#3 Editorial

Issue #3 Heterotopien, 2021:

Was verbindet Flughäfen mit Laboren, Endlager mit Fundstücken aus dem Meer, Werkstätten mit Wäldern und Bildwelten mit Künstler:innenkollektiven? Alle sind Heterotopien: Räume, die aus dem Raster fallen, die nicht über die Grenzen eines Gebäudes definiert werden, sondern vielmehr über ihre inhaltliche Ebene. Der von Michel Foucault geprägte Begriff Heterotopie bedeutet wörtlich so viel wie Anders- oder Gegenraum und ist eng verbunden mit einer utopischen Zukunftsvision. Wobei Heterotopien sich im gelebten Raum verorten lassen und nicht nur hoffnungsvoll imaginiert sind. Sie zeigen Möglichkeiten auf, verbinden Bestehendes mit Wunschvorstellungen und eröffnen Platz für Wandel. Heterotopien an jeder Ecke! – Und es gibt genug Menschen, die daran arbeiten, dass immer weitere entstehen.

Wie zeigen sich signifikante Heterotopien in der Vergangenheit und der Gegenwart? Wie werden sie definiert und wie gestaltet? Welche Herausforderungen und Chancen bieten diese Räume? Wie wirken sie sich auf unsere Gesellschaft oder das Individuum aus? Und welche Möglichkeiten bietet dabei der digitale Raum?

Die aktuelle Ausgabe bietet diesen und weiteren Fragen einen Raum der Entfaltung.

Die Beiträge des Issue #3 sind theoretische, kritische Annäherungen an den Begriff, teils poetischer Natur aber auch ganz praktische Beispiele. Auf der Basis verschiedenster Individuen mit ihren Hintergründen und Spezialisierungen wird ein interdisziplinärer und aktueller Querschnitt ohne Anspruch auf Vollständigkeit vermittelt. Heterotopien wurden im Prozess dieser Ausgabe erschaffen, zerlegt, gefunden, wieder gesucht, ausgedehnt, verbunden und durchschritten. Wir danken allen Beitragenden für die Zusammenarbeit, ihre Zeit, Ideen und Vertrauen.

frame[less] wünscht allen Leser:innen viel Spaß beim Prozess, zögert nicht mit Anmerkungen oder Fragen! Jetzt Los:

Sprengt den Rahmen, sprengt den Raum!

Der öffentliche (Innen)Raum und sein Potenzial. Ein Projekt darüber, wie wir leben wollen und unser Vertrauen über die Stadt – Johanna Roth


Das Gebiet der Thurgauerstrasse in Zürich wird neu gedacht als eine vielfältige Sequenz von Innenwelten. Indem die leerstehenden, halb-öffentlichen Eingangsbereiche der Bürogebäude entlang der Straße miteinander in Verbindung gesetzt werden, entsteht ein Ensemble, das einen Ausgangspunkt für zukünftige Entwicklungen setzt. Hyperrealistische Renderings zeigen die Überlagerung der isolierten Firmeninnenräume mit verschiedenen öffentlichen Aktivitäten und laden zum Nachdenken über heterotope Stadträume ein.

Der heutige Zustand der Thurgauerstrasse ist geprägt von den räumlichen Folgen der Privatisierung und marktgesteuerter Stadtentwicklung. Entlang der viel befahrenen Straße reihen sich leere, überdimensionierte Firmenzentralen und Gewerbeparks, die aufgrund schwindender Gewinne und stagnierender Geschäfte stillschweigend auf ihren Abriss warten. In diesem Meer von introvertierten, generischen, nach typischen Plänen organisierten Bürogebäuden1 liegt ein Archipel repräsentativer Innenhallen und Atrien. Als hohle Überbleibsel des unternehmerischen Größenwahns, der sie hervorbrachte, suggerieren postmoderne Fassaden mit Referenzen an die Antike städtische Öffentlichkeit, laden jedoch lediglich zum Konsum ein und ersticken dabei jede Art von Nutzungsfreiheit im Keim. Beginnt man aber, diese Vielzahl an großzügigen Innenräumen als ein Netzwerk zu lesen, könnten sie zum Rückgrat eines sich radikal transformierenden Gebiets werden. Durch die Kombination von archetypischen öffentlichen Innenräumen 2 und den ursprünglichen Gebäudenamen wird eine neue Corporate Identity des Areals geschaffen, die den heterotopen Charakter dieser Räume widerspiegelt.

Durch die Überlagerung von archetypischen Innenräumen wie the palace oder the shed mit der glatten, ahistorischen Oberfläche des Kapitals entsteht eine Assemblage unterschiedlicher Raumqualitäten und Atmosphären. Als ein Netzwerk von öffentlichen Inseln, die durch einen durchgehenden Weg verbunden sind, werden die Innenräume neu interpretiert. Sie fungieren als Schnittstelle zwischen der bestehenden städtischen Struktur, neuen Wohnsiedlungen und der sich verändernden kommerziellen Landschaft und geben diesem Stadtteil somit eine neue Identität. Durch die Entdeckung und Erfindung neuer Passagen durch das stark zerstreute und fragmentierte Gebiet um die Thurgauerstrasse setzt sich der menschliche Körper wieder mit seiner vielfältigen, heterogenen Umgebung auseinander. Als Gegenentwurf zum normativen Top-Down-Planungsansatz des aktuellen Gestaltungsplans definiert dieser städtebauliche Vorschlag einen losen Rahmen, in den neue Siedlungen hineinwachsen können — einen unvollständigen Plan, der offen für die Aneignung durch die Öffentlichkeit ist. Überbleibsel der Unternehmenswelt werden zum Ausgangspunkt für eine neue Art des Wohnens in der Stadt, in dem die Schichten der Zeit erfahrbar gemacht werden.


Biografie

Johanna Roth

Johanna Roth studierte Architektur an der Universität der Künste in Berlin, an der ETSAM Madrid und an der ETH Zürich. Nach einem Aufenthalt in Japan, wo sie für Hideyuki Nakayama arbeitete und das Handwerk der Keramik erlernte, diplomierte sie 2020 bei Adam Caruso an der ETH Zürich. Johanna interessiert sich für Architektur als Feld kultureller Kommunikation und deren Implikationen in der zeitgenössischen Gesellschaft. Derzeit arbeitet sie als Architektin im Büro von Peter Märkli in Zürich.

www.johannaroth.world

Das sind unsere Räume! Über feministische Gegenräume in der Kunst-Saskia Ackermann

Saskia Ackermann zeichnet in ihrem Aufsatz Das sind unsere Räume! die Entstehung von Gegenräumen durch feministische Kollektive aus dem Kunstfeld nach, die den Beteiligten eigene neue Handlungsräume eröffnen. So entstehen Räume, in denen sich Menschen, die von dominanten Strukturen marginalisiert, überhört und diskriminiert werden, angenommen fühlen, Erfahrungen teilen und gemeinsam Handlungsstrategien entwickeln können.

Für die erste Ausstellung feministischer Kunst nahmen sich die Frauen1 des Feminist Art Program gleich ein ganzes Haus: 1972 renovierten Judy Chicago und Miriam Schapiro zusammen mit ihren  Studentinnen ein Haus in Los Angeles, um darin ihre Arbeiten zu installieren und präsentieren.2 Das Feminist Art Program ermöglichte es Kunststudentinnen, sich der Auseinandersetzung mit Kunst von  und über Frauen zu widmen. Im Womanhouse realisierten sie ihre eigenen Formen künstlerischer Praxis, in der sie sich vorrangig gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen an Frauen annahmen. Diese inhaltliche Auseinandersetzung war insbesondere von zwei Aspekten geprägt: Zum einen wurden die persönlichen Erfahrungen der Beteiligten zum Ausgangspunkt künstlerischer Prozesse gemacht. Die gesellschaftliche Bedingtheit der individuellen Erfahrungen als Frau und als Künstlerin wurden in regelmäßigen Runden der Selbstbefragung und des Austauschs, Methoden des sogenannten consciousness-raising,3 herausgearbeitet. Zum anderen hatte die Kollaboration in der  Gruppe einen hohen Stellenwert: Von den bereits genannten consciousness-raising sessions über die handwerklich-praktischen Tätigkeiten beim Renovieren des Hauses bis hin zur Entwicklung und  Umsetzung der Installationen, Performances und Raumgestaltung ging es darum, die Tätigkeit der Einzelnen als Teil des Miteinanders zu verstehen:

“Brainstorming took place as a group, by ‚going round the circle’ to build on an idea, an image, a story. The ideas for the rooms were generated this way, as the women opened up about their experiences with domesticity. The texts for the performances were drafted as a group, and while  some students had their own rooms to ‘decorate’, others collaborated in such a way that it was not clear who had contributed what.”4

Das Womanhouse verschob und irritierte die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, indem „der öffentliche Ausstellungsraum zugleich ein häuslicher Raum [war], wo konventionelle Ansichten über adäquate künstlerische Objekte über Bord geworfen wurden“.5 Das Haus verdeutlicht hier besonders eindringlich die Notwendigkeit sowie die Potentiale des Zusammenschlusses unter Menschen, die gesellschaftlich marginalisiert und unsichtbar gemacht werden. Gemeinsam ist es möglich Gegenräume zu eröffnen, in denen die persönlichen Perspektiven gezeigt und eigene Praxisformen verwirklicht werden können. Diese Realisierung von Idealvorstellungen über künstlerische Arbeit und ihre Präsentation wird im Kreise des Kollektivs für die Einzelnen möglich. Der Transfer des Erfolgs eines Projektes wie Womanhouse auf die individuelle künstlerische Laufbahn gelingt zumeist jedoch nur für wenige der Beteiligten. So verbleibt die Eröffnung neuer Möglichkeitsräume im Rahmen der kollektiven Praxis und eine strukturelle Verbesserung der Chancen von Frauen auf eine finanziell tragende berufliche Laufbahn als Künstlerin bleibt aus.

Abb. 1: Lynne Litman: Womanhouse Is Not a Home, 1972, Filmstill. Abbildungsnachweis: URL: https://believermag.com/womanhouse revisited/ (17.08.2021).

Sowohl der Umfang des Projekts – die Vorbereitungen erforderten einen hohen zeitlichen, körperlichen und geistigen Einsatz – als auch die Aneignung eines ganzen Hauses stehen für die großen Ambitionen, die Chicago und Schapiro der bisherigen Unsichtbarkeit von Künstlerinnen entgegenstellen wollten. Das konnte nur im Kollektiv gelingen und erforderte außergewöhnliche Anstrengungen. Sie forderten von den Studentinnen bis an ihre Grenzen und darüber hinaus zu arbeiten.6 Dieser Bezug zur Notwendigkeit von Leistung und dem (Nicht-)Berücksichtigen der eigenen Kapazitäten hat sich inzwischen bei feministischen Initiativen innerhalb und außerhalb des Kunstkontexts geändert. Heute nimmt häufig gerade die Reflektion dessen, welche Arbeit geleistet werden kann und welche persönlichen Grenzen es gibt, eine große Rolle in den Formen der  Zusammenarbeit ein. 

In meiner eigenen Recherche zu feministischen Perspektiven auf Öffentlichkeit hat mich interessiert, wie Aktivist:innen und Künstler:innen öffentlichen Raum oder öffentliche Diskurse einnehmen, sich in dominante Strukturen der Öffentlichkeit wie zum Beispiel die parlamentarische Politik begeben oder aber eigene, dem entgegengesetzte Sphären des Verhandelns gemeinsamer Interessen herstellen, also Gegenöffentlichkeiten, wie sie beispielsweise in Protestbewegungen entstehen.7 In der Geschichte feministischer Kämpfe nehmen das Heraustreten von Frauen aus dem privaten Bereich (Haushalt, Familie) sowie das Einfordern der öffentlichen Diskussion von Themen wie  (Frauen-)Gesundheit, Schwangerschaft, Kindererziehung, Sexualität und sexuelle Gewalt ganz zentrale Rollen ein.8 In Gesprächen mit Feminist:innen, die in aktivistischen und/oder künstlerischen Gruppierungen organisiert sind, erzählten mir viele, dass der besondere Wert solcher Zusammenschlüsse für sie in der Art liege, wie Feminist:innen sich darin aufeinander beziehen. Dazu gehört an erster Stelle die Möglichkeit des Teilens und gemeinsamen Herausarbeitens bestimmter gesellschaftlich vermittelter (Diskriminierungs-)Erfahrungen wie Sexismus, Frauenfeindlichkeit oder Heteronormativität. Anne May betonte im Gespräch die Notwendigkeit dieses Teilens: 

„Es ist so wichtig irgendwann die Erfahrung zu machen, dass es nicht nur ich selbst bin, die denkt, es läuft etwas verkehrt. […] Dafür ist Vernetzung auf dieser grundlegenden Anerkennungsebene wichtig. Sodass die persönliche Erfahrung auf eine kollektive Ebene gebracht wird und wir merken, dass es ein breites gesellschaftliches Phänomen ist.“9

Aber auch die Verteilung aller Formen von Arbeit, die zusammen mit der politischen und/oder künstlerischen Arbeit anfallen, wird in den Gruppen ernstgenommen. Eine wichtige Frage dabei ist, welchen Platz Emotionen in der gemeinsamen Praxis haben und inwiefern diese durch emotionale Arbeit kollektiv verarbeitet werden. Die kollektive Arbeit erhält so einen Wert an sich. Sie wird zu einer unterstützenden Struktur der Mitglieder und dieses Innenleben, dieser Raum des Miteinanders, nimmt für die Beteiligten oft eine größere Bedeutung ein als die Produkte dieser Arbeit. Die erfolgreiche Durchführung einer Veranstaltung, die Organisation einer Demonstration oder die Präsentation einer Ausstellung sind dann vielmehr selbst Momente, in denen die Strukturen dahinter, also die Beziehungen der kollektiv Organisierten, gestärkt, gefeiert und wertgeschätzt werden – das Nach-Außen-Treten, Sich-Zeigen und Raum-Einnehmen ist zwar für Aktivist:innen und  Künstler:innen gleichermaßen wichtig. Die empowernde Rückwirkung auf die Akteuer:innen selbst hat aber eine größere persönliche Bedeutung. 

Für die Gestaltung und Entwicklung der solidarischen und persönlichen Beziehungen (nicht nur) unter Feminist:innen haben bereits viele Gruppierungen Methoden und Strategien entwickelt.10 Einige davon hat Alex Martinis Roe in ihrem Projekt To Become Two (2014–2017) gesammelt. In einer Serie von sechs Filmen beziehungsweise Filminstallationen verarbeitet sie ihre Recherchen zu verschiedenen feministischen Gruppierungen, die seit den 1960ern in Europa und Australien aktiv sind oder waren. Das gleichnamige Buch besteht aus zwei Teilen: der erste davon versammelt Essays, die  von den verschiedenen communities erzählen, der zweite ist eine Art Handbuch mit Vorschlägen für die feministische kollektive Praxis, die sie gemeinsam mit den portraitierten Gruppen und Feminist:innen jüngerer Generationen entwickelt oder festgehalten hat.11

In It was an unusual way of doing politics: there were friendships, loves, gossip, tears, flowers… (2014) bezieht sich Martinis Roe auf Materialien der Gruppe Psychoanalyse et Politique (kurz: Psych et Po), die seit 1968 in Paris aktiv war. Deren Mitglieder legten ihrer politischen Arbeit eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Differenzen zugrunde, entgegen einer häufig in der politischen Linken postulierten „Gleichheit aller“. Und auch sie gingen von den ganz persönlichen, aber miteinander geteilten Erfahrungen aus, die sie in kollektiv vollzogenen Prozessen der Psychoanalyse identifizierten und bearbeiteten. So schreibt Martinis Roe: „[Psych et Po‘s] members used it as a space to create new language and narratives for themselves, and for femininity.“12 Diese Formen des Offenlegens geteilter Erfahrungen und dem damit verbundenen Finden eigener Narrative entspricht dem, was eingangs als consciousness-raising bezeichnet wurde. 

Abb. 2: Alex Martinis Roe: Plakat aus der Reihe To Become Two, 2016, Offstedruck, 59 x 84 cm, Grafikdesign: Chiara Figone. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Abb. 3: Alex Martinis Roe: It was an unusual way of doing politics: there were friendships, loves, gossip, tears, flowers…, 2014, Filmstill. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Abb. 4: Alex Martinis Roe: Plakat aus der Reihe To Become Two, 2016, Offsetdruck, 59 x 84 cm, Grafikdesign: Chiara Figone. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Abb. 5: Alex Martinis Roe: A story from Circolo della rosa, 2014, Filmstill.
Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).

Den Film A story from Circolo della rosa (2014) widmet Martinis Roe einer anderen besonderen Form  der Soziabilität: „The political model of the Milan Women‘s Bookstore co-operative takes as its primary  concern the relations between those who participate it.“13 Dieses Konzept wird als Affidamento bezeichnet und soll ein solidarisches Handeln in difference ermöglichen. Anstatt das Kollektiv als Ganzes und als Idee zum Imperativ des Miteinanders emporzuheben gilt es bei den Beteiligten des Milan Women‘s Bookstore Collective die persönlichen Beziehungen zwischen den Einzelnen zur Grundlage der Gemeinschaft zu machen. So unterwerfen sich die Mitglieder nicht einem gemeinsamen Verständnis des Frau-Seins, sondern erkennen die Autorität jeder Einzelnen, die Vielfalt der persönlichen Beziehungen und die menschlichen Differenzen untereinander an.

Sowohl die psychoanalytische Auseinandersetzung mit den persönlichsten und den gemeinsamen Erfahrungen bei Psych et Po als auch die Anerkennung der Beziehungsgeflechte und persönlichen Souveränität beim Milan Women‘s Bookstore Collective sind anspruchsvolle Formen des Sich Aufeinander-Beziehens, die ausschließlich unter Frauen bestehen. In beiden Fällen ist die Realisierung der eigenen Ansprüche an das Miteinander nur im Rahmen eines abgegrenzten Personenkreises möglich, in dem sich Vertrauen und Verlässlichkeit entwickeln können. Außerdem ist die geteilte Erfahrung des Frau-Seins (oder als Frau gelesen zu werden) eine notwendige Voraussetzung dafür, sich auf die jeweiligen Beziehungen einzulassen, die ein hohes Maß an Verletzlichkeit mit sich bringen. Doch innerhalb dieses abgesteckten Rahmens können utopisch anmutende Formen des Gemeinschaftlichen erprobt und etabliert werden. 

Darüber hinaus wird in den Arbeiten von Martinis Roe aber auch deutlich, wie stark sich die einzelnen feministischen Gruppen aufeinander beziehen, wie sie untereinander sowie auch in andere gesellschaftspolitische Bewegungen hinein vernetzt sind. Ihr Anliegen ist es, eine Genealogie nachzuzeichnen, die feministische Theorie- und Praxisgeschichte mit all ihren Wandlungen und Kontinuitäten umfasst. Die jeweiligen Kollektive stehen nicht für sich allein, sondern sind in gemeinsame geschichtliche und soziale Kontexte eingebettet. Unabhängig von den konkreten personellen Überschneidungen, direkten Kontakten und organisatorischen Vernetzungen wird erkenntlich, dass das Bestehen feministischer Gruppen als abgeschlossene Frei- und Gegenräume eine historische und kulturelle Kontinuität hat, deren Erscheinungsformen sich jedoch selbstverständlich wandeln. Dies äußert sich auch in Formulierungen wie „feminism itself as ‚feminist  genealogy‘“14 bei Martinis Roe und „Citation is feminist memory15 bei der Schriftstellerin und  Wissenschaftlerin Sara Ahmed: Wo das Wissen und Handeln bestimmter gesellschaftlicher Gruppen historisch unsichtbar gemacht und in den hegemonialen Narrativen ausgeklammert wird, ist die Verortung des eigenen Handelns in der Geschichte feministischer Kämpfe selbst eine politische Notwendigkeit. Die bleibende Existenz feministischer Gegenentwürfe zu den bestehenden gesellschaftlichen Formationen bildet eine sozialgeschichtliche Konstante durch die jüngere Zeitgeschichte sowie über die verschiedenen Weltregionen hinweg.

Die Fantasie und Faszination feministischer kollektiver Praxis besteht als eigenständige Heterotopie, die auch für folgende Generationen Raum zur Umsetzung eigener Vorstellungen von Soziabilität und gesellschaftlichem Handeln bieten wird. Für die Beteiligten sind diese Räume notwendig, auch wenn sie separiert bleiben vom Rest der Gesellschaft. Die Verwirklichung des vermeintlich Utopischen in einem geschlossenen Kreis Gleichgesinnter bleibt der Beweis für die Möglichkeit des „Es könnte anders sein“ und gibt Grund und Mut zum Weitermachen. 

Martinis Roe möchte mit ihrer Arbeit gegenwärtige und zukünftige Feminist:innen ermutigen, sich auf diese Geschichte(n) zu berufen und die bereits erarbeiteten Formen kollektiver Praxis zu übernehmen und weiterzuentwickeln. In To Become Two macht sie den heterotopischen Wert feministischer kollektiver Praxis deutlich. Hier und in anderen Projekten verfolgt sie ebenfalls einen eigensinnigen Weg des künstlerischen Arbeitens, mit dem sie sich von konventionellen oder weiterhin dominanten Vorstellungen des Kunst-Machens und Kunst-Zeigens emanzipiert. So weicht sie die Grenzen zwischen Produktion und Präsentation im künstlerischen Prozess auf und löst den Ausstellungsraum von der Vorstellung des fertigen Kunstwerks. Die Installation von Filmen versteht sie mehr als situation design, in dem Prozesse des Austauschs angestoßen werden können.16

Abb. 6: Alex Martinis Roe: To Become Two, Ausstellungsansicht The Showroom, London, 2017. Ausstellungsdesign: Fotini Lazaridou-Hatzigoga, Abbildungsnachweis: Daniel Brooke. URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).

Auf eine ähnliche Weise entfernte sich auch die Initiative LEVEL (2010–2018) von den Normen dessen, was als Kunst gilt. Wie beim Feminist Artist Program ist die Feststellung der andauernden Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb Ausgangspunkt des Zusammenschlusses und Motivation zum kollaborativen Handeln.17 Statt auf institutionalisiertem und pädagogischem Wege verfolgten die  Künstlerinnen mit LEVEL diese Auseinandersetzung aber in selbstorganisierten Formen und legten besonderen Wert auf den Gedanken der Vernetzung und der Förderung von community-based projects. Die Ausstellung THIS IS NOT THE WORK (2014) nahm die Form eines Protestcamps mit Pavillons, Fahnen und Bannern an, das dazu einlud, sich mit Initiativen und Netzwerken auseinanderzusetzen, in denen Künstler:innen (insbesondere Frauen) kollektive und hierarchielose  Strukturen verwirklichten (Abb. 7).18 Mit dieser Art der Raumgestaltung sowie der Verbindung mit Workshops und einer acapella performance eines Frauenchors eröffnete LEVEL über die Präsentation künstlerischer Praxis hinaus einen Raum für Austausch und Vernetzung.

Abb. 7: LEVEL: THIS IS NOT THE WORK, Ausstellungsansicht The Block, Creative Industries Precinct, QUT, Brisbane, 2014. Abbildungsnachweis: URL: https://levelari.wordpress.com/2014-projects/this-is-not-the-work/ (17.08.2021).

Die Reihe We need to talk (2013 und 2014) verzichtete ganz auf das althergebrachte Format der Ausstellung und stellte den Austausch in der Gruppe und das gemeinsame Agieren in den Mittelpunkt.19 Der Gegenraum wurde hier in Form einer Picknickdecke eröffnet, die Gäste zum  gemeinsamen Essen und Sprechen einlud (Abb. 8). Anstatt vollendeter Werke stehen hier die Teilhabe am Gespräch, das gemeinsame Denken und Diskutieren, der Moment der Gemeinschaft im Vordergrund – das Verständnis künstlerischer Arbeit schließt hier auch die Auseinandersetzung mit den Bedingungen kreativer Prozesse ein. Letztere sind der öffentlichen Veranstaltung nicht vorgelagert sondern entstehen im Moment des Zusammenkommens, der soziale Momente und die kulturelle Komponente des gemeinsamen Speisens miteinschließt. Auch in der Serie Food for Thought (2014), einer Reihe von Dinner Partys mit Diskussionen zu Feminismus und Frauen in Kunst und Medien, ist der Ansatz zu erkennen, die Beteiligten gewissermaßen ganzheitlich zu betrachten: Als Menschen, die gleichermaßen hungrig nach Wissen, gesellschaftlichem Wandel und gutem Essen sind. LEVEL gestaltete so zeitlich begrenzte und überdies mobile Räume, die den Beteiligten ermöglichte in einem abgeschlossenen, geschützten Raum eigene Themen zu platzieren und zu besprechen.20 Durch die Gestaltung und die Formen gemeinsamer Essenssituationen kann außerdem eine freundliche, einladende Atmosphäre hergestellt werden, die das Inhaltliche und das Politische nicht vom Wohlfühlen und vom Sozialen trennt (Abb. 9).

Abb. 8: LEVEL: We Need To Talk: Feminism and Food, Maiwar Green, GOMA, öffentliches Eröffnungsprogramm zur Ausstellung Harvest, 2014. Abbildungsnachweis: Joe Ruckli, Copyright: Queensland Art Gallery. URL: https://levelari.wordpress.com/2014-projects/we-need-to-talk-recipe-for-revolution/ (17.08.2021).
Abb. 9: LEVEL: Food for Thought, Next Wave Festival Melbourne, 2012. Abbildungsnachweis: Pia Johnson. URL: https://levelari.wordpress.com/2012-project/ (17.08.2021).

