Spuren verwischen – Spuren setzen – Spuren hinterlassen. Angelo Morbelli als Künstler, den es zu erinnern gilt, 2025 – Alexander Schuhbauer

Der Begriff der Spur eignet sich in dreierlei Hinsicht als Zugang zu Angelo Morbellis Werk. Erstens ist Morbelli ein Meister des Verwischens von Spuren. Damit sind in seinem Fall veristische Details gemeint, die er während seines Arbeitsprozesses hin zum fertigen Ölbild verwässert oder gar tilgt, um die „unica e complessa visione” des Gemäldes nicht zu stören. Zweitens spielt auf maltechnischer Ebene das Setzen von Spuren eine tragende Rolle, etwa wenn er mit einer Spatelspitze in die noch feuchte Farbe ritzt. Und drittens zielen beide Methoden letztlich auf das Hinterlassen von Spuren ab, indem sie Morbelli erlauben, die Essenz des modernen Italiens auf seine Leinwände zu bannen.

Wie natürlich alle Künstler:innen, deren Schaffen einen kunstwissenschaftlichen Text wie diesen inspiriert, hat auch der oberitalienische Maler Angelo Morbelli (*1853, Alessandria – †1919, Mailand) Spuren auf dem Zeitstrahl der Geschichte hinterlassen – neben seinen Bildern etwa gewonnene Preise wie die durchaus beachtliche Goldmedaille auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1889.1 Gewiss ist jedoch auch, dass dieser oberflächliche Gebrauch des Spurenbegriffes noch lange keine weitere Betrachtung seines Werkes rechtfertigt. Zugegeben, es muss tiefer gegraben werden.

Der Kunsthistoriker Michael Zimmermann beschreibt in einem Aufsatz über ein Selbstporträt des Künstlers, wir fühlten uns im Angesicht der Komplexität des Gemäldes wie Arthur Conan Doyles Detektiv Sherlock Holmes, der sich darin auf die Suche nach Hinweisen auf die Bedeutung des Bildes begibt.2 Und in der Tat: Die Beschäftigung mit Morbellis Bildern gleicht bisweilen einer Spurensuche. So finden sich im Bildraum des von Zimmermann bearbeiteten Autoritratto visuelle Relikte anderer Bilder des Künstlers. Für die Suche nach ihnen gebe uns Morbelli als pittore scientifico höchstselbst den Ariadnefaden an die Hand.

Tatsächlich also eignet sich der Begriff der Spur (traccia) als fruchtbarer Zugang zu seinem Werk – und das aus gleich dreierlei Perspektiven. Zum einen ist Morbelli ein Meister des Verwischens von Spuren. Damit sind in seinem Falle veristische Details gemeint, die er im Laufe seines Arbeitsprozesses hin zum fertigen Ölbild verwässert oder gar gänzlich tilgt. Der Künstler selbst schreibt vom „subordinare tutto il quadro ad un’unica e complessa visione, non preoccupandosi dei singoli dettagli del vero”3, dem Unterordnen einzelner Bilddetails zugunsten einer einheitlichen Gesamterscheinung oder Stimmung.4 Zum anderen spielt das dezidierte Setzen von Spuren eine Schlüsselrolle, sowohl auf motivischer als auch auf maltechnischer Ebene. So geht es Morbelli um die Textur seiner Gemälde und darum, sie nachgerade vibrieren zu lassen. Und drittens erreichen wir mit beiden genannten Methoden – sowohl dem Verwischen als auch dem bewussten Setzen sichtbarer Spuren – das letzte Teilkapitel, das dem Hinterlassen von Spuren seitens des Künstlers Rechnung tragen soll.

Spuren verwischen

Abb. 1: Angelo Morbelli, Tetti sotto la neve, 1912, Öl auf Leinwand, 70 x 132,5 cm, Privatsammlung, aus: Scotti 1990, S. 95.

Denken wir an den Begriff der Spur, mag mit etwas Fantasie auch die Assoziation von Fußabdrücken auf einem vielbegangenen Weg aufkommen – etwa im Schnee. 1912 malt Morbelli eine von zwei gesicherten Versionen von Tetti sotto la neve (Abb. 1).5 Er flieht darin auf die titelgebenden, schneebedeckten Dächer Mailands – fast so, als nähme er die Perspektive von Edvige und Totò aus Vittore De Sicas meisterhafter Filmkomödie Miracolo a Milano von 1951 ein, in der die beiden Protagonist:innen auf einem Besen über den Dächern der Stadt dem Himmel zu reiten. Tetti sotto la neve zeigt, dass der Künstler hier nicht an einer dokumentarischen Sicht auf seine Wahlheimatstadt interessiert ist. Vergleichen wir das Bild mit der anderen Version des Themas, Nevicata, fällt auf: Anders als in der Schlussszene aus De Sicas Film, in der Edvige und Totò über der unverkennbaren Kulisse des Mailänder Doms entschwinden, eliminiert Morbelli in seinem Bild der Stadt die Kirchensilhouette von Santo Stefano als visuelle Spur aus dem Hintergrund und verhindert so, dass wir die winterliche Szene zielsicher in der lombardischen Hauptstadt verorten können – weder Glockenturm noch Tiburio des Gotteshauses sind für ihn bildwürdig.

Doch gerade durch seinen bildgewordenen Rückzug auf die anonymen Dächer Mailands trägt Morbelli zur Konstitution des Ortes bei, schafft er schließlich ein abstrakteres, zeitloseres Bild der Stadt und trifft damit in den Kern des Zeitgeistes. So lässt sich auch in der Mailänder Erzählliteratur des späten Ottocento und frühen Novecento die Tendenz beobachten, sich ihren abseitigen, schattigen, verborgenen Seiten zuzuwenden – Titel wie Cletto Arrighis Ventre di Milano (dt. Bauch Mailands), Lodovico Corios Milano in ombra (dt. Mailand im Schatten) oder Paolo Valeras Milano sconosciuta (dt. unbekanntes Mailand) legen hiervon Zeugnis ab.6

Noch konkreter wird Morbellis künstlerische Strategie des Spurenverwischens dann offenbar, wenn wir seinen Arbeitsprozess verfolgen, in dessen Lauf hin zum fertigen Ölgemälde nach und nach Details – dettagli del vero– weichen müssen. Und selbst das vermeintliche Endprodukt wird mitunter noch finalen Übermalungen unterzogen. Konservator:innen und Kunsthistoriker:innen haben sich diesen Pentimenti bereits mehr oder weniger ausführlich gewidmet, etwa im Falle eines lange verschollenen Suppenküchen-Bildes, Alle cucine economiche – auch dieses Stück übrigens ein Ausdruck morbellianischer Beschäftigung mit der für viele verborgenen Seite Mailands.7

Abb. 2: Angelo Morbelli, Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 62 x 111 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, aus: Ausst.-Kat. Mailand 2019, S. 54.

