Im Dunkeln gelassen – Shadow Archives und wie Vergangenheit in Archiven bewahrt wird, 2024 – Julia Beckmann & Carla Huttenloher

Archive sind Orte des Bewahrens und des Sammelns. Sie sind Wissensspeicher und eröffnen uns Zugang zu Vergangenem. Doch wer entscheidet, was als aufbewahrenswert gilt? Wie beeinflussen weiße, patriarchale und heteronormativ geprägte Strukturen ein Archiv? Julia Beckmann und Carla Huttenloher zeichnen in ihrem Essay mit dem Titel Im Dunkeln gelassen – shadow archives und wie Vergangenheit in Archiven bewahrt wird die teilweise rassistischen und diskriminierenden Prozesse bei der Entstehung und Weiterführung von Archiven nach.  Gleichermaßen suchen sie nach Möglichkeiten der Sichtbarmachung verborgener Erzählungen, um bisherige Leerstellen in den Archiven aufzuzeigen und auszufüllen. 

Archive “speichern” Wissen. Im allgemeinen Verständnis erfolgt der Speichervorgang als bürokratischer Reflex — automatisch und losgelöst von Interpretation oder Vereinnahmung. Wissen wird produziert, an die Archive weitergereicht, dort mit einer Nummer versehen und abgelegt, bis jemand sich wieder für ein Dokument interessiert. Allerdings ist es auch selbstverständlich, dass der Platz der Archive – rein analog gedacht – endlich ist und somit aus pragmatischen Gründen eine Vorauswahl getroffen wird, welche Dinge ins Archiv eingehen und welche kassiert werden.1 Das öffnet die Frage: wer sammelt und wer entscheidet, was archivwürdig ist und was nicht? Dieser Text verhandelt, wie durch diese „Gewalt der Archive“2 – also die Position zu entscheiden, was für die Zukunft aufbewahrt wird – Leerstellen3 im Wissensspeicher entstehen und wie man diese aus dem Dunkeln ans Licht holen und befüllen kann.

Beginnen wir mit einer scheinbar einfachen Frage, auf die es jedoch viele verschiedene mögliche Antworten gibt: Was genau ist überhaupt ein “Archiv”?

Anfang der 1930er-Jahre schrieb der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940) seine Notiz Ausgraben und Erinnern (Abb.1 und 2) mit Tinte auf Papier nieder. Darin definiert er, das Gedächtnis nicht als Instrument, sondern vielmehr als Medium „für die Erkundung des Vergangenen“4. Es sei vergleichbar mit dem Medium des „Erdreich[s], in dem die alten Städte verschüttet liegen“5. Das Archiv ist ein „Medium des kulturellen Gedächtnisses“6. Ausgehend von Benjamin bedeutet die Erinnerungsarbeit in Archiven folglich, sich denselben Sachverhalten (lies: dem Bestand) immer wieder aus neuen und aktuellen Perspektiven zu nähern, denn durch das bloße Sammeln ohne Betrachtung der Kontexte um ein individuelles Objekt und Hervorheben dieser Kontexte entsteht ein Wissensverlust.7 Das Ausgraben wird hierbei zum Modus Operandi – der  Spaten(stich) zum Instrument, dem sich die Grabenden bedienen müssen, um wiederkehrende „Sachverhalte“ wie Erde immer wieder neu anzureichern und umzuwühlen.8

Abb. 1: Walter Benjamin, Ausgraben und Erinnern, um 1932, Manuskript, Berlin, Akademie der Künste. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives, Berlin (Akademie der Künste) 2021, S. 43.

