Feeling the Heterotopia – Nina Lapislazuli und Lotte Frahm

Wie können sich Kunstwerke in ihrer Entstehung gegenseitig beeinflussen oder sogar bedingen? Welche Möglichkeiten und Potentiale bietet ein Transferraum für die Entfaltung kollektiver künstlerischer Prozesse? Diese Praxis wird in Feeling the Heterotopia von Nina Lapislazuli Behnisch und Lotte Frahm für die Betrachter:innen sichtbar. Der Austausch verlief nach dem Prinzip der Mail-Art, in der Briefe, Gegenstände, Konzepte, (Kunst-) Werke per Post hin und her geschickt wurden. Im digitalen Raum sehen diese Fragmente ähnlich aus: eine Schlagwort-Gruppe zum Thema, ein Textausschnitt, der sich darauf bezieht, ein Bildausschnitt einer digitalen Zeichnung, oder aber ein Gefühl, das übermittelt wird…

Feeling the Heterotopia

Es scheint keine Orte mehr zu geben. Es gibt nur noch den Bildschirm, vor dem ich sitze. Manchmal gehe ich einkaufen und bin erstaunt darüber, dass die Luft nach Sommer riecht, obwohl es noch so kalt ist. Die Punkte, an denen ich mich bewege, sind begrenzt. Meine geistige Karte kommt mir unvollständig vor, dabei ist es unter jeglichen Umständen zu viel gewollt, einen Anspruch der Vollständigkeit an etwas Weltliches anzusetzen. An viele Orte komme ich gar nicht mehr. Ins Kino, ins Krankenhaus, um meinen Bruder zu besuchen, ins Museum, in die Bibliothek. Sie bleiben mir alle verschlossen. Heterotopien scheint es nicht mehr zu geben, dabei weiß ich, dass sie noch da sind, ich habe nur keinen Zugriff auf sie. Und vielleicht will ich das auch gar nicht. Was sind menschengeschaffene Räume schon ohne Menschen? Sie werden unwirklich, trennen sich langsam von der Realität und driften in eine Art Zwischenwelt ab. Heterotopien waren für mich schon immer Gebilde an der Grenze zum Liminalen, bevor ich überhaupt wusste, was diese Worte bedeuten. Sie sind für mich unzertrennlich mit Schweben, mit dem magenaufwühlenden Gefühl des Dazwischen-Seins, des Unwirklich-Seins und vor allem mit meiner Großmutter verknüpft.

Abb. 1: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 1, 2021, digitale Zeichnung.

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Vielleicht im Dezember oder Januar vor drei, vier Jahren. Meistens vergeht die Zeit schneller, als man denkt. In meiner Erinnerung lag Schnee. Ich hatte mir Zeit genommen, um am Freitag ins Krankenhaus zu meiner Großmutter zu fahren. Meine Eltern meinten, ich solle sie besuchen, da sie sich auf dem Weg der Besserung befände. Seit ich auf die weiterführende Schule gekommen war, hatte ich nicht mehr viel Zeit mit ihr allein verbracht. Früher hatte sie oft auf meinen Bruder und mich aufgepasst. Mittlerweile waren wir beide aus dem Alter herausgewachsen, in welchem man in den Kindergarten begleitet oder abgeholt werden musste. Ich war nervös. Krankenhäuser sind immer ein schwer fassbarer Ort, wenn man gesund ist. Ich bewegte mich in einem Terrain, in welches ich eigentlich nicht gehörte. Dazu kam, dass Prüfungsphase war und ich im ersten Semester studierte. Für mich bedeutete das ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit und Angst vor dem Scheitern. Ich hatte seit Tagen nicht mehr ausgeschlafen. Viel mehr als Lesen, Arbeiten und am Wochenende zu viel trinken gab es bei mir nicht. Ich befand mich in einem Schwellenzustand, in einem Treppenhaus, in dem ich nicht verweilen wollte und somit musste ich diese Treppen weiter hinaufsteigen. In einem Zustand innere Liminalität traf ich somit auf die erste Heterotopie.

Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, wie ich auf der Station die Schwester angesprochen habe und nach dem Raum fragte. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte ich mich eingeschlichen, das Eintrittsritual übersprungen, obwohl ich mir sicher bin, dass meine nassen Schuhe auf dem orange-braunen Linoleumboden gequietscht haben müssen. Meine Großmutter lag in einem Zweibettzimmer. Ich habe sie nicht erkannt, wie sie da im Bett lag, eingefallen und mit ungemachten Haaren. Ich dachte, ich hätte die Zimmernummer versehentlich verdreht. Der Rest ist in meiner Erinnerung sehr unscharf. Ich weiß nicht genau, wie lange ich da war. Ihr Krankenzimmer war für mich ein zeitloser Ort. Zu viel Elend, um auf die Uhr zu sehen. Als ich an ihr Bett herantrat, hat sie die Augen leicht geöffnet und meinen Namen gesagt und dass sie sich freuen würde, dass ich da bin. Dann hat sie nur noch darüber geredet, dass sie will, dass alles aufhört, dass sie nicht mehr leben will. Ihre Stimme war leise und schwach. Ich habe ihre Hand genommen und musste weinen. Ich weiß nicht, wann ich sie das letzte Mal davor angefasst habe. Wahrscheinlich als kleines Kind. Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen. Meine Eltern hatten gesagt, dass es ihr wieder besser gehen würde. Ich hatte ihnen geglaubt. Vielleicht sind meine Erinnerungen auch so schwach, weil ich anfangen musste zu weinen und die Tränen meine Wahrnehmung einschränkten. Irgendwann kam eine Ärztin in den Raum und fragte, ob sie mir etwas erklären sollte zum Krankheitsverlauf meiner Großmutter. Ich murmelte nur, dass ich nicht gewusst hätte, wie schlecht es ihr ging. Dabei versuchte ich der Ärztin nicht in die Augen zu sehen, damit sie meine Tränen nicht sehen konnte. Völlig umsonst. Als ich das Krankenhaus verließ, redeten die Menschen im Gang über mich. Ihr Tuscheln verfolgte mich bis nach draußen. Was ich danach gemacht habe, weiß ich nicht. Wahrscheinlich habe ich auf dem Weg zur Straßenbahn versucht mich zu beruhigen. Vorhin habe ich gesagt, dass ich nicht wüsste, wie lange ich bei meiner Großmutter war. Das war gelogen. Ich weiß es ganz genau: zu kurz. Wenige Tage später ist sie gestorben, woran genau weiß ich bis heute nicht. Ich habe nie gefragt.

Denke ich heute an dieses Erlebnis zurück, kommt es mir absurd vor. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, während einer Krise an einem Ort der Krisen zu sein. Es kommt mir unmöglich vor. Und eigentlich ist es das ja auch. Kein Besuch mehr in Krankenhäusern oder zumindest stark reguliert. Manchmal stelle ich mir vor, das Ganze unter heutigen Umständen noch einmal zu durchlaufen. Über Zoom, Webex, Jitsi oder wie die Programme alle heißen. Ich weiß nicht, ob es schlimmer oder besser wäre. Wahrscheinlich schlimmer. In Person da gewesen zu sein, gibt mir wenigstens das Gefühl, Abschied genommen zu haben. Den Ort des Krankenhauses über einen Bildschirm betrachtet zu haben, während ich persönlich involviert bin, hätte mich komplett entmächtigt. Der Bildschirm kann in diesem Fall kein Botschafter einer Utopie sein, diese nicht übertragen. Er kann die Zwischenmenschlichkeit der Realität nicht ersetzen. Doch genau diese Zwischenmenschlichkeit sagt uns so viel über unsere Umgebung, leitet uns durch unser Leben.

Abb. 2: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 2, 2021, digitale Zeichnung.

Einmal habe ich mich mit meiner Großmutter verabredet und am Nachmittag Kuchen gegessen. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie schlau sie war. Nicht dass ich das vorher nicht von ihr erwartet hätte, aber ich hatte nie darüber nachgedacht. Großmütter sind für Enkel meistens einfach nur Großmütter und keine differenzierten Intellektuellen. Wir haben Kuchen gegessen und über Politik geredet. Sie meinte: „Die Leute reden immer über Putin und ja, der ist schlimm, aber Obama ist mindestens genauso schlimm.“ Ich weiß nicht wie viele Jahre sie in die Schule gegangen ist. Autofahren konnte sie nicht. Wenn sie auf dem Fahrrad unterwegs war, war sie immer besonders vorsichtig, weil sie nicht wusste, was die Straßenschilder bedeuteten. Der Krieg hatte ihr viel versagt, hatte Heterotopien zerstört und unbrauchbar gemacht.