Auch Il Natale dei rimasti (Abb. 2), das Morbelli 1903 auf der fünften Biennale von Venedig zeigt, legt hiervon Zeugnis ab. Als Teil eines sechsteiligen Bilderzyklus mit dem Titel Poema della vecchiaia zeigt die Szene den Arbeitsraum des Pio Albergo Trivulzio, einer noch heute bestehende Pflegeeinrichtung für Senior:innen in Mailand, am Weihnachtstag.8

Am Beginn des Entstehungsprozesses morbellianischer Bilder stehen Skizzen, die der Künstler Schizzi al volo nennt, wobei der Zusatz al volo deren Flüchtigkeit unterstreicht. Dabei ist interessant, dass der italienische Begriff für Spur, traccia, sich auch auf einen Entwurf oder eine Skizze beziehen kann. Im Wörterbuch wird er dann häufig zusammen mit abbozzo genannt, ein Terminus, den wir aus der Kunsttheorie kennen und den auch Morbelli gebraucht.

Abbozzare il dipinto a chiaro-scuro ben definito e definitivo, tenendo in massima dell’abbozzo, anche in ombra più chiaro, poi colorire il tutto a complementari (meglio prima il colore locale) trasparenti, leggeri, invisibili quasi, a pennelli divisi rari, più o meno a seconda del bisogno, o della maggior luce, come velature, nebbie, ecc. (Via Crucis, §70)

Hinzu treten Fotografien, derer sich Morbelli seit den 80er-Jahren des Ottocento bedient und für deren Anfertigung und Entwicklung er sich eigens eine Dunkelkammer in seinem piemontesischen Landhaus einrichtet.9 Die Morbelli-Forscherin Aurora Scotti veröffentlicht zwei Fotografien, die den lavorerio, den Arbeitsraum des Trivulzio, zeigen.10
An der Wand im Hintergrund ist in Versalien noch das Wort FUMARE zu lesen, das wohl zu dem Schild mit dem vollständigen Hinweis VIETATO FUMARE gehört, den wir in einer quadrierten Vorzeichnung zum Natale dei rimasti erkennen. Diese wird auf das Jahr 1902 datiert und markiert den nächsten Schritt auf dem Weg zum ausgeführten Ölgemälde. Auch hierbei handelt es sich um eine Bleistiftzeichnung, allerdings in den für eine Arbeit auf Papier monumentalen Maßen von 96 x 170 cm. In der rechten, unteren Ecke liegen Zylinder, Mantel und Gehstock auf einem Pult, in der Bildmitte hängt eine Lampe von der Decke und links des Kamins ist das erwähnte Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE, Rauchen verboten, angebracht. Vergleicht man dieses Blatt mit der ebenfalls quadrierten Pastellzeichnung, die das Ölbild unmittelbar vorbereitet, sind diese Details verschwunden. Hier sei an Morbellis Credo des non preoccupandosi dei singoli dettagli del veroerinnert, daran also, dass der Künstler Gemälde zu harmonisieren sucht, ohne sich in veristischen Details zu verlieren (Via Crucis, §17: „armonizzare quadri“). Im ausgeführten Bild übermalt er sogar noch die Figuren am linken Bildrand der Pastellzeichnung, wie bereits mittels Infrarotreflektografie nachgewiesen wurde.11
Nichtsdestoweniger geht Morbelli niemals so weit, aus seinen Räumen eine beliebige Pflegeeinrichtung zu formen. Das verbindet ihn mit Zeitgenoss:innen wie Georges Seurat, der Morbelli bekannt gewesen sein dürfte und der nach Kerstin Thomas versucht, „sowohl ein Chronist seiner Zeit zu sein als auch ein Kunstwerk zu schaffen, das die Essenz dieser Zeit für die Dauer festhält“12. Die bewusst gesteuerte Wiedererkennbarkeit der Trivulzio-Räume führt dazu, sie mit der Zeit als etwas persönlich Vertrautes wahrzunehmen, zugleich führt das poetische Mittel der universalità (siehe unten) zu deren Verallgemeinerung.

Abb. 3: Angelo Morbelli, Un Natale! Al Pio Albergo Trivulzio, 1909, Öl auf Leinwand, 99 x 173 cm, Turin, Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, aus: Ausst.-Kat. Mailand 2019, S. 55.

Gewissermaßen den Höhepunkt der Entwicklung innerhalb der Serie von Weihnachtsbildern, gemessen an der Strategie der universalità, bildet Un Natale! Al Pio Albergo Trivulzio von 1909 (Abb. 3). Der Blick in den Raum, der hier eröffnet wird, ist identisch zur Version von 1903, Morbelli indes erweitert den Bildraum nach oben hin. Zwar hängt in der Bildmitte eine Lampe von der Decke, Füllfederhalter und Papier auf dem vordersten Pult sowie ein Kissen auf ebendiesem Platz führen als Repoussoirs in die Szene ein, doch wird gerade dadurch die Verlassenheit des Raumes betont. Und tatsächlich: Blicken die Betrachtenden auf und mustern das Bildganze, erscheint der Saal im Vergleich zu 1903 nochmals entleerter. Nur im Hintergrund lässt sich ein Schlafender sowie der sich wärmende Mann am Kamin als Leitmotiv Morbellis erkennen.13

Abb. 4: Angelo Morbelli, Un Natale! Al Pio Albergo Trivulzio (Detail), eigene Aufnahme.

Auch die wenigen von der Sonne beschienenen Bereiche beschränken sich auf die Bankreihen des Mittelgrundes, während der Vordergrund im Schatten liegt. Vor dem Original lassen sich besonders gut die Pentimenti im Bereich des Rauchverbotsschildes studieren, das von Morbelli übermalt wurde (Abb. 4). Auch Poggialini Tominetti sieht die Turiner Version an der Spitze des morbellianischen Abstraktionsprozesses. Für sie liegt die „aura poetica“14 des Bildes in seiner stilisierten Schlichtheit begründet, Stille dringe in die Szene ein.