Das Speichern von Wissen in Analogie zum Gedächtnis wird zum Ausgangspunkt der Arbeit mit Archiven, denn „[d]er behutsame, tastende Spatenstich ins Dunkle Erdreich“9 setzt eine bewusste Auseinandersetzung mit den Fundstücken aus Archiven voraus. Werden Archive mit dem Erdreich gleichgesetzt, so wird suggeriert, dass Dokumente, Objekte und Kunstwerke im Archiv verloren gehen, wenn sie nicht kontinuierlich wieder hervorgeholt (ausgegraben) und neu betrachtet (umgewühlt) und unter verschiedenen Perspektiven aus dem Schatten in das Licht gehalten werden. Diese Betrachtung als Kontinuum bezieht sich auf einzelne Stücke, verweist aber auch auf eine anhaltende Re-und Neukontextualisierung des individuellen Objekts innerhalb des Netzwerks einer Sammlung und darüber hinaus. Bezugspunkte zum weiteren Bestand innerhalb des Archivs, zum Selbstverständnis der Institution, die das Archiv beherbergt, zu den Fördermitteln, durch die eine Institution finanziert wird sowie zu der Gesellschaft, deren (Teil-)Gedächtnis im Archiv aufbewahrt und bearbeitet wird — und deren Steuergelder wiederum das Archiv erhält — sind nur ein Teil des immateriellen Bestands einer Sammlung, der mit der Befragung des materiellen Bestands wächst.  Der immaterielle Bestand einer Sammlung, der mit der Befragung des materiellen Bestands wächst, setzt sich aus vielen Faktoren zusammen: zum einen die Bezugspunkte zum weiteren Bestand innerhalb des Archivs und zum Selbstverständnis der Institution, die das Archiv beherbergt, zum anderen die Verknüpfungen mit Fördermitteln, die die Institution finanzieren und mit der Gesellschaft, deren (Teil-)Gedächtnis im Archiv aufbewahrt und bearbeitet wird, und deren Steuergelder wiederum das Archiv erhalten.

Diese Struktur aus Wechselwirkungen, die durch dynamische Akteur:innen konstituiert wird, setzt voraus, dass sich ein Archiv ebenso dynamisch verhält, wie die Gesellschaft, deren Gedächtnis es bewahrt. Archive sind „keine Wissensspeicher im Sinne eines statischen Speichermodells“.10 Sie werden „zur Modifikation und Korrektur aktueller Erinnerungen herangezogen“11.

Abb. 2: Walter Benjamin, Ausgraben und Erinnern, um 1932, Manuskript, Berlin, Akademie der Künste. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives, Berlin (Akademie der Künste) 2021, S. 43.


So ist das Archivieren als bloßer Speichervorgang eine endliche Handlung, die in einer Statik ihren Abschluss findet. Sammeln als Modus Operandi des Archivs wiederum ist ein Vorgang, der kontinuierlich erfolgt. Ein stetes Addieren zu einem Bestand. Sammeln setzt aber auch voraus, dass auf etwas Bestimmtes aufgebaut wird – das Verständnis für das, auf das aufgebaut wird, bestimmt die Stoßrichtung des Archivs: Je größer der Bestand, desto mehr Leerstellen existieren zwischen den Objekten einer Sammlung. Diese lassen sich als immaterieller Bestand nicht durch bloßes „Nachsammeln“ bearbeiten – denn „der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.“12

Es gilt, mit den Leerstellen ebenso zu verfahren wie mit den Netzwerkbeziehungen zwischen dem Bestand und den Dingen außerhalb des Bestands. Sie sollten genauso wie Objekte in der Sammlung befragt und vermittelt werden. Netzwerke bilden das immaterielle Erbe, das in Archiven beherbergt und gleichzeitig nicht beherbergt wird. Dieses Erbe ist nicht allein abhängig davon, wie groß die Menge an Dokumenten, Fotografien, Objekten etc. des Archivs tatsächlich ist, sondern wächst auch dadurch, wie viele Nutzende oder Sammler:innen mit den Beständen interagieren und welche Verbindungen sie zwischen Dingen innerhalb und außerhalb des Archivs ziehen.

Im Gegensatz zu der von Benjamin verwendeten Metapher, mit der er das Archiv als materielle Umgebung beschreibt, die man physisch – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen kann, definiert der französische Philosoph Michel Foucault das Archiv als ein rein immaterielles Konstrukt.13 Es bestehe aus einer Sammlung von Diskursen, die sich repressiv auf die Gesellschaft auswirken, indem sie das „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ bilden; das heißt einen Rahmen, der vorgibt, welche Aussagen innerhalb von gesellschaftlichen Diskursen getätigt werden können.14 So werden historische Sachverhalte über die Zeit hinweg transformiert und bleiben Teil heutiger Diskurse.15 Es entsteht ein Bild der Fremdbestimmung, mit der Vergangenheit als repressives Instrument.

Der Anthropologe Arjun Appadurai interpretiert Foucaults Vorstellung eines Archivs neu: als empowerndes Instrument von migrantischen source communities. Im Sinne Foucaults und Assmanns sammeln sich dort Objekte, Hoffnungen und Verluste an, die überhaupt erst das Werkzeug für eine community bilden können, um sich ein Gedächtnis ihrer Vergangenheit anzulegen und dadurch das „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ in ihrem Sinne zu definieren und so Diskurse zu beeinflussen.16 Bei dem Versuch, diese drei Ansätze unter dem Arbeitsbegriff einer Netzwerkstruktur zu vereinen, wird deutlich, dass ausschlaggebend für die gesellschaftliche Resonanz und deren Wechselwirkung vor allem die sammelnde Institution ist. Wer darf das Erbe in Archiven verhandeln?

