Umweltorganisationen (in Österreich das Umweltbundesamt) wird seit der Sevilla-Strategie (1995) ein zeitgenössisches Konzept des Naturschutzes verfolgt, welches Ökosysteme nicht nur bewahren, sondern auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen an den jeweiligen Standorten fördern, sowie Bildung, Forschung und Umweltbeobachtung unterstützen soll. Idealerweise würden sich ökologische und ökonomische Faktoren positiv bedingen, indem die Biodiversität und die Lebensgrundlage von Menschen in ausgewiesenen Orten gesichert werden könnte.

NASA- Satellitenbild der Sundarbans, erstellt von Jesse Allen, Earth Observatory, unter Verwendung von Daten der Global Land Cover Facility der University of Maryland © Earth Observatory.

Die Erfolgsbilanz des Modells ist gemischt. Während beispielsweise beim Maya Biosphärenreservat in Guatemala und beim Tonle Sap-Biosphärenreservat in Kambodscha positive Ergebnisse erzielt werden, haben andere Biosphärenreservate Schwierigkeiten, ihre Ziele zu erreichen. Einige haben mit begrenzten Ressourcen, mangelnder Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Gemeinden, Konflikten um Landnutzung und illegalen Aktivitäten wie Wilderei und unerlaubter Rodung zu kämpfen. Beispiele hierfür wären das Sundarbans-Biosphärenreservat (s. Abbildung oben) in Bangladesch und Indien, welches unter Umweltverschmutzung, illegaler Abholzung und illegaler Fischerei leidet. Das Lukiangyuang-Biosphärenreservat in China hat mit Landnutzungskonflikten, die zwischen den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung und denen des Umweltschutzes bestehen, zu kämpfen.15

Nichtsdestotrotz hat das Modell des Biosphärenreservats der UNESCO zweifellos zu einem besseren Schutz von Natur- und Kulturlandschaften sowie zur Förderung von nachhaltiger Entwicklung in vielen Teilen der Welt beigetragen. Es bietet wichtige Referenzgebiete für den Schutz von Artenvielfalt und Ökosystemen und dient als Beispiel für einen möglichen verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen, ohne der örtlichen Gemeinschaft ihren Lebensraum sowie -unterhalt zu rauben.

Auf die anfängliche Fragestellung zurückkommend kann man insgesamt sagen, dass das Biosphärenreservat-Programm als sinnvolles Vorbild für den Schutz der Umwelt und der Förderung von Nachhaltigkeit gesehen werden kann. Aus diesem Grund können sie über den Handlungskontext von Naturdenkmälern hinaus die Position einer Ikone annehmen sowie die Beziehung zu Ikonen neu definieren. Ikonen können aufgrund ihrer auratischen Wirkung einen respektvollen, wertschätzenden Umgang postulieren und haben darum das Potenzial, einen Bezug zwischen Objekt und Subjekt zu schaffen, wobei eine zu ehrfürchtige Beziehung zum Naturobjekt jedoch eine gewisse Distanz zu diesem verstärken mag. Vielmehr sollte die Ikone im Sinne einer Vorbildfunktion gedacht werden, denn die einseitige Verehrung von rein ästhetischen Werten wie am Beispiel der Naturdenkmäler bindet den Menschen zu wenig in die Materie ein. Abgesehen von diesem Defizit bei Naturdenkmälern fungieren beide Modelle als wichtige Bildungsstätten mit einem hohen symbolischen Wert. Sie vermitteln Bewusstsein für Umweltprobleme und Wissen zur nachhaltigen Entwicklung und tragen damit zur Förderung des Umweltbewusstseins und der Sensibilisierung für den Naturschutz bei. Zusätzlich beachten die Biosphärenreservate jedoch — und das ist der ausschlaggebende Vorteil zum Naturdenkmal — eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, die zur Entwicklung der Region beitragen und Arbeitsplätze schaffen (z.B. Öko-Tourismus, neue Forschungszentren und Schulen, nachhaltige Nahrungsmittelproduktion). Dabei ist es wichtig sicherzustellen, dass diese Aktivitäten im Einklang mit den Zielen des Schutzes der Biodiversität und der nachhaltigen Entwicklung stehen.

