Poesie der Isolation bei Angelo Morbelli. „Il Natale dei rimasti“ von 1903 – Alexander Schuhbauer

Die Bilder des um 1900 arbeitenden, italienischen Künstlers Morbelli könnten in der Darstellung isolierter Menschen im Altersheim nicht aktueller sein. Morbelli verfolgt jedoch keine dokumentarische Strategie, um auf Missstände seiner Zeit aufmerksam zu machen, sondern er erhebt Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie.

„Niemand sollte im Alter allein sein, dachte er. Aber das ist unvermeidlich.“1

Eine Handvoll alter Männer, die sich in einem kargen Saal zusammengefunden haben. Die langen Reihen aus Holzbänken und Pulten sind größtenteils leer, wenngleich sie den Raum ganz und gar einnehmen und gewiss dutzenden Menschen Platz bieten würden. Einige der Männer ruhen oder schlafen im Sitzen, ein anderer wärmt sich stehend am Kamin. Niemand spricht, man hält Abstand zueinander. Es ist Winter, und so wurden Kissen auf die Bänke gelegt, die Anwesenden tragen außerdem zur Schiffermütze passende Paletots. Auch das einfallende Sonnenlicht wird inmitten dieser ruhigen, handlungsarmen Szene bisweilen als willkommene Wärmequelle begrüßt.

Abb. 1: Angelo Morbelli, Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 62 x 111 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.  Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853–1919, Mailand (GAM) 2019, S. 54.

Dieser erste Absatz könnte „in den jetzigen Zeiten der sozialen Distanz“2, wie es im Call zu vorliegendem Text heißt, ohne weiteres eine Szene aus einem zeitgenössischen Pflegeheim beschreiben. Schließlich häufen sich seit Ausbruch der sogenannten Corona-Pandemie, die besonders Italien in diesem Frühjahr schwer trifft, auch Berichte über die Isolation von Senior:innen in Pflegeeinrichtungen. Doch der einleitende Abschnitt beschreibt ein Gemälde des italienischen Malers Angelo Morbelli (1853 – 1919): das 1903 entstandene Il Natale dei rimasti (dt. Weihnachten der Zurückgebliebenen, (Abb. 1).3 Für die fünfte Biennale von Venedig gemalt, zeigt die Szene das Pio Albergo Trivulzio, eine noch heute bestehende Einrichtung für Senior:innen in Mailand, am Weihnachtstag.4

Es ist längst nicht das einzige Mal, dass Morbelli das Trivulzio als Sujet wählt. Im Laufe seiner Karriere entstehen über dreißig Ölgemälde, dazu Pastelle, Zeichnungen, Skizzen und Fotografien des Heims.5 Im Natale zeigt Morbelli dessen lavorerio, den Arbeitsraum.6 Das Gemälde ist Teil einer Serie von Weihnachtsbildern. So zeigen auch Giorno di festa al luogo Pio Trivulzio (1892, Paris), eine gleichnamige Version in Monza (1903, Collezione Roberto Pancirolli) sowie Un Natale! Al Pio Albergo Trivulzio (1909, Turin) einsame, alte Männer, die sich – im Abstand zu den wenigen übrigen Figuren im Bild – in einem der Arbeitssäle des Heims eingefunden haben, wo sie jedoch selbst zu Weihnachten nicht besucht werden.

Diese Fixierung auf ein Bildthema wirkt sich unweigerlich auf die Rezeption Morbellis aus. Bereits ein Jahrzehnt nach seinem Tod feiert ihn ein Nachruf, publiziert in der Stampa an Heiligabend 1929, als „pittore dei ‚vecchioni‘“7, Maler der Alten. Zuschreibungen dieser Art finden sich noch heute. Für David Gilmour, dessen populärwissenschaftliches Buch Auf der Suche nach Italien unlängst wieder in deutscher Übersetzung aufgelegt wurde, gilt Morbelli zum Beispiel als „der einfühlsame Chronist der Alten und Einsamen“8