Das Erinnern – ausgehend von der Perspektive eines Familiengedächtnisses – ist gleichzeitig eine persönliche und gemeinschaftliche Handlung.17 Außerdem wohnt dem Erinnern, ausgehend von dem Selbst als ersten Bezugspunkt, der Faktor Identität und somit eine große Emotionalität inne. Wo finde ich Anknüpfungspunkte an mein Selbst, wo fällt das augenscheinliche Fehlen meines Selbst in Erinnerungen von Anderen (bis hin zum Archiv als Institution) ins Gewicht? Wie Mitglieder einer Familie durch „Erzählungen und Anekdoten“18 Erinnerungen erweitern und durch „Fotos und andere Dokumente“19 stützen, so wird in Archiven das materielle und immaterielle Erbe einer Gesellschaft verhandelt – durch einen kleinen Teil von ihr.20

Institutionelle Archive sind für die breite Öffentlichkeit – und insbesondere für marginalisierte Gruppen – wie hermetisch verschlossene Speicher, zu denen nur wenige Zugang haben. Archive schließen „nicht bloß durch ihre rechtlichen Zugangsbeschränkungen, sondern auch über die Zugänglichkeitshindernisse, die sich aus dem Material selbst ergeben“ ganze, nicht akademisch ausgebildete Gruppen aus.21 Hinzu kommt die fehlende Widerspiegelung der Pluralität der Gesellschaft bei den Mitarbeitenden und Forschenden, die im Archiv arbeiten. Beispielsweise ist die überwiegende Zahl der Akteur:innen in Archiven weiß.22 Die vorherrschenden Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft, die individuelle und institutionelle Sozialisierung und Biografie beeinflussen die Entscheidung, welche Dinge als wichtig und aufhebenswert erachtet werden. Diese führen dazu – wie es die Museumsforscherin Susan Kamel ausdrückt – dass Mitarbeitende unbewusst „sich selbst sammeln“23 und so die weiße gesellschaftliche Machtposition in den Archiven reproduzieren. Es fehlt die Sensibilität für die Lebensrealitäten von marginalisierten Menschen.24 Gleiches gilt, wenn man den Faktor gender betrachtet – patriarchale Hegemonie wurde ins Archiv und seine Bestände eingeschrieben.25

„Wer nicht am Erinnern [mit]arbeite[n darf], der [wird] verg[essen], [wir] akzeptier[en damit eine Normierung und Homogenisierung] in Kultur und Gesellschaft.“26

Durch diese Praxis erschaffen Archive Leerstellen des kollektiven Gedächtnisses. Mit fehlendem Zugang und der im Zuge dessen fehlenden Perspektiven und Auseinandersetzung mit dem Bestand verkommt das Sammeln zum statischen Speichern und die Archive versagen im Sinne ihrer Verantwortung, diese Gedächtnisse zu öffnen, Wissen preiszugeben und gesellschaftliches Erbe von der Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.27 Es wird eine Deutungshoheit der Wenigen über das kollektive Gedächtnis einer Gesamtgesellschaft gelegt.28 Archive repräsentieren einen historischen Kanon, den sie selbst konstruieren: Sie erinnern nicht bloß, sondern können auch mit Kalkül etwas vergessen machen.29 Archive und ihre Träger:innen sind mitschuldig in der Etablierung von Kolonialismus, Rassismus, Konservatismus, Bigotterie, Sexismus und Chauvinismus geprägten Narrativen, die sie halfen, zurück in das kollektive Gedächtnis zu spülen und es über Generationen hinweg zu formen.30

Archive manifestieren so die Kulturelle Hegemonie31 innerhalb der Gesellschaft, denn „es gibt keine politische Macht ohne Kontrolle über die Archive, ohne Kontrolle über das Gedächtnis.“32

Besonders deutlich wird dies bei von Kolonialmächten angelegten Archiven. Sie nutzten Archive ganz bewusst für ihre Propaganda und, um „ein bestimmtes Bild ihrer Herrschaft in die Zukunft zu überliefern“.  Die deutsche Kolonialgesellschaft war gleichzeitig eine erfolgreiche Bildagentur. Archive wurden als Instrumente der Unterdrückung genutzt, indem sie direkte Beweise ihrer in den Kolonien begangenen Gräueltaten verschleierten oder im Nachhinein auslöschten. Sie lassen sich aus heutiger Sicht somit nicht als neutrale Quellen der Opfer des Kolonialismus lesen, sondern müssen als „Komplizen“ der Täter:innen betrachtet werden.