Abb. 5: Angelo Morbelli, Sedia vuota, 1903, Öl auf Leinwand, 61 x 87 cm, Privatsammlung, Studio d’Arte Nicoletta Colombo, aus: Ausst.-Kat. Venedig 2018, S. 67.

Bleiben wir bei Morbellis Poema della vecchiaia, so sei nicht zuletzt ein Bild des Zyklus zu nennen, in dem die Entleerung des Bildraumes bereits im Titel angelegt ist: Sedia vuota, leerer Stuhl (Abb. 5). Für Morbelli scheint das Bild von persönlicher Bedeutung gewesen zu sein. Sein eingangs erwähntes Selbstporträt, in dem er sich als Malerfürst mit white collar hinter einem nackten, jungen Mädchen inszeniert, die Betrachtenden fixierend, zeigt das Bild in einem Spiegel im Hintergrund.15 Die Szene spielt sich in einem der lavoreri für Frauen ab. Morbelli gibt nur einen kleinen Ausschnitt des Raums mit zehn Frauen, die sich zu je fünft gegenübersitzen, wieder. Sie tragen rote Gewänder und dunkle Schals, die sie zum Teil als Kopftuch nutzen.16 Dazu kontrastieren die hellen Schürzen. Als Hintergrund dient Morbelli eine karge, graue Wand mit einem leicht aus der Mitte versetzten und vom oberen Bildrand beschnittenen Fenster. Der untere Teil des Bildes wird ganz und gar von den konvexen Formen der Figuren bestimmt, deren Köpfe, Rücken und Knie stellenweise durch das einfallende Tageslicht akzentuiert werden. Durch die Wahl dieses intimen Ausschnitts hebt sich Morbelli von Illustrationen des ganzen lavorerio ab, wie sie Arnaldo Ferraguti für die Presse schuf (Abb. 6).

Abb. 6: Arnaldo Ferraguti, Il Pio Albergo Trivulzio, in: L’Illustrazione Italiana XXVII (9. September 1900), Nr. 36, S. 189, aus: Ausst.-Kat. Venedig 2018, S. 28.

Erst auf den zweiten Blick erkennen wir in der Abbildung den titelgebenden leeren Stuhl am linken, unteren Bildrand. Offenbar saß auf dem Stuhl noch bis vor Kurzem eine Mitbewohnerin der Dargestellten, die nunmehr verstorben ist. Darauf lassen zum einen die Trauergesten der beiden Frauen im Vordergrund schließen, die – beide in gebeugter Körperhaltung – entweder das Gesicht in ihren Händen vergraben, wie die Figur links im Bild, oder mit gefalteten Händen zu Boden blicken. Zudem zeigt eine Abbildung von Sedia vuota in der Illustrazione Italiana den Schirm eines vor dem Fenster vorbeiziehenden Leichenzugs.17 Dieser wurde offensichtlich übermalt, zeigt der Blick aus dem Fenster doch nurmehr weißen Himmel. Diese Pentimenti sind zu einem erheblichen Teil gewiss vor dem Hintergrund der Verkäuflichkeit des Bildes zu sehen.18 Gianluca Poldi schreibt von einem Leichenwagen mitsamt Hut des Kutschers, einer Referenz auf den Tod, die in der endgültigen Version übermalt wurde.19 Doch nicht allein der Marktwert eines Bildes entscheidet für Morbelli, ob er den Tod scheinbar aus dem Bild verbannt. Besonders mit Blick auf die Serie der Trivulzio-Bilder wird das durchaus starke Argument der Verkäuflichkeit relativiert und zugunsten einer Poesie der universalità (siehe unten) gewendet.

Spuren setzen – Spuren hinterlassen

Was in Tetti sotto la neve die Silhouette der Kirche Santo Stefano; was in den Bildern des Trivulzio ein Rauchverbotsschild oder Accessoires und Kleidungsstücke wie Gehstock, Mantel und Zylinder, ist in Sedia vuota also der Leichenwagen – allesamt für Morbelli verzichtbare Spuren der alltäglichen Wirklichkeit, die er zugunsten von Überzeitlichkeit opfert, eben verwischt.

Abb. 7: Angelo Morbelli, Il Natale dei rimasti (Detail), eigene Aufnahme.

Im Gegensatz zum Verwischen von Spuren spielt auch das dezidierte Setzen ebensolcher eine Schlüsselrolle in Morbellis Œuvre. In der Serie der Trivulzio-Bilder lässt sich etwa die Figur eines sich wärmenden Mannes am Kamin im Hintergrund als Leitmotiv Morbellis erkennen. Doch nicht nur hier: Auch auf maltechnischer Ebene setzt Morbelli Spuren, in diesem Fall haptisch wie visuell wahrnehmbar. In seinen kunsttheoretischen Überlegungen, der Via Crucis del Divisionismo, schreibt er davon, mit der Spitze einer Raspel in den noch feuchten Farbauftrag zu kratzen – oder wörtlich: „con la punta d’un raspino“ (Via Crucis, §114). Vor dem Original lassen sich diese Kratzer, die Schraffuren ähneln, besonders gut studieren (Abb. 7). Hinzu kommt Morbellis divisionistische Malweise (von dividere, teilen), bei der er und seine Künstlerkolleg:innen mit reinen Farbpigmenten experimentieren, welche sie getrennt voneinander und in feinsten Pinselstrichen auf die Leinwand bringen. Morbelli selbst nennt seine Pinseltupfer beinahe liebevoll puntini, etwa wenn er schreibt: „L’affare dei puntini è per me un esercizio pratico, come le scale del pianoforte.” (Via Crucis, §17)Insgesamt ergibt sich daraus die für den Künstler charakteristische, vibrierende Textur seiner Bilder, die den Kunstkritiker Luigi Chirtani dazu veranlasst, diese mit Seidenstickereien von den venezianischen Inseln zu vergleichen.20 Ein Effekt, den Morbelli ganz bewusst evoziert. Er schreibt: “Parrebbe, e forse lo è, che il colore tanto più seso in tratti fini, tanto più la luminosità … così come gli atomi della vibrazione.” (Via Crucis, §33).