Der Versuch, die produktiven mit den reproduktiven Tätigkeiten zu verbinden, ist eine Gemeinsamkeit feministischer Gruppierungen in künstlerischen und aktivistischen Kontexten. Es wird versucht einer Trennung dieser Bereiche entgegenzuwirken, die in der kapitalistisch und patriarchal geprägten Gesellschaft vorherrschend und unhinterfragt ist. Diese Abspaltung reproduktiver Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Sorgen umeinander und für das körperliche und emotionale Wohlbefinden aller, von der vermeintlich eigentlichen Arbeit resultiert aus der Forderung nach einem allein rational zu führenden Diskurs und geht von einem autonomen Individuum aus. Eine solche Orientierung wirkt ausschließend und führt auch bei all jenen, die eigene Befindlichkeiten und Bedürfnisse ausblenden können, auf Dauer zu Gefühlen des Ausgebranntseins oder der Bedeutungslosigkeit. Feminist:innen bilden eigene Strukturen aus, innerhalb derer sie Arbeitsformen und die Beziehungen zueinander auf  eine Art gestalten können, die den Bedürfnissen möglichst aller gerecht werden können. 

Dieses Verständnis von künstlerischer Arbeit, das emotionale und organisatorische Arbeit als unreduzierbaren Teil des kreativen Prozesses einschließt, macht auch die meisten feministischen (ob Frauen, FLINTA* oder gemischtgeschlechtlichen) künstlerischen Kollektive aus und unterscheidet sich darin von anderen Zusammenschlüssen im Kunstfeld. Seit sich die professionelle Tätigkeit der Bildenden Kunst im 19. Jahrhundert vom Handwerk und aus dessen arbeitsorganisatorischen  Kontexten gelöst hat, sind Künstler:innen in berufsspezifischen Fragen weitgehend auf sich allein  gestellt.21 Die neue künstlerische Selbstbestimmung ging daher auch mit gesteigerten  Konkurrenzverhältnissen einher. Um sich innerhalb dieser besser behaupten zu können tun sich seit der Moderne Künstler:innen zusammen. Meistens geht es dabei neben der Bündelung von Kompetenzen vor allem darum 

„kulturelle Innovationen in sozialer Organisation zu kanalisieren und durchsetzungsfähiger zu machen. Die verstreuten Innovationskräfte gewinnen mehr und mehr Bewußtsein davon, daß sie individuell schwach sind, im Kollektiv hingegen an strategischer Stärke gewinnen. […] Noch heute  sind es vor allem diese auf die Forcierung des schöpferischen Potentials hin ausgerichteten Vereinigungen, die nach Meinung des Publikums wie der Kunstschaffenden selbst das Etikett einer ‚künstlerischen‘ Gruppe, Gemeinschaft, Bewegung etc. ehestens verdienen.“22

Dagegen werden Zusammenschlüsse, die stärker berufsbezogene und wirtschaftliche Anliegen verfolgen, nicht als künstlerische Kollektive oder Künstler:innen-Gruppe verstanden. Mit der Thematisierung von kreativen Prozessen im Kontext ihrer ökonomischen Bedingungen und ihrer Einbettung in gesellschaftliche Machtstrukturen mit und durch künstlerische Mittel bestreiten feministische Kollektive selbstbewusst ihren eigenen Weg.

Wie sich neoliberale Werte und Vorstellungen von Leistung, Arbeit, Erfolg und Identität – nicht nur, aber ganz besonders – genderbezogen und – ebenfalls nicht nur, aber auf spezifische Weise – in der Kunst auswirken, thematisiert das Cake & Cash Curatorial Collective (seit 2020) als feministisches Austausch- und Rechercheprojekt an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und darüber hinaus.23 In den eigenen Arbeitstreffen, einer Veranstaltungsreihe mit Lesekreis, Inputs und  Workshops, einer Ausstellung und der Start-Up-Gründung der Grind & Shine Inc. im Kunstverein Harburger Bahnhof (2021)24 macht das Kollektiv auf die Widersprüche aufmerksam, denen junge  Künstler:innen ausgesetzt sind: Der Vorstellung der Selbstverwirklichung durch Kunst stehen prekäre Arbeitsbedingungen und ein krasser Individualismus gegenüber. Dadurch ist es nur einem ganz kleinen Kreis von Künstler:innen möglich, sich in ihrer Kunst selbst zu verwirklichen, und zwar denjenigen, die finanziell, körperlich, emotional und sozial die Bedingungen erfüllen, die es benötigt, um sich im Wettbewerb durchzusetzen und künstlerisch zu überleben. Bei Cake & Cash liegt ein Fokus auf den Erfahrungen und Arbeitsbedingungen im Kontext der Kunsthochschule, schließlich werden hier – nach der ersten großen formalen Hürde der Aufnahme als Kunststudent:in – wichtige Weichen für die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten gelegt. Dabei ist auch dem studentischen Kollektiv wichtig, sich mit ähnlich motivierten anderen Gruppierungen zu verbinden beziehungsweise verbünden, wie es insbesondere beim Pop & Squat Festival (2020) zur Vernetzung feministischer Initiativen an Kunst- und Gestaltungshochschulen unter dem Motto: „Das ist unser Raum!“,  verwirklicht wurde.25 Die an diesem Austausch beteiligten Personen und Gruppen zeigen, dass an den Ausbildungsstätten der gegenwärtigen Kunstwelt – zunächst unabhängig voneinander und dann in Bezug zueinander – die Idee der feministischen Gegenräume aktuell besonders starke Resonanz erfährt und umgesetzt wird. 

Abb. 10: Mitglieder des Cake & Cash Curatorial Collective während des Pop&Squat Festivals, Offenbach 2020. Abbildungsnachweis: Annika Grabold.

Das Herstellen der eigenen Räume und das Teilhaben an Diskursen über feministische Entwürfe eines rücksichtsvollen und solidarischen Miteinanders in kleinen und geschlossenen, räumlich und oft auch zeitlich begrenzten Gegenraum ermöglicht die Verwirklichung utopisch anmutender Ansätze und ist ein Zufluchtsort, oder: Ein safe space, in dem Erfahrungen geteilt und Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden können, die außerhalb dieser Räume gerechtfertigt werden müssen. Dafür ist die Abgeschlossenheit notwendig, doch gleichzeitig bleibt auch der Wunsch oder die Vision, über diese Heterotopien hinaus zu wirken – nicht nur das „Andere“ im „Eigentlichen“ zu sein, sondern aus den safe spaces und Gegenwelterfahrungen heraus in alle gesellschaftlichen Lebensräume hineinzuwirken. Feministische kollektive Praxis in der Kunst bleibt wichtige Quelle der Erprobung solidarischer und rücksichtsvoller Formen des Miteinanders. Sie wirkt durch ihre Radikalität aus dem Abgeschlossenen heraus zumindest punktuell als Inspiration für Veränderungen in anderen Bereichen des menschlichen Lebens. Sabeth Buchmann denkt angesichts der Auswirkungen der Covid-19- Pandemie im April 2020 an die Ausstellung Defiant Muses. Delphine Seyrig and the Feminist Video Collectives in France in the 1970s and 1980s (Reina Sofia Museum, 2019) zurück, die 

„ein in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der Frauenbewegung offenbar ausgeprägtes Bewusstsein um die Notwendigkeit nicht nur der ‚Sorge um sich selbst‘ (Foucault), sondern auch der solidarischen Etablierung lokaler und internationaler Infrastrukturen inklusive kollektiv geteilter Erfahrungen und Wissenspraktiken zur Verbesserung der oftmals katastrophalen sozialen und gesundheitlichen Situation von Frauen und Mädchen erkennen [ließ].“26

Ein solches Bewusstsein ist auch in den gegenwärtigen verschiedenen und miteinander vernetzten künstlerischen Kollektiven zu sehen.27 Diese reagieren nicht nur auf die vielerorts „katastrophalen“ Lebensbedingungen von Mädchen und Frauen sondern prangern darüber hinaus tieferliegende, grundsätzliche Paradigmen und Machtstrukturen in Kunst und Gesellschaft an. Sie kritisieren das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminerungsstrukturen und deren gemeinsame gesellschaftliche Grundlagen sowie die enge Verknüpfung von patriarchalen und kapitalistischen Mechanismen, wie sie in Debatten um Care-Arbeit thematisiert werden.

Abb. 11: In The Meantime: Working Together: Being slower than expected, How to Work Festival (online), 2020,  Screenshot der kollektiven Visulisierungen während des Workshops. Abbildungsnachweis: URL: http://in-the-meantime.net/projects/working-together-being-slower-than-expected (17.08.2021).

Das Knüpfen von Beziehungen zwischen Akteur:innen (Einzelpersonen und Gruppen) feministischer künstlerischer Kollektive ist nicht nur zur Stärkung „nach außen“ wichtig, also um sich in der bestehenden Kunstwelt vernetzt oder verbündet besser behaupten zu können. Auch die gemeinsame Reflektion persönlicher oder gruppenbezogener Entwicklungen, des Scheiterns oder von Ratlosigkeit sind von besonderer Bedeutung für das Bestehen der Gruppen. Aus meiner eigenen Erfahrung als Mitglied der Experimentellen Klasse (seit 2019)28 sowie von anderen Künstler:innen, wie es zum Beispiel Charlotte Perka von In The Meantime (seit 2020)29 bei einem meiner Gespräche über feministische kollektive Praxis erzählt,30 kann ich berichten, dass es sich beim Streben nach diesen Idealen um einen andauernden und teilweise durchaus anstrengenden Lernprozess handelt. Gerade die eigenen Ansprüche, persönliche Grenzen über einen vermeintlichen produktiven Erfolg zu stellen, können oft nicht erfüllt werden. Der Wunsch, die künstlerische Praxis besser als bisher üblich und auf eine neue, eigene Weise zu gestalten, führt selbst immer wieder dazu, dass die Motivation die eigenen Kapazitäten überrollt. Die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in Arbeitsprozessen schnell untergeht, die Aushandlungen in der Gruppe, die oft dazu führen, dass wir das Gefühl haben langsamer voran zu kommen als im individuellen Arbeiten (Abb. 11), die Spannung zwischen kollektivem Agieren und dem Voranbringen individueller Vorhaben – all dies erfordert erst einmal mehr Kraft im Vergleich zum Arbeiten als Einzelperson. Die Beteiligten feministischer Initiativen sind sich dieser Herausforderung sehr bewusst und reflektieren kritisch, inwiefern sie den eigenen Ansprüchen genügen. Wichtig ist es, das, was als Scheitern empfunden wird, als Teil des Lernprozesses zu akzeptieren, der auch das Verlernen tiefsitzender Vorstellungen wie zum Beispiel von Leistung und Erfolg beinhaltet. 

Kunst bietet wie kein anderes Feld die Möglichkeit eigene Formen des Miteinanders, des Handelns und des Gestaltens von Bildern und Erzählungen über sich selbst und die Welt zu entwickeln. Diese Potentiale sind gerade für marginalisierte Gruppen wichtig, um sich selbstbestimmt in der Gesellschaft zu bewegen und zu präsentieren. Doch wird das Wahrnehmen dieser Freiräume in der Kunst durch Individualismus und Wettbewerbsdenken, patriarchale, rassistische, klassistische, ableistische und weitere Machtverhältnisse beschränkt. Sie sind unter dem Deckmantel der „Freiheit der Kunst“ noch stärker verschleiert.31 Dagegen stellt sich feministische kollektive Praxis: Es geht darum eigene Formen künstlerischer Praxis zu erproben und das der Kunst inneliegende Potential für alle zugänglich zu machen.


Biografie

Saskia Ackermann

Saskia Ackermann hat ihren Master in Bildender Kunst an der Hochschule der bildenden Künste in Hamburg gemacht und studiert seit 2016 an der FernUniverstität Hagen Bildungswissenschaften im Bachelor. Einer der Schwerpunkte ihrer Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit feministischen Formen kollektiver Praxis. Eine ähnliche Intention verfolgt sie gemeinsam mit dem künstlerischen Kollektiv Experimentelle Klasse, die sich queeren, feministischen und intersektionalen Fragestellungen und Arbeitsweisen widmen.


Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst – Lea Lenk und Vesna Hetzel

Die geplante Strecke der A49 führt mitten durch den Dannenröder-Forst. Umweltaktivist:innen protestierten für eine klimagerechte Verkehrspolitik und Rettung des 300 Jahre alten Mischwald aus Buchen und Eichen während die hessische Landesregierung auf den Bau der Autobahn und der damit verbundenen Teilrodung beharrt. Um den Raumkonflikt zu lösen entwickelt das Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst verschiedene hybride Szenarien zum Umzug des Waldes. Doch welcher Ort bietet dem Wald seine ungehindertere Entfaltung? Welche Strategien sollten eingeleitet werden um eine Kooperation von Mensch, Wald und anderen Akteur:innen zu ermöglichen? Einen Versuch, den das Umzugsbüro verfolgt: den Umzug in die Cloud.

Willkommen im Pop-Up-Umzugsbüro Dannenröder Forst. Hier werden Strategien und Prototypen zum Umzug eines Waldes erforscht. Gerade sind wohl alle unsere Mitarbeitenden in einen Video-Call verwickelt. Schauen Sie sich um, tragen Sie sich in die Umzugshelfer:innen-Liste ein.

Flipchart steht im Eck. Gemappte Schlagwörter, Notes, Karten und Schematas sind an die Wand geclustert. Charmant-konzentrierte Stimmung im Umzugsbüro. “Terrestrisches Verfahren wäre hier…” “möchte Ihnen noch das Airborn Laserscanning vorstellen…”. Es geht momentan um die Erfassung und Vermessung des Waldstückes, das an einen anderen Ort umgezogen werden soll. Gearbeitet wird an der Umsetzung von hybriden Konzepten: Physischer Umzug und Umzug in den virtuellen Raum.

“Wir möchten momentan in strategischen Schritten verschiedene Szenarien entwickeln, um einen Prototypen zu entwickeln, wie das Waldstück als Ökosystem im Kompletten an einen anderen Ort umgezogen werden kann. Dazu bringt uns der demokratisch beschlossene Bau der A49 und die Vision, einen neuen Raum zu finden, wo der Wal weiter für immer expandieren und florieren kann. Dazu muss er vor allen dingen auf ganz vielen verschiedenen Ebenen flexibilisiert werden.”

CEO, Pop Up Umzugsbüro

Dieses Gebiet löst sich wie eine Erdplattenverschiebung. Eine dicke Kruste bildet sich und führt oval unter die Erde. Dann löst sich der Wald langsam aus seinen Angeln und beginnt zu schweben. Die Autobahn bleibt zurück inmitten einer dunklen Kluft von Leere.

Unsere Strategie-Entwicklung wird zunehmend komplexer. Nicht nur aus dem offensichtlichen Grund, dass monetäre Mittel in unserem Projektbereich eher für die Rodung und den Bau der Autobahn zur Verfügung stehen. Oder den Problemen, auf welche man aus forstwissenschaftlicher Sicht stößt. Die Entwicklung unterschiedlicher Umzugsszenarien wird vor allem komplexer, da wir uns mit einem Territorium beschäftigen, welches mit verschiedenen Ebenen über-und durchzogen ist. Es reicht in verschiedene, wir nennen es in diesem Artikel ‘Plattformen’ hinein und findet auf diesen unterschiedlichen Plattformen einen Platz und Raum.

JURISTISCHE EBENE

Das betreffende Teritorium hat einen bestimmten Nomos. Ein Gitter an Gesetzen entsteht wie eine juristische Ebene über dem Wald. Lässt Linien, Zäune, Segmente, Markierungen entstehen, verwebt sich mit ihnen. Verschiedene Geometrien akkumulieren sich.

ÜBERLAGERUNG VON RAUMFIGURATIONEN

            Der Wald war nie frei

            Kommodifizierungphantasien in der Kolonialisierung

            Er entzieht sich, gibt den Platz wieder frei,

            Verortet sich neu, löst Raumkonflikte auf,

            Zugriff ist weiter möglich

            Ein Wald, der ewig expandieren wird

            Forever alive and has forever died

            Der Wald als Souverän

Die binäre Wahrnehmung von Territorien des Zusammenspiels aus Ortung und Ordnung kollabiert. Klare Unterscheidungen wie – dies ist der Raum der Erde, dies ist der Bereich des Wassers, dies ist die Zone der Luft – verflechten sich. Man kann das nun auch so sehen, wie Benjamin Bratton in The Strack einführt: Verschiedene Plattformen entstehen durch strategische Zusammenführung der Konturen von plastischen Territorien. Es fällt nun also schwer, in dieser Raumimagination von Territorien in einzelne Typen der Erde zu unterteilen. Wir überlegen ob das “fortfahrende Entstehen von planetary scale computation möglicherweise einen ähnlichen Bruch und Herausforderung an die politische Geographie repräsentiert.”

CHANGIEREN ZWISCHEN IMAGINÄREN UND REALEM RAUM

Wie verschiebt sich das Konzept Wald in der Umrechnung einer planetary scale computations? Oder ab welchem Punkt wird dieses Konzept sich materialisieren können, aber nicht im Sinne des Erschaffens einer neuen Repräsentation (physische Herstellung der Oberfläche eines Waldes), sondern in ihr eigenes Souverän. Auch hier ist ein großes Komplex zu finden. Das Materialisieren entzieht sich beim Umzug ins Virtuelle der Wahrnehmung der großen Öffentlichkeit. Ein Umzug in die Cloud.

WAS BEDEUTET EIN UMZUG IN DIE CLOUD?

Der Wald ist nach Umzug ins Virtuelle in der Cloud zu finden. Er ist nicht nur verschwunden oder in einen vierten Raum verpflanzt, der einfach zu Luft, Erde und Wasser – Raumdimensionen des Schmittschen Nomos – hinzugefügt wurde. Sondern ist auf verschiedene Ebenen verteilt. Die Trennung und Unterschiedungsprioritäten des Nomos, wie ihn Schmitt verstand, auf die Cloud bezogen bzw. auf das, was aus der planetary scale computation entstanden ist, also die trennung zwischen Cloud-Infrastruktur und Cloud-Interaktivität im Spektrum von greifbar bis virtuell, kann nicht lange überleben. (Vgl. Bratton 2015, S.28)

NEU-VERORTUNG, NEUE ORDNUNGEN

“Bei einem Umzug stellt sich immer die Frage des Wohin? Welcher neue Ort passt zur Neuansiedlung, welcher Raum kann den Bedürfnissen des umziehenden Territoriums Platz bieten, gerecht werden?“ Weiterführend stellt sich die Frage, welche Bedürfnisse beachtet werden müssen. In welcher Form soll der Wald in Erscheinung treten, wer darf Zugriff auf ihn haben? Wer ist Eigentümer:in, wer besitzt den Wald? Wie wird der Wald von wem wahrgenommen?

VERORTUNGEN UND TERRITORIALISIERUNG DES VIRTUELLEN RAUMS

Konkrete Utopien sind schwierig zu benennen. Eine Veränderung der Wahrnehmung der Zusammenhänge aus physischem und virtuellem Raum ist beobachtbar. Die Wechselwirkungen zwischen beiden vermeintlich getrennten Räumen wird aufgrund unseres expandierenden Umgangs und des erweiterten Bewegen sichtbarer. Beziehungsweise verlagern sich Bewegunsradien in den unterschiedlichen Räumen. Ein Bewusstwerdungsprozess des eigenen materiellen Ortes im Ökosystem.

Alles braucht einen vorhandenen Ort und nimmt Raum ein. Die Trennung dieser beiden Räume löst sich auf. Alles fließt ineinander über. Materiell und virtuell. In der Luft vereinen sich obere Waldschicht und untere Waldschicht zu einem Ganzen. Das Neue schwebt als Cloud, als ihr eigenes Souverän, als Mini-Staat.

GEDANKEN-SYNAPSEN IM GEHIRN … DATEIEN/PROTOKOLLE/…

EINEN PLATZ AUF EINEM SERVER. 27 Hektar auf zwei Zentimetern der Serverfarm im Pazifik. So klein wie möglich, aber trotzdem noch auffindbar.

Durch den Prozess des Umzugs wird es möglich, die verschiedenen Plattformen aufzudecken und dem nachzugehen.

Der Umzug in die Cloud fungiert wie ein Mikrokolonialisierung: DieCloud als eine Art Kontinent der neu besiedelt werden kann. Und gleichzeitig findet durch die planetary scale computation auf unterschiedlichen Plattformen schon eine Kolonialisierung statt, beziehungsweise hat dadurch an stattgefundene Kolonialisierungen angeknüpft. Das Feld sinnlichen Erlebens, eingebettet in die Materie, ist längst einem visuellen Feld gewichen, das uns auf den Wald als Bild schauen lässt und uns somit erlaubt, es zu Clustern zu kategorisieren, berechnen, vermessen und seinen Wert zu kalkulieren.

Der Wald ist durch eine neue Verortung im virtuellen Raum nun nicht verschwunden oder wurde in einen vierten Raum verpflanzt, sondern wird sich dann auf verschiedenen Ebenen verteilen. In unterschiedlichen Plattformen wird der Wald physisch sein. Visuell, taktil, auditorisch, vielleicht sogar bald olfaktorisch, in ferner Zukunft gustatorisch, kann der sich in der Cloud eingefundene Wald, durch technische Lösungen wahrgenommen werden. Der Wald als Kulturgut bleibt bestehen. Wird archiviert. Durch künstliche Intelligenz als Simulation erweiterbar. Durch auf der Erde verankerte Maschinen, die örtlich ungebundener und flexibler sind als ein Ökosystem, werden die Funktionen des Ökosystems, wie z.B. die CO2-Filterfunktionen im physischen Raum übernommen. Es existieren quasi die Informationen über das Ökosystem, allerdings aufgeteilt auf verschiedene Plattformen des Stacks. Der Wald aber ist tot. Umgezogen wird nicht ein Ökosystem, sondern das Ökosystem als Medium kultureller Prozesse, als Kulturgut. Wir wollen diesen Wald, weil wir ihn brauchen. Wir wollen diese Autobahn, weil unser System sie braucht. Der Körper des Waldes und unser Körper sind existenziell verwoben, aber nicht nur auf stoffliche, sondern auch auf ideelle, konzeptuelle, ethische und kulturelle Weise.

DAS PROBLEM MIT DEM KULTURGUT

Der Wald ist längst kein unbelasteter, ursprünglicher Raum mehr, sondern wird wie eine Ware, wie Geld ungeordnet strukturiert und verwertet. Dem entgegen steht eine Vorstellung vom Wert eines Ökosystems, das Grundlage jedes Lebens auf dem Planeten bildet und als solches unbedingt schützenswert ist.

Eine solche Vorstellung betrachtet den Wald innerhalb einer bestimmten Wertvorstellung als Kulturgut. Einem Wald aber überhaupt Wert im Sommer eines ‘Gutes’ zu zuschreiben, ist bereits ein kultureller und kulturalisierender Prozess und somit ein virtuelles Konzept, eine Aneignung. Wie kann in einer solchen Konzeptualisierung der Wald als Wert an sich außerhalb eines Wertesystems gedacht werden? Die Grenzen unserer eigenen Imagination konfrontieren unser Unvermögen, außerhalb dieser Prozesse eine Sprache zu finden, die diese kulturelle Aneignung des Ökosystems beschreibt, denkt, aufbricht. Vielleicht sollten wir den Wald einfach lassen, als was er ist – außerhalb unseres Systems und gleichzeitig zutiefst verwoben mit unserem System. Den Wald vielleicht sogar betrachten als existenzielle Grundlage des Fortbestehens menschlicher Kultur.

POINT: WIE TERRAFORMING UND TECHNISCHE MITTEL NUTZEN: Utopie:

Neue Möglichkeiten des Terraforming würden sich ergeben. Warum der Wald im Reellen erhalten werden sollte, hat mit subjektiven Empfindungen und auch mit seinen Funktionen innerhalb des Ökosystems der Erde zu tun. Sobald wir die technische Möglichkeiten haben, der Funktionen nachzubauen, besteht die Möglichkeit, darüber nachzudenken, die haptische Natur getrennt von ihrer Funktion zu digitalisieren und über ihre Funktionen in Form von Maschinen zu verfügen.

Stellt es eine Utopie dar, dass die Souveränität über den Wald als Menschen so aussieht, dass wir in der Lage sind, eventuell die für uns relevanten Funktionen von der realen Existenz des Dinges / Territoriums an sich zu trennen? Zu bestimmten, wo und wann etas entsteht und etwas sich formt? In dieser Heterotopie ist der Wald ein Territorium, ein System, das ewig expandieren wird, aber nicht sein eigenes Souverän besitzt.

Zwei schwarze, glänzende zylindrische Kästen ragen in die Höhe. Legt man den Kopf in den Nacken, kann man die Kante des Endes sehen. Auf der einen Seite spürt man den Luftzug und muss an der Absperrung anhalten, damit man nicht mit full of CO2 und Methan enthaltener Luft eingesaugt wird. Atmet man auf der anderen Seite ein, verspürt man die fresheste O2-Luft, die einem die Haare ins Gesicht wehen lässt.

Was im Physischen bleibt, ist Masse. Lebendige, moorige, wuchernde, gewaltige Erdmasse, Baummasse, Gehölz, Lebewesen, unvereinbar mit den Konstruktionen und Projektionen einer Gesellschaft, einer Autobahn, jeglicher Wertvorstellungen oder virtuellen Konstruktion. Alleine die Information und der Nutzen sind auf die Cloud übertragen. Der Boden wird zurück gefordert, der Wald war nie frei. Das Subaltern kann in der Konstruktion des Mächtigen nicht sprechen, sondern nur verwertet werden. Im schlimmsten Fall wird es abgelöst durch eine Verbildlichung, wird Oberfläche, degradiert zum Kulturgut und ins Archiv der Museen überführt.

