Zeigt sich in heutiger britischer Kunst eine Neuverhandlung der sexuell-provokativen Ära der YBA? Künstler:innen wie Richie Culver hinterfragen Geschlecht, Intimität und Männlichkeit —introspektiv und emotional aufgeladen, zwischen Clubkultur und Fragilität und britischem Erbe. Carolin Heel bietet einen Blick auf aktuelle Diskurse.

Wenn ich mein Handy öffne, dann springt mir das pinke Icon Instagrams aufdringlich entgegen. Die Plattform ist (längst, aber nun: wie lange noch?) zum Unterhaltungsmedium geworden, auf dem sich reale Kontakte, Influencer:innen aber auch Galerien und Künstler:innen vermischen. Anhand meiner sogenannten For You Page sind aktuelle Trends des kulturellen Geschehens ebenso abzulesen, wie künstlerische Kooperationen und wer mit wem welcher Strömung zuzuordnen ist. Aufmerksam wurde ich dort vor ein paar Jahren auf eine Malerei des britischen Künstlers Richie Culver, die in Großbuchstaben mit malerischem Gestus auf einer sonst leeren Leinwand fragte: Did U Cum Yet? Die Frage nach dem Höhepunkt war nicht nur eine sexuelle Provokation Culvers, so wurde schnell deutlich, sondern vielmehr eine anklagende Frage an den (erweiterten) Kunstmarkt und ein Spiegel des Voyeurismus der skandalbefeuerten Betrachter:innen. Culvers Spiel gefiel mir: Die handschriftliche Roughness und fast naive Aufmachung der großformatigen Leinwand täuschte auf den ersten Blick über die tatsächliche Kuration der inszenierten Partie Culvers hinweg. Doch der Künstler vollführte ein vielschichtiges Spiel, indem er die Malerei in seinem Studio fotografierte, das ursprüngliche Werk dann zerstörte und die Studioaufnahme erneut auf eine weitere Leinwand aufzog und wiederum an jener Stelle im Studio fotografierte – and again. So entstand ein Loop aus verschiedenen Versionen der Malerei, die immer wieder auf seinen Instagram-Account hochgeladen wurden und die Frage, ob nun endlich der Höhepunkt erreicht sei, immer drängender erscheinen ließen. Unter diesen Postings der Serie auf Culvers Account sammelten sich schließlich viele Stimmen. Einige davon werden dem kommerziellen Kunstmarkt-Sektor zugeordnet, darunter etwa Galerien, Kunstvereine oder internationale Sammler:innen. Sie sahen, so interpretierte ich ihr Feedback unter den Beiträgen, in Culvers Position wohl eine aktuelle Ästhetik und Formsprache. Dieser Hang zur Trendhaftigkeit in Culvers Positionierung fiel auch mir auf. Besonders fiel mir auf, wie die latente Kühnheit der herausfordernden und zugleich fast beiläufigen Textmalerei stark mit einer aktuellen Strömung der angesagten britischen Szene verbunden zu sein scheint. Neben diesen professionellen Stimmen des Kunstmarkts fanden sich vor allem zahlreiche kritische Kommentare eines breiteren Instagram-Publikums. Diese stellten aufgrund der schnellen und scheinbar laienhaften Machart des Werks dessen künstlerischen Charakter infrage. „Doesn’t anyone even try anymore?“1 (deutsch, sinngemäß: „Versucht es denn heute überhaupt noch jemand?“, CH), war dort etwa zu lesen. Neben solchen, vergleichsweise harmlosen Kommentaren, fanden sich allerdings auch solche, die nicht nur dem Werk seine Daseinsberechtigung absprachen, sondern auch Culver als Künstler.