Bewahren heißt somit auch sich gegen das Vergessen auflehnen.33 „Wer nicht am Erinnern arbeitet, der vergisst, akzeptiert das Vergessen als ‚Normalfall in Kultur und Gesellschaft‘.“34

Aleida Assmann bezeichnet den Vorgang des Vergessens als eine Art gesellschaftlichen Automatismus, bei dem Informationen immer wieder von neuen Informationen abgelöst und überschrieben werden.35 Nur ein Bruchteil des kulturellen Gutes, zusammengesetzt aus dem bereits lückenhaften Gedächtnis eines jeden einzelnen Menschen, der jemals gelebt hat und leben wird, bleibt in kulturellen Bräuchen, Gegenständen, Traditionen etc. zurück beziehungsweise wird überliefert. Das aktive Erinnern als Kanon, als „Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft“, versteht Assmann als einen Bereich abseits des „Speichergedächtnisses“ eines Archivs, in das „Spuren und Reste der Vergangenheit ein[gehen], die nicht Teil einer aktiven Erinnerungskultur sind“ und deshalb „keinen primären Nutzen für die Gesellschaft [haben], sondern […] der Selbstverortung des Menschen in der Geschichte [dienen].“36 Was Assmann als ein „Warten auf Wiedererweckung in Form von Auswahl, Aufmerksamkeit, Deutung, Bewertung, Sinn“37 beschreibt, ist die Transitzone des Gesammelt-Worden-Seins oder das Schlummern im dunklen Erdreich nach Benjamin. Dies beschreibt einen Zustand zwischen Vergessen- und Entdeckt-sein, eine Existenz des materiellen Erbes im Schatten des „Daches schützender Institutionen“38.

Allan Sekula vertritt 1986 in seinem Essay The Body and the Archive die These, dass Archive einen universellen Charakter haben, also grundsätzlich alle gesellschaftlichen Gruppen abbilden, jedoch mit Hierarchisierungen arbeiten, um vermeintlich gute und vermeintlich schlechte Gruppen zu unterscheiden. Nur auf Grundlage dieses gegenseitigen Vergleichs konnten Abweichungen identifiziert werden.39 Aus diesen gesammelten Abweichungen bildeten sich shadow archives, deren Verflechtungen innerhalb der Archive entschlüsselt werden müssen, um Kontinuitäten aus der Erde der Archive ans Licht holen zu können.40  

Im durch die Mauer geteilten Berlin der 1960er-Jahre gründete die Akademie der Künste der DDR ein Archiv für den Bürgerrechtler Paul Robeson (1898-1976).41 Er war nicht nur Sportler, Musiker und Schauspieler, sondern zählte als überzeugter Sozialist und Kommunist zu den Radikalen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA.42 Seit 1956 war er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste43. Erst über ein halbes Jahrhundert später und mehrere Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Akademien Ost und West44 wurde das Paul-Robeson-Archiv45 – inzwischen ein wirkliches shadow archive – im Rahmen der Recherche für das Ausstellungsprojekt Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives46 wiederentdeckt. Die kritische Auseinandersetzung mit der mehr oder minder bewussten Vergesslichkeit der eigenen Institution47 wurde durch Matana Roberts48 in der Klanginstallation Resonanceinnerhalb der Ausstellung sichtbar. Die Installation war mit Inhalt der Podiumsdiskussion Resonating Struggles – Paul and Eslanda Roberts in East Berlin49, die im Rahmen des Projekts stattfand und die Beziehung zwischen den Robesons als Symbolträger:innen eines anderen US-Amerikas und der DDR nachvollzog. Als Resonanzkörper also evoziert das Paul-Robeson-Archiv – als Kunstwerk, als Ort, als Gespräch, als Text – Assoziationen mit dem verhandelten Material oder die Gedanken und Ideen von Matana Roberts, als der:die Künstler:in sich durch das Archiv “grub“.50  Es gibt so nicht nur Aufschluss über den Bezug der Robesons zur DDR, sondern auch über die kritische Auseinandersetzung mit dem Bestand der Akademie der Künste.