In der Konfrontation mit der schieren Masse, dieser schieren Gewaltigkeit der Materie müssen all unsere gedanklichen, virtuellen Lösungen scheitern. Einen Wald umzuziehen ist lediglich ein Prozess imaginärer Umformung, in der der Wald wieder nur Objekt beziehungsweise Bild unserer Sehnsucht und Projektionen, ein Spiegel der Kultur und was sie mit der agency und Souveränität eines Ökosystems tut.

Diese Imaginationen öffnen aber auch Räume im Virtuellen, die selbst materialisierte Orte, Heterotopien werden können und ihrerseits die Formierung neuer Prozesse anstoßen, verhindern oder pervertieren können. Werden wir es schaffen?

Wir schlagen nicht nur eine neues Bild vor, das eine bereits existierende Repräsentation (Der Wald) mit einer anderen Repräsentation (der umgezogene Wald) ersetzen soll. Der naive, größenwahnsinnige, real-politische und existenziell verzweifelte Versuch ist es, Imaginationen eines von konzeptuellen und kulturellen Praktiken dekolonialisierten Waldes anzustoßen, eines Waldes ewigen Werdens und Expandierens, eines Souverän. Werden wir es schaffen?


Biografie

Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst

Das Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst wurde im Jahr 2021 von Lea Lenk und Vesna Hetzel gegründet und forscht interdisziplinär an Strategien zum Umzug eines Waldes. Sie entwickeln verschiedene analoge wie hybride Szenarien und Imaginationen zur Flexibilisierung bestimmter Ökosysteme, insbesondere des Terraforming. Fragen von Raumkonflikten und spekulativen Zukünften spielen dabei ebenso eine Rolle wie konkret-realpolitische Handlungsmöglichkeiten.

Reflexionen über eine offene Werkstatt an den Außengrenzen Europas – Mimi Hapig, Franziska Wirtensohn und Michael Wittmann für Habibi.Works

Im Beitrag stellt sich das praktische Projekt Habibi.Works vor und reflektiert die eigenen Strategien und Strukturen auf theoretischer Ebene. Das Projekt selbst begreift sich als Heterotopie und als border[less]: Ein grenzenloser Raum, welcher den Versuch wagt, vermeintliche Zugehörigkeiten zu Nationalitäten, Religionen, Ethnien oder Geschlechtern und daraus resultierende Grenzziehungen zu überwinden. Verfasst von Mimi Hapig, Franziska Wirtensohn und Michael Wittmann.

Begonnen Ende des Jahres 2015 als zivilgesellschaftliches Engagement zur Unterstützung von Menschen, die nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen ankommen, wurde die offene Werkstatt Habibi.Works1 im Jahr 2016 bald zu  einem Raum, zu einem „in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichneten“2, konkreten Ort.  Sie versteht sich als „Gegenplatzierung oder Widerlager, [versuchte] tatsächlich realisierte Utopie“3 – um dem momentanen Umgang Europas mit Menschen nach ihrer Flucht und der zunehmenden Entmenschlichung und Militarisierung von Grenzen etwas entgegenzusetzen und um Begriffsbildungen wie „Flüchtlingskrise“ zu dekonstruieren.

Dieser Beitrag stellt Motive, Intentionen und Arbeitsweisen des Werkstattprojekts Habibi.Works vor und beleuchtet anhand zentraler Fragestellungen, inwiefern eine kritische Praxis gelingen kann, die Machtdynamiken und Ungleichheiten reflektiert.

Entstanden aus einem zivilgesellschaftlichen Kontext, verbindet das Werkstattprojekt  unterschiedlichste Disziplinen sowie verschiedenste Perspektiven und Ansätze. Die offene Werkstatt  verortet sich als gestalterische Praxis. Sie ist eine sich solidarisierende Initiative, die (informelle) Bildung, Austausch und gesellschaftliche Teilhabe zugänglich machen will. Daraus können sich einerseits Konflikte und problematische Projektionen ergeben, wie  gegenteilige Auswirkungen vom Intendierten4, ungewollte Stigmatisierungen5 oder eigentlich gut gemeinte, aber dennoch bevormundende Projekte.6 Andererseits erwies sich ebenjene Mulitperspektivität – also die Öffnung für Einflüsse aus unterschiedlichstes Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen sowie für eine Vielzahl an Ideen interessierter Menschen – als zentrales und konstruktives Motiv über Jahre des bisherigen Bestehens.

Dieses Verständnis soll weder eine zu vereinfachende Gleichsetzung  von Kunst und Politischem  bedeuten, noch eine (scheinbar heilsbringende) Sonderrolle von Kunst betonen.7 Vielmehr sucht es nach Formen des Ineinanderwirkens. Dieser Beitrag diskutiert, inwiefern kritische und nicht ausschließlich affirmative Formen und Strategien einer sich solidarisierenden Gestaltung möglich sind.8 Kritisch meint in diesem Sinne, dass bestehende Ungleichheiten benannt werden, gleichsam die eigenen Intentionen und auch nicht intendierte, widersprüchliche Auswirkungen hinterfragt sowie Hierarchien und die eigene Situiertheit reflektiert werden.9

Intentionen – drei wesentliche Perspektiven

Habibi.Works wurde von dem kurz zuvor gegründeten gemeinnützigen Verein Soup and Socks e. V. ins Leben gerufen, mit der Überzeugung, dass nationale Grenzen keine Grenzen für die Suche der Menschen nach Freiheit und Sicherheit oder für ihr Recht auf selbstbestimmte und würdige Lebensbedingungen sein dürfen.10 In diesem Sinne sind die wichtigsten Prinzipien von Habibi.Works: Menschen, die nach Europa kommen, können unsere Gesellschaften bereichern, wenn soziale, wirtschaftliche und politische Strukturen zugänglich sind und dies ermöglichen. Solange diese Strukturen nicht zur Verfügung stehen, versucht das Werkstattprojekt eine Rahmen zu setzten, in dem zumindest im Wirkungsbereich dieses Ortes die Menschen selbst Ideen, Perspektiven und Lösungsansätze generieren, anstatt bevormundet und ihrer Handlungsfähigkeit beraubt zu werden.

Habibi.Works vereint folgende drei Perspektiven: Erstens durch alltägliche Unterstützung vor Ort ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen; zweitens einen Raum zur Verfügung zu stellen, der Ort für Austausch und Begegnung ist; drittens durch kritische Berichterstattung Bewusstsein über die desolate und ausweglose Situation für Menschen nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen zu generieren.

Abb. 1: Eindrücke aus der offenen Werkstatt Habibi.Works. Foto oben links Florian Horsch; Foto oben mittig Margot Buff; Foto oben rechts und unten rechts Mimi Hapig; Foto unten links (Zeitraffer) Franziska Wirtenson und Michael Wittmann.

Konkret findet die alltägliche Unterstützung vor Ort in Katsikas, bei Ioannina im Nordwesten Griechenlands in Form einer offenen Werkstatt statt: Mit Ateliers für Holz-, Metallbearbeitung, für digitale Fabrikation, Nähen und Kreatives, mit Bibliothek, Küche und Sportbereich ist Habibi.Works offen für Menschen nach ihrer Flucht, genauso wie für die lokale griechische Bevölkerung und Interessierte oder Expert:innen aus der ganzen Welt. Die alltägliche Arbeit vor Ort ist getragen von dem Gedanken, dass jede Person die/der Expert:in ihres eigenen Lebens ist. Menschen wissen selbst am besten, woran es ihnen fehlt und wie adäquate Problemlösungen aussehen können. Was ihnen die Umsetzungen ihrer Ideen erschwert, ist der fehlende Zugang zu Räumen, Materialien, Ausrüstung und Unterstützung. Hier setzt Habibi.Works an. Die elf verschiedenen Werkstättenbereiche zielen darauf ab, dass Menschen wieder Gestaltungsfreiheit und Selbstbestimmung in ihrem Alltag generieren können. Insofern wollen sie gelebtes Beispiel vor Ort sein und vermeintliche Grenzen im Alltäglichen und in vielen kleinen Situationen überwinden.

Durch freie Zugänglichkeit, durch gegenseitige Wertschätzung aller Beteiligter und durch den Versuch, selbstbestimmte Gestaltung zu ermöglichen, wollen die offenen Werkstätten zudem ein Ort für Austausch und Zusammenarbeit sein, in dem nicht nur zahlreiche Objekte, sondern auch Gemeinschaft, Vertrauen und Selbstbewusstsein entstehen. Vorurteile sollen abgebaut und die eigenen Annahmen und Intentionen im konstruktiven Sinne hinterfragt werden.

Und drittens soll dieser Raum eine gesellschaftspolitische Bedeutung entwickeln, indem ein (öffentliches) Bewusstsein geschaffen und verstärkt wird – gegen die desolate Situation an Europas Außengrenzen und gegen eine Kriminalisierung und Prekarisierung von Menschen auf der Flucht. Mit regelmäßiger Berichterstattung und Kampagnenarbeit werden  Kontrapunkte gegen rechtspopulistische Narrative gesetzt.

Abb. 2: Blogbeitrag mit einem Bericht über die drohenden Obdachlosigkeit für viele Asylsuchende in Griechenland. Foto Mimi Hapig, entnommen: Soup and Socks e.V., Blogeintrag, URL: https://soupandsocks.eu/2020/06/10/from-camps-to-homelessness-new-regulation-in-greek-asylum-regulations/

Zentrale Arbeitsweisen – exemplarische Beispiele

Zugänglichkeiten als Gegenmodell zu der gezwungenen Untätigkeit und dem Warten in Ungewissheit

Als offene Werkstatt versucht Habibi.Works einen Rahmen zu schaffen, in dem die Menschen  Selbstbestimmung, sowie Zugang zu (informeller) Bildung und zu gesellschaftlicher Teilhabe selbst generieren können. Den Menschen, die sich in einer politisch bedingten Situation des Wartens mit sehr wenig Informationen über die eigene Zukunft befinden, soll ermöglicht werden, eine Perspektive der Selbstwirksamkeit in ihrem täglichen Leben zu schaffen. Dieser Ansatz soll spürbare Auswirkung haben – auf die aktuelle Lebenssituation der Menschen (z.B. Vorhänge, die Privatsphäre in den Containern schaffen, sodass Frauen ihr Kopftuch abnehmen oder sich in Ruhe umziehen können), auf die Motivation, die eigene Bildung fortzusetzen oder zu nutzen (z.B.  Expert:innen, die ihre Fähigkeiten weitergeben, Student:innen, die ihre Ausbildung online fortsetzen, Jugendliche, die nie Zugang zur Schule hatten, werden ermutigt, sich Fähigkeiten anzueignen) und auf die Zuversicht, ein unabhängiges Leben innerhalb der europäischen Gesellschaften aufzubauen.

Offene Formen der Zusammenarbeit

In dem Versuch, diese aktive, selbstbestimmte Perspektive aller Beteiligten zu fördern, erkundet Habibi.Works nicht-kompetitive, selbst-ermächtigende Wege der Zusammenarbeit. Alle Menschen werden eingeladen, ihre eigenen Ideen einzubringen, sich an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, Verantwortung zu übernehmen und Eigenverantwortung zu generieren, zum Beispiel indem sie eine angeleitete Aktivität in einem der Habibi.Works-Workshops anbieten, sich an größeren Projekten beteiligen oder in den monatlichen Community-Treffen Feedback und Ratschläge geben.

Erzeugen von Bewusstsein und Dekonstruktion diskriminierender Begrifflichkeiten

Die Situation an den europäischen Grenzen ist geprägt von Ungleichheiten und Unsicherheiten für in Europa nach ihrer Flucht neu ankommende Menschen. Habibi.Works und dessen Trägerverein informieren regelmäßig europaweit über diese Zustände und setzen rechten Narrativen auf kreative, engagierte und zugleich deutlich kritisierende Weise etwas entgegen. Die Kanäle reichen von monatlichen Newslettern über Social-Media-Kampagnen bis hin zu Reden im Europäischen Parlament und auf Demonstrationen, der Teilnahme am akademischen Diskurs und öffentlichen Vorträgen in verschiedenen europäischen Ländern.11

Abb. 3: Die Menschen demonstrieren gegen ihre Unterbringung unter widrigsten Bedingungen in einem sogenannten Camp in Katsikas (Griechenland) und Solidaritätskundgebung in München. Abbildung oben Soup and Socks e. V., E-Mail-Newsletter: Viel Licht und Regen über Katsikas, Nr. 15 (11.09.2016); Foto unten Michael Wittmann.

Inhaltliches Motiv ist unter anderem die Entlarvung des Begriffs „Flüchtlingskrise“ als verkürzte und rassistische Zuschreibung der Verantwortung für einen Zustand auf die am stärksten davon betroffenen Menschen. Die Ursachen liegen tiefer: Die Symptome an den europäischen Grenzen werden nicht allein durch Menschen verursacht, die aus ihren Ländern fliehen müssen. Sie sind die Folgen globaler Verflechtungen und Konflikte, die zu Ausbeutung, Krieg, Verfolgung und Armut führen. Diese Konflikte sind zumindest teilweise die Folge von kolonialem Erbe, von Rassismus und von Ausbeutung von menschlichen und natürlichen Ressourcen.12 Die offensichtlichsten Symptome dieser humanitären und politischen Krise – krisenhafte Zustände in den Flüchtlingslagern und punktuelle Ereignisse wie die Katastrophe auf Lesbos – sind auf einen politischen Unwillen zurückzuführen, menschenwürdige und nachhaltige Lösungen zu finden.

Raum zu Verfügung zu stellen

Habibi.Works will Raum zur Verfügung stellen – zur Umdeutung bestehender Ungleichheiten, zur Reflexion sowie zur offenen Nutzung und daraus resultierender Bedeutungsperspektiven. Gemeint sind damit sowohl die konkreten Räumlichkeiten, sprich physischen Räume als auch inhaltliche und symbolische Dimensionen der Räumlichkeiten von Habibi.Works.

Das Teilprojekt Habibi Dome, entstanden 2016/17, kann hierfür als Beispiel gesehen werden.13 Es ist kollektives Bauprojekt und Plattform zugleich: Im Bauprozess wurde die mittlerweile im Internet frei zugängliche Geodesic-Dome-Konstruktion nach Richard Buckminster Fuller als bestehendes Wissen verwendet, um sie adaptieren, weiterentwickeln und weitergeben zu können. Die Kuppelkonstruktion und die Entscheidung, diese als selbstbestimmten Raum zu bauen, war ein Vorhaben, das alle am Projekt Beteiligten zusammen trafen. Wichtiges Grundprinzip war, auf möglichst allen Ebenen offene und zugängliche Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse ablaufen zu lassen und sich dabei gleichwohl bewusst zu sein, dass eine absolute Hierarchielosigkeit nicht möglich ist. Ein Modell im Maßstab 1:10 als essentielle Stütze bei der Verständigung ohne eine gemeinsame Sprache machte Planung und gestalterische Entscheidungen für alle Beteiligten zugänglich. Darüber hinaus wurde der ursprünglich angedachte Plan einer Überdachung aus Zeltstoff hin zu einer Abdeckung mit Holz und damit zu einem festen Raum abgeändert, da dies für viele Beteiligte ein Statement gegen die Unterbringung in Camps war.

Abb. 4: Bau der Kuppelkonstruktion. Abbildungsnachweis: Lucas Bertoldo.

Mittlerweile entstand neben dem in Griechenland gebauten, nach wie vor genutzten Raum eine mobile Version, die an verschiedenen Orten europaweit auftauchte. Derzeit ist sie in Stuttgart zusammen mit der Hans Sauer Stiftung und weiteren lokalen Projektbeteiligten.14 Als offene Plattform will der mobile Raum gesellschaftliche Fragen aufwerfen und einen Austausch darüber und untereinander ermöglichen: Das Projekt stellt Fragen, wie wir in unserer Gesellschaft zusammenleben wollen – ohne Vorurteile über vermeintliche Grenzen hinweg, und wie echte Solidarität aussehen kann und muss.

Langzeit-Perspektive

Durch den temporären Einsatz einer mobilen Küche stand zunächst ein Lindern der katastrophalen humanitären Situation Ende 2015 an Europas Außengrenzen und auf der sogenannten Balkan-Route im Vordergrund. Während der darauffolgenden Reflexion wurde klar, dass ein langfristig verfolgtes Vorhaben unbedingte Voraussetzung ist, um eine nachhaltige Perspektive entwickeln zu können und um in die Situation vor Ort involviert sein zu können.15 Daraus entstand der Werkstattgedanke mit dem Fokus, sich zu solidarisieren und auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.

Gegenseitiges Lernen

Selbstverständnis der offenen Werkstatt ist es, Lern- und Austauschprozesse nie in ausschließlich eine Richtung, sondern immer gegenseitig in beide Richtungen und auf Augenhöhe zu verstehen. Selbst wenn eine Person in einem Bereich Expertise besitzt und einen Workshop anleitet, lernen immer alle beteiligten Personen auf vielschichtigen Ebenen voneinander. Um gegenseitiges und selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen, werden die Menschen vor Ort, die nach ihrer Flucht nun in Europa angekommen sind, von Beginn an eingebunden, zu entscheiden, welche Werkstattbereiche eingerichtet werden und eingebunden, dort auch Workshops durchzuführen.

Offenheit und eigene Annahmen hinterfragen

Um ausschließlich bevormundende Strukturen zu vermeiden, werden im Denken und Arbeiten von Habibi.Works all diese konkreten Zielsetzungen zur Diskussion gestellt – hinsichtlich möglicher unerwünschten Auswirkungen sowie paternalistischer Zusammenhänge. Habibi.Works will offen bleiben für die Ideen wirklich aller Menschen, welche die Räumlichkeiten betreten und sich daran beteiligen. Die eigenen Annahmen und Vorstellungen sollen stets spielerisch und dadurch konstruktiv hinterfragt werden. Dieser Ansatz beruht auch auf dem Bewusstsein, dass jede Zielsetzung und Gestaltung stets mit einer eigenen Machtposition verbunden ist.16

Das Wagnis eines vielschichtigen und kritischen Ortes – einer Heterotopie

Das Werkstattprojekt Habibi.Works versteht sich als konkreten Ort, als Raum, welcher kritisch über die Zustände an Europas Außengrenze berichtet und die Einhaltung von Menschenrechten einfordert. Darüber hinaus wird an diesem Ort der utopische – oder besser heterotopische – Versuch gewagt, Formen von Solidarität als Gegen-Narrative sowohl im Mikrokontext als auch auf struktureller Ebene zu entwickeln und Ungleichheiten zumindest im kleinen Kontext zu verschieben, auszusetzen oder umzudeuten.

Und insofern begreift sich Habibi.Works als Heterotopie, da es einen Raum mit gesellschaftlicher Relevanz und Bedeutungsperspektive zu verbindet.17 Das Projekt will dem Zustand des Wartens in Ungewissheit, in dem die Menschen nach ihrer Flucht gebracht werden, heterochronistisch gegenüberstehen.18

Es vereint scheinbar Widersprüchliches und sich diametral Gegenüberstehendes:19 Das Projekt Habibi.Works will ein Raum sein, der das Postulat erhebt und auch umsetzt, dass  alle, ausnahmslos alle Menschen gleichberechtigt sind, dass gleiche (Persönlichkeits-)Rechte und Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe für ausnahmslos alle gelten muss – in einem Kontext, in dem die Frage nach einem europäischen Pass – oder eben nicht – einen alles entscheidenden Unterschied macht. Es ist ein Ort, der sich gegen diese Ungleichheiten sperrt und gleichzeitig versucht Menschen zusammenzubringen.

Diesen Vorhaben wagt in einem physisch begrenzten Raum grenzenlos zu denken und zu handeln: Es will grenzenloser Raum sein, in dem der Versuch gewagt wird, vermeintliche Zugehörigkeiten zu Nationalitäten, Religionen, Ethnien oder Geschlechtern und daraus resultierende Grenzziehungen zu überwinden. Habibi.Works ist konkreter Raum, welcher in Katsikas als offene Werkstatt fungiert, und zugleich offener Raum für Konzepte, die  physische und normative Grenzen sprengen – und ist gleichzeitig kollektives Handeln als auch gesellschaftspolitisches Postulat. Dort, wo sich Grenzen physisch manifestieren, dort, wo Grenzen die Leben von Menschen riskieren oder blockieren und Menschen in Jahre des untätigen, als fremdbestimmt wahrgenommenen Wartens zwingen, versucht Habibi.Works einen Raum zu eröffnen, in dem sich Menschen Zugang zu Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit schaffen können und Entscheidungen hinsichtlich ihres Lebens selbst treffen können.

Reflexionen

Wesentlicher Bestandteil der Arbeit der offenen Werkstatt Habibi.Works ist ein fortlaufendes kritisches Hinterfragen der eigenen Praxis, um konstruktive  Impulse für das eigene weitere Vorgehen daraus zu folgern.  Die einzelnen Aspekte der Reflexion generieren sich aus den beiden zentralen Fragestellungen: Inwiefern ist eine kritische Abgrenzung gegenüber einer Kunst möglich, welche die Welt retten will und „dann […] lediglich den zeitgenössischen Krisen und Prekariaten mit zeitgemäßen ästhetischen Formen und Materialien begegnet, also eher affirmativ als sich kritisch positioniert?“20 Und inwiefern können strukturelle Ungleichheiten zwischen Initiator:innen gegenüber Beteiligten in einer kollektiven Praxis reflektiert werden?

Solidarität und Machtdynamiken

In einem Kontext, in dem grundlegende Menschenrechte nicht gewährt werden und Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe von Faktoren wie Nationalität abhängen, erzeugt die Initiierung eines offenen Workshops Machtdynamiken zwischen Initiatoren und Teilnehmenden, zwischen Personen mit oder ohne EU-Pass und zwischen konkurrierenden Initiativen und Disziplinen. Unabhängig von auch noch so guten Intentionen ist eine Unterstützung, welche Strukturen zur Partizipation und Beteiligung aufbauen will, immer auch von unvermeidbaren Hierarchien und Machtgefällen bestimmt.21 Ein Projekt kann leicht Gefahr laufen, Vorurteile, Ungleichheiten und Machtstrukturen zu verstärken, wenn ein kritisches Bewusstsein dafür fehlt. Im Wissen um diese Umstände will Habibi.Works durch Reflexionen über Hierarchien in der Entscheidungsfindung und über verwendete Sprache im Projekt bevormundenden Strukturen entgegenwirken:22 Das Team der offenen Werkstatt ist bestrebt, Machtdynamiken sichtbar zu machen und wo immer möglich zu dekonstruieren, zum Beispiel durch transparente Gesprächsstrukturen, die Feedback stärken und durch Anpassungsfähigkeit, die dennoch keine Tyrannei der Strukturlosigkeit provoziert.23

Beteiligung und Selbst-Ermächtigung

Die bloße Tatsache, dass ein Projekt auf Partizipation abzielt, ist kein Garant dafür, dass für Beteiligte die Möglichkeit besteht, Formen von Mitbestimmung oder Selbstermächtigung generieren zu können.24 Mitmachen bedeutetet nicht notwendigerweise Mitbestimmung, wenn Strukturen dafür fehlen. So versucht Habibi.Works eine ausschließlich „symbolische Partizipation“ zu vermeiden, in der Beteiligte nur aus einer Projektlogik heraus oder für eine positive Außenwirkung eines Projekts involviert werde würden.25

Involviertheit und kompensatorische Effekte

In das eben skizzierte Spannungsfeld fällt der Mechanismus, unterdrückende und diskriminierende Zusammenhänge, die eigentlich kritisiert werden sollten, als gegeben und unveränderbar zu sehen und diese somit indirekt zu verstärken:26 Habibi.Works wurde als politisches Statement gegen die aktuelle EU-Asylpolitik und als soziale Initiative zur Unterstützung der davon betroffenen Menschen ins Leben gerufen. Die praktische, tägliche Unterstützung ist gewissermaßen auch eine Kompensation für ein strukturelles Versagen auf gesamteuropäischer Ebene. Solche Effekte entlasten Behörden und Entscheidungsträger und können im schlimmsten Fall Anreize für diese schaffen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Werkstattprojekte, oder allgemeiner gesellschaftliche Initiativen verbunden mit Kunstprojekten oder Projekten aus dem Social Design können also in die Rolle fallen, Aufgaben und Verantwortung der sich zurückziehenden Politik und staatlichen Institutionen zu kompensieren.27 Das Team von Habibi.Works ist sich dieses Risikos bewusst. Darum ist Intention, ein Bewusstsein für die Situation an den europäischen Grenzen zu schaffen und eine kritische Stimme innerhalb der europäischen Gesellschaft zu sein.

(Kritische) Benennung und  Stigmatisierungen

Partizipative, kollektive Projekte arbeiten meist mit einer Personengruppe – oft „Community“ genannt – in einer ganz bestimmten Situation, an einem ausgewählten Ort und zu einem bestimmten Thema. „Wer sich unreflektiert auf bestimmte Menschen als Community bezieht – eine Vokabel, die mittlerweile auch ins Deutsche übernommen wurde – der läuft zudem Gefahr, sie überhaupt erst als Gruppe mit bestimmten Charakteristiken hervorzubringen.“28 Selbst wenn die Interessen dieser Gruppe, auch selbstbestimmt durch die Gruppe, vertreten werden, kann durch das Festlegen als Gruppe eine Stigmatisierung ungewollt verstärkt werden. Deswegen versucht die offene Werkstatt Habibibi.Works Konstruktionen von ‚Wir‘ und ‚Die Anderen‘ aufzulösen und versteht als Solidarität sich „über das Unrecht, das anderen zustößt, genauso zu empören, als würde es uns selbst betreffen.“29

Repräsentation und eigene Situiertheit

Habibi.Works wurde initiiert von Menschen mit vielen Privilegien und Sicherheiten aufgrund ihres Geburtslandes und aufgrund ihrer erhaltenen Bildung – mit der Zielsetzung zusammen mit Menschen, für die diese Privilegien leider nicht gelten, an deren Situation mit Ihnen gemeinsam auf alltäglicher wie auf struktureller Ebene etwas zu ändern.30 Natürlich muss dabei auch die eigene Situiertheit selbstkritisch thematisiert und hinterfragt werden: Wer spricht für wen? Wer kann für sich selbst sprechen?31 Findet auch migrantisch situiertes Wissen32 Niederschlag, was sich in wichtigen Prinzipien, wie gegenseitigem Lernen und Solidarität auf Augenhöhe in der Arbeit der offenen Werkstatt zeigen soll?