Sex Sells dachte ich mir, denn auch wenn die anonymen Stimmen der Internet-Rezipient:innen hochgradig ambivalent waren, erbrachte das Spiel mit Instagram doch eines: Aufmerksamkeit. Ebendiese war zwar einerseits durch den sexuell aufgeladenen Spruch generiert, blieb aber dann letztlich – so konnte man in den Kommentaren ablesen – an Medium, Material und der Kombination von Text und Malerei hängen. Ich sah damit den subversive Ansatz jüngster britischer Kunst zwischen Trend und Rebellion in Culvers Spruch gespiegelt: Dass der Künstler mit seiner sexuellen Anspielung auf die Höhepunkt-Strategie eines nicht zu befriedigenden und schnelllebigen Kunstmarktsystems deutete, wurde nochmals deutlicher, als 2019 das Buch zur Serie herauskam. Die gleichnamige Publikation Did U Cum Yet erschien 2019 bei stolen books (Portugal) und ist nicht weniger als eine 370 Seiten starke Ansammlung der verschiedenen Stimmen aus Culvers Kommentarspalten. In der Ästhetik von Screenshots zeigt Culver darin jene Kommentare und damit die gesamte Bandbreite der Aufregung um die Malerei. Oliver Morris Jones, Kunstauktionär der britischen high-art Szene, schrieb 2019 über die Serie und Publikation Culvers:
„[…] Whatever such a collection of dialogue might be called, it continues the hard work of the original in faith to its provocative simplicity, and begs the question one more time to those who felt compelled to comment on Richie’s work, if at last they have finally had the satisfaction of unloading their viscous bile.“2
Culvers rebellischer Geist, sich gegen bestehende Begrenzungen aufzulehnen, oder zumindest, innerhalb dessen anzuecken, wird durch sein biografisches Narrativ unterstrichen. Dieses ist in der aufmerksamen Verfolgung seines Instagram-Accounts abzulesen. Der Künstler ist Autodidakt und stammt aus einer kleinen nordenglischen Stadt namens Hull, wo er in jungen Jahren als Wohnwagen-Konstrukteur arbeitete und sich nebenbei auf seine Kunst und vor allem auch auf seine Musik konzentrierte. Es folgte ein Aufenthalt in Berlin und der dortigen Techno-Szene und schließlich die Rückkehr nach England.
Bad Girls: Sex und Rebellion im England der 1990er-Jahre
Doch zurück zur sexuellen Frage nach dem Höhepunkt, denn Culvers Position verwirrte mich: Worin lag also das besondere Potenzial dieser Arbeit? Wieso faszinierte sie mich ebenso, wie sie hunderte Menschen auf Instagram faszinierte?
Denn generell befinden wir uns doch auf einem bekannten Terrain: Sex und Rebellion hat in der britischen Kunstwelt beinahe Tradition. In den 1990er-Jahren waren es besonders die bad girls der Young British Artist, der YBAs. Sarah Lucas, eine der prägendsten Figuren der YBAs kehrte im Sommer 2024 nach beinahe zwei Jahrzehnten mit einer Ausstellung nach Deutschland zurück. Als die Kunsthalle Mannheim ankündigte, die Werke der Britin in die Stadt am Neckar zu holen, war mir klar, dass ich diese Eröffnung nicht verpassen durfte. Zu meiner großen Überraschung gab es dann einen zusätzlichen Höhepunkt des Eröffnungsabends, denn die Künstlerin selbst war anwesend. Es bot sich also die seltene Gelegenheit, Lucas hautnah zu erleben und alsbald bildete sich eine Schlange an gut angezogenen Kunstfans jeden Alters, um der scheinbar unbeeindruckten und lässigen Künstlerin einmal die Hand zu schütteln. In Cargohosen und Kapuzenpulli stellte diese sich publikumsnah den Umstehenden. Lucas war, wie ich es mir träumte: Obwohl sie zu den wohl bekanntesten und erfolgreichsten Künstler:innen der Welt gehört, ging die Aufregung, die um sie herrschte, nicht von ihr aus. Der Gang durch die Ausstellung führte zu einem der bekanntesten Porträts, das die junge Sarah Lucas breitbeinig und provokativ in die Kamera blickend darstellt. Nun, da ich die tatsächliche Lucas vor Augen hatte, kam mir das Porträt weniger gestellt vor, als ich es bis dato mit meinem kunstwissenschaftlichen Blick einordnen wollte. Denn hier ist grundsätzlich die Sollbruchstelle anzumerken: Wie wir etwas (ein Bild, eine Strömung) werten und wahrnehmen, hat mit unserer eigenen kulturellen Einbindung zu tun und bricht manchmal mit dem, was zumindest im Moment der Entstehung (künstlerische) Intention war. Wenn ich hier nun also über die britische Kunstszene nachdenke, dann schaue ich hierauf mit meinem Blick, der auf der Suche nach kunstwissenschaftlichen Antworten ist.