Später sind wir dann auf den Friedhof gegangen, um das Grab meines Großvaters zu besuchen, der schon tot war, seit ich 14 bin. Ich weiß noch, wie meine Mutter mich damals gefragt hatte, ob ich „…den Opa noch einmal sehen will?“. Das war im Herbst irgendwann. Es war schon dunkel draußen. Es war immer meine Mutter, die solche Nachrichten überbrachte. Nie mein Vater, obwohl es sein Vater war, obwohl es seine Mutter war. Ich habe damals Nein gesagt: „Nein, ich will Opa nicht noch einmal sehen.“. „Weil du ihn lieber lebend in Erinnerung behalten willst?“, diese Worte hatte mir meine Mutter förmlich in den Mund gelegt und ich widersprach nicht. Aber eigentlich lag es nicht daran. Ich hatte Fußballtraining und es gibt nichts Schöneres als ein Fußballfeld in der Dunkelheit und vielleicht, ganz vielleicht, hatte ich auch Angst.

Dabei muss niemand Angst vor dem Tod haben. Vielleicht vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod. Friedhöfe sind eine seltsame Angelegenheit. Natürlich gibt es sie in verschiedenen Formen, Größen und Ausarbeitungen, aber trotzdem kann man am anderen Ende der Welt sein und ein kleines Stück Heimat auf einem Friedhof finden. Der Raum ist hier verwinkelt und die Zeit fließt immer sehr zäh. Friedhöfe sind beinahe zeitlose Gedenkstädten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwann einmal verschwinden werden. Wohin auch? Was soll ein Friedhof im digitalen Raum und wohin anders als in den digitalen Raum, soll der Fortschritt gehen? Ich kann mir nicht vorstellen einmal StrgF zu drücken und sofort das Grab meiner Großeltern zu finden. Immer wenn ich auf den Friedhof gehe, muss ich suchen, wo sie begraben sind. Dann streife ich eine Weile durch die Gänge des Friedhofes, sehe mir die Gräber an, lese die Namen und fühle mich, als würde ich mir meinen Weg durch New York suchen. Von Block zu Block. So jedenfalls stelle ich mir New York vor. Ein riesiger Betondschungel, in dem das Leben tobt. Es ist schon fast zu einem Ritual geworden in jeder Stadt, in der ich mich etwas länger aufhalte, einen Friedhof aufzusuchen. Eigentlich sind sie alle wie Gärten. Gärten aus Stein, Gärten aus Stein und Grün, Gärten, in denen die Natur ungestört wuchert und sich ausbreitet, Gärten, in denen man sich verliert, Gärten, in denen eine große Losgelöstheit herrscht. Meistens hört man die Vögel lauter als die Menschen. Oft habe ich Angst, mich zu verlaufen und meinen Weg nicht mehr zurückzufinden und oft verlaufe ich mich tatsächlich in der Abgeschiedenheit dieser Friedhofswelt. Wären Friedhöfe in Word-Dokumenten festgehalten, könnte ich immer StrgZ drücken. Während ich die Gräber meiner Großeltern suche, geht das nicht. Ich löse mich völlig auf in dem Gefühl, dass alles irgendwann vorbei ist, dass alles unwichtig ist, nicht nur ich, sondern alle menschgemachten Räume auf dieser Erde, unser gesamter Planet, unser Sonnensystem. Früher hatte ich Angst vor diesem Gedanken. Er hielt mich nachts wach. Heute ist er mir egal. Ich habe mich damit abgefunden. Anstatt Angst zu haben, werde ich heute von diesem wiederkehrenden Gedanken getröstet, genauso wie von meinen Friedhofsbesuchen.

Abb. 3: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 3, 2021, digitale Zeichnung.