Um einen zu einseitigen, bevormundenden Wissenstransfer entgegenzuwirken, ist es Selbstverständnis, nicht nur projekt- oder disziplinimmanenten Logiken zu folgen33, sondern möglichst nah an den Interessen der Menschen, die Habibi.Works vor Ort nutzen, zu sein. Habibi.Works versucht von den Erzählungen und Stimmen der Menschen vor Ort getragen zu sein. Auch der eigene Name „Habibi.Works“ (habibi, aus dem Arabisch für Freund) entstand mit den Menschen, die die Werkstätten nutzen. Gleichzeitig muss die Verwendung dieses Namens auch kulturelle Aneignungen reflektieren und sich davon distanzieren.

Fazit

Habibi.Works will sich vor Ort in eine konkrete Situation involvieren und gleichzeitig gesellschaftspolitische und strukturelle Zusammenhänge thematisieren und sich dazu kritisch in Bezug setzen. Die offene Werkstatt betrachtet ein Bewusstsein über existierende, diskriminierende Strukturen und Hierarchien (und nicht eine naive Vorstellung nicht existierender Hierarchien) als Voraussetzung, um Ungleichheiten kritisch zu reflektieren und um ihnen auf diese Weise entgegenwirken zu können.

Unterstützung bedeutet in diesem Zusammenhang einen Raum zu eröffnen, in dem alle Menschen mit einer persönlichen Geschichte und eigenem Wissen als Expert:innen ihres eigenen Lebens anerkannt werden, sowie auch strukturell einzufordern, dass wirklich ausnahmslos alle Menschen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und Persönlichkeitsrechten haben. Insofern versucht Habibi.Works, mit kritischen anstatt affirmativen Formen und Strategien zu arbeiten um Ungleichheiten und deren Ursachen nicht weitet zu perpetuieren.34


Biografie

Habibi.Works

Habibi.Works ist eine offene Werkstatt an den Außengrenzen Europas. Mit Ateliers für Holz-, Metallbearbeitung, für digitale Fabrikation, Nähen und Kreatives, mit Bibliothek, Küche und Sportbereich unterstützt die offene Werkstatt in Katsikas bei Ioannina in Griechenland Menschen, die nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen ankommen. Die Werkstatt ist zugleich offener Raum für Konzepte, die physische und normative Grenzen sprengen als auch kollektives Handeln und gesellschaftspolitisches Postulat.

Abbildungen

Alle Abbildungen sind im Rahmen von Habibi.Works entstanden und wurden von den Fotograf:innen für die Verwendung durch Habibi.Works zur Verfügung gestellt.

Andere Orte oder „Das politische Wort in Taten verwandeln“ – Eine heterotopologische Untersuchung intermedialer Fotoarbeiten von Carlos Garaicoa – Hanna G. Diedrichs gen. Thormann

In der zweiteiligen Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente von Carlos Garaicoa sind Fotografien von Tragkonstruktionen leerer Plakatwände zu sehen, die vom Künstler durch Architekturmodelle und Textentwürfe erweitert wurden. Diese intermediale Arbeitsweise untersucht Hanna Diedrichs g. Th. in der heterotopologischen Analyse der Serie. Dabei legt sie offen, wie in den künstlerischen Arbeiten Möglichkeitsräume der kubanischen Gesellschaft aufscheinen, die zum Nachdenken über die gegebenen Verhältnisse einladen und mit denen Garaicoa fordert, politischen Versprechungen Taten folgen zu lassen.

„AARGHH“ (Abb. 1) – ein lautmalerischer Ausruf verstellt in stahlgewordenen Lettern formatfüllend den Blick auf eine schwarz-weiße Stadtlandschaft. Dieser dem Comic entlehnte Begriff wird zumeist verwendet, um ein Gefühl der Frustration, Wut oder Verzweiflung auszudrücken.1 Als ein „intermedialer Bezug“2 verweist der Ausruf in der unbetitelten Arbeit Nummer fünf der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (2009) des Künstlers Carlos Garaicoa, wie diese Untersuchung zeigen wird, auf die unerfüllten Versprechungen der Kubanischen Revolution.

Abb. 1: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II, 2009 (Schwarz-Weiß-Fotografie mit lasergeschnittenem Drahtmodell auf Metall und Stuck, 81 x 120 cm, Besitzverhältnisse und Ort unbekannt). Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Carlos Garaicoa: Orden Aparente, Santander (Fundación Botín) 2014, S. 149.

Aus den Tragestrukturen einstiger Propagandatafeln an kubanischen Straßen und Gebäuden konstruiert Garaicoa in der zweiteiligen Werkserie neue geometrisch-technische Architekturen, Wortzeichen und Infrastrukturanlagen. Als Basis dienen ihm Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Straßen- und Stadtlandschaften mit ebensolchen leeren Metallkonstruktionen. Die Fotografien überlagert er mit Konstruktionszeichnungen in Form von eingefrästen Modellen oder solchen aus Faden und vollzieht damit eine imaginierte bauliche Weiterführung der ursprünglichen Gerüste.3 Mit dem Ziel, den Sinn dieser scheinbar trivialen Gegenstände zu verändern, um über gesellschaftsrelevante Fragestellungen nachzudenken, schafft er Orte der Reflexion über die „Ordnung der Dinge“.4

Carlos Garaicoa, geboren 1967 in Havanna, ist seit Mitte der 1980er-Jahre zunächst als autodidaktischer Künstler tätig.5 Es folgten Studien am Institute of Fine Arts of Cuba von 1989 bis 1994. Heute lebt und arbeitet er in Havanna und Madrid. Garaicoa arbeitet in unterschiedlichen Medien und mit verschiedenen gestalterischen Techniken sowie deren vielfältigen Kombinationen an der Thematik von „[…] Architektur und Urbanismus als Spiegel politischer Realität und gesellschaftlicher Entwicklung […]“ 6 im 20. und 21. Jahrhundert. Architektur versteht und verhandelt er hierbei als „[ …] Symbol der Macht wie gescheiterter Utopien […].“7 In seinen oft multimedialen Installationen, Modellen und Skulpturen, Zeichnungen, Video- und Fotoarbeiten „[…] macht der Künstler auf die Krise und Geschichte des städtischen Raums aufmerksam.“8 Und verwirklicht dabei, wie der Philosoph und Kunstkritiker Fernando Castro Flörez feststellt, aber nicht weiterverfolgt „[…] a different conception of urban space, a heterotopia, to employ a Foucaultian term, which calls into question the space in which we live (survive).“9

Mit dem philosophischen Konzept der Heterotopie, das Michel Foucault 1966/67 entwickelt hat, eröffnet sich an der Schnittstelle zwischen dem Realen und dem Imaginären eine Art Zwischen- und Denkraum, der die Möglichkeit bietet, gegebene Verhältnisse zu problematisieren und zu reflektieren.10 Der vorliegende Text setzt sich entsprechend mit Garaicoas zweiteiliger Werkserie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I und II anhand Foucaults Begriff der Heterotopie auseinander: Infolge des Kontrasts der dokumentierten leeren Tragestrukturen einstiger Propagandatafeln auf Kuba zu den imaginierten Architekturanlagen scheinen buchstäblich Möglichkeitsräume der kubanischen Gesellschaft auf, die zur Reflexion über die gegebenen Verhältnisse einladen.

Dieser kunstwissenschaftlich-interdisziplinäre Beitrag stellt das vielschichtige Werk eines Kunstschaffenden in den Mittelpunkt, der trotz seiner Teilnahme an Biennalen und Documentas in Europa weitgehend unbekannt ist und greift in der Verknüpfung mit Foucaults Heterotopie-Konzept eine Schwachstelle bisheriger Publikationen über Garaicoas Œuvre auf: Der häufig zur Charakterisierung seines Werks genutzte Begriff der Utopie ist einseitig verzerrend und ungeeignet, die Synthese des real Existierenden und des Erhofften zu greifen. So birgt eine heterotopologische Herangehensweise an seine Arbeiten eine gewisse Notwendigkeit in sich, um die werkimmanente Kluft zwischen Verheißung alter Ideale und deren Umsetzung angemessen zu erfassen. Ziel der Betrachtung ist es, die Arbeiten zu kontextualisieren und als mediale Heterotopien respektive als Bildräume, die in sich heterotopisch sind, zu entfalten. Leitend ist dabei die Frage, wie der Künstler es bewerkstelligt, durch die Konstruktion von Heterotopien die gesellschaftspolitische Ordnung anzusprechen.

Ambivalente Bildräume

Der spanische Titel der zweiteiligen Werkserie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente (auf Englisch: To transform the political speech in facts, finally) meint auf Deutsch etwa: Um das politische Wort in Taten umzusetzen, endlich. Die Plakatwände in Havanna und Umgebung, die den Kern der Serie ausmachen, wurden in Kuba üblicherweise zur Darstellung und Verbreitung von politischen Propagandamaterialien verwendet und besitzen somit eine eindeutig politische Funktion.11 „Wurden“, weil die Mittelknappheit dazu geführt hat, dass selbst diese Tafeln immer mehr dem Verfall preisgegeben sind. Als gewissermaßen sprechende Architekturen dienen sie Garaicoa als visuelle Ressource für sein künstlerisches Schaffen – „[…] structures which, by underscoring the communicative void With their very presence, bear witness to an impossibility of telling.“12 Die Arbeiten zeigen nun diese leeren Unterkonstruktionen, die vom Künstler schöpferisch weitergeführt wurden: „The images speak of a recent though strangely distant past full of hope and desire for a rich, healthy and vigorous future – a future perfect which has been undeniably unfulfilled, a failed promise […] that now needs to be reasse[sse]d. Better late than never.“ 13

Das Kuba der 1950er-Jahre war geprägt von der Kubanischen Revolution, in der Fidel Castro, an der Spitze von Revolutionären, gegen den Diktator Fulgencio Batista kämpfte. Die an der Revolution Beteiligten erstrebten politische, wirtschaftliche und soziale Umbrüche, wie den Aufbau einer kommunistischen Regierung und einer klassenlosen Gesellschaft. Mit dem Sieg Castros im Jahr 1959 entstand ein realsozialistisch geführter Staat mit der Sowjetunion als nahem Verbündetem.14 Vom damaligen Sieg des Sozialismus zeugen heute, 60 Jahre nach der Kubanischen Revolution, die Propagandatafeln: Mit politischen Parolen wie „Vaterland oder Tod“, „Die Revolution geht weiter“ oder „Fidel verkörpert ein ganzes Land“ gehören sie, auch nach dem Zusammenbruch des weltweiten sozialistischen Verbunds und dem Ende des Castro-Regimes, zum Straßenbild und bewahren das kollektive Gedächtnis. Doch zeugen die baufälligen Tafeln und oft leeren Gerüste im Land ebenfalls von der Schattenseite der globalen, politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse und von gescheiterten oder zunehmend vergessenen Idealen.15

Die erste der beiden Werkgruppen der Serie, Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I (2003/04), besteht aus sechs quer- und drei hochformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien in der Größe von 121 x 175 cm, die mit Fadenzeichnungen überlagert sind, sowie aus 220 Briefmarken, die in Vitrinen ausgestellt und mit Vergrößerungsgläsern ausgestattet sind.16 Diese Untersuchung fokussiert vornehmlich auf die intermedialen Fotoarbeiten.17

Die Technik der Fadenbilder, die zumeist in eigenständigen, dichter gewirkten Arbeiten im Kunsthandwerk oder in der Textilkunst Anwendung findet, verwendet Garaicoa für in seine Fotografien eingreifende Interventionen. Der Künstler vergleicht die Fadenzeichnungen mit einem schwebenden Spinnennetz.18 Feingliedrig „[…] zeichnet Garaicoa mit Nähgarn, gespannt über Stecknadeln an den perspektivischen Eckpunkten, die imaginierten baulichen Vollendungen [der Werbetafeln] nach. Oder er notiert […] vollkommen neue, ideale Architekturen […].“19 Eine Technik, die er schon zuvor anwandte, um fotografierte Gebäuderuinen geisterartig wieder auferstehen zu lassen.20

Daran anschließend fertigte Carlos Garaicoa eine zweite Werkgruppe an: Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (2009). Sie besteht aus fünf auf Aluminium und Stuck gedruckten Schwarz-Weiß-Fotografien in den Maßen 81 x 120 cm, in die der Künstler AutoCad-DrahtmodeIIe21 einarbeitete, drei davon im Quer- zwei im Hochformat.22 „Die Linien w[u]rden per Laser in die Aluminium-Trägerplatte der Fotografien gefräst, [wodurch] metallisch reflektierende Architekturprospekte entstehen.“23

Die Bildmotive und Konstruktionen der tendenziell unbetitelten Arbeiten reichen von Garagenbauten, Wohn- und Bürogebäuden über industrielle Anlagen und landwirtschaftliche Silos bis zu Brückenentwürfen. In zwei der Arbeiten – wie der einleitend zitierten – hat Garaicoa Text- oder Wortversatzstücke eingebaut. Besonders entgegen den sonst leeren oder sprachlosen Tafeln, bei denen gerade die Absenz einer (Text-)Botschaft auffällig ist, vollziehen sich in diesen die Verschiebungen und Transformationsprozesse nicht nur auf der Ebene der Konstruktion, sondern auch auf der Ebene der Sprache.24 Innerhalb der gesamten Serie stellen diese Systemreferenzen und intermedialen Bezugnahmen in Textform eine Ausnahme dar, verdeutlichen jedoch in besonderem Maße die Intermedialität der hier zu untersuchenden Werke.

Garaicoas künstlerische Methodik in der Serie ist vornehmlich mit dem Terminus der Medienkombination zu greifen: der innerhalb der Serie „[…] durchgehende[n] Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, [also der Fotografie und der Konstruktionszeichnung,] die sämtlich im entst[andenen] Produkt materiell präsent sind.“25 Zudem ist der Serie ein subtiler Medienwechsel in Bezug auf die architektonische Konstruktionszeichnung zu diagnostizieren. Mit dieser intermedialen Arbeitsweise koppelt der Künstler in der Serie verschiedene Zeichenverbundsysteme und erweitert damit die Vielschichtigkeit und das transformatorische Feld in seinen Arbeiten.26

Die medienspezifischen Charakteristika von Fotografie und Konstruktionszeichnung werden in der Serie explizit vom Künstler genutzt und weitergeführt. Garaicoa setzt gezielt stilistische Merkmale der dokumentarischen Fotografie ein – er bedient sich eines dokumentarischen Gestus.27 Die nach einheitlichem Muster mit zumeist ungewöhnlich tief angelegtem Horizont angefertigten, schnappschussartigen Aufnahmen akzentuieren einerseits einen subjektiven Zugang, heben andererseits aber auch einen vermeintlich stärkeren Zugang zur „objektiven“ Wirklichkeit hervor. Auch wenn die Schärfentiefe der Fotografien generell durchgängig ist, finden sich leichte Unschärfen in den Bildern – zufälliges, mobiles Bildinventar wie Personen oder Automobile betont diese als Bewegungsunschärfe und damit den Schnappschusscharakter im Besonderen (Abb. 2). Der Künstler schafft den Eindruck, dass die Fotografien im Vorbeigehen oder aus dem fahrenden Auto aufgenommen wurden und mimt die frühere Rezeptionssituation und damit die Position der ursprünglich von den Werbe- oder Propagandabotschaften adressierten Personen in den Werken nach.

Abb. 2: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I (Valla Puerto), 2003 (Nadeln und Faden auf Schwarz-Weiß-Fotografie, 125 x 175 cm, Privatsammlung Ela Cisneros, CIFO, Miami). Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. La enmienda que hay en mi, Havanna (Museo Nacional de Bellas Artes) 2009, S. 135.

Die technisch bedingte Zentralperspektive der Fotografien wird in den Konstruktionszeichnungen weitergeführt. Sie orientieren sich jeweils an der spezifischen Form der Unterkonstruktionen der leeren Werbetafeln, die zwar an und für sich unterschiedlich sind, doch bildimmanent jeweils konsequent aufgegriffen werden. Die modellierten Bauten wirken durchweg modern bis futuristisch. Zwar unterscheidet sich die Technik der Konstruktionszeichnung im ersten und zweiten Teil der Serie, beiden Varianten wohnt jedoch etwas schemenhaftes in der materiellen Überlagerung inne. Mit beiden Macharten greift Garaicoa, das Bild transformierend, physisch in die Oberfläche der Fotografien ein: einmal mit Perforation durch Nadeln und aufgebautem Fadenmotiv, einmal durch Laserschnitt.

Die intermedialen Fotoarbeiten entstehen also in einer Medienkombination, die das Auftreten heterotopischer Räume begünstigt.28 Das fotografische Medium wird hierbei (pseudo-)dokumentarisch nutzbar gemacht, die Konstruktionszeichnung evoziert einen utopischen Impuls. Was dabei erzeugt wird, sind ambigue Bildräume, die das Dokumentarische mit dem Imaginären, besser dem Imaginativen, inszenieren, wodurch heterotopische Räume eröffnet werden (können); infolgedessen, sehen sich die Betrachtenden im Rahmen der Rezeption mit einer Reflexion über die gesellschaftspolitische Ordnung Kubas konfrontiert – durch die Kombination der beiden unterschiedlichen Medien erzeugt Garaicoa eine Art Hybrid, in dem die Grenzen zwischen Repräsentation und Konstruktion verschwimmen. 

Die schöpferische Idee hinter den Arbeiten war, laut Garaicoa, auf die alten Metallstrukturen der Werbetafeln zu „bauen“ und konstruktive Möglichkeiten zu schaffen. Weiter versucht Garaicoa, das imaginäre Bild des täglichen Lebens in den Städten Kubas in seine Werke zu übersetzen – ein imaginäres Abbild der weitergedachten Ideen der realsozialistischen Regierung. Sein Ziel sei es gewesen, damit den Sinn dieser scheinbar trivialen Objekte der Werbetafeln zu verändern, um über politische, existentielle und künstlerische Probleme zu reflektieren. Laut seiner eigenen Aussage beschäftigen sich die Arbeiten mit Erinnerung und Existenz „[…] by the creation of images and how these pieces are related to the memory of the City and their political backgrounds.“29

Die ehemaligen Propagandatafeln sind zu einem wesentlichen Fokus in der Arbeit Garaicoas geworden und offenbaren ein fruchtbares politisches Potenzial: Sie vereinen in einem physischen Objekt die Gestalt eines Textes, die Ideologie einer Botschaft und die Visualität eines Symbols, wie Corina Matamoros Tuma schreibt.30 Viele der Werbetafeln sind in den letzten Jahren „stumm“31 geworden. Leer geworden oder geblieben, aufgrund von Vernachlässigung oder konstruktiven Mängeln. Schweigend und rätselhaft manifestieren sie eine Abwesenheit und verbildlichen eine Leerstelle, die der Künstler aufgreift und an der er seine neuen Botschaften festmacht. Laut Matamoros Tuma, handelt es sich dabei nicht um Skizzen für Utopien, wie gewöhnlich betont wird, sondern um eine Art wirklichen Werbeträger gegen die Existenzen von Trugbildern, der einen konkreten Handlungsweg vorschlägt.32

Die dokumentierenden Aspekte seiner künstlerischen Arbeit und das utopische Denken sind Themenkomplexe, die häufig im Kontext von Garaicoas Œuvre in der Literatur zum Tragen kommen. Das „Dokumentarische“ und vor allem die Utopie-Begriffe, mit denen am Œuvre des Künstlers bedeutsam operiert wird, sind dabei aber nicht nur komplexitätsreduzierend, sondern halten auch einer genauen Betrachtung nicht stand. Aus dem Bezug zum tatsächliChen Ort in Vereinigung mit dem Nicht-Ort, werden in Para transformar la palabra política en hechos, finalmente andere Orte.

Raum für alte Ideale und neue Ideen, endlich

Foucault beschreibt Heterotopien als „[…] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenpla[t]zierungen [sic] oder Widerlager [sic], tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind […].“33 Seinem Begriffskonzept ist eine gewisse Unschärfe inhärent, die oft kritisiert, aber ebenso häufig – im Sinne eines flexiblen Interpretationsrahmens und eines Raums für neue Perspektiven – als Bereicherung beschrieben wird.34

Heterotopie, wie sie für diesen Beitrag relevant ist, meint eine Reihe verschiedener, sich überschneidender und eher durch Ähnlichkeiten als durch ein einheitliches Prinzip geformter räumlicher Phänomene oder Orte, für die, nach Foucault, vor allem ihr Verhältnis zum übrigen Raum von Bedeutung ist. Und die als „andere Räume“35 – gewissermaßen als räumliche Denkanstöße – die geltende Ordnung in Frage stellen. Anders als bei Foucault, der seine Beispiele primär aus der physikalischen beziehungsweise gesellschaftlichen oder außermedialen Wirklichkeit greift, wird hier die Meinung vertreten, dass die Heterotopie sich nicht auf den Realraum beschränken muss, sondern auch darüber hinaus eine wertvolle Analysekategorie darstellt, die interessante Blickwinkel eröffnen kann.36

Foucault stellt sechs idealtypische Prinzipien als Grundsätze der Heterotopie auf.37 Erstens sind für ihn Heterotopien „universal“38 und existieren in allen Gesellschaften. Zweitens unterliegen Heterotopien und ihre Bedeutungen über die Zeit Umdeutungen und Wandlungen innerhalb einer Gesellschaft.39 Das Nebeneinandertreten von räumlich (drittens) und zeitlich (viertens) heterogenen Elementen in ein und demselben (Bild-)Raum macht diesen Raum nach Foucault zu einem heterotopischen.40 Durch diese zeitlichen wie räumlichen Schichtungen,41 die sich auch in den Arbeiten Garaicoas finden, werden Zwischenräume und Wechselbeziehungen offengelegt. Sie zeigen einen alten, bereits bestehenden Ort in der außermedialen Wirklichkeit sowie in der Fotografie, den visionären Gebäuderaum in der Konstruktionszeichnung und letztlich den neuen, daraus entstandenen Gesamtort. Die Fotografie verweist (verstärkt durch das Schwarz-Weiß) auf vergangenes, dementgegen steht die zukunftsgerichtete Konstruktionszeichnung. Die Darstellung wird damit sowohl surreal als auch real. In diesem Spannungsfeld, in diesem Dazwischen, kann die Heterotopie entstehen. 

Fünftens setzen „ [d]ie Heterotopien […] ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“42 Garaicoas Werke unterliegen in ihren Zugangsbedingungen einerseits den Eingangsritualen und Reglementierungen der Ausstellungsorte, in denen sie präsentiert werden.43 In Bezug auf das Eintreten in die Bild- beziehungsweise Objekträume stehen sie einerseits als Reflexionsräume jeder Person offen, die gedanklich einsteigen möchte, doch gleichzeitig bleibt den Rezipierenden der tatsächliche Eintritt in die in den Werken geschaffenen Räume verwehrt.44

Besonders hebt Foucault den sechsten Grundsatz hervor, der als Kernpunkt seines Konzepts gilt und besagt, dass den Heterotopien eine Funktion gegenüber dem verbleibenden Raum innewohnt.45 Sebastian Dirks verdeutlicht hierzu: „[…] dass die Untersuchung einer Heterotopie nicht auf die Frage reduziert werden darf, ob sie allen sechs Grundsätzen entspricht. Er argumentiert, dass es ein Leichtes wäre, jeden Ort als Heterotopie zu identifizieren und damit noch keine Erkenntnis gewonnen wäre. Nach ihm ergibt sich erst dann eine kritische Analyse von gesellschaftlichen Räumen, wenn das Verhältnis der Heterotopie zum Restraum bestimmt wird.“46

In diesem Sinne wohnt den künstlerischen Arbeiten vor allem eine Funktion inne: ihn einerseits zu spiegeln und für Reflexion zugänglich zu machen, andererseits ihn in Frage zu stellen, zu problematisieren und sich ihm gegenüber dadurch widerständisch zu verhalten. Foucault geht es dabei um die Verbindung oder auch das Netz zwischen den realen und den surrealen Orten.47 In Garaicoas Arbeiten weiten sich die architektonischen Konstruktionen auch tatsächlich auf den „realen“ Raum aus, indem sie sich nicht mehr im Bildraum der Fotografie bewegen, sondern netzartig hervor- oder zurücktreten. Durch das Aufspannen eines Dazwischens und den Aspekt des Unfertigen der Gerüstkonstruktionen dienen sie den Betrachtenden weiter als „ImaginationsarsenaIe“48 im Sinne Foucaults.

Die Betrachtung der Werkserie im Verhältnis mit Foucaults Grundsätzen einer Heterotopie zeigt, dass die Arbeiten Bildräume eröffnen, die in sich heterotopisch sind und „[…] in der Lage, die Materialitäten des […] Raums [auf den sie sich beziehen] offen zu legen und sie mit neuen, zuvor imaginierten Eigenschaften zu besetzen.“49 Es ist also das Zusammenzutreffen des dokumentarischen Gestus in den Fotografien mit dem imaginativen Aspekt der Konstruktionszeichnungen, das die Heterotopie bedingt. Wobei die Bilder „[…] der Dokumentarfotografie […] einerseits den Mythos eines Wirklichkeitsversprechens reproduzieren, andererseits jedoch in spezifische Macht-Wissens-Quotienten eingebunden sind.“50 Hierauf verweist auch die Einbeziehung der Briefmarken in die Ausstellungspräsentationen, die als weiterer Anker zur Realität wie zum gesellschaftspolitischen Kontext dienen und den seriellen Aspekt nochmals betonen.