Das Porträt jedenfalls, vor dem ich nun stand, ist wohlbekannt – es ist ebenjenes Selbstporträt der Britin von 1996, über das wahrscheinlich am meisten geschrieben und gesprochen wurde. Lucas sitzt breitbeinig und in alltäglicher Szenerie auf einem Stuhl, mutmaßlich ist der gescheckte Boden einer Küche zuzuordnen. Sie trägt ein olivfarbenes Army-T-Shirt und auf ihrem Oberkörper hat sie zwei Spiegeleier auf Höhe ihrer Brüste platziert: fried eggs. Dieser visuelle Streich ist auch ein sprachlicher Witz, denn fried eggs bedeuten umgangssprachlich auch „kleine Brüste“. Was klar ins Auge fällt, ist Sarah Lucas selbstbewusste Geste: Sie nimmt sich Platz, sie sitzt nicht wie eine Lady. Sie sitzt wie ein Mann. Eigentlich macht sie genau das, was wir heute als man spreading diskutieren und kritisieren. Und auch der Reisverschluss ihrer Jeans zeigt an, dass sie eine Hose trägt, die für Männer gedacht war. Damit sei eine Sache grundsätzlich angemerkt, nämlich, dass wir gewisse Vorstellungen davon haben, welche Gesten, Handlungen und Bewegungen weiblich oder männlich sind. Deckungsgleich mit meinem Real-Life-Eindruck von Lucas dachte ich mir vor dem Porträt stehend, dass Lucas wohl unbeeindruckt ist: von Konventionen, von Gesten und (nicht nur am Eröffnungsabend) von Kleiderordnungen.
Doch andersrum, schienen die Konventionen in den 1990er-Jahren maßgeblich von Lucas berührt, denn die Künstlerin wurde mit ihren Körperspielen und den sexuellen Referenzen zu einer ebenjener bad girls des damaligen Kunstmarktes ernannt. Das Porträt mit den Eier-Brüsten ist bei weitem nicht das einzige, das sexuell provozierte, denn Sex spielt(e) bei Lucas eine maßgebliche Rolle, um die Zuweisung von Künstler:innenschaft zu verhandeln. Gemeinhin wurde Lucas eine aufbegehrende Haltung und damit eine reflexive männliche Geste zugeschrieben, eine feminine Masculinity.
Als ich so durch die Mannheimer Ausstellung gehe und die nackten Bunnys sehe – die Körperskulpturen Lucas’ mit großen Brüsten – ist meine vereinfachte These, dass Lucas eine nach wie vor tradiert männliche künstlerische Haltung einnimmt, gerade aber dadurch überhaupt die gesellschaftliche Erlaubnis erhält, subversiv zu hinterfragen. Lucas’ Position hatte in den 1990er-Jahren subversives und rebellisches Potenzial. Doch gerade aus heutiger Perspektive wird ersichtlich, dass der male gaze dieser Sexualität – auch oder gerade in der Übernahme maskuliner Haltungen und Repräsentationen – erhalten bleibt. Was also bei Lucas rebellisch war, war die Nacktheit, die männliche Geste, mit der sich Lucas ihren Raum nahm. Und bei Culver?