Was Gilmour mit dem Attribut des Einfühlsamen zu beschreiben versucht, nämlich dass es Morbelli in Bildern wie dem Natale um mehr geht als die bloße Dokumentation einer Altenheimsituation um 1900, wurde von Zeitgenossen des Künstlers im Begriff der Poesie gefasst. Carlo Carrà zum Beispiel, demzufolge Morbelli ein beinah kultisches Verhältnis zur eigenen Kunst pflegte, erinnert sich lobend: „Particolarmente nei disegni dei vecchioni egli [Morbelli, Anmerkung des Verfassers] riesce a precisare la sua peculiare effusione umana e poetica.“9 Auch die Kunstkritik seiner Zeit hat immer wieder auf das Poetische in Morbellis Bildern verwiesen. Der Kritiker Ugo Ojetti schreibt im Anschluss an die Biennale 1903, Morbelli habe noch nie so „poeticamente evidente“10 gemalt und attestiert den dort gezeig- ten Bildern einen „soffio lirico“, einen lyrischen Hauch, der in der Stille der Szenen begründet liege. 11 Der Turiner Literat Enrico Thovez bezeichnet seine Bilder als „scene composte con poesia di luce“12, und auch Morbelli selbst bedient sich des Poesiebegriffes, etwa wenn er in seinen Aufzeichnungen, der zwischen 1912 und 1917 entstandenen Via Crucis del Divisionismo, Poussin paraphrasiert: „I colori nella pittura sono come i versi nella poesia“13 Nicht zuletzt trägt auch der Bilderzyklus auf der Biennale, in dessen Kontext das Natale dei rimasti zu sehen ist, den Titel Poema della vecchiaia, Gedicht vom Alter.14 Anhand des für diesen Zyklus zentralen Natale soll im vorliegenden Text also gezeigt werden, dass Morbelli das Leben, das er im Pio Albergo Trivulzio beobachtet, nicht bloß dokumentiert, sondern im Sinne der Kunst poetisiert. Dabei ist der Begriff der Poetisierung zwar als die künstlerische Durchdringung eines Themas, keinesfalls jedoch als dessen pittoreske Verharmlosung zu verstehen. Im Sinne Kerstin Thomas’, die ähnliches bei Georges Seurat beobachtet, zielen Morbellis Poetisierungsstrategien vielmehr auf „eine Manifestation gesellschaftlicher Wirklichkeit oder ‚Welt‘“15 ab.

Il Natale dei rimasti (1903)

Für seinen Beitrag zur Biennale von Venedig wählt Morbelli ein markantes Querformat. Er zeigt den grün getönten und schmucklosen lavorerio, der von ebenso einfachen Reihen aus Holzbänken und zugehörigen Pulten bestimmt wird. Diese laufen perspektivisch auf den in Schatten getauchten Hintergrund zu.16 Was Kerstin Thomas über Georges Seurats Ein Badeplatz, Asnières und Pierre Puvis de Chavannes’ Heiteres Land schreibt, gilt auch hier: „gedämpfte Stille statt lärmenden Trubels, Innehalten statt bunten Treibens, Dauer statt Flüchtigkeit.“17 In diese stille Szene bricht Tageslicht durch jenseits des Bildraums liegende Fenster, fällt auf die Bänke und Pulte des Vorder- und Mittelgrundes und erzeugt klare Helldunkel-Kontraste. Besonders anhand der hellen Partien offenbart sich Morbellis Maltechnik. Als Maler, der sich dem Divisionismus verschreibt – jener Malweise, die sich durch das Teilen (dividere) reiner Farbpigmente und ihren getrennten Auftrag in feinen, komplementärfarbigen Pinselstrichen zum Zweck größtmöglicher Leuchtkraft auszeichnet –, versetzt er die Bildoberfläche in einen flimmernden Zustand der Vibration (vibrazione).18 Daraus erwächst ein „Gefühl des Uneindeutigen“19. Zusammen mit der überaus raffinierten Lichtregie Morbellis und seinem Gespür für Komposition wird schnell der Eindruck untergraben, dass wir hier die bloße Dokumentation einer alltäglichen Szene in einem Pflegeheim sehen. Allein durch den Weihnachtsbegriff im Bildtitel hebt Morbelli das Dargestellte aus der Sphäre des Alltäglichen heraus.