Als „[…] widerständische [Praxis] gegen dominierende Raumstrukturen […]“51 sind Heterotopien niemals ein reines Abkupfern von Realität, sondern stellen eine eigene Realität dar, eine Realität der Unruhe.52 Als widerständische Praxis ist dabei auch das physische Eingreifen in die Fotografien, also in den direkten Bezug zur Realität, und ihre daraus folgende Verfremdung durch die Konstruktionszeichnungen zu sehen. Als Unruhestiftende, sprechen die Einzelwerke der Serie in einem Wechselspiel von Vision und Wirklichkeit die gesellschaftspolitische Ordnung an. Der spezifische, gesellschaftspolitische Bezug geht dabei aus dem Zusammenkommen des Serientitels mit dem durchgängigen Sujet und dem Fokus auf die Plakatwände hervor. Genauer: Er ergibt sich aus der Forderung des Titels, auf politische Worthülsen Taten folgen zu lassen, in Kombination mit den Tragekonstruktionen, die ehemals einzig für den Zweck der Propaganda politischer Inhalte erbaut wurden und derzeit dem Verfall überlassen werden. Indem Garaicoa die Fotografien überarbeitet, transformiert er bereits – wie auch im Serientitel angedeutet. Der Brückenschlag erfolgt dabei nicht nur auf der Ebene der architektonischen Konstruktionen, sondern auch auf der Ebene der Sprache. Dies wird besonders deutlich in den beiden Einzelwerken, in die der Künstler Buchstaben oder Wörter eingearbeitet hat.

Die Gerüste als (ehemalige) Tragestrukturen für Propagandamaterial, als Träger politischer Ideologie, in Form der utopischen Ideale der Revolution, verweisen auf die Errichtung des sozialistischen Staates durch Fidel Castro sowie den heutigen Realsozialismus unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) als einziger Partei des Inselstaates. Die verfallenen Propagandatafeln verbildlichen ein Scheitern, Vergessen und Distanzieren von den früheren Werten und Ideen sowie der damit einhergehenden problematischen politischen wie wirtschaftlichen und städtebaulichen Lage Kubas. Dies gilt sowohl für das Land im Allgemeinen, wie auch für Havanna als Aufnahmeort der Fotografien, Landeshauptstadt und größter Stadt Kubas im Besonderen.

„In the visual arts, Carlos Garaicoa’s projections and manipulations of Havana’s buildings […] are impressive testimonies to the imagination and reconstruction of spaces in Havana.“53

Angesichts der disziplinierenden Architektur der Macht, hier in Form der Propagandatafeln, welche nach Castro Flórez die Bevölkerung, mittels einer Rhetorik über die „differenzielle Erfahrung“54, vereinheitlicht, vergegenständlicht Garaicoa einen anderen Entwurf des urbanen Raums, der den Raum des alltäglichen Lebens in Frage stellt.55

Ausgehend von den Leerstellen der nicht bespielten Werbetafelstrukturen, wie der unerfüllten politischen Versprechungen, schafft Garaicoa durch materielle, räumliche und zeitlich Schichtung Momente einer mehrdeutigen Spannung. Er macht die Abwesenheit von etwas deutlich, durch „[…] konkrete widerständische Strategien […], die in ihrer Negation des Bestehenden auf die utopische Leerstelle einer ‚besseren Zukunft‘ verweisen.“56 Im Gegensatz zu den alten Gerüsten, dienen die weitergebauten Strukturen nicht dazu, eine übliche Botschaft auf ihrer Schauseite zu tragen. Gleichzeitig unterstreichen sie gerade durch ihr Nicht-Zeigen die Absenz der früheren Botschaften und bringen die Ambivalenz von Zeigen und Nicht-Zeigen zum Ausdruck.57 Jedoch rückt der Künstler nicht nur Leerstellen ins Bewusstsein, sondern bietet mit den bruchstückhaften Konstruktionen und Zukunftsvisionen auch zu verwirklichende Lösungsansätze an. Diese bleiben aber Ansätze und sind nicht als fertige Gebäude über die alten Tafeln gebaut. Sie lassen im Rezeptionsprozess selbst als Leerstelle Raum für Reflexion, für neue Ideen und Ideale: Die Serie „[…] evokes both, the unfinished and that which has not yet been constructed.“58

Abb. 3: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (III), 2009, Schwarz-Weiß-Fotografie mit lasergeschnittenem Drahtmodell auf Metall und Stuck, 81 x 120 cm, Besitzverhältnisse und Ort unbekannt. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Carlos Garaicoa: Orden Aparente, Santander (Fundaciön Botin) 2014, S. 1 52.

Garaicoas neue Konstruktionen greifen die bestehenden Strukturen – konkret wie metaphorisch – auf, führen sie weiter, lassen sie wachsen und integrieren sie in etwas Neues, mit einer fast denkmalpflegerischen Akribie. Doch die Tafeln werden durch die Weiterbearbeitung auch unbrauchbar gemacht, so sehr in die neuen Strukturen eingebettet, dass sie darin verschwinden und kaum mehr in ihrem ursprünglichen Zweck erkennbar sind (Abb. 3). Dadurch wird die Vergangenheit teilweise verdeckt und der Fokus auf die Zukunft gelegt. Die Tafeln dienen nun als Ausgangspunkt und Grundstein für eine heterotopische Parallelwelt, die jedoch einen dauerhaften Wandel im Realraum fordert.


Biografie

Hanna G. Diedrichs genannt Thormann

Hanna G. Diedrichs genannt Thormann studierte nach einer Ausbildung zur Fotografin Kunst- und Kulturwissenschaft in Tübingen und Zürich. Ihren Masterabschluss absolvierte sie mit Schwerpunkt „Museum und Sammlungen“ am kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. Derzeit arbeitet sie im Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern als wissenschaftliche Volontärin (bis Sept. 2021). Als Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin konzipiert Diedrichs g. Th. Ausstellungen und recherchiert im Bereich der Kunst und Fotografie von der Moderne bis zur Gegenwart. Zuletzt entwickelte sie mit der Kuratorinnen-Gruppe Kollektiv Kollektiv den partizipativen Ausstellungszyklus Communitas, in dem sie sich mit gemeinschaftlichen Ausstellungs- und Vermittlungsformen beschäftigte. Ausstellungen haben für Hanna Diedrichs g. Th. das Potenzial, Themen zur Diskussion zu stellen, auf gesellschaftspolitische Zustände aufmerksam zu machen, Wissen wie Erfahrungen zu generieren und neue Formate zu erproben.

Of Shapeshifters – Noah Merzbacher

Die noch unvollendete Arbeit mit dem Titel Of Shapeshifters, bestehend aus der gleichnamigen Kurzgeschichte sowie dem Video soft trails of anywhere. In der medienübergreifenden Arbeit versucht Noah Merzbacher ein Narrativ über das Finden von immateriellen Tierfiguren mit wahrnhemungsalternierenden Eigenschaften zu entwickeln. Merzbacher bedient sich dabei den Tiermodi der Bambi-Filme, um die Konzeption von Tier und Natur zu hinterfragen und eine textuelle Heterotopie zu entwickeln, die sich der unmöglichen Gleichzeitigkeit von Mythos und Realität annimmt.

Prelude 1

I was on a usual walk strolling through the city of Zurich, continuously re-establishing and following the elastic tracks that build my net of localities. The walks on these tracks became increasingly stiff and hard-edged, loosing all the wobbly gelatinous qualities of a sudden event in time to re-evaluate my ways of going forward.

It was mostly already scratched into the many surfaces; cement, glass, city textures. And yes the scratching of city textures definitely gave me comfort, but I didn’t really want to be damned for the coming strolls re-establishing the scratches and leaving something for the network connections of tomorrow me.

I felt an increasing dullness and withered-ness growing around the fading breath of the structures around me. At first, I found a rather strange tool, it hovered above me. A tool in its most metal state. I referred to it as memory-magnet. Attached around my waist, I increased the pleasure level to some extent. We went around and extracted the slightly eroded little pieces of memories and attachments formed around those localities of city textures. Quite a tiring thing to do the buildings, cars and blank spaces of possible inhabitation weren’t all that porous. It opened up quite an absorbed, vacuum space with the sucking and pulling motion of my magnet through the little holes the structures offered.

The magnet was quite stiff and awkward bumping against the textures we extracted the memory juice from. Some “things“ happened. But I think the need for sucking and slurping them out accelerated the process of eroding, becoming fragile pressed strings, in need of care and restoration. The animation of those brittle strings was short-lived and wasn’t properly merging with the surrounding textures that were already there. Their re-inhabitation potential was insufficient for the diluted thing I was.

Besides that, I really felt the way, the memory-magnet was accessing things, as an extractive tool, rather tiring. I wanted a poetry machine, not a vacuum space of playing with isolated piles of memory dust. A poetry machine that had the utopian premise of producing sparks out of nothing. Energetic fields of newness, a net of possibilities amplifying the unevenness of textures, rather than slurping them out.

But the memory-magnet has not been completely useless! The graceless way it moved somehow made a splinter of textured otherness enter my diluted body-space with a shooting star energy. 

I didn’t even notice it was so gelatinously soft and thin, warping around the bigger more deeply settled concepts. But then it grew to the size of a fragment, a fragment of solid feeling. And yes this solid little fragment, prismatic and shiny, made my shell of perception malleable! Sounds paradoxical but it isn’t. The impact the fragment had when entering my body-space, due to the inelegant moving of my memory magnet, let the spherical dome housing my precious embedments shiver and warp in true shooting star form. 

Abb. 1: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 2

I had not checked, with the rabbit feeling for multiple days, but once I came back I noticed the twofold growing of the feeling, the shard was like a little seed in a dome. I first examined the sharp and smooth side, a polished translucent mirroring structure, emanating a force of splitting. A deep vibratory energy-sucking influx in and pushing and cutting it towards parts of differentiation.

It forced a somewhat clear distinction between what was my in-being and the one of the rabbit. A temporary split of things, holding each side with different elevated plateaus and individual territorial realms that I could both feel through the deep embedded-ness of said shard. One was the feeling of fluffy, cute  and childish curiosity, a deep need for protection, a woven intertwined sphere of soft fur hopping around in peace. The other was the feeling of “being able to protect“, of looking for shelters, of shielding without own fears. I was mesmerized by the ability of said shard and carefully handled, weighed and placed the sides of the split until I was happy with the way it let me feel…

Then a few days after said happiness occurred, I looked at the other side of the evolved parts of said shard. Upon examining it closely, this other shard part felt like a twist. A twist slowly but steadily rupturing the building blocks of my dome. A twist full of potential, full of the potential to not un-see geometries to come. The leaked. Drops quickly seeped through. They soaked other parts of my dome, diluting the semi-dense grain that shards were embedded in. An opaque memory rippled, broken and cloudy in this newly formed soup. A memory with big eyes, a cute face, shape of a bloated rabbit with the heavy, dense aesthetics of an animated character. Through using the memory like a shard of feeling, the circular portal geometry allowed me to follow a track that had established itself. Its direction pointed me towards another embedded site, a plateau where further connections would appear. It was the land, where Bambi and its rabbit character Thumper have been. It wasn’t them. Not their movie selves anyway. Big googly eye geometry it was, only a part of it them floated here in my dome. A slimmed-down version, filter or texture-like and removed from its fast and vivid movie self. A shell it was, a little bit stiff I have to say, somewhat pinned in the middle with only the fringes floating. I made regular use of my porous little memory, pushing influx through its body to connect to the lands it was linked to. 

A ghostly inhabitation it was. It wasn’t quite my own and I felt the alienating residue of previous inhabitation breath within the shell’s inner side. A few days later I had discovered why once the track had expanded. In a past time, the voice actors and animators had filled the shell before me, my game of breathability and inhabitation wasn’t unparalleled and that came with quite a surprise. I regularly started to visit the place where they had been breathing through from another side. 

I never asked where it came from exactly or why it got stuck specifically to my being. I tried to accept it without asking questions. I tried to flow with the bumps I felt against my in-being and with that came the geometric unfolding of an invitation card, maybe carefully placed or clumsily lost.

Abb. 2: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 3

Traveling those lands was exhausting, the tracks behaved like shimmer on watery surfaces e-/re-/de-stablishing themselves quicker than you like them to. You cross quickly, with the hesitation of knowing that it could shatter any moment. But once the twist twists, simple swiping occurs and you find yourself on a land, at a place where textures aren’t quite your own and that’s worth something. I tried multiple times to pin down exactly how I got there, but the journey stayed inaccessible nonetheless. One particularly nice landing was a large plateau of “simple“ geometry. I call it meadow. It had the most “far away“ feel on my journey. 

It was beautiful walking through the silky and hollow wood biomes that unfolded, once my own presence on the plateau retextured and somewhat activated a precious geometry.  I didn’t know that I had wished to hop through the carpets of grass, silky smooth caressing blades forming pretty meadows, geometries of wholesomeness. Or bump against the hollow tree trunks and be the being that produces the cuts that made surroundings look layered, prop-like, produce the feeling of flattened swipe-ability and holistic geometries. The Dirt-less, Bruise-less biome was covered with a heavy layer of simple interconnection, carefully placed territorialized irregularity. I quite well knew the danger of such lands, which only pierce into very specific tiny holes, bloating them and letting them feel whole when they aren’t. The whole meadow was surrounded by high stiff invisible walls, mirror structures producing the feel of infinite wholesomeness. Something gave it away, I  wasn’t sure what it was but I knew that those walls were wobbly and thin and sometimes even translucent.

I could have only been infinitely happy in this land if I felt like that just for a short amount of time infinitely much was missing in others. The dangerous and seductive territorialization of this meadow made sure that it was comfortable enough to carry bruised beings and allow for easy dips into it. A place that pseudo securely holds you in loops of play and pleasure and slipping into those loops was easy.

Other beings had found and used this loop as well, it was overflowing with the presence of past inhabitation, of geometries right around the corner. I felt their trails of previous restructuring, sticking to the hollow blades of grass. I was at a right place, right meaning a dense network of connections leading to it, but it felt like it was the wrong time. A powerful force with a sunlight feel came hovering above it, pressing and splitting the facets of the biomes, grass blades and tree trumps alike, into nauseating hard-edged double-sworded worlds. I could not imagine an entity wanting to stay there for long, after-all the geometry of wholesomeness was now temporarily lost, only a fold keeping worlds together. This force stretched the space into a long trajectory, a powerful texturization, prismatically placing you either into a “seeing“ or a “being seen“ position. The meadow had become a crumbly plateau with the dense “stage-feel“ texturization pressing onto it. Any element (like movement, growth and feelings) was pinned down, only the fringes fuzzing rapidly. The crumble was only temporary a little sign of ache, but after it had adapted the meadow quickly developed a glazed and shiny surface sticking the cracks back together, while steaming particles of “deep envelopment in summery warmth“ were rising with the hiss of a machine. 

It was indeed very machinelike, feeling like a steam engine activated or fueled by the stage force producing and further elevating this plateau, pathetically trying to peel itself from its surroundings. The meadow had felt rather homogenous before, with the carefully placed irregularity of flowers, stones, grass blades and tree trumps withdrawing from immediate recognization as texture, but the glaze amplified this further visually reducing it to a shiny cluster. The stage-like force activated a geometric property of rejection and isolation that allowed for immediate recognization of something that was “other“, exposed as something less shiny. I wondered who would have wanted such a weirdly aestheticized and tasteless backdrop quality for their findings, spawning geometries of disgust on those who weren’t glazed. 

I did get something out of it though! The geometric property helped me find something which I hadn’t seen before. It was a little flat tissue, sticking to some blades of grass right where the meadow was ending, its edges were curling from the viscose shiny fluid that covered it. To examine the newly found thing I tried to come closer, a bit ashamed of my dependence on this force, even if it had become increasingly hard to move. It was a soft and furry tissue laying semi peacefully. I had the strong feeling that this wasn’t what I had learned to be a whole being. It maybe had been something bigger, something more complex but it was somehow violently detached it had cleverly slipped out of the thing that was now in front of me. I could not tell what it was but I knew that the stage force had played an active part in it.  If it was lucky it probably waited right behind the mirror structures for the stage force to diminish and if it wasn’t it probably evaporated among the particles of summery warmth. The past story of it was inaccessible those were only speculations and that was okay.

As I said the tissue was soft, furry and as I now saw extremely flexible. I call it synthetic rabbit tissue. Some of the synthetic hairs, detached from the tissue, stuck to the surrounding patches of grass. I thought of them as traces of past movement, maybe even proofs of an engagement with loops or ropes of escape. Maybe it had been hooping around the wholesome texture before or maybe it had been looking for other of its kind, even if I didn’t know yet what that kind was. 

What I saw was a vibratory pile of leftovers or residue with a flaky string of connection to somewhere other. Seeing a geometry that wasn’t constituted by a “perceived wholeness“ and that featured the ability to let loose was comforting. It had probably learned to physically de-/attach with astounding flexibility, forming invisible clouds of connections around the individual synthetic hairs. I felt that processes of shedding was an essential part of its geometric aestheticization/texturization. Amidst the meadow, this synthetic rabbit tissue emitted tranquility, a deeply embedded texture of transience. I carefully picked it up and wrapped it around my being,. It was slightly scratchy but after some adjustments, I found comfort in a soft skin geometry hugging me tightly. 

Abb. 3: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 4

The meadow had faded. It hooked my shell into a field that was full of potential. I could not tell you if it placed itself right above or right under my skin, but I felt the slightly prismatic redirection of selfhood. It wasn’t aggressively penetrating my slightly hard structures, it rather added another note or tone.

I was hooked into synthetic rabbit tissue, a pressed two-dimensional layer of tender touchings on skin and shell of perception. While being fairly flat as an entity, the tissue had strong geometric properties that retextured my plateau into an elongated deepened geometry, allowing to make room for a bigger chamber of reflection.

When Influx was flowing in, it still bounced through my own structures but then quickly came to this chamber which I will call the chamber of synthetic rabbit realness and vibrated and echoed in multiple new ways. The chamber was full of fibers vibrating with the notions of anxiety, curiosity, animality, softness, fluffiness, shedding and furriness. And there were deeper slower tones vibrating as well: Most higher notes were enveloped in a beautiful vibration inducing a geometry of “bigger-than-oneself“ forests, a feeling of huge semi-transparent set-design structure filling the field of perception almost completely. Others shared feelings with a drive to look for geometries of shelter in every corner or hole and finding them in every place where slightly different texturization and geometries of potential wholesomeness crossed each other. 

The synthetic rabbit tissue realness was puncturing my structures (that had been there before my in-wrappings) with precisely atmospheric worlds giving me ease and comfort. I felt the tension that was pumped within my semi-elastic rubber structures and I felt the way in which the porous synthetic rabbit tissue was breathable enough to carry some it away. There was this beautiful balance between hooked-in-ness and breathability. 

The chamber’s geometry was deeply connected to the architecture of what I would have previously called anthropomorphization. I felt how this geometry was touching the outside net of an anthropomorphic conception of a rabbit in a sheer all-encompassing way. It wasn’t though, the geometry was probably not transcendental anthropomorphization but an individual timbre humming from an orchestra of anthropomorphization of multiplicities.

The mere drinking from a fountain or a casual stroll activated this strange poetry machine of the synthetic rabbit and texturizing fluids and floors alike. I thoroughly enjoyed sampling through those newly gained tonalities, that was like petting myself from the outside in. An amazing way of sticking to objects.


Biografie

Noah Merzbacher

Der gebürtige Züricher Noah Merzbacher ist Künstler, sowie Schreiber, Autor und Literat. Er studiert derzeit im Bachelor Kunst an der Goldsmiths Universität in London. Sein Schwerpunkt liegt auf der künstlerischen Wissensproduktion in engem Kontakt zu philosophischen Ansätzen wie den Auseinandersetzungen mit Ontologie und Phänomenologie und ihren Möglichkeiten produktive, poetische und sensible Wege in die Welt hineinzufinden und sie zu fassen. Seine künstlerischen Arbeiten sollen psycho-poetische Tools bilden anhand derer sich spielerische und spekulative Prozesse abzeichnen, die für einen sensiblen und reflektierten Umgang mit sowohl dem Bekannten als auch Unbekannten plädiert.

Maybe There Is Hope – Veronika Christine Dräxler

Ökosysteme wachsen langsam. Es kann Jahrhunderte dauern, bis sich eine ausgewogene in-sich-greifende Umwelt entwickelt hat, von der die Menschheit leben kann. Dieses langsame Wachstum wird in kapitalistischen und industrialisierten Gesellschaften noch nicht in den wirtschaftlichen Kreislauf eingerechnet. Wird die Natur sich selbst überlassen kann sie sich erholen und zeigt immer wieder überraschende Widerstandsfähigkeit, indem sie sich die undenkbarsten Orte wirtbar macht. Die Fotoserie Maybe There Is Hope (2020) zeigt Ausschnitte von stillgelegten Fahrzeugen, symbolisch für technisierte Mobilität und organische Materie, die sich diese zum Nährboden gemacht hat. Es eröffnet sich ein Dialog zwischen Be- und Entschleunigung, Vergänglichkeit und Wiedergeburt.

Abb. 1: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfoto auf Baryt (signiert auf
Rückseite), 70x56x3cm, m.R., Galerie der Künstler München.
Abb. 2: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 3: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 4: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 5: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.

Biografie

Veronika Christine Dräxler

Veronika Christine Dräxler ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin, Autorin und Entwicklerin von Dialogräumen. Die Debütantin der GEDOK München (2019) und Gründerin von Selbstdarstellungssucht.de – einem Blog über zeitgenössische Kunst und digitale Identität, von der Bundesregierung als „Kultur- und Kreativpilot“ (2015) ausgezeichnet – sucht in ihrer künstlerischen Praxis nach Gleichgewichten organischer Systeme und hinterfragt die Auswirkungen der Digitalisierung auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, wie etwa die Aufmerksamkeit. Vorgefundene Elemente ihrer Recherchen arrangiert sie intermedial.

Next Level Heterotopie: Der digitale Raum als Landschaft – Sophie Innmann und Jennifer Krieger

Ein Gespräch zwischen Jennifer Krieger und Sophie Innmann, anlässlich ihrer aktuellen Ausstellung LANDSCAPES OF INTERNET im Kunsthaus L6 Freiburg.

Die Frage nach den Möglichkeiten, Potenzialen und Grenzen des Raumes stehen im Zentrum der Ausstellung LANDSCAPES OF INTERNET (2021).1 Ausgehend von den Beobachtungen zu derzeitigen Hypertopisierungseffekten der Digitalität, untersucht die Künstlerin Sophie Innmann virtuelle wie auch reale Räume im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten, Differenzen und deren Vereinbarkeit aus dem spezifischen Blickwinkel menschlicher Wahrnehmung. Auf vielschichtigen Ebenen hinterfragt Innmann Potenziale, aber auch Grenzen gesellschaftlich abgegrenzter Räume, insbesondere von Heterotopien wie dem musealen Ausstellungsraum. Damit knüpft sie unweigerlich an die in den 1960er Jahren von Michel Foucault geprägten Überlegungen zu Heterotopien – Gegen- oder Andersräume an, die an ein System von Öffnung und Schließung gebunden sind, was sie gleichzeitig abgrenzt und durchdringlich macht.2 Im Interview mit Jennifer Krieger, Kuratorin der Ausstellung, spricht sie über ihre Annäherung an den virtuellen Raum des Internets und den von ihr vorgeschlagenen Weg, diesen im musealen Raum erfahrbar zu machen.

Abb. 0: Sophie Innmann, Firewall, 2021, Projektion, Abdeckfolie, Installationsansicht, Foto: Marc Doradzillo.

Jennifer Krieger: In deiner aktuellen Ausstellung spielt die Auseinandersetzung mit dem Thema Raum eine bedeutende Rolle. Es geht um Fragen der Zugänglichkeit und Sichtbarmachung einer digitalen Welt, die kaum beschreibbar und schwer zu greifen ist. Wie würdest du deinen Ansatz beschreiben, dich diesem abstrakten Raum anzunähern und inwiefern setzt du dich mit dem Thema Raum in deiner künstlerischen Arbeit auseinander?

Sophie Innmann: Das Thema Raum beschäftigt mich schon seit langem, bis vor einigen Jahren waren das aber hauptsächlich analoge Räume. Seit 2018 hat der digitale Raum in meiner künstlerischen Praxis immer mehr an Bedeutung gewonnen, ich beschäftige mich viel mit den Folgen und Auswirkungen der zunehmenden Computerisierung auf unsere sozialen Strukturen, Lebensbedingungen und Umwelt. Während dieser intensiven Beschäftigung habe ich gemerkt, dass ich mir gar nichts unter dem digitalen Raum vorstellen kann. Der digitale „Raum“ ist schwer zu denken, nicht greifbar. Die Frage ist, ob man überhaupt von „dem“ einen digitalen Raum sprechen kann, oder ob man nicht eher von der Vorstellung einer digitalen Welt mit vielen verschiedenen Bedeutungsebenen und Schichten ausgehen muss. Seitdem treibt mich die Frage umher, wie diese Welt aussehen könnte. LANDSCAPES OF INTERNET ist ein Versuch, meine Vorstellung dieser abstrakten Welt mitsamt ihren weltlichen Verstrickungen darzustellen. Während Benjamin H. Bratton in The Stack – On Software and Sovereignty das Bild eines 6-stöckigen Stapels, bestehend aus Earth, Cloud, City, Address, Interface and User nutzt, um diese Verbindungen zu beschreiben, habe ich eine Planetenoberfläche mit eigener Atmosphäre gebaut, die sich über verschiedenste analoge Dinge dem Digitalen annähert.3 Aufgrund der Unvorstellbarkeit und fehlender Abbildungsrealitäten, versuchen die Menschen sich Dinge, die sie nicht verstehen über bereits Bekanntes zu erschließen. Einige dieser bekannten Elemente habe ich in meine Formensprache übersetzt und durch Licht und den „Sound of Internet“ ergänzt. Mit dem Öffnen der Tür zum Ausstellungsraum öffnet sich wirklich ein Tor zu einer anderen Welt.