Zwischen Elitisierung und Subversion
Ich kam nicht umhin mich zu fragen… – um an die gedankenschwangere Carrie Bradshaw zu erinnern, die in den 1990er-Jahren rauchend und grübelnd zur stilsicheren Ikone weiblich-konnotierter literarischer Bemühungen wurde (in derer sie über das männliche Verhalten schrieb, was ich an dieser Stelle nun passend finde) – nun, ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob der Geist der bad girls, wie sie genderbetitelnd genannt wurden, nun in Culvers Pinselstrichen steckt? Wenn er mit Sprüchen und Titeln wie Did U Cum Yet den Kunstmarkt an die Wand stellt, ist er dann auch ein bad guy? Oder ist das nicht eher der Geist eines dandyhaften James Dean, der mit Kippe im Mundwinkel die Frauenherzen höherschlagen lässt? Es wird deutlich: der Komplex Sex und Künstler:innenschaft hat mit Stereotypen zu tun, die ihrerseits nicht nur genderspezifisch, sondern auch epochenabhängig gewertet werden. Während das rebellische und aufbegehrende Potenzial der sogenannten bad girls der 1990er-Jahre eben darin lag, wie Sarah Lucas weibliche Genitalien abzubilden, und diese Künstlerinnen damit eben ungehörig waren, ist Richie Culvers Geste, wenn man ihn nun als bad guy betiteln möchte (was sicherlich konsequenterweise nicht zu halten wäre) von verschiedenartigen Zuweisungen getragen. Sicherlich gibt es, gerade wenn Werke im öffentlichen Raum der Social Media Plattform Instagram platziert werden, eine breite Masse an Kommentaren, die sich durch die sexuelle Provokation zu klischeehaften Aussagen verführen lassen. Doch in Culvers Selbstdarstellung schwingt unverkennbar ein heroischer Unterton mit: Er nutzt die sexuelle Anziehungskraft bewusst von der „sicheren“ Seite der Trennwand. Dies tut er einerseits, um auf die Schnelllebigkeit des Kunstmarktes hinzuweisen und auf den kaum zu erfüllenden Anspruch, dass Künstler:innen ständig neue Höhepunkte schaffen müssen. Andererseits nimmt er eine reflexive, fast konzeptuelle Haltung ein, mit derer er sich von den Kommentaren unter seinen Arbeiten distanziert. Durch die Sammlung und Kuratierung dieser Kommentare in einer Publikation positioniert er sich in bekannter Zuordnung als künstlerisches „Genie“, das die komplexen Spannungsfelder zwischen Kunst, Anspruch und Gesellschaft scheinbar souverän überblickt. Auf dieser anderen Seite, der halberhöhten Empore verschiedener Kunstvereine auf internationaler Ebene, hat man das trendhafte Potenzial Culvers längst für sich beansprucht. Denn, Culvers Kunst nennt Sex nicht nur beim Namen – sie ist auch sexy: Sie lockt, sie ist sich einer gewissen Ästhetik, einer Zugehörigkeit und einem Klang bewusst. Verschiedene Verweise auf die Werkserie Did U Cum Yet tauchten so wiederkehrend in anderen Arbeiten des Briten auf und ziehen uns als Rezipient:innen in einen spielerischen Komplex der Lust. Weitere Text-Malereien im selben Stil zeigten Sprüche wie „Look Me In The Eye’s When You Come“ oder „Use Your Mouth“ und erweiterten das Narrativ um die voyeuristische Schaulust und die Beziehung zwischen dem Künstler und seinem Publikum.3 Doch damit nicht genug: schließlich kursierte das Foto einer Tätowierung auf Instagram, die den Spruch Did U Cum Yet auf einem anonymen Körper präsentierte. Mit solchen Einblicken hält Culver stetig die Verbindung zwischen Urbanität, Subversion und Humor. 2021 durchbricht der Künstler auch innerhalb des Werkkomplexes die Grenzen der Disziplinen und führt das Motiv Did U Cum Yet in die musikalische Kollaboration mit dem Label Blackhaine. Seine provokative Haltung, die ihn in der zeitgenössischen Kunstszene als Grenzgänger positioniert, scheint von einer Mischung aus kalkulierter Provokation und klischeehafter Inszenierung getragen zu sein.