Für Morbelli können sowohl das Verwischen von Spuren als auch das bewusste Setzen ebensolcher, wie bereits angeklungen, als Teil einer übergeordneten Poetisierungsstrategie der universalità begriffen werden. Dieser Eindruck deckt sich mit Stimmen aus der Kunstkritik seiner Zeit. Als Morbelli auf der Venedig-Biennale von 1903 sein Poema della vecchiaia zeigt, schreibt der Chefredakteur der Gazzetta di Venezia, Mario Morasso, dieses Gedicht vom Alter kennzeichne eine

universalità a cui perviene la rappresentazione del Morbelli. Egli è penetrato così addentro nella costituzione, nella essenza dei suoi tipi, dei suoi vecchi e delle sue vecchie, ne ha sentito così distintamente il battito del cuore stanco, il ritmo della vita lenta, ne ha osservato così acutamente sotto tutti gli aspetti le pose inerenti alla loro grave età, alla loro condizione […] che non solo egli ci ha dato una riproduzione vera ed evidente di quiei tali vecchi raccolti in quell’ospizio, ma ha potuto altresì fare di ognuno di essi un tipo rappresentativo e di ogni scena lo schema generale di ogni vecchiaia […].21

Die poetische Strategie der universalità, die eng mit dem Spurenbegriff verwoben ist, gewinnt so eine politische Dimension. Schließlich geht es zu Morbellis Zeit nicht zuletzt auch darum, eine neue, möglichst universelle und einheitliche Bildsprache für den jungen, geeinten Nationalstaat Italiens im Allgemeinen und das moderne Mailand im Speziellen zu finden. So ist Morbelli seiner Korrespondenz nach stets auf der Suche danach, eine Ausstellung unter den selbsternannten Divisionist:innen – allein schon begrifflich eine Abgrenzung zum französischen Pointillismus – auf die Beine zu stellen.22
So schreibt er 1897 an seinen Kollegen Plinio Nomellini von inzwischen zwölf oder vierzehn Vertreter:innen der Gruppe, die bereit wären, diese neue Art zu malen einem breiteren Publikum vorzustellen; später wächst die Gruppe gar auf dreißig Vertreter:innen.23 In diesem Sinne ist es auch Morbellis langjähriger Galerist Vittore Grubicy, der sich 1888 für eine Ausstellung seiner italienischen Schützlinge im Westen Londons federführend zeichnet. Im Katalog zu dieser ambitionierten Italian Exhibition, deren Zugpferd Morbelli ist, heißt es:

To the English public the works of Morbelli […] should prove of no small interest, as the creation of the new school of what is new-a-days so much misundersteed [sic] as ‘impressionism’.24

Nach dem Vorbild der American Exhibition am selben Ort ist es das Ziel der Ausstellung, die kulturellen Errungenschaften des neugeeinten Italiens einem breiten Publikum nördlich der Alpen zu präsentieren.

The first exclusively American Exhibition ever held beyond the limits of the United States Territory has been so eminent a success in London this year, that it is proposed to follow up this Exhibition of the Arts, Manufactures and Products of the greatest country of the New World by an Exhibition of the Arts, Manufactures and Products of the newest Great Power of the Old World — UNITED ITALY.25

Der Anspruch des Generaldirektors John Whitley ist dabei nicht weniger als die bedeutendste Ausstellung italienischer Kunst außerhalb des Staatsgebietes: “The display in every branch of Fine Arts will, I believe, be the most important ever made by Italy in a foreign country.“26

Abb. 8: Anna Viebrock, Pio Albergo Trivulzio, 2017, szenisches Design, Venedig, Fondazione Prada, aus:https://www.designboom.com/art/fondazione-prada-venice-art-biennale-the-boat-is-leaking-the-captain-lied-alexander-kluge-thomas-demand-anna-viebrock-05-10-2017 (Zugriff: 17.10.2025). 

Eine neue Bildsprache für das neue Italien zu entwickeln, scheint also den Zahn der Zeit zu treffen, und Morbelli spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Die beiden oben skizzierten, künstlerischen Strategien – sowohl das Spurenverwischen als auch das Spurensetzen – erlauben es ihm, Orte in ihrer Essenz zu bannen und damit, in seinem Fall, dem modernen Italien und damit dem modernen Mailand zwischen Staatsgründung und Faschismus, zwischen Francesco Hayez’ berühmtem Kuss von 1859 und Giorgio De Chiricos Pittura Metafisica der 1910er-Jahre, im Spiegel der Malerei ein Gesicht zu geben – Spuren zu hinterlassen. Gerade diese Zeitspanne ist es auch, die in der deutschsprachigen Kunstgeschichtsschreibung nach wie vor einen blinden Fleck darstellt. Und so mag es durchaus im Sinne Morbellis gewesen sein, als 2017 ausgerechnet am Rande der Biennale von Venedig, auf der er selbst zeitlebens häufig auszustellen pflegte, eine ganze Ausstellung in der dortigen Dépendance der Fondazione Prada um seine Gemälde herum konzipiert wurde.27 Zentraler Bestandteil der von Udo Kittelmann kuratierten Schau war ein Bühnenbild der Künstlerin Anna Viebrock, die zusammen mit ihren Kollegen Thomas Demand und Alexander Kluge einen ganzen Raum nach den Bildern des Pflegeheimes Pio Albergo Trivulzio gestaltete und damit aktiv zur Aktualisierung des morbellianischen Œuvres beitrug (Abb. 8). Damit bleibt ihr Schöpfer also sowohl für Viebrock wie auch allgemein, in den Worten Carlo Carràs, der Morbelli 1908 trifft und sich wohlwollend erinnert, „un artista degnissimo di essere ricordato“28 – ein Künstler, der es verdient, erinnert zu werden.


Biografie
ALEXANDER SCHUHBAUER studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Stuttgart, wo er auch als Doktorand eingeschrieben ist. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit dem italienischen Maler Angelo Morbelli (1853–1919) und dessen Verhältnis zur künstlerisch-literarischen Moderne rund um Mailand. Von 2016 bis 2019 war Schuhbauer als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie der ABK Stuttgart tätig. Zudem arbeitete er als freier Mitarbeiter für das Kunstbüro der Kunststiftung Baden-Württemberg. Schuhbauer publizierte unter anderem auch zu Adolf Hölzel.