So müssen die BesucherInnen z.B. erstmal die Firewall (Abb. 0) überwinden um in die Ausstellung zu gelangen. Dann passieren sie eine Schleuse aus zwei Spiegeln, die sich gegenüber stehen und dadurch alles ins Unendliche wiedergeben – eine Metapher für das 1000-fache gescannt werden, was am Ende doch zum Erhalt einer red flag führt, einer Markierung, die sagt: „Obacht, hier bitte nochmal genauer hinschauen!“. (Abb. 1)

Spiegel sind wirklich tolle Objekte, weil sie Räume öffnen, die nicht real vorhanden sind, genau wie das Internet. Foucault verortet die Spiegel als Zwischenort von Utopie und Heterotopie wenn er schreibt: „Der Spiegel ist nämlich eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich mich erblicken läßt, wo ich abwesend bin: Utopie des Spiegels. Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.“4

Abb. 1c: Sophie Innmann, verification – red flag by default, 2021, zwei Spiegel, Stoff, Kupferrohr, Installationsansicht, Foto: Marc Doradzillo.

JK: Die von dir zitierten Äußerungen von Foucault beschreiben den Spiegel als Medium des Vermittlers beziehungsweise als Erfahrung eines „Dazwischens“ sehr eindrücklich. In der Ausstellung gehst du dahingegen noch einen Schritt weiter, denn sind im Ausstellungsraum, wie du gesagt hast, zwei Spiegel gegenüber aufgestellt. Blickt man hinein, sieht man sich nicht nur selbst, sondern es entsteht ein Verdopplungseffekt, in dem das eigene Spiegelbild ins Unendliche potenziert wird. Ich denke hier verstärkst du die von Foucault beschriebene Wirkung um ein Vielfaches, denn steht man nicht nur sich selbst gegenüber – vielmehr entsteht eine unendliche Zahl an Personen, eine Menschenmenge, deren einzelne Mitglieder aus einem selbst bestehen. Fragen nach der eigenen Verortung oder eben der Ortlosigkeit muss man sich an dieser Stelle unweigerlich stellen. Die in der Installation unmittelbar in der Nähe des einen Spiegels von der Decke hängende rote Fahne schwebt dabei quasi wie ein bedrohliches Damoklesschwert über den Besuchenden.

Im digitalen Kontext sowie auch auf sozialen Plattformen wird die red flag als Warnung und Hinweis einer potenziellen Bedrohung verwendet. Innerhalb der Ausstellung überlässt du es in diesem Moment jedoch den Betrachtenden, sich freiwillig in diesen Gefahrenbereich zu begeben oder ihn wieder zu verlassen. Hier entscheidet jeder und jede für sich selbst, nicht das technische System – oder entspricht das nur einer scheinbaren Selbstbestimmtheit, die du den BesucherInnen ermöglichst? Diesen Aspekt würde ich an dieser Stelle gerne noch etwas vertiefen, denn diese vermeintliche Entscheidungsfreiheit und Zwanglosigkeit – sowohl von BesucherInnen der Ausstellung als auch von digitalen UserInnen – ist eine Perspektive mit der du dich äußerst kritisch auseinandersetzt, denn eigentlich dürfen wir oft ja nur hypothetisch entscheiden wohin es weiter geht oder ob wir Zugang zu bestimmten Räumen erhalten oder nicht.

SI: Es ist genauso, wie du es beschreibst. Die BesucherInnen der Ausstellung können selbst entscheiden, sind frei in ihrer Bewegung. Die generelle red flag ist aber eindeutig der Hinweis, dass es eben außerhalb dieses Ausstellungsraums – im realen virtuellen Raum sozusagen – anders ablaufen kann. Generell sollte man alles hinterfragen was einem online begegnet, denn „online sein“ ist mittlerweile gleichbedeutend mit „beeinflusst werden“. Noch dazu wird versucht uns glauben zu lassen, dass was wir im Internet sehen und tun selbstbestimmt sei, was aber leider nicht so ist; wir werden sozusagen festgekettet, Stichwort Meinungsblase.

Die Arbeit A users‘s life“ (Abb. 2) macht diesen Widerspruch deutlich, wir fühlen uns frei, surfen wohin wir wollen, fühlen uns gut geschützt mit unseren Aluhüten, dabei werden wir an die Wand gestellt, von oben bis unten durchleuchtet. Der content, den wir zu Gesicht bekommen, wird uns auf Basis unseres bisherigen Verhaltens serviert, feinst säuberlich ausgewählt von Algorithmen – deren Entscheidungskriterien natürlich hoch geheim sind. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Lektüre von Shoshana Zuboffs Zeitalter des Überwachungskapitalismus empfehlen.5 Sie beschreibt sehr schön die Generierung des sogenannten „Schattentextes“, also den Informationen, die jenseits unseres vordergründigen Internet-Gebrauchs extrahiert werden, z.B. aus Scrollverhalten, Verweildauern, Likes, etc.. Auch das ist ein Bereich, der sich unserer Zugänglichkeit entzieht, das exklusive Wissen, welches sich Google & Co aus unseren Verhaltensdaten zusammenstellen und welches im Zuge der Einverleibung von kleineren KonkurrentInnen auf eine unglaubliche Datenmenge angewachsen ist. Da hilft vorerst nur, selbst im Schatten zu bleiben und anonym unterwegs zu sein.

JK: Kannst du eine Veränderung beobachten, wie sich dein Verhältnis zum Thema Raum vor allem in den letzten Monaten verändert hat? Welches Potenzial bietet die Reflexion darüber? Als die Ausstellung in Planung war, hatte sich die ganze Welt in Isolation begeben, wir haben uns gefragt, was der (museale) Ausstellungsort überhaupt leisten kann und soll. Museen und Ausstellungsräume waren über einen langen Zeitraum geschlossen und ein persönlicher Besuch nicht möglich. Viele Projekte wurden in digitale Formate transferiert, also vom musealen in den privaten Raum übertragen.

SI: Eine Veränderung habe ich nicht bemerkt, aber ein intensiveres Nachdenken. Die Pandemie hat gezeigt, dass es eben nicht möglich ist, analoge Inhalte ins Digitale zu übertragen. Das erfordert schon eine ganz andere Auseinandersetzung um dort adäquate Möglichkeiten zu finden. Museale Ausstellungen daheim in den eigenen 4 Wänden erlebbar zu machen funktioniert einfach nicht, da hilft der beste Videorundgang nichts. Die mediale Filterwirkung ist zu groß. In meiner Arbeit hypertopia (Abb. 3) stelle ich genau diese bedingte Zugänglichkeit dar: Man sieht etwas und hat das Gefühl eine Erfahrung übermittelt zu bekommen. Letztendlich ist es aber doch nur das Abbild und nicht das Original, sogar die Realität wird in Frage gestellt. Das kann man sich wiederum zu Nutze machen, um in anderen Kontexten technische Möglichkeiten durch ganz simple Techniken an ihre Grenzen zu bringen: Bewegung, Licht und Schatten reichen manchmal schon aus, um Gesichtserkennung, Fokussierung und Tracking auszutricksen. Das thematisiere ich ebenso in der Arbeit camouflage (Abb.4), welche die unangekündigten Gesichtserkennungspraktiken der Videocall-Apps anprangert.

Abb. 3: Sophie Innmann, hypertopia, 2021, zwei Projektionen, Glas, Installationsansicht, Foto: Sophie Innmann.
Abb. 4: Sophie Innmann, camouflage, 2021, videocall-stills auf Aludibond, Foto: Sophie Innmann.

JK: Die technischen Mechanismen schaltest du in diesem Fall geschickt aus und kannst vor Augen führen, mit welchen einfachen Mitteln es dir gelingt, auf fast schon poetische Weise die sonst leichtfertig hinterlassenen Spuren persönlicher Identität zu verwischen. Doch gerade bei der angesprochenen Arbeit hypertopia werden nicht nur die Grenzen und Beschränkungen aufgezeigt, sondern entstehen im Gegenteil sogar neue Ebenen: Durch die doppelte Projektion an die beiden Glasscheiben der Installation erscheint von einem bestimmten Blickwinkel die optische Illusion einer dritten Projektionsfläche, die ein gewisses Staunen hervorruft, weil dieser unerwartete Effekt sich zunächst nur schwer greifen lässt. Wider Erwarten eröffnet sich ein weiterer Raum. Ist dieses plötzliche Auftauchen von unbekannten und fremden Räumen nicht auch als eine Chance und Möglichkeit zur Erweiterung von bisherigen Erfahrungsräumen zu betrachten?

SI: Auf jeden Fall! Das Entstehen dieser 3. Ebene, die nicht verortbar ist, genauso wie das Entstehen eines projektionslosen, aber transmittierenden Zwischenraums kann ganz klar als Metapher dafür angesehen werden, genauso aber als Warnung, dass vordergründig eben nicht alles ersichtlich ist. Auch toll finde ich die Verbildlichung, dass als ultima ratio immer noch der Stecker gezogen werden kann und alles ist weg. Im kleinen eine ganz hübsche Flucht, weltweit gesehen ein spannendes Experiment. Irgendwer hat mal die Frage gestellt: “Is there a trashbin big enough to delete it all?” Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, wer dieser schlaue Mensch war…

JK: Internet als Raum hat vor allem während der Pandemie ein Tor zur Welt offen gehalten – jedoch uns auch die Grenzen digitaler Formate aufgezeigt. Was ist das Besondere am digitalen Raum Internet?

SI: Ja, da stimmt, das Schlimme ist aber, wie das passiert. Der Kampf um die Monopolisierung als Endziel des Kapitalismus ist in vollem Gange und hat durch die Pandemie eine derartige Beschleunigung erfahren, dass mir ganz schlecht wird. Das Problem ist, dass die Weltbevölkerung in diesem Bereich zu wenig Bildung, Information und Wissen hat. Wir haben allerdings Rechte. Und diese Rechte müssen wir verteidigen, dazu muss man in einem ersten Schritt Bewusstsein schaffen, um erkennen zu können, wann und wie diese Rechte übergangen werden. Wenn z.B face-warp-Apps die gesammelten Gesichtserkennungsdaten ihrer NutzerInnen, die das alles als witziges Spiel betrachten, unbegrenzt an unbekannte Dritte weiterverkaufen, die dann daraus ihre Produkte entwickeln. Wüssten die NutzerInnen dieser Spaß-Apps, dass sie somit auch Regierungen helfen, indem diese mit den erkauften Daten die Gesichtserkennung ihrer militärischen Drohnen verbessern können, würden sie diese Apps sicher schnell löschen.

In einem zweiten Schritt müssen dann Strategien gegen die ausbeuterischen Taktiken von Großkonzernen entwickelt werden. Und zwar aus der Bevölkerung heraus, denn würden, um beim Beispiel der face-warp-Apps zu bleiben, diese einfach verboten werden, wäre der Aufschrei in der Bevölkerung verständlicherweise groß. Das Umdenken muss schon von den Menschen selbst kommen. Im dritten Schritt ist die Vermittlung von technischem Know-How von unwahrscheinlich wichtiger Bedeutung, damit sich die Menschen selbst Alternativen programmieren können, oder um bereits bestehende Angebote zu modifizieren.

Es kann nicht sein, dass momentan eine use-it-or-lose-it-Haltung gilt: Möchte man etwas nutzen, kann man den Nutzungsbedingungen zustimmen, oder es komplett lassen. Dann kann man eben die Dienste nicht mehr nutzen. Der Philosoph Prof. Markus Gabriel stellte sogar die Forderung, dass „die sozialen Netzwerke, auch unsere Suchmaschinen, Google und Co., uns einen Mindestlohn für die Benutzung zahlen [müssten]“, für die Gewinne die sie aus unserem Verhalten ziehen, die sie dann nicht einmal in dem Land versteuern, in dem sie generiert werden.6 Es muss ein Umdenken in der Bevölkerung stattfinden, denn solange die Praktiken der Unternehmen aus dem Silicon Valley (wahlweise auch aus der VR China) nicht als Bedrohung, sondern als angenehmes Gimmick zur Erleichterung des Lebens angesehen werden, wird sich nicht viel ändern. Es sollte aber doch zu denken geben, wenn Google Chefs es für erstrebenswert halten, dass menschliches Leben keine Privatsphäre besitzen sollte.

JK: Um daran anzuknüpfen ist es denke ich notwendig nochmals darüber zu reflektieren wie Raum definiert werden kann. Das fällt gar nicht so leicht. Im Falle des privaten Raumes geht es sicherlich darum, das individuelle Verhältnis zu den eigenen Grenzen auszuloten. Die Fragen, die sich daran anschließen lauten: Sind Räume in sich abgeschlossene Systeme? Wie kann man sich Zugang verschaffen? Wer bestimmt darüber?

SI: Genau das sind die Verhandlungen, die es jetzt gilt zu führen! Diese Grenzen müssen abgesteckt werden, z.B. dass man sagen kann: „Bis hier und nicht weiter“. Letztendlich hat das wieder etwas mit Machtstrukturen und Abhängigkeiten zu tun. Im ganzen Spektrum von völlig offenen bis hermetisch abgeriegelten Räumen geht es um die Fragen von Kosten und Nutzen, wer kann etwas aus dem im Raum Befindlichen herausziehen? Wer steckt hinter der Organisation des Raums? Wer ermöglicht wem den Zugang und wer kann neue Räume schaffen?

JK: Es ist ein spannender Ansatz, sich diesen Fragen auf künstlerische Weise in einer Ausstellung anzunähern. In LANDSCAPES OF INTERNET vermittelst du eine Vorstellung deiner eigenen Interpretation der Heterotopie des digitalen Raums und schaffst dabei eine sehr spezifische Stimmung. Die Raumerfahrung ist eine ganzheitliche, in der visuelle Eindrücke dominieren, aber es gibt auch einen atmosphärischen, einnehmenden Sound, den du eigens in Zusammenarbeit mit Vincent Wikström für die Ausstellung konzipiert hast.

SI: Ich glaube, dass wir völlig falsche Vorstellungen vom Internet (vermittelt bekommen) haben. Das Bild einer Wolke, welches gerne von großen Konzernen bemüht wird, ist einfach ein Witz! Es ist ja immer eine weiße Schäfchenwolke, federleicht, flauschig und unbedrohlich und nicht eine riesige, schreckliche Gewitterwolke, die Blitz und Donner, Unwetter und Zerstörung bringen und alles in Flammen, Schutt und Asche hinterlassen wird. Deswegen wollte ich eine Grundstimmung schaffen, die eine gewisse Unsicherheit und Alarmbereitschaft vermittelt. Wie gesagt, wir bewegen uns viel zu unachtsam und sorglos durch das menschengemachte Konstrukt Internet. Wir müssen mehr Wissen und Bewusstsein schaffen und unser eigenes Verhalten reflektieren, nicht nur im Bereich der eigenen Sicherheit, sondern vor allem auch im Hinblick auf Zusammenleben im sozialen und ökologischen Bereich.

Die Arbeit Netflix und Chill greift diese Unbedarftheit auf (Abb. 5). Wir streamen eben mal ein paar Folgen, gönnen uns was, entspannen und tragen dabei erheblich zur Zerstörung der Natur bei. Das Internet hat den Flugverkehr als Klimakiller Nummer 1 schon eingeholt und es ist kein Ende des Wachstums in Sicht. Die Verbindung von etwas Abstraktem mit etwas ganz Konkretem ist immer schwierig und die Auswirkungen von vielen kleinen Dingen in Summe auf das große Ganze sind nicht leicht zu erkennen. Beim barrierefreien, leichten und kostenfreien Zugang in die Schäfchenwolke scheint diese Verbindung für viele besonders schwer zu ziehen zu sein. Wir sehen die riesigen Serverfarmen und Unterseekabel ja nicht, wenn wir unser Smartphone in die Finger nehmen, die Infrastruktur verbirgt sich und wenn wir sie sehen, sehen wir Industrie und nicht „das Internet“!

JK: Die Betrachtenden bewegen sich durch die von dir gestaltete Landschaft. Können sie sich frei orientieren oder werden sie von dir geleitet?

SI: Generell kann sich jede Person in meiner Ausstellung natürlich frei bewegen, die Zugänglichkeit des Ausstellungsraums ermöglicht aber nur einen Laufweg. An diesem habe ich mich orientiert und im inhaltlichen Sinn der Arbeiten eine Struktur aufgebaut, die sich den verschiedenen Bereichen annimmt. Das Licht, der Sound, der Wind und der Duft der verkohlten Holzstämme sind dabei als allumfassende, raumbestimmende Atmosphäre prägend. Meine Freundin und Künstlerkollegin Lynne Kouassi hat ihren Raumeindruck ganz treffend als eine „Mischung aus Technologie und Urkräften“ beschrieben. Nimmt man noch die unterschwellig wahrgenommenen Tiefen des „Sound of Internet“ hinzu, rundet sich das Erlebte zu einer alle Sinne umfassenden Erfahrung, was wiederum nur im analogen Raum möglich ist und das Digitale (noch) nicht bieten kann.


Biografie

Sophie Innmann

Sophie Innmann schloss 2014 ihr Studium der Malerei an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe als Meisterschülerin bei Prof. Leni Hoffmann ab. Ihre Arbeiten wurden mehrfach im In- und Ausland ausgestellt, so unter anderem im Kunstmuseum Stuttgart (2020), dem Moscow Museum for Modern Art (2018), der Galerie Stadt Sindelfingen (2017) oder dem Regis Center for Art, Minneapolis (2016). Die multimedial arbeitende Künstlerin bewegt sich im öffentlichen und halböffentlichen Raum und setzt mit partizipativen und ortsspezifischen Arbeiten an Situationen an, die menschliches Handeln und dessen Spuren untersuchen oder es selbst herausfordern.

Jennifer Krieger

Jennifer Krieger studierte Literatur-, Kunst-, und Medienwissenschaften in Konstanz und Kunstgeschichte in Freiburg. Kuratorische Erfahrungen sammelte sie unter anderem an der Kunststiftung Baden-Württemberg in Stuttgart, am Pinksummer Contemporary Art in Genua, Italien und am Kunstverein Freiburg. Als freie Kuratorin arbeitete sie für das Centre Culturel, das T66 Kulturwerk und das Kunsthaus L6 in Freiburg. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg, wo sie auch promoviert. In ihrem Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit Affekten des Staunens und Wundern.

DOCUMENTA FIFTEEN ALS KOLLEKTIVE HETEROTOPIE? Zur Raumpraxis von ruangrupa zwischen Jakarta und Kassel. – Claudia König

Artist-Run-Spaces als verortete Utopien von Kunst und Gesellschaft sind keine Neuheit. Deren rasante Multiplikation kann jedoch als globales Phänomen eingeordnet werden, das seit den 1990er-Jahren einen immensen Zuwachs erfuhr. Im Besonderen spielen selbstorganisierte Kunstinitiativen in Südostasien eine tragende Rolle die abwesende staatliche Kunstinfrastruktur auszugleichen.1 Tony Godfrey beginnt 2010 seinen Beitrag zur Ausstellung Contemporaneity. Contemporary Art in Indonesia mit einer Reflektion darüber warum die indonesische Kunstszene im europäischen Kunstdiskurs kaum sichtbar ist und mit der daraus resultierenden Frage, warum der Rest der Welt mehr über indonesische Kunst wissen sollte.2 In derselben Publikation identifiziert Nuraini Juliastuti alternative Kunsträume in Indonesien als eine neue Kulturbewegung3, wohl kaum ahnend, dass ein Jahrzehnt später eines dieser zahlreichen Künstler:innenkollektive die kuratorische Leitung der documenta fifteen übernehmen wird.

Zwischen spatial und collaborative turn wird die documenta fifteen in diesem Essay als Dreh- und Angelpunkt einer (Neu)-Betrachtung von Gegenräumen mit kollektivem Handlungspotenzial betrachtet. Mit der Berufung des in Jakarta basierten Künstler:innenkollektivs ruangrupa4 die nächste documenta-Ausgabe zu kuratieren und durch ihr Bestreben mittels des experimentellen Ansatzes Lumbung & Korperasi das Biennale-Format neu zu denken, stellen sich folgende Fragen:  Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kunstbiennalen und Kunsträumen und können diese Phänomene als Heterotopien der Gegenwartskunst betrachtet werden? Und welche Rolle spielen Künstler:innenkollektive in der Entwicklung dieser Gegen-Räume und der Fabrikation neuer Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Kunstdiskursen? Ziel ist es in diesem Essay von der Gründung ruangrupas 1998 bis hin zur documenta fifteen ihren kollektiven Praktiken mittels raumtheoretischer Überlegungen  nachzuspüren. Als Seismograph wird die documenta daher zur kollektiven Heterotopie, einer Praxis des Teilens von Zeit, Raum, Wissens oder Fürsorge im globalen Kontext mit lokaler Verankerung – so die Vision (Abb. 1–3).

Abb. 1: ruangrupa, Space Drawing, Iswanto Hartono, 2020.
Abb. 2: ruangrupa, Lumbung Zeichnung, Iswanto Hartono, 2020.
Abb. 3: Wahrzeichen: Reisspeicher. Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt. Foto: Martin Claßen und Arno Jansen, Köln. Die oft dreiteilige Struktur eines Reisspeichers in Indonesien (Lumbung) basiert auf kosmologischen Vorstellungen, hortet im oberen Dachbereich als Sitz der Göttin Dewi Sri den Reis und bietet im mittleren schattigen Bereich Raum für soziale Interaktion.

1. Ruangrupa und indonesische Kunsträume. Der Beginn einer kollektiven Raumpraxis

Oftmals initiiert von Künstler:innenkollektiven formierten sich alternative Kunsträume über den gesamten indonesischen Archipel nach dem Fall Suhartos und dem Ende des 32-Jährigen repressiven Regimes. Die Neue Ordnung (Ordre Baru) – und damit einhergehend eine von Militarismus und Staatskontrolle geprägte Zeit, in welcher kollektive Ansammlungen untersagt waren – wurde von demokratischen Neuerungen abgelöst. Sich im Untergrund anbahnende Jugendbewegungen brachen ab 1998 lautstark hervor und studentische Kunsträume formierten sich vor allem in Jakarta, Bandung und Yogyakarta – es war Zeit für neue Räume des Denkens und Experimentierens. Diese verorteten Utopien5 oder auch Fixer6, wie Ade Darmawan7 es beschreibt, boten eine Alternative8 zur Nicht-Existenz einer institutionellen Kunstinfrastruktur.9

Auch ruangrupas Anfänge sind eng verwoben mit der Schaffung von verräumlichten Utopien als kreativer Akt und dem Bewusstsein darüber, dass der öffentliche Raum einem ständigen Bedeutungswandel unterliegt (Abb. 1). Wie bei den meisten indonesischen Künstler:innenkollektiven beginnt ruangrupas Raumpraxis mit dem gemeinsamen Mieten eines profanen Wohnhauses (Abb. 4).10 Raumumwandlungen standen an der Tagesordnung und spiegeln das Verschwimmen der Grenzen und das informelle Setting von Artist-Run-Spaces mit Open-Access Philosophie wider. So wurde beispielsweise das Schlafzimmer in ein Künstlerstudio umfunktioniert oder die Toiletten als Ausstellungsraum genutzt – der wichtigste Raum war jedoch das Wohnzimmer als Ort der Zusammengehörigkeit (Abb. 5).11 Interpersonelle Beziehungsgeflechte und netzwerkartige Zusammenschlüsse zwischen Künstler:innen und  Kulturakteur:innen führen zu vielfältigen partizipativen (Kunst-)Formaten. Dieses Verschwimmen von Sphären wie privat/öffentlich oder individuell/kollektiv ermöglicht es in unkonventioneller Weise neue Kunstformate auszuprobieren.12 Ruangrupa ist zudem im Sinne Henri Lefebvres13 untrennbar mit der multiethnischen und multireligiösen Lebensrealität Jakartas verbunden und schöpft aus dem urbanen Umfeld, in welchem das Chaos zum Katalysator wird, wie Ade Darmawan das Verhältnis zur Megastadt beschreibt: „Our artistic approach — and the artistic role we take — will only grow well relevant to the messy, sweaty and untidy space of Jakarta.“14

Abb. 4: In den frühen Jahren bewohnte ruangrupa mehrere Wohnhäuser (kontrakan), wie beispielsweise dieses Einfamilienhaus in Südjakarta. Das täglich zugängliche Wohnzimmer war zugleich Treffpunkt, Partyzone und Laboratorium für neue experimentelle Kunstpraktiken. Foto: ruangrupa, 2001.
Abb. 5: Tebet Timur. Ein Zimmer konnte in andere Räumlichkeiten umgewandelt werden, oder auch gleichzeitig mehrere Orte, wie beispielsweise Arbeitsort, Gemeinschaftsraum, Schlafplatz und/oder Studio in sich vereinen, wie dieses Foto zeigt. Im Hintergrund befindet sich eine Stadtkarte Jakartas, die auf ruangrupas enge Verbindung mit der Millionenstadt und deren urbane Identität als künstlerische DNA verweist. Foto: ruangrupa.