Damit wird ein Unterschied zu Lucas sichtbar: Dieser liegt in der Tonalität ihrer Setzung. Lucas eckte an, war laut und im Geiste der bad girls unangepasst. Culvers Verhandlungen sind doch gerade in seiner Nonkonformität archetypisch für eine aktuelle Szene jüngerer britischer Kunst, die nicht nur Grenzen wie Genre und Gattungen, sondern in einer selbstbewussten Ermächtigung von sexuellen Referenzen und Intimitätskomplexen Diskurse von Öffentlichkeit und Privatheit aber vor allem auch von Männlichkeit und Weiblichkeit – stets im Diskurs zur Künstler:innenschaft – hinterfragt. Culver zeigt sich also einerseits als Gegenfigur, andererseits fügt er sich in seiner Darstellung des reflexiven All Rounders aka Konzept-Künstlers auch perfekt in diese aktuelle Szene ein.
Alter Schauplatz, neue Diskurse
Diese Vielschichtigkeit, die in der genauen Besprechung der Serie ersichtlich wird, hat damit zu tun, dass sich die heutige Generation britischer Künstler:innenschaft dem Erbe der YBAs nicht nur bewusst ist, sondern, dass sie damit umgehen muss.
Lucas’ Penisskulpturen, Fetischobjekte und Bunnys aus Nylonstrümpfen konnten in den 1990er-Jahren binäre Systeme hinterfragen. Es ging zudem eine Provokation und Aufmerksamkeit davon aus, dass gerade eine Frau diese Frage stellte – wenngleich man ihr zur Erlösung alsbald eine männliche Haltung diagnostizierte. Es ist heute aber keine sexuelle Provokation mehr. Wir gehen anders durch die Ausstellung Lucas’, und das nicht nur, weil wir sie mittlerweile als Weltkünstlerin anerkannt haben, sondern auch, weil uns der Sex per se nicht mehr auf dieselbe Weise provoziert, wie er es damals tat – die Carrie Bradshaws der letzten 30 Jahre haben ihren Soll erfüllt. Das soll nicht bedeuten, dass sich binäre Systeme erledigt oder gar aufgelöst haben: Gegenteilig wurden unter dem Motto Sex binäre Systeme wiederkehrend verfestigt. Zu hinterfragen ist eben die feminin masculinity, die Sarah Lucas’ zugesprochen wurde – und ob nicht gerade im männlich geordneten Teil der künstlerischen Idenität die gesellschaftliche Erlaubnis nach Aufbegehren verortet ist.
Doch der Diskurs muss neu geführt werden: Auch wenn der Sex allein sein provokantes Potenzial einbüßen musste, so sind die Diskurse, die er mit sich bringt, aktueller und schärfer denn je. Mir kommt Culvers Spiel in Did U Cum Yet daher wie eine Re-Inszenierung jener Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse vor, um sich darin mit der eigenen Künstlerschaft, aber auch innerhalb des britischen Erbes der YBAs, mit denen Künstler:innen seiner Generation zwangsläufig in Verbindung gebracht werden, auseinanderzusetzen. Was Lucas’ für den Kunstmarkt der 1990er-Jahre bedeutete, war groß: Sie zeigte sowohl Sex als Ware auf, wie sie auch feministische Diskurse anregte. Heute ist ein Spiel auf dieser Ebene nicht mehr fortzuführen. Did U Cum Yet provoziert daher auch nicht in erster Linie aufgrund des sexuellen Gehalts, dieser ist vielmehr nur Erkennungszeichen dafür, dass hier eine Auseinandersetzung stattfinden soll. Sondern er provoziert dann, wenn er sich mit Konventionen von high art und den Anspruch an Künstler:innenschaft auseinandersetzt. Was tatsächlich in den Kommentaren hinterfragt wird, sind Fragen nach Form, Medium, Gattung und Vergänglichkeit. Darin geht Culvers Strategie auf, Künstler:innenschaft zu beleuchten. Verbindet man nun diese Haltung Culvers mit den Narrativen über ihn, von denen man über seinen Instagram-Account und Interviews erfährt, so bildet sich ein vollumsichtiges Bild des Künstlers, der klare Trennlinien, auch von Genre und Disziplin, zu hinterfragen sucht. Eben darin gründet sich die aktuelle junge Szene britischer Kunst, etwa auch um die junge Kuratorin Ellie Pennick, die mit ihrer Guts Gallery erreichen möchte, den Kunstmarkt Londons niedrigschwelliger und sozial gerechter zu gestalten. Dieses Umfeld scheint weniger von Provokation geprägt zu sein als vielmehr von der Auseinandersetzung mit etablierten Behauptungen, der Reflexion von Identitätsdiskursen und der Verflechtung von Kunst, Markt und Gesellschaft.