Das Bild zeigt fünf männliche Figuren, die, wie eingangs erwähnt, nicht miteinander kommunizieren. Zwei der Männer sitzen nur schemenhaft erkennbar im Halbdunkel des Hintergrundes, wo sich ein dritter am einzigen Kamin im Raum wärmt. Das Augenmerk der Betrachter:innen liegt indes auf den beiden Figuren im Vordergrund, die vom einfallenden Sonnenlicht getroffen werden. Der Mann in der Bildmitte sitzt gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen vor einem nicht näher bestimmten Gefäß. Der weiße Schnurrbart unterstreicht sein Alter, ansonsten zeigt Morbelli keinerlei Interesse an physiognomischen Details. Der hintere der beiden Männer im Vordergrund ist genauso gekleidet und scheint zu schlafen, während Arme und Kopf auf dem Pult vor ihm ruhen. Die uniforme Kleidung der Bewohner, so Lara Pucci, erlaube es dem Künstler aufzuzeigen, „wie sich unterschiedliche Lichtverhältnisse auf unsere Farbwahrnehmung auswirken“20. Sie führt anschaulich aus: „Was im Schatten als schlammiges Grünbraun erscheint, verwandelt sich in den von der Sonne beschienenen Bereichen in ein goldenes Beige.“21 Betrachtet man die Kleidung des Mannes und die Pulte im Vordergrund aus der Nähe, fällt auf, dass dieser Effekt durch das Nebeneinandersetzen feinster, abwechselnd grüner und roter Pinselstriche gelingt (Abb. 2).

Abb. 2: Il Natale dei rimasti, Detail. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 53

Zudem steigert das Beimengen von Weiß in den sonnen- beschienenen Partien die Leuchtkraft (luminosità) des Gemäldes. Wenden wir uns dem Bild nun wieder als Ganzem zu, offenbart sich in Morbellis Lichtregie noch eine andere Qualität. Vor dem Hintergrund des Weihnachtsbegriffs im Bildtitel, der der Szene inhärenten Ruhe, der gefalteten Hände und der gebeugten Haltung der Figur im Vordergrund vermag das Licht die Assoziation eines Sakralraums hervorzurufen, auf dessen Bank- und Pultreihen sich zudem der kreuzförmige Schlagschatten der Fenstersprossen abzeichnet. Morbellis Zeitgenoss:innen teilten diese Assoziation offenbar. Enrico Thovez schreibt irrtümlich über das Bild, es zeige uns eine Kirche mit betenden Männern.22Diese in ihrem Kern durchaus treffende Beobachtung Thovez’, die ihn dennoch zu dem vorschnellen Schluss verleitet, Morbelli zeige uns anstatt eines Arbeitsraumes einen Sakralraum, ist bis in die Kunstgeschichte der Gegenwart hinein präsent. Im aktuellen Sammlungskatalog der Ca’ Pesaro – das Bild ist seit der Biennale 1903 im Besitz der Stadt Venedig – ist die Rede von der „proiezione di una croce, determinata dall’ombra degli infissi della finestra su uno dei banchi che sembra trasformato in un ‚altare‘ per il vecchio chino in un silenzio soraccoglimento.“23 Gleichwohl ist die hier getroffene Formulierung vorsichtiger, heißt es schließlich, das Pult wirke (sembra) wie ein Altar. In der Tat liegt dem Natale trotz seines einschlägigen Titels kein sakrales Sujet zugrunde, das klar zu benennen wäre. Schließlich können alle Bildelemente, die Thovez dazu veranlassen, von einer Kirche zu schreiben, auch profan gedeutet werden. Dass Zeitgenossen wie Thovez oder Calzini, der wiederum die „santa vecchiaia“24 der Figuren Morbellis beschreibt, dennoch gerade den sakralen Charakter der Szene betonen, muss andernorts begründet liegen – jenseits traditioneller Ikonografie. Meines Erachtens zeichnet sich das Bild durch die ihm inhärente Stimmung aus – nach Thomas ein poetisches Mittel, das hier eine sakrale Note erhält.25 

Morbelli ist also kein Maler, der schonungslos die zweifelsohne gegenwärtigen Probleme in einem Pflegeheim, wie Krankheit oder Tod, aufzeigt. Seine Figuren sind alt und einsam. Nur in Details, wie im Motiv des Mannes am Ofen, der uns als Versatzstück bei Morbelli immer wieder begegnet, wird indes angedeutet, dass sie frieren. Zudem tragen sie, durchaus angemessen für einen späten Dezembertag in Norditalien, Paletots. Das Gemälde schreit nicht auf, wie eine der ausgemergelten „mad women“26 in Telemaco Signorinis Bild des San Bonifacio-Heimes in Florenz (Abb. 3).