2. Ruangrupa. Ruruhuis. Ruruhaus. Vom Haus zu Häusern – vom Kollektiv zu Kollektiven

Auch das kuratorische Konzept Lumbung & Korperasi für die documenta fifteen basiert auf einer in Jakarta bereits umgesetzten Strategie eines gemeinschaftlichen Ökosystems der Kunst, das auf neuen Kollektivismus abzielt. In reinaart vanhoes Monographie zu indonesischen Kunstinitiativen kündigt sich der transformative Übergang von ruangrupa als studentische Graswurzelbewegung hin zu einer Einbettung in ein größer angelegtes Kunstökosystem auf regionaler und transnationaler Ebene an.15 Der Zusammenschluss mit weiteren lokalen Kollektiven und deren Gemeinschaftsinitiative der experimentellen Lernplattform GUDKSUL16 (Abb. 6) erforderte mehr Raum und mündete im Bespielen des Gudang Sarinah Lagerhauses, das mit zwei langgezogenen Flachdachhallen einen Kontrast zur vertikalen Architektur der modernen Großstadt bildet (Abb. 7).

Abb. 6: GUD # Ruangan Gudskul, Südjakarta. Die umgenutzte Industrieanlage Gudang Sarinah bietet heute ein Dach für den Zusammenschluss der Kollektive ruangrupa, Serrum und Grafis Huru Hara sowie deren aktuelle Projekte. Sitzmöglichkeiten an jeder Ecke bilden das Herzstück der Gudskul-Plattform: Kollektives Lernen. Foto: Gudskul/Jin Panji, 2019.
Abb. 7: The Kuda, Tumpah Ruah, Gudang Sarinah, Südjakarta. Musik spielt eine wesentliche Rolle für ruangrupa als Organisator:innen von Musikevents sowie ihrer Ausstellungspraxis. Während der 7. Asia Pacific Triennial (2012–2013) ließ das Künstler:innenkollektiv Fiktion und Realität verschwimmen indem sie eine Ausstellung rund um die semifiktionale Band The Kuda entwarf und deren Bandgeschichte mit der Suharto-Ära verwob und so zeitliche und räumliche Grenzen ad absurdum führte. Foto: Gudskul/Jin Panji, 2017.

Zur selben Zeit fand 2015 auch erstmals die Jakarta Biennale17 in dem im Süden der Mega-City gelegenen Gebäude18 statt. Trotz eines unabhängigen Kurator:innenteams19 spielte ruangrupas Praxis, die Stadt und lokale Communities miteinzubeziehen, eine zentrale Rolle spielte. Während ruangrupas strategische Positionierung in der lokalen Kunstszene neben Kooperationen mit weiteren Kollektiven, mittlerweile auch die Zusammenarbeit mit institutionellen Partner:innen, diverse Geschäftsmodelle miteinschließt, und darüber hinaus längst in der internationalen Kunstwelt Fuß gefasst hat, ist die Notwendigkeit für Raum bis heute Triebfeder ihrer künstlerischen Praxis. Als Hybridwesen zwischen rebellischer Gründungsidee und javanischer rukun-Philosophie harmonischer Beziehungen und Konfliktvermeidung, stellt sich die Frage, ob das Modell ruangrupas inzwischen als System kultureller Kreativindustrie20 im Sinne einer neoliberalistischen Mischökonomie zu denken ist, oder als kollektive Heterotopie das Potential hat alternative ökonomische, künstlerische und soziale Modelle zu etablieren?

Die Idee eines Kollektivs der Kollektive soll auch Kassel sowie das ruangrupa-Netzwerk über die hundert Tage der Weltkunstausstellung hinaus prägen und richtet unser Augenmerk auf weniger sichtbare Kunsträume abseits des Biennale-Booms. Anstatt eines übergeordneten kuratorischen Narrativs soll mithilfe des indonesischen Lumbung-Systems21, das heißt der Einbindung von vierzehn Kunstinitiativen weltweit22, das multiple Organisator:innenteam in Kassel eine transkulturelle Eigendynamik entfalten. Lumbung bedeutet Reisscheune, dient als kollektiver Pot der Ernte im indonesischen Kontext und symbolisiert für ruangrupa eine experimentelle Methode nachhaltige Kunstinfrastrukturen zu schaffen. Neben der metaphorischen Nutzung spiegelt der architektonische Bezug der Reisscheune als soziale Struktur für ruangrupa eine tragende Rolle. Denn Ausgangspunkt ist immer der Raum als Ort der Begegnung, des Austausches und Denkens: In Jakarta oder Kassel.

Nach etlichen Einladungen internationaler Biennalen23 Räume als Künstler:innenkollektiv zu bespielen und ihren Bezug zu Jakarta miteinzubeziehen24, agierte ruangrupa erstmals im internationalen Kontext als kuratorische Leitung im Rahmen von SONSBEEK’ 2016 – dem Ausstellungsformat für Skulptur im öffentlichen Raum in den Niederlanden, das ähnlich wie die documenta die Wunden des zweiten Weltkrieges heilen sollte. Mit dem Titel transACTION zielte ruangrupa auf in sich verwobene kulturelle, soziale und räumliche Austauschprozesse im Dazwischen ab – ob in der im Park angelegten Holzwerkstatt, der multi-kulturellen Bäckerei oder dem aus Jakarta nach Arnheim transferierten Spielplatzes. Anstatt einer Ästhetisierung des Skulpturalen wurde die Nutzung des Raumes vorangestellt. Mit dem ruruHuis (Abb. 9) in Arnheim sollte die Reise bereits ein Jahr vor Ausstellungsbeginn seinen Lauf nehmen. Als Ort der Begegnung von Künstler:innen sowie der lokalen Bevölkerung steht das ruruHuis nicht nur für die zentrale kuratorische Strategie, sondern verweist auch auf die Wurzeln des Kollektivs, als ein für alle zugängliches Wohnzimmer im Post-Suharto Jakarta der 2000er-Jahre. Inwieweit konnte das indonesisch-familiäre Haus-Modell jedoch an Arnheims sozio-kultureller Realität anknüpfen? Rakun erwähnt im Gespräch mit Charles Esche, dass mit Anwesenheit des Künstler:innenkollektivs im ruruHuis kollektive Prozesse in Gang gesetzt werden konnten, diese jedoch stockten sobald ruangrupa nicht physisch präsent war – denn zielloses Beisammensein wurde oft mit Verlust von Zeit und Kapital verknüpft, wodurch das Jakarta-Modell sich nicht vollends entfalten konnte.25

In Kassel ist bereits das ehemalige Kaufhaus Sportarena als Basisstation für die kommende documenta umfunktioniert worden (Abb. 10). Während das ruruHuis mit heimeliger Atmosphäre in Arnheim eher unbemerkt und langsam zum Treffpunkt wurde, befindet sich der mehrstöckige Nachkriegsbau zwar prominent in der Kasseler Innenstadt, der einladende rund um die Uhr zugängliche Wohnzimmercharakter scheint jedoch der Bewältigung von Massen gewichen zu sein. Ob ruruHuis oder ruruHaus– transloziert finden sich wiederkehrende Elemente wie partizipative Stadtkarten, interaktive Flipcharts, oder Sticker, die bewusst Raum für Gestaltung durch kollaborative Praxis zulassen.Denn im Mittelpunkt der ruruHäuser als Keimzelle steht die in Indonesien praktizierte nongkrong-Praxis – das unverbindliche Zusammensein und die sich daraus entwickelnde kollektive Intelligenz.26

Abb. 8: Gudang Sarinah, Südjakarta, Foto: Gudskul/Jin Panji.
Abb. 9: RuruHuis ist eine Wortkreation, die sich aus der Kurzform für ruangrupa (ruru) und der niederländischen Bezeichnung für Haus zusammensetzt und so die räumliche Komponente hervorhebt, die bereits für den eigenen Namen des Kollektivs ausschlaggebend war. Denn ruang bedeutet Raum und rupa meint das Visuelle, die Erscheinung oder Form. Foto: ruangrupa, 2016.
Abb. 10: documenta fifteen, ruruHaus, Foto: Nicolas Wefers, 2020.

3. Von Nongrkong zu Nongol. Zur Entstehung neuer Orte zwischen lokalen Kollektiven und globalen Kunstbiennalen

Nongkrong bedeutet mit Freunden in ungezwungener Art und Weise Zeit zu verbringen, sich in Gesprächen zu verlieren und ohne zeitliches Limit oder vorgegebenes Endprodukt das physische Miteinander im Hier und Jetzt in den Mittelpunkt zu rücken und ist Teil der kuratorischen Strategie ruangrupas. Denn erst durch nongkrong entsteht in Indonesien Kollektivität in Räumen.27 Angesichts der pandemischen Herausforderungen stellt sich nun die Frage wie ruangrupas kollaborative Prozesse in einer neuen Realität sozialer Distanzierung ihre eigentliche Dynamik überhaupt entfalten können?

Das Kollektiv reagierte mit hybriden Formaten, wie beispielsweise dem Bespielen der Fensterauslagen des ruruHauses in Kassel mit Medienkunst oder der Fabrikation von Masken in der Gudang Sarinah Lagerhalle in Jakarta. Darüber hinaus bilden Videokonferenzen auch für ruangrupa Alternativen zu kuratorischen Treffen mit den anderen weltweit verstreuten Kunstplattformen.28 Gespräche zur documenta sind für die Öffentlichkeit online abrufbar – die nongkrong-Praxis wurde zum virtuellen nongOl-Raum (kurz für nongkrong online) umfunktioniert. Die Taktik der Anpassung an neue Umstände ist für ruangrupa nicht neu und erinnert an flexible Raumumwandlungen zu Beginn ihrer Praxis. Zwischen Jakarta und Kassel bespielt das Künstler:innenkollektiv unzählige Kanäle, Soziale Medien, experimentiert mit den beschränkten Möglichkeiten der rechteckigen Zoom-Architektur29 und erschafft so neue Räume des Narrativen.30 Das Nebeneinander von zeitlichen, räumlichen und sozialen Räumen wird besonders dadurch deutlich, dass ruangrupa parallel zur documenta fifteen-Planung weiter Programme für Jakarta entwirft. Die Möglichkeit an mehreren Orten gleichzeitig zu sein scheint so auch die Bestrebung zu erleichtern nicht die lokalen Verpflichtungen aus den Augen zu verlieren.31

Während die Kunstmuseen mittlerweile aus dem Koma erwacht sind und mit Hybridformaten auf die Krise reagieren, steht das vom globalen Publikum abhängige Biennale-Format vor seiner Neuerfindung.  Kunsträume als zum Biennale-Boom der 1990er-Jahre parallel verlaufendes Phänomen agierten zwar im Hinblick auf Kunstmegaevents im Hintergrund – die Biennalen selbst boten den Kunsträumen allerdings Möglichkeiten der Vernetzung untereinander; vor allem auch innerhalb des südostasiatischen Kontexts. So war ruangrupa seit Beginn Teil eines transnationalen Netzwerkwerks32, ist mittlerweile erprobter Player auf globalem Terrain und gleichzeitig tief verwurzelt mit Jakartas sozialer Realität. Vor dem Hintergrund der Neuformierung der Kunstwelt sowie Kunstinfrastruktur scheint ruangrupa als Kollektiv, das gekonnt zwischen globalen und lokalen Räumen oszilliert, für die besonderen Herausforderungen der kommenden documenta gewappnet zu sein. Es wird sich zeigen, ob mit dem transkulturell ausgerichteten Vorhaben –bestehend aus multiplen Lokalitäten weltweit —die documenta selbst zur Ressource der Lumbung-Praxis wird oder ob partizipative Kunstpraktiken als Spielball des Spektakels und zur Erschließung neuer Zielgruppen33 die Intention eines kollektiven Sammelsystems überlagern.

Abb. 11: Dieses Foto zeigt kurz nach der Gründung von ruangrupa eine typische nongkrong-Situation. Das auf den ersten Blick unproduktive Zusammensein entfaltet oftmals gerade in seiner Zweckfreiheit immenses kreatives Potential, weshalb für viele indonesische Künstler:innenkollektive nongkrong auch eine künstlerische Strategie dargestellt. Foto: ruangrupa, 2001.
Abb. 12: ruangrupa, online assembly, 2020.
Abb. 13: Wie nongkrong im Indonesischen im Online-Raum als nongOl weiterpraktiziert wird, zeigt dieser Ausschnitt einer Videokonferenz mit Lifepatch, einem Künstler:innenkollektiv aus Yogyakarta. Während ruangrupa im documenta-Kontext den Blick auf kleinere Kunsträume lenkt, regt das Kollektiv innerhalb Indonesiens dazu an sich mit den zahlreichen Künstler:innenkollektiven außerhalb von Java auseinanderzusetzen. Foto: FIXER/ruangrupa, 2020.

Abb. 14, 15: Produktion von Mundschutzmasken und Schutzanzügen in Südjakarta zu Beginn der Corona-Pandemie, Gudang Sarinah, Foto: Gudskul/Jin Panji, 2020.

Alle Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung vom Künstler:innenkollektiv ruangrupa, der Presseabteilung der documenta fifteen, sowie dem Rautenstrauch-Joest-Museum zur Verfügung gestellt.


Biografie

Claudia König

Claudia König studierte Kunstgeschichte, Theater- Film und Medienwissenschaften sowie Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf transkulturelle Austauschprozesse zwischen Asien und Europa in der Kunst. Nach ihrem Masterabschluss zog es sie für ein zweijähriges Kunst- und Kulturstipendium nach Indonesien, infolge dessen sie sich auf zeitgenössische Kunst in Java und Sumatra spezialisierte. Derzeit arbeitet sie an einer Dissertation zum kuratorischen Konzept Lumbung & Koperasi des indonesischen Künstler:innenkollektivs ruangrupa für die documenta fifteen an der Universität Heidelberg. Ihr Blickfeld richtet sich dabei auf die Zirkulation von Kunstpraktiken und sich parallel heraus entwickelnder Phänomene wie der Biennalisierung und der Formierung von Künstler:innenkollektiven im südostasiatischen Raum.

Pavilion of the Rootless – Jianling Zhang

Der pandemiebedingte Lockdown hat uns in unseren eigenen Wohnräumen festgehalten und zum Stillstand gebracht. Zurückgeworfen auf die eigenen Gedanken wurden so aus schützenden Wände, einengende, unüberwindbare Mauern. Doch wie lässt sich diese Erfahrung beschreiben, für Menschen ohne einen festen Unterschlupf oder Wohnsitz? Zhang Jianling macht den unfreiwilligen, zweiwöchigen Quarantäneaufenthalt des jungen Migranten Kamlesh Meena auf einem Baum vor dem eigenen Dorf im indischen Rajasthan zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema.

Es geht nun einmal nicht. Zählen alleine genügt nicht.
Wieder schließt er seine Augen: die durch den Wind
verbreiteten Pilzsporen siedeln sich auf dem ersten
Blatt an und bilden dort oberseits oliv-braune Flecken
und unterseits einen weißlichen Pilzrasen. Zunächst wird
das zweite Blatt glasig-faulig, später folgt der typisch
gräuliche Schimmelrasen. In den Adern des dritten
Blattes ist es schwer die wenige Millimeter kleinen
Insekten ohne Lupe zu erkennen. Es riecht nach
stärkehaltigem Spritzmittel gegen Schädlinge. Leider zu
spät für das vierte Blatt. Durch Hagel, Windbruch,
Frost, Trockenheit usw. ist das Erscheinungsbild der
Schädigungen vielfältig, das fünfte Blatt zum Beispiel,
hat sich eingerollt, ist gehärtet und vergoldet. Das
sechste Blatt, einst das größte, ist stetig geschrumpft,
sogar auf die Größe eines Kleinkinds, grün-schwarze,
später braun-schwarze Teile von Armen und Beinen… “

Eine Nacht von Kamlesh Meenas Quarantäne auf dem Baum.

The Patient. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Moon. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Container. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Studio. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Crowd. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Dolphin. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Voter. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Substance Abuser. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Graveyard. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.

Jianling Zhang spring/summer of 2020.


Biografie

Zhang Jianling

Zhang Jianling studierte an der China Academy of Art Curatorial Studies, es folgte ein Abschluss an der Akademie der Bildenden Künsten in München in der Klasse von Prof. Julian Rosenfeldt. Die Abschlussarbeit Zhangs trug den Titel Redemption of Images: Mnemosyne and Angelus Novus. Während der langjährigen Tätigkeit im kuratorischen sowie künstlerischen Bereich, entstanden zahlreiche Ausstellungsformate innerhalb Europas und Chinas, die ein vertieftes Interesse an Ortsspezifik und daran gebundene Narrative erkennen lassen.

Feeling the Heterotopia – Nina Lapislazuli und Lotte Frahm

Wie können sich Kunstwerke in ihrer Entstehung gegenseitig beeinflussen oder sogar bedingen? Welche Möglichkeiten und Potentiale bietet ein Transferraum für die Entfaltung kollektiver künstlerischer Prozesse? Diese Praxis wird in Feeling the Heterotopia von Nina Lapislazuli Behnisch und Lotte Frahm für die Betrachter:innen sichtbar. Der Austausch verlief nach dem Prinzip der Mail-Art, in der Briefe, Gegenstände, Konzepte, (Kunst-) Werke per Post hin und her geschickt wurden. Im digitalen Raum sehen diese Fragmente ähnlich aus: eine Schlagwort-Gruppe zum Thema, ein Textausschnitt, der sich darauf bezieht, ein Bildausschnitt einer digitalen Zeichnung, oder aber ein Gefühl, das übermittelt wird…

Feeling the Heterotopia

Es scheint keine Orte mehr zu geben. Es gibt nur noch den Bildschirm, vor dem ich sitze. Manchmal gehe ich einkaufen und bin erstaunt darüber, dass die Luft nach Sommer riecht, obwohl es noch so kalt ist. Die Punkte, an denen ich mich bewege, sind begrenzt. Meine geistige Karte kommt mir unvollständig vor, dabei ist es unter jeglichen Umständen zu viel gewollt, einen Anspruch der Vollständigkeit an etwas Weltliches anzusetzen. An viele Orte komme ich gar nicht mehr. Ins Kino, ins Krankenhaus, um meinen Bruder zu besuchen, ins Museum, in die Bibliothek. Sie bleiben mir alle verschlossen. Heterotopien scheint es nicht mehr zu geben, dabei weiß ich, dass sie noch da sind, ich habe nur keinen Zugriff auf sie. Und vielleicht will ich das auch gar nicht. Was sind menschengeschaffene Räume schon ohne Menschen? Sie werden unwirklich, trennen sich langsam von der Realität und driften in eine Art Zwischenwelt ab. Heterotopien waren für mich schon immer Gebilde an der Grenze zum Liminalen, bevor ich überhaupt wusste, was diese Worte bedeuten. Sie sind für mich unzertrennlich mit Schweben, mit dem magenaufwühlenden Gefühl des Dazwischen-Seins, des Unwirklich-Seins und vor allem mit meiner Großmutter verknüpft.

Abb. 1: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 1, 2021, digitale Zeichnung.

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Vielleicht im Dezember oder Januar vor drei, vier Jahren. Meistens vergeht die Zeit schneller, als man denkt. In meiner Erinnerung lag Schnee. Ich hatte mir Zeit genommen, um am Freitag ins Krankenhaus zu meiner Großmutter zu fahren. Meine Eltern meinten, ich solle sie besuchen, da sie sich auf dem Weg der Besserung befände. Seit ich auf die weiterführende Schule gekommen war, hatte ich nicht mehr viel Zeit mit ihr allein verbracht. Früher hatte sie oft auf meinen Bruder und mich aufgepasst. Mittlerweile waren wir beide aus dem Alter herausgewachsen, in welchem man in den Kindergarten begleitet oder abgeholt werden musste. Ich war nervös. Krankenhäuser sind immer ein schwer fassbarer Ort, wenn man gesund ist. Ich bewegte mich in einem Terrain, in welches ich eigentlich nicht gehörte. Dazu kam, dass Prüfungsphase war und ich im ersten Semester studierte. Für mich bedeutete das ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit und Angst vor dem Scheitern. Ich hatte seit Tagen nicht mehr ausgeschlafen. Viel mehr als Lesen, Arbeiten und am Wochenende zu viel trinken gab es bei mir nicht. Ich befand mich in einem Schwellenzustand, in einem Treppenhaus, in dem ich nicht verweilen wollte und somit musste ich diese Treppen weiter hinaufsteigen. In einem Zustand innere Liminalität traf ich somit auf die erste Heterotopie.

Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, wie ich auf der Station die Schwester angesprochen habe und nach dem Raum fragte. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte ich mich eingeschlichen, das Eintrittsritual übersprungen, obwohl ich mir sicher bin, dass meine nassen Schuhe auf dem orange-braunen Linoleumboden gequietscht haben müssen. Meine Großmutter lag in einem Zweibettzimmer. Ich habe sie nicht erkannt, wie sie da im Bett lag, eingefallen und mit ungemachten Haaren. Ich dachte, ich hätte die Zimmernummer versehentlich verdreht. Der Rest ist in meiner Erinnerung sehr unscharf. Ich weiß nicht genau, wie lange ich da war. Ihr Krankenzimmer war für mich ein zeitloser Ort. Zu viel Elend, um auf die Uhr zu sehen. Als ich an ihr Bett herantrat, hat sie die Augen leicht geöffnet und meinen Namen gesagt und dass sie sich freuen würde, dass ich da bin. Dann hat sie nur noch darüber geredet, dass sie will, dass alles aufhört, dass sie nicht mehr leben will. Ihre Stimme war leise und schwach. Ich habe ihre Hand genommen und musste weinen. Ich weiß nicht, wann ich sie das letzte Mal davor angefasst habe. Wahrscheinlich als kleines Kind. Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen. Meine Eltern hatten gesagt, dass es ihr wieder besser gehen würde. Ich hatte ihnen geglaubt. Vielleicht sind meine Erinnerungen auch so schwach, weil ich anfangen musste zu weinen und die Tränen meine Wahrnehmung einschränkten. Irgendwann kam eine Ärztin in den Raum und fragte, ob sie mir etwas erklären sollte zum Krankheitsverlauf meiner Großmutter. Ich murmelte nur, dass ich nicht gewusst hätte, wie schlecht es ihr ging. Dabei versuchte ich der Ärztin nicht in die Augen zu sehen, damit sie meine Tränen nicht sehen konnte. Völlig umsonst. Als ich das Krankenhaus verließ, redeten die Menschen im Gang über mich. Ihr Tuscheln verfolgte mich bis nach draußen. Was ich danach gemacht habe, weiß ich nicht. Wahrscheinlich habe ich auf dem Weg zur Straßenbahn versucht mich zu beruhigen. Vorhin habe ich gesagt, dass ich nicht wüsste, wie lange ich bei meiner Großmutter war. Das war gelogen. Ich weiß es ganz genau: zu kurz. Wenige Tage später ist sie gestorben, woran genau weiß ich bis heute nicht. Ich habe nie gefragt.

Denke ich heute an dieses Erlebnis zurück, kommt es mir absurd vor. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, während einer Krise an einem Ort der Krisen zu sein. Es kommt mir unmöglich vor. Und eigentlich ist es das ja auch. Kein Besuch mehr in Krankenhäusern oder zumindest stark reguliert. Manchmal stelle ich mir vor, das Ganze unter heutigen Umständen noch einmal zu durchlaufen. Über Zoom, Webex, Jitsi oder wie die Programme alle heißen. Ich weiß nicht, ob es schlimmer oder besser wäre. Wahrscheinlich schlimmer. In Person da gewesen zu sein, gibt mir wenigstens das Gefühl, Abschied genommen zu haben. Den Ort des Krankenhauses über einen Bildschirm betrachtet zu haben, während ich persönlich involviert bin, hätte mich komplett entmächtigt. Der Bildschirm kann in diesem Fall kein Botschafter einer Utopie sein, diese nicht übertragen. Er kann die Zwischenmenschlichkeit der Realität nicht ersetzen. Doch genau diese Zwischenmenschlichkeit sagt uns so viel über unsere Umgebung, leitet uns durch unser Leben.

Abb. 2: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 2, 2021, digitale Zeichnung.

Einmal habe ich mich mit meiner Großmutter verabredet und am Nachmittag Kuchen gegessen. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie schlau sie war. Nicht dass ich das vorher nicht von ihr erwartet hätte, aber ich hatte nie darüber nachgedacht. Großmütter sind für Enkel meistens einfach nur Großmütter und keine differenzierten Intellektuellen. Wir haben Kuchen gegessen und über Politik geredet. Sie meinte: „Die Leute reden immer über Putin und ja, der ist schlimm, aber Obama ist mindestens genauso schlimm.“ Ich weiß nicht wie viele Jahre sie in die Schule gegangen ist. Autofahren konnte sie nicht. Wenn sie auf dem Fahrrad unterwegs war, war sie immer besonders vorsichtig, weil sie nicht wusste, was die Straßenschilder bedeuteten. Der Krieg hatte ihr viel versagt, hatte Heterotopien zerstört und unbrauchbar gemacht.

Später sind wir dann auf den Friedhof gegangen, um das Grab meines Großvaters zu besuchen, der schon tot war, seit ich 14 bin. Ich weiß noch, wie meine Mutter mich damals gefragt hatte, ob ich „…den Opa noch einmal sehen will?“. Das war im Herbst irgendwann. Es war schon dunkel draußen. Es war immer meine Mutter, die solche Nachrichten überbrachte. Nie mein Vater, obwohl es sein Vater war, obwohl es seine Mutter war. Ich habe damals Nein gesagt: „Nein, ich will Opa nicht noch einmal sehen.“. „Weil du ihn lieber lebend in Erinnerung behalten willst?“, diese Worte hatte mir meine Mutter förmlich in den Mund gelegt und ich widersprach nicht. Aber eigentlich lag es nicht daran. Ich hatte Fußballtraining und es gibt nichts Schöneres als ein Fußballfeld in der Dunkelheit und vielleicht, ganz vielleicht, hatte ich auch Angst.