Subversion und Trend gehen oft Hand in Hand – das lässt sich kaum leugnen – und so ist hier noch abzuwarten, welche Segmente einer derzeitigen Dynamik tatsächliches transformatives Potenzial in sich tragen. Aber vielleicht offenbart sich eine mögliche neue Ära des Sex in der Londoner Kunstszene gerade darin, dass Sex sein reines Provokationspotenzial längst verloren hat. Stattdessen scheint sich die neue Generation umso bewusster zu sein, dass in ihm tiefer gehende Diskurse über stereotype künstlerische Rollenbilder verborgen sind. Dadurch ist er vielleicht noch mehr zu einem Ort der Identitätsbildung geworden, und genau das ist es, was mich an Culver so verwirrt(e) und warum seine Position so ungreifbar zu entgleiten scheint, wenn man sie wirklich fassen will. Clubkultur, Arbeitslosigkeit, Trauer, Sehnsucht, Emotion und Intimität wird ineinander verwoben, wenn wir Culver quasi in Echtzeit auf Instagram beobachten können. Dazwischen schalten sich dann die schnellen Malereien und kühnen Fragen danach, ob wir nun befriedigt seien. Mit dieser Positionierung stehen Künstler:innen wie Culver in einem ambivalenten Verhältnis zum Erbe britischer Kunst. Sie erinnern uns an das aufbegehrende, gleichsam Intime wie das rebellisch Öffentliche der 1990er-Jahre – doch es scheint, als würde eine neue Schicht hinzugefügt, die es zu erfassen gilt. Damit deutet der sexuelle Reiz in Sprüchen wie Did U Cum Yet nicht nur auf eine neue Ästhetik der Kunst im Social Media Spiel hin.
Und schließlich frage ich mich wieder: Sind wir damit bei einer neuen Ära des Sex angelangt, die über den Verkaufsschlager einer Sex Sells Attitude hinaus, eine strukturelle, moralische, ästhetische… oder wie auch immer gelagerte Umarbeitung erwirken kann? Sehen wir in Culvers Position, dass klassische Strukturen nicht mehr nur angegriffen werden, sondern in ihrer tiefen Verwobenheit mit künstlerischer Identität reflektiert werden? Oder weist das subversive Potenzial, das man interpretieren möchte, doch nur auf den Umstand, dass es hier eben nun keine Frau ist, die die Beine breit macht, sondern Culver als männlicher Künstler – trendgerecht – in der Lage ist, diese Fragen an ebenjenen Kunstmarkt zu stellen, den er scheinend zu unterlaufen sucht? (Und dem er damit zu gefallen scheint…)
Ob Culver dieser Anspruch gelingt oder ob er uns alle lediglich verführt, bleibt zumindest vorerst eine offene Frage – eine, die vielleicht genau in ihrer Unklarheit das Spannende an seinem Werk ausmacht.
Biografie
In ihrer kunstwissenschaftlichen Forschung hat sich CAROLIN HEEL auf Affekt- und Emotionstheorien mit dem Schwerpunkt Gender spezialisiert. Sie lehrte an der AdBK Karlsruhe das Seminar »Kunst und Gender« und doziert im Masterstudiengang Körper, Poetik und Praxis des Performativen an der ABK Stuttgart im Modul »Sprache und Poetik«. Aktuell ist sie Post-Doc-Wissenschaftlerin im DFG-Projekt »Visuelle Bildung« an der Universität Hamburg.