Die Biosphärenreservate bieten somit einen besseren menschlichen Lebensrahmen, der es ermöglicht, Natur- und Kulturaspekte als untrennbare Bestandteile des Ökosystems zu betrachten. Dies kann dazu beitragen, dass Menschen sich bewusst werden, dass sie Teil der Natur sind und, dass die Erhaltung der natürlichen Ressourcen und Biodiversität notwendig ist, um ihre eigene Lebensgrundlage zu bewahren. Zusätzlich können Biosphärenreservate das Bewusstsein für das kulturelle Erbe und die Bedeutung der kulturellen Vielfalt stärken. Durch eine integrierte Sichtweise auf Natur und Kultur kann dazu beigetragen werden, das Denken in Dualismen zu überwinden und ein umfassenderes Verständnis der Beziehung zwischen dem Mensch und seiner Umgebung zu fördern. Durch diesen Perspektivenwechsel könnte, würde ich meinen, die wie von Benjamin proklamierte zerfallende Aura von Kunstwerken, bei den Naturwerken wiederhergestellt und damit die Natur als Ikone anerkannt und adäquat gewürdigt werden — eine Einstellung, die angesichts des konvergierenden ökologischen Kollaps nicht nur die Koexistenz mit anderen (Nicht-)Lebewesen respektiert, sondern auch die eigene Existenz gewährleistet.

Biografie

NARI SARMINI studiert seit 2017 Kunstgeschichte an der Universität Wien. Derzeit schreibt sie an ihrer Masterarbeit über den Lagoon Cycle von Helen Mayer und Newton Harrison. Ihr Fokus liegt dabei unter anderem auf den darin eingefügten topographischen Karten, die als eine Form des künstlerischen Ausdrucks, aber auch als eine pädagogische Strategie betrachtet werden können. Bereits beim Verfassen ihrer Bachelorarbeit über Pierre Huyghes After Alife Ahead befasste sie sich mit Überlegungen zum vermeintlichen Dualismus zwischen Natur und Kultur. In ihrem aktuellen Essay geht sie dem weiter nach, indem sie durch eine Gegenüberstellung zwischen dem Naturdenkmal und dem Biosphärenreservat über die Natur als potenzielle Ikone reflektiert.

Des Weiteren betreibt Nari Sarmini einen Essensblog (mukkbang_mama) und gemeinsam mit ihrer Freundin Mae den spirituellen Podcast Liliy Pond(er) zu den Themen Achtsamkeit und psychische Gesundheit, der über Maes Plattform divinetimescollective zu verfolgen ist.