Poesie der Isolation bei Angelo Morbelli. „Il Natale dei rimasti“ von 1903 – Alexander Schuhbauer

Die Bilder des um 1900 arbeitenden, italienischen Künstlers Morbelli könnten in der Darstellung isolierter Menschen im Altersheim nicht aktueller sein. Morbelli verfolgt jedoch keine dokumentarische Strategie, um auf Missstände seiner Zeit aufmerksam zu machen, sondern er erhebt Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie.

„Niemand sollte im Alter allein sein, dachte er. Aber das ist unvermeidlich.“29

Eine Handvoll alter Männer, die sich in einem kargen Saal zusammengefunden haben. Die langen Reihen aus Holzbänken und Pulten sind größtenteils leer, wenngleich sie den Raum ganz und gar einnehmen und gewiss dutzenden Menschen Platz bieten würden. Einige der Männer ruhen oder schlafen im Sitzen, ein anderer wärmt sich stehend am Kamin. Niemand spricht, man hält Abstand zueinander. Es ist Winter, und so wurden Kissen auf die Bänke gelegt, die Anwesenden tragen außerdem zur Schiffermütze passende Paletots. Auch das einfallende Sonnenlicht wird inmitten dieser ruhigen, handlungsarmen Szene bisweilen als willkommene Wärmequelle begrüßt.

Abb. 1: Angelo Morbelli, Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 62 x 111 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.  Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853–1919, Mailand (GAM) 2019, S. 54.

Dieser erste Absatz könnte „in den jetzigen Zeiten der sozialen Distanz“30, wie es im Call zu vorliegendem Text heißt, ohne weiteres eine Szene aus einem zeitgenössischen Pflegeheim beschreiben. Schließlich häufen sich seit Ausbruch der sogenannten Corona-Pandemie, die besonders Italien in diesem Frühjahr schwer trifft, auch Berichte über die Isolation von Senior:innen in Pflegeeinrichtungen. Doch der einleitende Abschnitt beschreibt ein Gemälde des italienischen Malers Angelo Morbelli (1853 – 1919): das 1903 entstandene Il Natale dei rimasti (dt. Weihnachten der Zurückgebliebenen, (Abb. 1).31 Für die fünfte Biennale von Venedig gemalt, zeigt die Szene das Pio Albergo Trivulzio, eine noch heute bestehende Einrichtung für Senior:innen in Mailand, am Weihnachtstag.32

Es ist längst nicht das einzige Mal, dass Morbelli das Trivulzio als Sujet wählt. Im Laufe seiner Karriere entstehen über dreißig Ölgemälde, dazu Pastelle, Zeichnungen, Skizzen und Fotografien des Heims.33 Im Natale zeigt Morbelli dessen lavorerio, den Arbeitsraum.34 Das Gemälde ist Teil einer Serie von Weihnachtsbildern. So zeigen auch Giorno di festa al luogo Pio Trivulzio (1892, Paris), eine gleichnamige Version in Monza (1903, Collezione Roberto Pancirolli) sowie Un Natale! Al Pio Albergo Trivulzio (1909, Turin) einsame, alte Männer, die sich – im Abstand zu den wenigen übrigen Figuren im Bild – in einem der Arbeitssäle des Heims eingefunden haben, wo sie jedoch selbst zu Weihnachten nicht besucht werden.

Diese Fixierung auf ein Bildthema wirkt sich unweigerlich auf die Rezeption Morbellis aus. Bereits ein Jahrzehnt nach seinem Tod feiert ihn ein Nachruf, publiziert in der Stampa an Heiligabend 1929, als „pittore dei ‚vecchioni‘“35, Maler der Alten. Zuschreibungen dieser Art finden sich noch heute. Für David Gilmour, dessen populärwissenschaftliches Buch Auf der Suche nach Italien unlängst wieder in deutscher Übersetzung aufgelegt wurde, gilt Morbelli zum Beispiel als „der einfühlsame Chronist der Alten und Einsamen“36

Was Gilmour mit dem Attribut des Einfühlsamen zu beschreiben versucht, nämlich dass es Morbelli in Bildern wie dem Natale um mehr geht als die bloße Dokumentation einer Altenheimsituation um 1900, wurde von Zeitgenossen des Künstlers im Begriff der Poesie gefasst. Carlo Carrà zum Beispiel, demzufolge Morbelli ein beinah kultisches Verhältnis zur eigenen Kunst pflegte, erinnert sich lobend: „Particolarmente nei disegni dei vecchioni egli [Morbelli, Anmerkung des Verfassers] riesce a precisare la sua peculiare effusione umana e poetica.“37 Auch die Kunstkritik seiner Zeit hat immer wieder auf das Poetische in Morbellis Bildern verwiesen. Der Kritiker Ugo Ojetti schreibt im Anschluss an die Biennale 1903, Morbelli habe noch nie so „poeticamente evidente“38 gemalt und attestiert den dort gezeig- ten Bildern einen „soffio lirico“, einen lyrischen Hauch, der in der Stille der Szenen begründet liege. 39 Der Turiner Literat Enrico Thovez bezeichnet seine Bilder als „scene composte con poesia di luce“40, und auch Morbelli selbst bedient sich des Poesiebegriffes, etwa wenn er in seinen Aufzeichnungen, der zwischen 1912 und 1917 entstandenen Via Crucis del Divisionismo, Poussin paraphrasiert: „I colori nella pittura sono come i versi nella poesia“41 Nicht zuletzt trägt auch der Bilderzyklus auf der Biennale, in dessen Kontext das Natale dei rimasti zu sehen ist, den Titel Poema della vecchiaia, Gedicht vom Alter.42 Anhand des für diesen Zyklus zentralen Natale soll im vorliegenden Text also gezeigt werden, dass Morbelli das Leben, das er im Pio Albergo Trivulzio beobachtet, nicht bloß dokumentiert, sondern im Sinne der Kunst poetisiert. Dabei ist der Begriff der Poetisierung zwar als die künstlerische Durchdringung eines Themas, keinesfalls jedoch als dessen pittoreske Verharmlosung zu verstehen. Im Sinne Kerstin Thomas’, die ähnliches bei Georges Seurat beobachtet, zielen Morbellis Poetisierungsstrategien vielmehr auf „eine Manifestation gesellschaftlicher Wirklichkeit oder ‚Welt‘“43 ab.