Abb. 3: Telemaco Signorini: La sala delle agitate al Bonifazio, 1865, Öl auf Leinwand (?), 66 x 59 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.
Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853– 1919, Mailand (GAM) 2019, S. 4.

Oder wie es Luciano Caramel fasst: „Morbelli non guarda ai vagabondi, agli esclusi, alle vittime. Non v’è intenzionalità di denuncia, né di protesta.“27 In dieser Hinsicht treffend erscheint auch der Titel des gesamten Zyklus: Poema della vecchiaia. Auch hier, bezogen auf die Titelwahl, könnte man mit Caramel folgern: Non v’è intenzionalità di protesta. Dazu passen sowohl die „abitudini borghesi“ des Künstlers als auch seine Herkunft aus einer Familie von Kleingrundbesitzer:innen im piemontesischen Colma di Rosignano bei Casale Monferrato, einer Weinbauregion.28

Offenbar zielt Morbelli in seinem ruhig flimmernden Bild der Alterseinsamkeit auf einen größeren Zusammenhang „des menschlichen Daseins, der ‚conditio humana‘“29, wie es bei Annie-Paule Quinsac heißt. Diese These ist eng mit dem Begriff der Dauer verwoben. So schreibt Kerstin Thomas über Georges Seurat, dieser habe es sich zur Aufgabe gemacht, „sowohl ein Chronist seiner Zeit zu sein als auch ein Kunstwerk zu schaffen, das die Essenz dieser Zeit für die Dauer festhält“30. Auch der sechs Jahre ältere Morbelli entwickelt meines Erachtens malerisch-poetische Strategien, die auf Dauer zielen. Nicht ganz zufällig überschreibt er seine Via Crucis del Divisionismo mit dem leicht abgewandelten, hippokratischen Aphorismus ars longa vitae brevis – die Kunst ist lang, das Leben kurz.31 

Abb. 4: Angelo Morbelli: Schizzi al volo, fol. 45, 1901–02, Bleistift auf Papier, 9 x 13,5 cm, o. O. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Tra realismo e divisionismo, Turin (GAM) 2001, S. 30.
Abb. 5: Fotografia dell’Archivio Morbelli con la stanza più volte effigiata nei suoi quadri, ca. 1901-02. Abbildungsnachweis: Aurora Scotti: Un pit- tore per il Trivulzio. Angelo Morbelli, in: 200 anni di solidarietà milanese nei 100 quadri restaurati da Trivulzio, Martinitt e Stelline, hg. v. Paolo Biscottini, Mailand 1990, S. 151–156.

Um diese These zu stützen lohnt es sich, den Arbeitsprozess am Natale dei rimastinachzuzeichnen. Am Beginn dieses Prozesses stehen bei Morbelli Skizzen, die er Schizzi al volo nennt, wobei der Zusatz al volo – im Sinne des flüchtigen Duktus einer Skizze – augenblicklich bedeutet. Eine seiner Skizzen für das Natale zeigt eine in suchender Linie schraffierte männliche Figur mit charakteristischer Schiffermütze und Paletot, die mit verschränkten Armen den Kopf in Richtung einer miniaturisierten Frauenfigur unterhalb des Pultes vor ihm senkt. Diese scheint indes einer anderen Sphäre zugehörig. Die Bleistiftzeichnung in den Maßen 9 x 13,5 cm, die einem kleinen Skizzenbuch für die Jackentasche entsprechen, zeigt das Ausschnitthafte des Entwurfes. Dennoch weisen die Kreuzschraffuren, etwa am Kragen, bereits in Richtung der divisionistisch-vibrierenden Malweise des ausgeführten Bildes (Abb. 4). Hinzu treten Fotografien, derer sich Morbelli seit den 1880er-Jahren bedient.32 Unter den Künstler:innen, Intellektuellen und Literat:innen, die das Landhaus der Morbellis im Monferrato besuchen, ist auch der Fotograf Francesco Negri, dem es 1885 zum ersten Mal gelingt, das Cholera-Bakterium zu fotografieren.33 Unter dem Eindruck Negris richtet sich Morbelli eine Dunkelkammer in seinem Atelier in der Villa Maria ein.3434 Scotti veröffentlicht zwei Fotografien, die sie passend zu den Schizzi al volo in die Jahre 1901 und 1902 datiert (Abb. 5). Die hier abgebildete Aufnahme zeigt den nun bereits bestens bekannten lavorerio, ausgestattet jedoch mit den 1898 neuinstallierten Heizkörpern.3535 Das fertige Ölbild macht deutlich, dass Morbelli an diesen Umbauten kein Interesse zeigt. In der Fotografie, rechts oben an der Wand, ist zudem noch der Schriftzug FUMARE zu lesen, der wohl zu dem Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE gehört, der uns in einer quadrierten Vorzeichnung zum Natale begegnet (Abb. 6). Diese datiert aus dem Jahr 1902 und markiert den nächsten Schritt auf dem Weg zum ausgeführten Ölgemälde. Auch hier handelt es sich um eine Bleistiftzeichnung, allerdings in den monumentalen Maßen von 96 x 170 cm. Rechts unten liegen Zylinder, Mantel und Gehstock auf einem Pult, in der Bildmitte hängt eine Lampe von der Decke und links des Kamins ist das erwähnte Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE, Rauchen verboten, angebracht. Vergleicht man dieses Blatt mit der ebenfalls quadrierten Pastellzeichnung (nicht abgebildet), die das Ölbild unmittelbar vorbereitet, sind diese Details verschwunden. Morbelli schreibt dazu:

„Col subordinare tutto il quadro ad un’unica e complessa visione, non preoccu- pandosi dei singoli dettagli del vero, e col divisionismo serrato ai colori puri per lecose vicine, ecco le due chiavi!? (Via Crucis, §55)“

In Morbellis Wendung des subordinare tutto […] ad un’unica e complessa visione, ohne sich in veristischen Details zu verlieren, klingt eine Einschätzung Mario Morassos an. Der Chefredakteur der Gazzetta di Venezia erkennt in Morbellis Poema della vecchiaia eine

„universalità a cui perviene la rappresentazione del Morbelli. Egli è penetrato così addentro nella costituzione, nella essenza dei suoi tipi, dei suoi vecchi e delle sue vecchie, ne ha sentito così distintamente il battito del cuore stanco, il ritmo della vita lenta, ne ha osservato così acutamente sotto tutti gli aspetti le pose inerenti alla loro grave età , alla loro condizione […] che non solo egli ci ha dato una riproduzione vera ed evidente di quiei tali vecchi raccolti in quell’ospizio, ma ha potuto altresì fare di ognuno di essi un tipo rappresentativo e di ogni scena lo schema generale di ogni vecchiaia […].“36

Diese künstlerische Strategie der universalità kann mit Morbellis Anspruch, Gemälde zu harmonisieren, in Einklang gebracht werden (vgl. Via Crucis, §17). Im ausgeführten Bild übermalt er gar noch die Figuren am linken Bildrand der Pastellzeichnung, wie Poldi mittels Infrarotreflektografie nachgewiesen hat.37 Die einzig verbliebenen dettagli del vero sind das nicht näher bestimmbare Gefäß vor der Figur in der Bildmitte, ein Schrank rechts im Hintergrund und der Kamin. Dass dieser für Morbelli ebenfalls entbehrlich ist, zeigt indes ein kleines Ölbild, das sich heute in der Collezione Roberto Pancirolli in Monza befindet (Abb. 7).

Abb. 6: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1902, Bleistift und Conté auf Papier, 96 x 170 cm, Privatsammlung. Abbildungsnachweis: Teresa Fiori (Hg.): Ar- chivi del Divisionismo, Bd. 2, Rom 1968, S. 28.