Durch eine Öffnung des Archivs und das Einladen von sich im Außen befindenden Perspektiven wird Gesammeltes wiederentdeckt, werden Leerstellen in Sammlungen aber auch in Bezügen der Sammlungsobjekte untereinander und darüber hinaus augenscheinlich. Das ist kein Problem, sondern ein Anstoß zur weiteren Wandlung und Öffnung von Archiven und der hochemotionalen Arbeit mit unserem kulturellen Gedächtnis. Denn, wie Michael Rothberg es zusammenfasst:

Cultural memory in its oppositional guise seeks not simply to resurrect a repressed past but to ‘displace the angle of vision’ through which we approach history. It thus makes possible a ‘new relation to the past’ based not ‘resemblance’ but on ‘recognition’ of our ethical implication in traumatic violence.“51

Als Frau ist Eslanda Goode Robeson, langjährige Managerin und Ehefrau von Paul Robenson, der Vergesslichkeit der Archive aber auch des Funktionsgedächtnisses der Gesellschaft52 noch mehr ausgesetzt als ihr Mann. Die Akademie der Künste gab sich während der Ausstellung Arbeit am Gedächtnis Mühe, Goode Robesons Arbeit als Aktivistin und Anthropologin an der Seite ihres Mannes und darüber hinaus im Umgang mit dem Sammlungsbestand hervorzuheben. So wurde beispielsweise das Teilarchiv der Akademie während der Laufzeit als Paul und Eslanda Robeson Archiv verhandelt.53 Die strukturelle und kontinuierliche Sichtbarkeit dieser temporären Implementierung hinterlässt aber noch immer eine Leerstelle in Form von Eslanda Robeson: Das Archiv trägt offiziell weiterhin den Namen Paul-Robeson-Archiv54.

Solche Archiv-Konflikte wollen die critical archival studies ansprechen und problematisieren. In einem einführenden Text werden diese – in Anlehnung an die Definition der kritischen Theorie nach Max Horkheimer – so definiert:

„[…] we broadly define critical archival studies as those approaches that (1) explain what is unjust with the current state of archival research and practice, (2) posit practical goals for how such research and practice can and should change, and/or (3) provide the norms for such critique. In this way, critical archival studies, like critical theory, is emancipatory in nature, with the ultimate goal of transforming archival practice and society writ large.“55

Abb.3: Doreen Mende: “140.000.000 Frauen können nicht falsch liegen”, Eslanda-Robeson-Lesezirkel, 2021, Bildmontage, Berlin, Akademie der Künste. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives, Berlin (Akademie der Künste) 2021, S. 94.

Diese Definition bietet sowohl eine theoretische Rahmenbedingung für die kritische Lesart von Archiven als auch eine praktische Perspektive, wie sich die Arbeit an und mit Archiven verändern soll und muss. So zählt Matana Roberts nicht zu den rund 400 Mitgliedern der Akademie der Künste Berlins.56 Deren Perspektive nicht zu einer endlichen Handlung, sondern zu einem Ausgangspunkt mit einer kontinuierlichen Tragweite werden zu lassen, ist die Verantwortung der Mitglieder einer solchen Institution und derer, die in ihren Archiven weiterhin “am Gedächtnis arbeiten”. Transformation bleibt ein transdisziplinär und transgenerational kontinuierlicher Vorgang.

Dafür muss unter anderem der Auswahlprozess des Archivierten offener werden. Beim Sammeln wird den Dingen – nach Michael Thompsons Mülltheorie – anhand eines Bewertungsmaßstabs Bedeutung zugewiesen, der drei Kategorien umfasst und deren Wertigkeit innerhalb der Aufzählung abnimmt: Dauerhaftes, Vergängliches und Müll.57 Archive und Museen sind traditionell in der Machtposition, die Grenzen zwischen den drei Kategorien zu ziehen und somit zu entscheiden, was dauerhaft gemacht wird. Diese Position gilt es aufzubrechen und das Sammeln partizipativer zu gestalten,58 um durch die Beteiligung verschiedenster Gruppen die aktuellen Bestände herauszufordern, widerzuspiegeln, aber auch zu ergänzen. 