Fußballfelder und Friedhöfe sind sich eigentlich recht ähnlich, aber vielleicht auch nur in meiner Erinnerung. In dieser existiert die Verknüpfung beider Orte über den Tod meines Großvaters. Friedhöfe und Fußballfelder gibt es in den meisten Teilen der Welt und sie haben immer die gleiche Grundform inne. Was ist ein Fußballfeld schon weiter als ein rechteckiges Feld und zwei weitere Rechtecke, die Tore? Ein simples Konzept und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb spiegelt sich hier die große Schönheit wider. Ästhetisch ist nur das, woran man kein Interesse hat. Bei Minusgraden im Dunkeln ziehe ich meine Runden, verfluche dabei meine Entscheidung, mich auf den Platz gequält zu haben und dann, auf einmal fängt es an zu schneien und damit kommt auch die Offenbarung. Und diesmal geht es nicht darum, zu erkennen, dass ich meine Großmutter kaum kannte, wie mir damals im Krankenhaus klar geworden ist, nein, es geht um etwas Größeres. Wenn sich der Schnee unter dem Licht der Flutstrahler versammelt und dort tanzt, dann wird alles in mir ganz ruhig, aber gleichzeitig ist dieser Anblick unglaublich aufwühlend. Es ist wie in den Bergen zu stehen und den Horizont zu suchen. Um mich herum nur riesige Felsformationen, keine menschgemachte Struktur und ich fühle mich befreit und gleichzeitig erdrückt von der Gewaltigkeit der Berge. Auf dem Fußballfeld ist es etwas friedlicher und trotzdem bleibt die Frage: Was mache ich hier überhaupt? Warum drehe ich meine Runden? Warum sehe ich dem Schnee zu? Vielleicht ist es nur simple Ablenkung, aber vielleicht ist das auch der Moment, in dem ich Gott direkt in die Augen blicke. Losgelöst von der eigentlichen Welt, in welcher der Fußballplatz von schreienden Zuschauern gefüllt ist, in welcher Bier verschüttet wird, in welcher die schrillen Pfiffe der Schiedsrichter die Luft zerschneiden und auf dem Platz gerangelt wird. Die Nacht löst diesen Ort von der Wirklichkeit. Die Dunkelheit zweckentfremdet das Fußballfeld, aber dadurch werden neue Möglichkeiten geschaffen. Mit Menschen befüllt ist die Schönheit des Fußballfeldes versteckt. Sie zeigt sich nur nachts oder in den frühen Morgenstunden. Sie zeigt sich in der Liminalität dieser Heterotopie. Im Krankenhaus fühlst du dich unwohl, auf dem Friedhof wanderst du umher, aber auf dem verlassenen Fußballfeld findest du deinen Frieden. Wieso jedes Jahr 60€ für ein neues Fifa Spiel ausgeben, wenn die Offenbarung kostenlos vor fast jeder Haustür liegt?

In Zeiten eines krisenbehafteten Systems bleibt uns der Zugang zu bestimmten Räumlichkeiten verwehrt, doch an anderen Stellen öffnet er sich erst wieder, indem wir andere Wege suchen, unser Leben zu gestalten. Menschen sind resilient, passen sich an Situationen an, gestalten Räume um. Menschen sind aber auch emotional und färben alles, was sie berühren mit dieser Emotionalität ein. Orte, egal ob menschengemacht oder nicht, sind gefüllt mit Emotionen, die an ihnen haften wie Gerüche. Auch ohne Zugang werden wir die Heterotopie nicht vergessen, weil wir sie fühlen und uns erinnern.

Werke von Nina Lapislazuli // Text von Lotte Frahm


Biografie

Lotte Frahm lebt und arbeitet in Berlin und studiert Philosophie an der Freien Universität Berlin. Nina Lapislazuli studiert Bildende Kunst an der HfBK Dresden und ist seit 2020 in der Klasse von Prof. Carsten Nicolai für digitale und zeitbasierte Medien. Seit 2011 arbeitet sie in ihrem Atelier im Leipziger Tapetenwerk. Gemeinsam arbeiten sie an medienübergreifenden, künstlerischen Projekten.