Il Natale dei rimasti (1903)

Für seinen Beitrag zur Biennale von Venedig wählt Morbelli ein markantes Querformat. Er zeigt den grün getönten und schmucklosen lavorerio, der von ebenso einfachen Reihen aus Holzbänken und zugehörigen Pulten bestimmt wird. Diese laufen perspektivisch auf den in Schatten getauchten Hintergrund zu.44 Was Kerstin Thomas über Georges Seurats Ein Badeplatz, Asnières und Pierre Puvis de Chavannes’ Heiteres Land schreibt, gilt auch hier: „gedämpfte Stille statt lärmenden Trubels, Innehalten statt bunten Treibens, Dauer statt Flüchtigkeit.“45 In diese stille Szene bricht Tageslicht durch jenseits des Bildraums liegende Fenster, fällt auf die Bänke und Pulte des Vorder- und Mittelgrundes und erzeugt klare Helldunkel-Kontraste. Besonders anhand der hellen Partien offenbart sich Morbellis Maltechnik. Als Maler, der sich dem Divisionismus verschreibt – jener Malweise, die sich durch das Teilen (dividere) reiner Farbpigmente und ihren getrennten Auftrag in feinen, komplementärfarbigen Pinselstrichen zum Zweck größtmöglicher Leuchtkraft auszeichnet –, versetzt er die Bildoberfläche in einen flimmernden Zustand der Vibration (vibrazione).46 Daraus erwächst ein „Gefühl des Uneindeutigen“47. Zusammen mit der überaus raffinierten Lichtregie Morbellis und seinem Gespür für Komposition wird schnell der Eindruck untergraben, dass wir hier die bloße Dokumentation einer alltäglichen Szene in einem Pflegeheim sehen. Allein durch den Weihnachtsbegriff im Bildtitel hebt Morbelli das Dargestellte aus der Sphäre des Alltäglichen heraus.

Das Bild zeigt fünf männliche Figuren, die, wie eingangs erwähnt, nicht miteinander kommunizieren. Zwei der Männer sitzen nur schemenhaft erkennbar im Halbdunkel des Hintergrundes, wo sich ein dritter am einzigen Kamin im Raum wärmt. Das Augenmerk der Betrachter:innen liegt indes auf den beiden Figuren im Vordergrund, die vom einfallenden Sonnenlicht getroffen werden. Der Mann in der Bildmitte sitzt gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen vor einem nicht näher bestimmten Gefäß. Der weiße Schnurrbart unterstreicht sein Alter, ansonsten zeigt Morbelli keinerlei Interesse an physiognomischen Details. Der hintere der beiden Männer im Vordergrund ist genauso gekleidet und scheint zu schlafen, während Arme und Kopf auf dem Pult vor ihm ruhen. Die uniforme Kleidung der Bewohner, so Lara Pucci, erlaube es dem Künstler aufzuzeigen, „wie sich unterschiedliche Lichtverhältnisse auf unsere Farbwahrnehmung auswirken“48. Sie führt anschaulich aus: „Was im Schatten als schlammiges Grünbraun erscheint, verwandelt sich in den von der Sonne beschienenen Bereichen in ein goldenes Beige.“49 Betrachtet man die Kleidung des Mannes und die Pulte im Vordergrund aus der Nähe, fällt auf, dass dieser Effekt durch das Nebeneinandersetzen feinster, abwechselnd grüner und roter Pinselstriche gelingt (Abb. 2).

Abb. 2: Il Natale dei rimasti, Detail. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 53

Zudem steigert das Beimengen von Weiß in den sonnen- beschienenen Partien die Leuchtkraft (luminosità) des Gemäldes. Wenden wir uns dem Bild nun wieder als Ganzem zu, offenbart sich in Morbellis Lichtregie noch eine andere Qualität. Vor dem Hintergrund des Weihnachtsbegriffs im Bildtitel, der der Szene inhärenten Ruhe, der gefalteten Hände und der gebeugten Haltung der Figur im Vordergrund vermag das Licht die Assoziation eines Sakralraums hervorzurufen, auf dessen Bank- und Pultreihen sich zudem der kreuzförmige Schlagschatten der Fenstersprossen abzeichnet. Morbellis Zeitgenoss:innen teilten diese Assoziation offenbar. Enrico Thovez schreibt irrtümlich über das Bild, es zeige uns eine Kirche mit betenden Männern.50Diese in ihrem Kern durchaus treffende Beobachtung Thovez’, die ihn dennoch zu dem vorschnellen Schluss verleitet, Morbelli zeige uns anstatt eines Arbeitsraumes einen Sakralraum, ist bis in die Kunstgeschichte der Gegenwart hinein präsent. Im aktuellen Sammlungskatalog der Ca’ Pesaro – das Bild ist seit der Biennale 1903 im Besitz der Stadt Venedig – ist die Rede von der „proiezione di una croce, determinata dall’ombra degli infissi della finestra su uno dei banchi che sembra trasformato in un ‚altare‘ per il vecchio chino in un silenzio soraccoglimento.“51 Gleichwohl ist die hier getroffene Formulierung vorsichtiger, heißt es schließlich, das Pult wirke (sembra) wie ein Altar. In der Tat liegt dem Natale trotz seines einschlägigen Titels kein sakrales Sujet zugrunde, das klar zu benennen wäre. Schließlich können alle Bildelemente, die Thovez dazu veranlassen, von einer Kirche zu schreiben, auch profan gedeutet werden. Dass Zeitgenossen wie Thovez oder Calzini, der wiederum die „santa vecchiaia“52 der Figuren Morbellis beschreibt, dennoch gerade den sakralen Charakter der Szene betonen, muss andernorts begründet liegen – jenseits traditioneller Ikonografie. Meines Erachtens zeichnet sich das Bild durch die ihm inhärente Stimmung aus – nach Thomas ein poetisches Mittel, das hier eine sakrale Note erhält.53 

Morbelli ist also kein Maler, der schonungslos die zweifelsohne gegenwärtigen Probleme in einem Pflegeheim, wie Krankheit oder Tod, aufzeigt. Seine Figuren sind alt und einsam. Nur in Details, wie im Motiv des Mannes am Ofen, der uns als Versatzstück bei Morbelli immer wieder begegnet, wird indes angedeutet, dass sie frieren. Zudem tragen sie, durchaus angemessen für einen späten Dezembertag in Norditalien, Paletots. Das Gemälde schreit nicht auf, wie eine der ausgemergelten „mad women“54 in Telemaco Signorinis Bild des San Bonifacio-Heimes in Florenz (Abb. 3).