Fußnoten

  1. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 20207, S. 19.
  2. Vgl. URL: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fmars.2020.576170/full. Ein Video vom 26.0.2019 des japanischen Forschungsinstituts Japan Agency for Marine-Earth Science and Technology, das die Müllablagerungen im Ozean im Zuge des Tsunamis 2011 vorführt: URL: https://www.youtube.com/watch?v=J8eX4DcOLCY. Weitere Informationen via https://www.jamstec.go.jp/sdgs/e/case/027.html. Siehe auch Updates des Monterey Bay Aquarium Research Institut: URL: https://www.mbari.org/news/plastic-pollution/(21.02.2023).
  3. Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, in: Rolf Tiedeman; Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Band I, Frankfurt am Main, 1974, S. 646.
  4. Obgleich eine Definition beider Konzepte schwierig ist, wie auch die Grenze zwischen Technologie und Kultur in vielen Fällen.
  5. Ein für mich eindrucksvolles Naturdenkmal ist der sogenannte Judasbaum (Cercis siliquastrum L.), der vermutlich seit dem 18. Jahrhundert im Hof 2 des Alten AKHs in Wien — genau gegenüber des Hörsaaleingangs zum Audimax — beim Frühlingserwachen seine prächtigen, rosaroten Blüten sprießt. Vgl. URL: https://sketchfab.com/3d-models/ judasbaum-cercis-siliquastrum-be81500a0ea14e38aee5ef4f5b995299 (06.03.2023).
  6. URL: https://www.wien.gv.at/umweltschutz/naturschutz/gebiet/naturdenkmaeler/ (19.02.2023)
  7. Liste der Naturdenkmäler in Deutschland: URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Liste_(Naturdenkmäler_in_Deutschland) (20.02.2023)
  8. Unter einer Kulturlandschaft versteht man vom Menschen (um-)gestaltete Naturlandschaften wie zum Beispiel die Reisterrassen auf Bali.
  9. Vgl. URL: https://www.bund-naturschutz.de/natur-und-landschaft/wiesen-und-weiden-in-bayern/lebensraum-wiese (21.02.2023)
  10. Hier darf nicht außer Acht gelassen werden, dass mit einem steigenden Interesse auch oftmals negative Auswirkungen auf den Naturort einhergehen, beispielsweise aufgrund touristischem Interesse, durch das häufig Naturgebiete, wenn der Zugang zu diesen nicht adäquat kontrolliert wird, übermäßig genutzt und zerstört werden können. 
  11. Es werden drei verschiedene Hauptformen von Kulturlandschaften ausgeführt: 1) von Menschen bewusst gestaltete und geschaffene Landschaft, 2) organisch gewachsene Landschaft, 3) ‚assoziative‘ Kulturlandschaft, z.B. natürliche Orte, die eine religiöse, künstlerische oder kulturelle Bedeutung haben, wobei das Materielle unbedeutend oder sogar nicht vorhanden sein kann. Weiters exisitieren auch Richtlinien für das „mixed cultural and natural heritage“. Vgl. 45.-47. im Operational Guidlines for the Implementation of the World Heritage Convention (Stand 21.07.2021), S. 22-23, URL: https://www.unesco.de/sites/default/files/2022-06/OG%202021%20document-57-32_0.pdf
  12. Der Kongress verabschiedete damit ein Gesetzespaket, das auf die radikalen Ansichten des kontroversen Naturschützers John Muir zurückzuführen ist. Darin soll der Erhalt von Landflächen in ihrer ‚natürlichen Form‘ gewährleistet werden, welche „shall be administered for the use and enjoyment of the American people in such manner as will leave them unimpaired for future use and enjoyment as wilderness, and so as to provide for the protection of these areas, the preservation of their wilderness character, and for the gathering and dissemination of information regarding their use and enjoyment as wilderness.” Vgl. §1131(a) des National Wilderness Act, URL: https://uscode.house.gov/view.xhtml?req=granuleid:USC-prelim-title16-section1131&num=0&edition=prelim (20.04.2023); Die romantisierte, koloniale Auffassung einer wilden Natur wurde von den ersten größeren Naturschutzorganisation wie World Wide Fund for Nature (WWF), Nature Conservancy et. al. popularisiert und schließlich weltweit als „Yosemite-Modell“ übernommen. Die etlichen Vertriebenen aus den Naturreservaten, bei denen es sich größtenteils um indigene Bevölkerungsgruppen handelt, werden bis heute nicht offiziell als Flüchtlinge anerkannt. Vgl. Mark Dowie: Clash of cultures. The conflict between conservation and indigenous people in wild landscapes, 2009. URL: https://www.theguardian.com/environment/2009/jun/03/yosemite-conservation-indigenous-people.; Der kontinuierliche Ausschluss indigener Menschen von Gremien zu Landnutzungsrechten und das Ignorieren von wertvollem, uraltem Wissen zu den örtlichen Ökosystemen (Ancient Wisdom) zeigt sich aktuell in der Debatte rund um den Erhalt des Salzsees in Utah. Vgl. Lara Larsen: Tribes still not consulted as state tries to save Great Salt Lake, 2023. URL: https://www.sltrib.com/news/politics/2023/02/07/stakeholders-gather-save-great/ (21.02.2023).
  13. In der Anthropozän-Debatte wird hier manchmal zu einseitig und verfälscht von einem ‚wir‘ geredet, als hätte die gesamte Menschheit denselben ökologischen Fußabdruck. Faktisch gesehen geht die ökologische Krise von homogenen Bevölkerungsgruppen aus, die in den Industriestaaten leben und in kapitalistisch/neoliberaler Wirtschaftsform agieren. Daher ist die Bezeichnung ‚Kapitalozän’ nicht nur spezifischer, sondern auch treffender. Donna Haraway betont die Wichtigkeit dieser begrifflichen Unterscheidung und erweitert sie um einen weiteren, theoretischen Handlungsrahmen — der Chtulucene. Letztere soll eine anthropozentrische Betrachtungsweise überwinden und nochmals verstärkt die Verflochtenheit diverser Lebewesen und Nicht-Lebewesen auf dem Planeten betonen. Vgl. Donna Haraway: Tentacular Thinking. Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene, 2016, URL: https://www.e-flux.com/journal/75/67125/tentacular-thinking-anthropocene-capitalocene-chthulucene/ (02.04.2023)
  14. Vgl. URL: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/biosphaerenreservate/biosphaerenreservate-weltweit (28.03.2023)
  15. Hier eine Liste aller aktuell eingetragenen Biosphärenreservate: Vgl. URL: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/biosphaerenreservate/biosphaerenreservate-weltweit/liste (21.02.2023)

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