Letztendlich bedeutet ein Gegenbild zum etablierten Kanon zu entwickeln allerdings häufig, in Opposition zu den Institutionen zu treten und eigene Archive anzulegen. Im Zuge der zweiten Frauenbewegung in den 1970er- und 1980er Jahren gründeten sich viele feministische Archive, die sowohl die Dokumentation der Geschichte der Bewegung seit dem 19. Jahrhundert übernahmen und Zeugnisse aus dieser Zeit verwahrten als auch die aktuellen feministischen Aktionen festhielten. Archive wie das FFBIZ (Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum) in Berlin bestehen bis heute.59

Der fehlenden Repräsentation und systematischen Exkludierung der migrantischen Akteur:innen in den staatlichen Archiven und Sammlungen der deutschsprachigen Länder wirken Initiativen wie DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.) in Deutschland und das Archiv der Migration in Österreich entgegen. Sie tragen aus privaten Sammlungen und Vereinen zusammen, was die vielfältige Geschichte der Migrant:innen in Deutschland und Österreich illustriert und nutzen das Archiv so im Sinne Arjun Appundarais als empowerndes Instrument, um Sichtbarkeit zu schaffen und die gesellschaftliche Rolle von Migrant:innen als Subjekte der Geschichte zu manifestieren.60 Die Eigenständigkeit der Archive schützt auch vor einer Vereinnahmung und Aneignung durch große Institutionen und sichert die Zugänglichkeit für die source communities. Verdeutlicht wird dies durch das Projekt Migration sammeln 2015 im Wien Museum. Die im Zuge des Projektes zusammengetragenen Objekte und Dokumente wurden in die Sammlung des Museums aufgenommen, wodurch die Objekte selbst und die von ihnen erzählte Geschichte jedoch dem Zugriff der Sammelnden entzogen wurden.61

Abb. 4: Eva Dertschei und Carlos Toledo: Plakat zur Kampagne für ein Archiv der Migration, Wien 2012.  Abbildungsnachweis: Archiv der Migration, URL: http://www.archivdermigration.at/de/kampagne/kampagne (26.06.2024)

Konservative Narrative in Archiven zu hinterfragen, heißt, diese zu dekonstruieren, mit dem Spaten ins Dunkle zu stoßen und das Erbe ins Licht zu holen – sowohl innerhalb bestehender Archive als auch durch aktives Suchen bei Akteur:innen marginalisierter Gruppen. Graben heißt, sich erinnern, Erinnern ist Arbeit.62 Das Möglich-Machen des „ins Licht holen“ ist eine Aufgabe des Archivs, das darauffolgende Betrachten zugleich eine persönliche und gemeinschaftliche sowie kontinuierliche Handlung. Das Bewusstsein über die kontinuierliche Arbeit im Archiv als Selbstzweck beschreibt einen Aufwand, der ein kollektives Herangehen an den Bestand fordert, der nicht nur gesammelt, bewahrt und organisiert, sondern auch vermittelt werden will. Leerstellen im Archiv sollten nicht als Zielstellung die Vollständigkeit der abgebildeten Perspektiven haben, denn sammeln ist keine finite Handlung, denn eine Vollständigkeit ist – wie auch im kollektiven Gedächtnis – niemals erreicht. Vielmehr sollten Archive als Hilfestellungen fungieren, das „Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft“, den etablierten Kanon und die Weichenstellung der Gegenwart in die Zukunft auf Basis dieses Kanons, zu hinterfragen und auch die Erde des Funktionsgedächtnisses immer wieder helfen, umzugraben. 


Biografie

JULIA BECKMANN ist Museologin und Kunsthistorikerin und aktuell im Projekt zur Digitalisierung der Sammlung am Bauhaus-Archiv in Berlin beschäftigt. Außerdem ist sie ehrenamtlich als Teil des Kurator:innen-Teams im Ausstellungsraum Helmut in Leipzig aktiv. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Ausstellungsgestaltung und dem Alltagsdesign des 20. Jahrhunderts und ihrer Rezeption, sowie der Wirklichkeitsdarstellung in Fotografie und Malerei und ihrer Wechselwirkungen.

CARLA HUTTENLOHER ist Kunst- und Bildwissenschaftlerin. Aktuell ist als wissenschaftliche Volontärin am Bauhaus-Archiv in Berlin tätig. Ihr besonderes Interesse gilt der Reproduzierbarkeit und dem Kopieren von Bildern und Bildausschnitten. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die politisch motivierte Kunst in der Weimarer Republik sowie das Bild und sein Fragment im digitalen Raum.

Derzeit sind BECKMANN und HUTTENLOHER im Rahmen der AG Diversität gemeinsam mit weiteren Kolleg:innen des Bauhaus-Archivs an der Gestaltung der Veranstaltungsreihe Haltung üben beteiligt. Im Zuge dessen beschäftigen sie sich mit dem Thema, wie man Archive politisch lesen, neu betrachten und lebendig halten kann.