Abb. 3: Telemaco Signorini: La sala delle agitate al Bonifazio, 1865, Öl auf Leinwand (?), 66 x 59 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.
Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853– 1919, Mailand (GAM) 2019, S. 4.

Oder wie es Luciano Caramel fasst: „Morbelli non guarda ai vagabondi, agli esclusi, alle vittime. Non v’è intenzionalità di denuncia, né di protesta.“55 In dieser Hinsicht treffend erscheint auch der Titel des gesamten Zyklus: Poema della vecchiaia. Auch hier, bezogen auf die Titelwahl, könnte man mit Caramel folgern: Non v’è intenzionalità di protesta. Dazu passen sowohl die „abitudini borghesi“ des Künstlers als auch seine Herkunft aus einer Familie von Kleingrundbesitzer:innen im piemontesischen Colma di Rosignano bei Casale Monferrato, einer Weinbauregion.56

Offenbar zielt Morbelli in seinem ruhig flimmernden Bild der Alterseinsamkeit auf einen größeren Zusammenhang „des menschlichen Daseins, der ‚conditio humana‘“57, wie es bei Annie-Paule Quinsac heißt. Diese These ist eng mit dem Begriff der Dauer verwoben. So schreibt Kerstin Thomas über Georges Seurat, dieser habe es sich zur Aufgabe gemacht, „sowohl ein Chronist seiner Zeit zu sein als auch ein Kunstwerk zu schaffen, das die Essenz dieser Zeit für die Dauer festhält“58. Auch der sechs Jahre ältere Morbelli entwickelt meines Erachtens malerisch-poetische Strategien, die auf Dauer zielen. Nicht ganz zufällig überschreibt er seine Via Crucis del Divisionismo mit dem leicht abgewandelten, hippokratischen Aphorismus ars longa vitae brevis – die Kunst ist lang, das Leben kurz.59 

Abb. 4: Angelo Morbelli: Schizzi al volo, fol. 45, 1901–02, Bleistift auf Papier, 9 x 13,5 cm, o. O. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Tra realismo e divisionismo, Turin (GAM) 2001, S. 30.
Abb. 5: Fotografia dell’Archivio Morbelli con la stanza più volte effigiata nei suoi quadri, ca. 1901-02. Abbildungsnachweis: Aurora Scotti: Un pit- tore per il Trivulzio. Angelo Morbelli, in: 200 anni di solidarietà milanese nei 100 quadri restaurati da Trivulzio, Martinitt e Stelline, hg. v. Paolo Biscottini, Mailand 1990, S. 151–156.

Um diese These zu stützen lohnt es sich, den Arbeitsprozess am Natale dei rimastinachzuzeichnen. Am Beginn dieses Prozesses stehen bei Morbelli Skizzen, die er Schizzi al volo nennt, wobei der Zusatz al volo – im Sinne des flüchtigen Duktus einer Skizze – augenblicklich bedeutet. Eine seiner Skizzen für das Natale zeigt eine in suchender Linie schraffierte männliche Figur mit charakteristischer Schiffermütze und Paletot, die mit verschränkten Armen den Kopf in Richtung einer miniaturisierten Frauenfigur unterhalb des Pultes vor ihm senkt. Diese scheint indes einer anderen Sphäre zugehörig. Die Bleistiftzeichnung in den Maßen 9 x 13,5 cm, die einem kleinen Skizzenbuch für die Jackentasche entsprechen, zeigt das Ausschnitthafte des Entwurfes. Dennoch weisen die Kreuzschraffuren, etwa am Kragen, bereits in Richtung der divisionistisch-vibrierenden Malweise des ausgeführten Bildes (Abb. 4). Hinzu treten Fotografien, derer sich Morbelli seit den 1880er-Jahren bedient.60 Unter den Künstler:innen, Intellektuellen und Literat:innen, die das Landhaus der Morbellis im Monferrato besuchen, ist auch der Fotograf Francesco Negri, dem es 1885 zum ersten Mal gelingt, das Cholera-Bakterium zu fotografieren.61 Unter dem Eindruck Negris richtet sich Morbelli eine Dunkelkammer in seinem Atelier in der Villa Maria ein.3462 Scotti veröffentlicht zwei Fotografien, die sie passend zu den Schizzi al volo in die Jahre 1901 und 1902 datiert (Abb. 5). Die hier abgebildete Aufnahme zeigt den nun bereits bestens bekannten lavorerio, ausgestattet jedoch mit den 1898 neuinstallierten Heizkörpern.3563 Das fertige Ölbild macht deutlich, dass Morbelli an diesen Umbauten kein Interesse zeigt. In der Fotografie, rechts oben an der Wand, ist zudem noch der Schriftzug FUMARE zu lesen, der wohl zu dem Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE gehört, der uns in einer quadrierten Vorzeichnung zum Natale begegnet (Abb. 6). Diese datiert aus dem Jahr 1902 und markiert den nächsten Schritt auf dem Weg zum ausgeführten Ölgemälde. Auch hier handelt es sich um eine Bleistiftzeichnung, allerdings in den monumentalen Maßen von 96 x 170 cm. Rechts unten liegen Zylinder, Mantel und Gehstock auf einem Pult, in der Bildmitte hängt eine Lampe von der Decke und links des Kamins ist das erwähnte Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE, Rauchen verboten, angebracht. Vergleicht man dieses Blatt mit der ebenfalls quadrierten Pastellzeichnung (nicht abgebildet), die das Ölbild unmittelbar vorbereitet, sind diese Details verschwunden. Morbelli schreibt dazu:

„Col subordinare tutto il quadro ad un’unica e complessa visione, non preoccu- pandosi dei singoli dettagli del vero, e col divisionismo serrato ai colori puri per lecose vicine, ecco le due chiavi!? (Via Crucis, §55)“

In Morbellis Wendung des subordinare tutto […] ad un’unica e complessa visione, ohne sich in veristischen Details zu verlieren, klingt eine Einschätzung Mario Morassos an. Der Chefredakteur der Gazzetta di Venezia erkennt in Morbellis Poema della vecchiaia eine