Dennoch geht Morbelli nie so weit, aus seinen Räumen ein beliebiges Altenheim zu formen. Der Begriff des Wahren steht mit seinen Poetisierungsstrategien also keineswegs im Widerspruch. Das verbindet ihn mit Zeitgenossen wie Seurat.38 Die bewusst gesteuerte Wiedererkennbarkeit der Trivulzio-Räume führt dazu, sie als etwas persönlich Vertrautes wahrzunehmen, zugleich führt das poetische Mittel der universalità zu deren Verallgemeinerung.39 Eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Quelle ist ein Brief Morbellis an seinen Freund und Kollegen Giuseppe Pellizza aus dem Jahr 1901, in dem er schreibt:

„Ho subito una tremenda illusione al Pio Trivulzio! tutto fu restaurato imbiancato sino al delirio, sparí quel giallume d’antico che armonizzava così bene col costume e incartapecorite faccie dei ricoverati!! i muri i plafoni tutto fu odiosamente imbiancato, disposizione banchi, cambiata, insomma un disastro […].“40

Morbelli missfallen also einige Veränderungen am Palast, in dem das Pio Albergo Trivulzio untergebracht war.41 Verschwunden sei der Gelbton der Wände, der Morbelli zufolge mit der Kleidung und den faltigen Gesichtern der Bewohner:innen harmoniert habe, die Mauern und Decken seien in einem hässlichen Weiß gestrichen und die Anordnung der Bänke geändert worden. Wütend schließt er mit den Worten: un disastro, ein Desaster. Offenkundige Fehler in der Groß- und Kleinschreibung, ausgelassene Wörter und doppelt gesetzte Ausrufezeichen untermauern seinen Ärger.

Der Brief an Pellizza zeigt, dass Morbelli in den Räumen des Trivulzio vor den Renovierungsarbeiten, die letzten Endes mehr Platz und damit eine vermeintlich höhere Lebensqualität für dessen Bewohner:innen bedeuten, eine Stimmung erkennt, die er für bildwürdig erachtet, während er später die sterilen weißen Innenräume herabwürdigt. Diese Haltung zu Veränderungen, die den Bewohner:innen zum Vorteil gereichen sollen, lässt den Schluss zu: Morbelli liegt mehr am Beobachten einer konkreten Stimmung und an der Entwicklung malerisch-poetischer Strategien, um diese ins Bild zu setzen, als an einer dokumentarischen Sicht auf die Situation im Heim oder gar am Anprangern derselben. Besonderes Interesse zeigt Morbelli dabei an der Isolation der Menschen im Trivulzio. Dies wird bei einem Schulterblick auf das zwei Jahre nach dem Natale entstandene Triptychon Sogno e realtà (dt. Traum und Wirklichkeit, nicht abgebildet) deutlich. Darin macht der Künstler von den Charakteristika des Bildträgers Gebrauch, um Frau und Mann gemäß den Bestimmungen der Heimverwaltung voneinander zu trennen. Insgesamt gilt für viele von Morbellis Trivulzio-Bildern, für die das Natale stellvertretend steht: Figuren werden – auf der Ebene der Komposition – voneinander getrennt und – bei gleichzeitiger Wiedererkennbarkeit des Trivulzio – aus ihrer Zeit heraus isoliert, indem Morbelli Details wie Heizkörper, Deckenlampen oder Verbotsschilder im Laufe seines Arbeitsprozesses aufgibt und das Endergebnis, das fertige Ölbild, mit seiner typisch-vibrierenden Malweise umfängt. Damit erhebt er Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie. Vor diesem Hintergrund wünschenswert wäre, doch dies nur als Ausblick, das hier mittels des Poesiebegriffs angeschnittene Verhältnis Morbellis zur Literatur zu beleuchten. Schließlich treffen Gedichte aus dem Umfeld des Malers, wie Giovanni Cenas Vecchiaia sterile aus der Sonettsammlung Homo von 1907, einen ganz ähnlichen Ton wie dessen Bilder: „Chè solo augusta è la vecchiezza cinta / d’opere e di memorie, che s’adagia / benedicendo nell’eterna pace.“42

Abb. 7: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 35 x 55 cm, Monza, Collezione Roberto Pancirolli. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 85.

Biographie

Alexander Schuhbauer

Alexander Schuhbauer machte seinen Master Abschluss in Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart. Bereits im Bachelor Studium setzte er seinen Forschungsschwerpunkt auf italienische Kunst der Moderne und entwickelte – auch durch sein Nebenfach Germanistik – sein Interesse an Text-Bild-Korrelationen. Die Verbindung dieser beiden Interessensfelder zeigt sich deutlich an der Thematik seiner Masterarbeit mit dem Titel Poesie des Alters: Angelo Morbelli malt das Pio Albergo Trivulzioin Mailand. Zwischen 2016 und 2019 hatte er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie bei Hans Dieter Huber an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart inne.