„universalità a cui perviene la rappresentazione del Morbelli. Egli è penetrato così addentro nella costituzione, nella essenza dei suoi tipi, dei suoi vecchi e delle sue vecchie, ne ha sentito così distintamente il battito del cuore stanco, il ritmo della vita lenta, ne ha osservato così acutamente sotto tutti gli aspetti le pose inerenti alla loro grave età , alla loro condizione […] che non solo egli ci ha dato una riproduzione vera ed evidente di quiei tali vecchi raccolti in quell’ospizio, ma ha potuto altresì fare di ognuno di essi un tipo rappresentativo e di ogni scena lo schema generale di ogni vecchiaia […].“64

Diese künstlerische Strategie der universalità kann mit Morbellis Anspruch, Gemälde zu harmonisieren, in Einklang gebracht werden (vgl. Via Crucis, §17). Im ausgeführten Bild übermalt er gar noch die Figuren am linken Bildrand der Pastellzeichnung, wie Poldi mittels Infrarotreflektografie nachgewiesen hat.65 Die einzig verbliebenen dettagli del vero sind das nicht näher bestimmbare Gefäß vor der Figur in der Bildmitte, ein Schrank rechts im Hintergrund und der Kamin. Dass dieser für Morbelli ebenfalls entbehrlich ist, zeigt indes ein kleines Ölbild, das sich heute in der Collezione Roberto Pancirolli in Monza befindet (Abb. 7).

Abb. 6: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1902, Bleistift und Conté auf Papier, 96 x 170 cm, Privatsammlung. Abbildungsnachweis: Teresa Fiori (Hg.): Ar- chivi del Divisionismo, Bd. 2, Rom 1968, S. 28.

Dennoch geht Morbelli nie so weit, aus seinen Räumen ein beliebiges Altenheim zu formen. Der Begriff des Wahren steht mit seinen Poetisierungsstrategien also keineswegs im Widerspruch. Das verbindet ihn mit Zeitgenossen wie Seurat.66 Die bewusst gesteuerte Wiedererkennbarkeit der Trivulzio-Räume führt dazu, sie als etwas persönlich Vertrautes wahrzunehmen, zugleich führt das poetische Mittel der universalità zu deren Verallgemeinerung.67 Eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Quelle ist ein Brief Morbellis an seinen Freund und Kollegen Giuseppe Pellizza aus dem Jahr 1901, in dem er schreibt:

„Ho subito una tremenda illusione al Pio Trivulzio! tutto fu restaurato imbiancato sino al delirio, sparí quel giallume d’antico che armonizzava così bene col costume e incartapecorite faccie dei ricoverati!! i muri i plafoni tutto fu odiosamente imbiancato, disposizione banchi, cambiata, insomma un disastro […].“68

Morbelli missfallen also einige Veränderungen am Palast, in dem das Pio Albergo Trivulzio untergebracht war.69 Verschwunden sei der Gelbton der Wände, der Morbelli zufolge mit der Kleidung und den faltigen Gesichtern der Bewohner:innen harmoniert habe, die Mauern und Decken seien in einem hässlichen Weiß gestrichen und die Anordnung der Bänke geändert worden. Wütend schließt er mit den Worten: un disastro, ein Desaster. Offenkundige Fehler in der Groß- und Kleinschreibung, ausgelassene Wörter und doppelt gesetzte Ausrufezeichen untermauern seinen Ärger.

Der Brief an Pellizza zeigt, dass Morbelli in den Räumen des Trivulzio vor den Renovierungsarbeiten, die letzten Endes mehr Platz und damit eine vermeintlich höhere Lebensqualität für dessen Bewohner:innen bedeuten, eine Stimmung erkennt, die er für bildwürdig erachtet, während er später die sterilen weißen Innenräume herabwürdigt. Diese Haltung zu Veränderungen, die den Bewohner:innen zum Vorteil gereichen sollen, lässt den Schluss zu: Morbelli liegt mehr am Beobachten einer konkreten Stimmung und an der Entwicklung malerisch-poetischer Strategien, um diese ins Bild zu setzen, als an einer dokumentarischen Sicht auf die Situation im Heim oder gar am Anprangern derselben. Besonderes Interesse zeigt Morbelli dabei an der Isolation der Menschen im Trivulzio. Dies wird bei einem Schulterblick auf das zwei Jahre nach dem Natale entstandene Triptychon Sogno e realtà (dt. Traum und Wirklichkeit, nicht abgebildet) deutlich. Darin macht der Künstler von den Charakteristika des Bildträgers Gebrauch, um Frau und Mann gemäß den Bestimmungen der Heimverwaltung voneinander zu trennen. Insgesamt gilt für viele von Morbellis Trivulzio-Bildern, für die das Natale stellvertretend steht: Figuren werden – auf der Ebene der Komposition – voneinander getrennt und – bei gleichzeitiger Wiedererkennbarkeit des Trivulzio – aus ihrer Zeit heraus isoliert, indem Morbelli Details wie Heizkörper, Deckenlampen oder Verbotsschilder im Laufe seines Arbeitsprozesses aufgibt und das Endergebnis, das fertige Ölbild, mit seiner typisch-vibrierenden Malweise umfängt. Damit erhebt er Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie. Vor diesem Hintergrund wünschenswert wäre, doch dies nur als Ausblick, das hier mittels des Poesiebegriffs angeschnittene Verhältnis Morbellis zur Literatur zu beleuchten. Schließlich treffen Gedichte aus dem Umfeld des Malers, wie Giovanni Cenas Vecchiaia sterile aus der Sonettsammlung Homo von 1907, einen ganz ähnlichen Ton wie dessen Bilder: „Chè solo augusta è la vecchiezza cinta / d’opere e di memorie, che s’adagia / benedicendo nell’eterna pace.“70

Abb. 7: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 35 x 55 cm, Monza, Collezione Roberto Pancirolli. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 85.

Biographie

Alexander Schuhbauer

Alexander Schuhbauer machte seinen Master Abschluss in Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart. Bereits im Bachelor Studium setzte er seinen Forschungsschwerpunkt auf italienische Kunst der Moderne und entwickelte – auch durch sein Nebenfach Germanistik – sein Interesse an Text-Bild-Korrelationen. Die Verbindung dieser beiden Interessensfelder zeigt sich deutlich an der Thematik seiner Masterarbeit mit dem Titel Poesie des Alters: Angelo Morbelli malt das Pio Albergo Trivulzioin Mailand. Zwischen 2016 und 2019 hatte er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie bei Hans Dieter Huber an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart inne.