Dabei muss niemand Angst vor dem Tod haben. Vielleicht vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod. Friedhöfe sind eine seltsame Angelegenheit. Natürlich gibt es sie in verschiedenen Formen, Größen und Ausarbeitungen, aber trotzdem kann man am anderen Ende der Welt sein und ein kleines Stück Heimat auf einem Friedhof finden. Der Raum ist hier verwinkelt und die Zeit fließt immer sehr zäh. Friedhöfe sind beinahe zeitlose Gedenkstädten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwann einmal verschwinden werden. Wohin auch? Was soll ein Friedhof im digitalen Raum und wohin anders als in den digitalen Raum, soll der Fortschritt gehen? Ich kann mir nicht vorstellen einmal StrgF zu drücken und sofort das Grab meiner Großeltern zu finden. Immer wenn ich auf den Friedhof gehe, muss ich suchen, wo sie begraben sind. Dann streife ich eine Weile durch die Gänge des Friedhofes, sehe mir die Gräber an, lese die Namen und fühle mich, als würde ich mir meinen Weg durch New York suchen. Von Block zu Block. So jedenfalls stelle ich mir New York vor. Ein riesiger Betondschungel, in dem das Leben tobt. Es ist schon fast zu einem Ritual geworden in jeder Stadt, in der ich mich etwas länger aufhalte, einen Friedhof aufzusuchen. Eigentlich sind sie alle wie Gärten. Gärten aus Stein, Gärten aus Stein und Grün, Gärten, in denen die Natur ungestört wuchert und sich ausbreitet, Gärten, in denen man sich verliert, Gärten, in denen eine große Losgelöstheit herrscht. Meistens hört man die Vögel lauter als die Menschen. Oft habe ich Angst, mich zu verlaufen und meinen Weg nicht mehr zurückzufinden und oft verlaufe ich mich tatsächlich in der Abgeschiedenheit dieser Friedhofswelt. Wären Friedhöfe in Word-Dokumenten festgehalten, könnte ich immer StrgZ drücken. Während ich die Gräber meiner Großeltern suche, geht das nicht. Ich löse mich völlig auf in dem Gefühl, dass alles irgendwann vorbei ist, dass alles unwichtig ist, nicht nur ich, sondern alle menschgemachten Räume auf dieser Erde, unser gesamter Planet, unser Sonnensystem. Früher hatte ich Angst vor diesem Gedanken. Er hielt mich nachts wach. Heute ist er mir egal. Ich habe mich damit abgefunden. Anstatt Angst zu haben, werde ich heute von diesem wiederkehrenden Gedanken getröstet, genauso wie von meinen Friedhofsbesuchen.

Abb. 3: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 3, 2021, digitale Zeichnung.

Fußballfelder und Friedhöfe sind sich eigentlich recht ähnlich, aber vielleicht auch nur in meiner Erinnerung. In dieser existiert die Verknüpfung beider Orte über den Tod meines Großvaters. Friedhöfe und Fußballfelder gibt es in den meisten Teilen der Welt und sie haben immer die gleiche Grundform inne. Was ist ein Fußballfeld schon weiter als ein rechteckiges Feld und zwei weitere Rechtecke, die Tore? Ein simples Konzept und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb spiegelt sich hier die große Schönheit wider. Ästhetisch ist nur das, woran man kein Interesse hat. Bei Minusgraden im Dunkeln ziehe ich meine Runden, verfluche dabei meine Entscheidung, mich auf den Platz gequält zu haben und dann, auf einmal fängt es an zu schneien und damit kommt auch die Offenbarung. Und diesmal geht es nicht darum, zu erkennen, dass ich meine Großmutter kaum kannte, wie mir damals im Krankenhaus klar geworden ist, nein, es geht um etwas Größeres. Wenn sich der Schnee unter dem Licht der Flutstrahler versammelt und dort tanzt, dann wird alles in mir ganz ruhig, aber gleichzeitig ist dieser Anblick unglaublich aufwühlend. Es ist wie in den Bergen zu stehen und den Horizont zu suchen. Um mich herum nur riesige Felsformationen, keine menschgemachte Struktur und ich fühle mich befreit und gleichzeitig erdrückt von der Gewaltigkeit der Berge. Auf dem Fußballfeld ist es etwas friedlicher und trotzdem bleibt die Frage: Was mache ich hier überhaupt? Warum drehe ich meine Runden? Warum sehe ich dem Schnee zu? Vielleicht ist es nur simple Ablenkung, aber vielleicht ist das auch der Moment, in dem ich Gott direkt in die Augen blicke. Losgelöst von der eigentlichen Welt, in welcher der Fußballplatz von schreienden Zuschauern gefüllt ist, in welcher Bier verschüttet wird, in welcher die schrillen Pfiffe der Schiedsrichter die Luft zerschneiden und auf dem Platz gerangelt wird. Die Nacht löst diesen Ort von der Wirklichkeit. Die Dunkelheit zweckentfremdet das Fußballfeld, aber dadurch werden neue Möglichkeiten geschaffen. Mit Menschen befüllt ist die Schönheit des Fußballfeldes versteckt. Sie zeigt sich nur nachts oder in den frühen Morgenstunden. Sie zeigt sich in der Liminalität dieser Heterotopie. Im Krankenhaus fühlst du dich unwohl, auf dem Friedhof wanderst du umher, aber auf dem verlassenen Fußballfeld findest du deinen Frieden. Wieso jedes Jahr 60€ für ein neues Fifa Spiel ausgeben, wenn die Offenbarung kostenlos vor fast jeder Haustür liegt?

In Zeiten eines krisenbehafteten Systems bleibt uns der Zugang zu bestimmten Räumlichkeiten verwehrt, doch an anderen Stellen öffnet er sich erst wieder, indem wir andere Wege suchen, unser Leben zu gestalten. Menschen sind resilient, passen sich an Situationen an, gestalten Räume um. Menschen sind aber auch emotional und färben alles, was sie berühren mit dieser Emotionalität ein. Orte, egal ob menschengemacht oder nicht, sind gefüllt mit Emotionen, die an ihnen haften wie Gerüche. Auch ohne Zugang werden wir die Heterotopie nicht vergessen, weil wir sie fühlen und uns erinnern.

Werke von Nina Lapislazuli // Text von Lotte Frahm


Biografie

Lotte Frahm lebt und arbeitet in Berlin und studiert Philosophie an der Freien Universität Berlin. Nina Lapislazuli studiert Bildende Kunst an der HfBK Dresden und ist seit 2020 in der Klasse von Prof. Carsten Nicolai für digitale und zeitbasierte Medien. Seit 2011 arbeitet sie in ihrem Atelier im Leipziger Tapetenwerk. Gemeinsam arbeiten sie an medienübergreifenden, künstlerischen Projekten.

Orte zur Imagination der Zukunft. Das Labor als Heterotopie – Nils Mojem

In seinem Text Orte zur Imagination der Zukunft. Das Labor als Heterotopie versucht Nils Mojem der Frage nachzugehen wie und wo Utopien imaginierter Zukünfte auf reale Räume der Gegenwart treffen. Dabei soll der Fokus dem Forschungslabor als Heterotopie gelten, um einen Raum zu untersuchen, der durchzogen ist von hierarchischen Strukturen und sich über einen exklusiven Zugang durch Wissen auszeichnet. Es wird die Frage gestellt, wer wo, wann und für wen welche Zukünfte herbeiführen kann, soll und darf.

Ein großes Thema der Gegenwart ist es die Welt zu retten. Ausgehend von den aktuellen Krisendiskursen, die sich letztendlich in der Erkenntnis einer multiplen Krise von Menschheit und Planet im Zeitalter des Anthropozän verdichten,1 scheint die Gestaltung wünschenswerter Zukünfte notwendiger und dringlicher denn je. Und obwohl Zukünftiges stets ungewiss ist, Möglichkeit bleibt und nie etwas Faktisches darstellt,2 schließt doch die Imagination dessen, was werden kann oder soll, sowohl Möglichkeiten der Kritik des Gegenwärtigen als auch die Annahme der Einflussnahme auf das Zukünftige mit ein.3 Ausgehend von dem narrativen Charakter menschlicher Erfahrungsbildung,4 sind es also Imaginationen, die als kulturelle Praktiken „eine mitunter sprachlose Ungewissheit in Handlungsentwürfe überführen.“5

Dabei sind die Imaginationen der Zukunft aufs engste mit den Erzählungen der Gegenwart verknüpft. Und obwohl der überwiegenden Mehrheit der Erzählungen der Gegenwart das Anerkennen der multiplen Krise im Anthropozän gemein ist, werden dabei doch je nach Narrativ und Erzählposition „unterschiedliche Ursachen und Treiber […] sowie unterschiedliche Interventionsszenarien, Widerstandakteure und Transformationsträger identifiziert.“6 Dies kann zwar als grundlegende Deutungsoffenheit von Geschichte/n ausgelegt werden, doch entpuppt sich diese Deutungsoffenheit im Übergang von Narration zu Imagination als das Verhandeln von Deutungsmacht. Dies vor allem, da sich durch die kulturelle Praxis der Imagination auch eine neue Form der Temporalität ergibt; aus einer ‚Zukunft‘ als singulärem Telos wird eine Multiplizität möglicher Zukünfte.7 Wenn nun die unterschiedlichen Imaginationen von Zukünften maßgeblich aus den jeweiligen Erzählungen der Gegenwart hervorgehen, in ihnen die Hauptakteure der Gegenwart Handlungsentwürfe entwickeln und ihre Geschichte fortschreiben, dann ist die Frage nach der Deutungsmacht bei den Erzählungen der Gegenwart eine entscheidende, gerade weil die Erzählungen von multipler Krise und Anthropozän das Schicksal der gesamten Menschheit und sogar des ganzen Planeten behandeln. So geht es darum, welche möglichen Zukünfte von wem – das heißt aber auch: wie, an welchen Orten und für wen – formuliert werden können, erdacht werden sollen und herbeigeführt werden dürfen.

So werden an unterschiedlichen Orten, von unterschiedlichen Gruppen verschiedene Zukünfte imaginiert, je nachdem, welches Narrativ sie nutzen, welche Werte und Annahmen ihren Erzählungen zu Grunde liegen, welche Erzählstruktur ihre Geschichte prägt und welche Hauptakteure dabei in ihren Handlungsentwürfen in den Fokus geraten. Entscheidend hierbei ist also auch der Modus, in welchem erzählt und gedacht, Gegenwart wahrgenommen und Zukünfte gestaltet werden sollen. Haraway formuliert dies folgendermaßen: „Es ist von Gewicht, welche Gedanken Gedanken denken. Es ist von Gewicht, welche Wissensformen Wissen wissen. […] Es ist von Gewicht, welche Erzählungen Erzählungen erzählen.“8 Dies gilt es zu beachten, wenn an verschiedenen Orten die vermeintlich selbe Geschichte anders erzählt wird, unterschiedliche Zukünfte imaginiert werden. Denn trotz einer Pluralität der Geschichten der Gegenwart und der Imaginationen von Zukünften gibt es doch solche Erzählungen, die mehr Gehör finden, gibt es Sprecher:innen, die eine besonders dominante Rolle in der Erzählung von Gegenwart und Zukunft einnehmen, Orte, an denen gesprochen eine besonders prominente Sprecher:innen-Position eingenommen wird.9

Einem bestimmten Ort kommt dabei ganz besondere Bedeutung zu: Es ist das Forschungslabor – ein merkwürdiger, von Macht und Wissen durchzogener Raum, in dem zeitliche und räumliche Strukturen aufeinandertreffen und sich in einer eigenartigen Verbindung mit- und durcheinander fortsetzen. Als Institution der Wahrheitsfindung, des Wissens und der Innovation nimmt das Forschungslabor einen bedeutenden Platz innerhalb der Gesellschaft ein und stellt dennoch einen eigenartig von der Gesellschaft abgesonderten Raum dar. Weil der Zugang zu ihm exklusiv und an Wissen gebunden ist, besitzt es einen ein- und ausschließenden Charakter. Das in ihm aufgeführte Expert:innentum begründet seine narrative Kraft – die Möglichkeit der Kritik ist an einen Zugang zu ihm, an eine Übernahme des ihm eigenen Forschungsmodus gebunden. Das Forschungslabor ist überall auf der Welt zu finden und tritt dabei merkwürdig mit sich selbst in Kontakt; sein gleichzeitiger Betrieb an unterschiedlichen Orten wird durch eine strukturelle Identität, durch die standardisierten Bedingungen naturwissenschaftlicher Forschung ermöglicht; indem Experimente durchgeführt und Hypothesen geprüft werden, können durch die nüchterne Sachlichkeit naturwissenschaftlicher Forschung vermeintlich objektive Wahrheiten erzeugt und anschließend in anderen Laboren falsifiziert werden. Seine Exklusivität als geschlossener Raum, als Hort des Wissens und der Wahrheit bleibt gerade dadurch erhalten. Doch auch zum ‚Außen‘, zur Mit- und Umwelt steht das Labor in einer merkwürdigen Verbindung, welche überhaupt erst eine standardisierte Forschung durch das naturwissenschaftliche Experiment ermöglicht und gewährleistet: Dadurch, dass das Labor sich selbst von der Welt abgrenzt, ausschließt, dabei gleichsam aber ein Stück der äußeren Welt in sich einschließt, können Forschende eine eigenartige Macht über die natürlichen Untersuchungsobjekte erlangen, gerade weil sie diese in eine technisch-kulturelle Umgebung verlagern.10

Nicht nur durch seine Exklusivität, seine eigenartige Position innerhalb der Gesellschaft, seinen Bezug zum Innen und Außen kann das Labor als Heterotopie im Sinne Foucaults11 bezeichnet werden. Es übt auch eine eigenartige Brückenfunktion aus, verbindet unterschiedliche Zeitlichkeiten und setzt verschiedene Räume miteinander in Verbindung. So wird in Bezug auf die Erzählung der Gegenwart und die Imagination von Zukünften hier entweder versucht die Realität der Gegenwart in eine imaginierte Zukunft zu überführen oder aber eine fiktive und imaginierte Zukunft schon in der Gegenwart Realität werden zu lassen.

In diesem Bestreben und mit dem eigenen Modus der Forschung steht das Labor als Forschungsstädte auch für eine besondere Auffassung des Verhältnisses vom Menschen zur übrigen Welt: Mittels technischer Verfahren können und sollen die Geheimnisse der Natur entschlüsselt und der Menschheit nutzbar gemacht, um letztlich jedoch ihrem Willen untergeordnet zu werden. In diesem Konzept der Nutzbarmachung wird Natur zum bloßen Erkenntnisobjekt, zum Untersuchungsgegenstand und zur gewinnbringenden Ressource degradiert, die mit Hilfe technischer Eingriffe und Verfahren gewissermaßen manipuliert und dann möglichst profitabel durch den Menschen selbst geformt werden kann. Maßgeblich hierfür ist ein rationalisierter Erkenntnisprozess: Mit Kultur und Technik tritt der Mensch der Natur entgegen, stellt sich ihr gegenüber, analysiert, seziert, benennt und ordnet, erschließt Zusammenhänge und erzählt dabei eine Geschichte der Trennung von Natur und Kultur, erzählt eine Geschichte von Erkenntnis, Fortschritt und Innovation, erzählt gewissermaßen eine Geschichte der Naturmachtbefähigung des Menschen.12

Ausschlaggebend ist dabei die Form des Wissens, die den Menschen zur Beherrschung der ihm äußerlichen Natur befähigt. Analog zum Dominium terrae des Alten Testamentes ist es hierbei nicht göttlicher, sondern menschlicher Wille, der dem Menschen die Natur zum Untertanen macht, es ist keine göttliche, sondern eine menschliche Ordnung, eine auf rationaler Erkenntnis beruhende menschliche Anordnung, die zu eben jener Naturmachtbefähigung führt.

Entscheiden daran ist, dass dieser Modus der Mensch-Natur-Begegnung sich erst im Verlauf der europäischen Wissensgeschichte entwickelte: Durch den an vielen Stellen auf Descartes‘ Trennung von Körper und Geist zurückgeführten Prozess der Rationalisierung13 etablierte sich seit Beginn der Neuzeit in Europa jenes dichotome Denkmodell, welches sich bis in unsere Gegenwart fortschreiben sollte und mit Blick auf die expansive, koloniale und imperialistische Geschichte Europas gar als dichotomer Wahn bezeichnet werden kann. Die philosophischen Abstraktionen Descartes‘ wurden dabei zu praktischen Herrschaftsinstrumenten, sie „waren reale Abstraktionen mit gewaltiger materieller Kraft“14, welche die moderne Logik von Macht und Denken nachhaltig prägten. Diesem Denken entsprangen hierarchische Ordnungsentwürfe entlang von raum-zeitlichen Achsen, Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse konnten so im Sinne der Ordnenden legitimiert werden, wobei die vermeintliche Überlegenheit der Ordnenden sich selbst aus ihrer Rationalität heraus begründete.15

Die Rationalisierung der Welt war dabei aber auch auf das engste mit dem Festigen eigener Macht, der Akkumulation von Kapital und dem Bestreben einer Steigerung der Produktion verbunden. Schon in frühen Phasen des heute so unübersehbar ausufernden Kapitalismus waren Fortschritt und Wachstum an wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Innovationen und die etablierte Trennung von Natur/Kultur gekoppelt. In dem Moment, da Natur zur Ressource wird, wird sie gleichsam dem Wertgesetz unterworfen. Forschung und Technik sollen dabei im Rahmen des Wertgesetzes zur effizienteren Nutzung der Natur als Ressource, zu einer profitableren Aneignung ihrer Gaben und dem Aufrechterhalten der Möglichkeit ihrer Ausbeutung beitragen.16

Interessanterweise ist also das naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse stets handlungsorientiert und zukunftsgerichtet und entwickelt sich dabei immer mehr oder weniger entlang an den Vorteilen und Interessen bestimmter Gruppen, am Nutzen zu einem bestimmten Zweck. Diese Erkenntnis ist wichtig und muss bei der Frage nach den Narrativen der Gegenwart und den Imaginationen von Zukünften berücksichtigt werden. Denn einerseits positionieren sich dabei die Naturwissenschaften durch ihren vermeintlich sachlich-rationalen Forschungsmodus als Hüter objektiver Wahrheiten, als Weltenentzauberer, die einer ordnungslosen Natur mit einer anordnenden und allgemeingültigen Logik begegnen. Andererseits aber gründet sich ihr Zugang zur Welt auf einer alten Denktradition der Trennung und Hierarchisierung, auf selbst erschaffenen und ebenso machtvollen Differenzen, durch die eine Handhabung der Natur als Objekt und Ressource erst ermöglicht wird. In diesem Sinne kann der Natur entgegengetreten werden, kann das Verhältnis von Mensch/Natur gestaltet werden. Wissenschaftliche Forschung und technischer Fortschritt sind reaktionsfähig und innovativ, sie können Lösungen für Probleme finden – Probleme, die aber zunächst definiert werden müssen. Hier zeigt sich wieder die Bedeutung von Narrativ und Imagination: Je nachdem, welche Geschichte erzählt, welche Probleme definiert werden, wird Zukunft unterschiedlich imaginiert, werden bestimmte Lösungen gesucht und gefunden, sollen bestimmte Szenarien herbeigeführt werden und bieten sich bestimmte Akteure für diese Aufgaben an.

Und genau hierbei gerät auch die besonders prominente Sprecher:innenrolle der Naturwissenschaften mit Blick auf die Erzählung der multiplen Krise der Gegenwart und der Imagination möglicher Zukünfte in den Fokus. Gefragt werden muss danach, wer das notwendige Wissen zum Erzählen der Geschichte, zur Imagination und Herbeiführung der Zukunft zur Verfügung stellt.

Wenig überraschend waren es Naturwissenschaftler, die den Begriff des Anthropozäns einführten, um damit den massiven menschlichen Einfluss auf das Erdsystem zu beschreiben. Die Nachweisbarkeit dieses Einflusses in den Sedimentschichten, der Atmosphäre, den Ozeanen, in belebter wie unbelebter Materie des Planeten gab ihnen Anlass dazu, vom Eintritt in ein neues, vom Menschen dominiertes Erdzeitalter zu sprechen.17 Und trotz heftiger Diskussionen über den Anfangspunkt oder die Benennung dieses neuen Erdzeitalters, wird dessen multiple Krise im allgemeinen Tenor doch an den erdsystemischen Materialitäten nachgezeichnet und, nicht zuletzt, am Klimawandel – als präsentesten Signifikanten – erkannt.18 So ergibt sich die dominante Sprecher:innen-Rolle der Naturwissenschaften im Anthropozän also aus dem Umstand, dass die vermeintlich zu behandelnden und zu untersuchenden Bereiche – Atmosphäre und Klima, Flora und Fauna oder chemische Stoffkreisläufen – klassischerweise alles Gebiete naturwissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis darstellen.

Gleichwohl wird der Begriff des Anthropozän mittlerweile diskursiv und disziplinübergreifend nicht nur in akademischen Kreisen, sondern längst auch in Kunst und Kultur behandelt.19 Dennoch treten nun, da die entzauberte Welt gerade auch aufgrund einer durch technische Innovationen ermöglichten und dem westlichen Wahn permanenten Wachstums unterworfenen Ausbeutung, Aneignung und Zerstörung der Natur aus den Fugen zu geraten scheint, die Naturwissenschaften neuerlich in den Vordergrund und positionieren sich als ebenso sachliche wie innovative Heilsbringer einer überforderten Weltgesellschaft. Vielerorts zeigt sich dies im Versuch, Hardwarelösungen für die multiple Krise zu finden;20 technische Innovationen dienen als Antworten auf Probleme, die zuvorderst an den erdsystemischen Materialitäten abgelesen und dann auch als erdsystemische Krisen erkannt werden.

Und zumindest mit Blick auf diese erdsystemischen Krisen wird vielerorts die prominente Erzählposition der Naturwissenschaften anerkannt, wird den Forschenden im Labor die legitime Sprecher:innenrolle zugewiesen, gelten ihre Narrative als die wahren, als faktisch und objektiv. Unter anderem zeigt sich dies auch in den politischen Maßnahmen, ihren Förderprogrammen und Nachhaltigkeitsinitiativen, als Versuch auf die multiple Krise im Anthropozän zu reagieren. Weil diese Krise von den erdsystemischen Materialitäten aus gedacht und auf die Form des Wirtschaftens samt dem massiven Verbrauch fossiler Rohstoffe zurückgeführt wird, gibt es unterschiedliche Bestrebungen, das Wirtschaften durch technische Innovationen hin zu einer ökologisch verträglicheren Form zu transformieren. Wenn durch die Form des Wirtschaftens die erdsystemischen Stoffkreisläufe gestört werden, das Klima sich wandelt, kurz: die Natur, bzw. der menschliche Zugang zu dieser Natur als Ressource und Objekt sich ändert, dann braucht es neue Macht- und Produktionsstrukturen, um der Natur begegnen zu können.21 Das heißt aber auch, dass der Kapitalismus als Modus des Wirtschaftens nicht in Frage gestellt, sondern lediglich auf neue Bereiche angewandt werden soll. Um die Produktivkraft, den Konsum und eine fortschreitende Akkumulation von Kapital zu erhalten, müssen neue Rohstoffquellen geschaffen und angeeignet, muss Natur durch wissenschaftliche Erkenntnis und technische Innovationen als zugänglich erhalten bleiben.

Somit wird Nachhaltigkeit häufig als Konzept verstanden, welches den Status Quo nicht nur kurzfristig, sondern auch zukünftig aufrechterhalten soll,22 wodurch die Programme einer ökologischen Modernisierung oftmals „[f]est verankert in Individualismus, liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft“ bleiben, dabei aber dennoch „die typischen Wertmuster und Strukturprinzipien spätmoderner Gesellschaften den veränderten Rahmenbedingungen ökologischer Grenzen“ anpassen sollen.23 In dieser Erzählung liegt ein Hauptaugenmerk auf den erdsystemischen Veränderungen, die bedeuten, dass das jahrhundertealte und funktionierende Verfahren der Aneignung und Ausbeutung der Natur gefährdet wird, dass die Naturbeherrschung neuer Formen von Wissen und Technik bedarf. In einer entsprechenden Imagination von Zukunft muss also den erdsystemischen Veränderungen durch Erkenntnis und Innovation begegnet werden: Unter veränderten klimatischen Bedingungen braucht es neue Formen der Landwirtschaft, andere Anbaumethoden. So der Verbrauch fossiler Roh- und Brennstoffe enden soll, bedarf es neuer Energie- und Rohstoffquellen. Zielsetzung ist, den steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln und Energie ökologisch-nachhaltig zu decken. Allerdings geht es auch darum, der sich im Mensch/Natur-Verhältnis ändernden Natur mit Innovationskraft neuerlich im alten Modus der Aneignung und Ausbeutung, der Kontrolle und Verfügbarmachung begegnen zu können. Abermals zeigt sich die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die technische Rationalität unter dem uneingeschränkten Diktat des Tauschwertes deformiert.24

Und dennoch liegt in diesem Narrativ der ökologischen Transformation des Wirtschaftens viel Hoffnung auf den Versprechungen der Bioökonomie, welche in den letzten Jahren „als eine Art Zauberformel für die Lösung vielfältiger Probleme präsentiert“25 und von der EU schon 2012 als „radikaler Wandel unserer Art zu produzieren und zu konsumieren bezeichnet“ wurde.26 Auch die deutsche Bundesregierung hat Ende des ihr eigens gewidmeten Wissenschaftsjahres 2020 die Bioökonomie noch einmal mit einem Strategiepapier bedacht: Ihr vorrangiges Versprechen ist dabei „ein auf nachwachsenden Rohstoffen basierendes Wirtschaftssystem“27, welches die aktuell fossile Rohstoffbasis sowohl in der Herstellung von Energie als auch anderer Arten stofflicher Produkte durch Biomasse zu ersetzen versucht.28 Lettow (2020) benennt hierbei anschaulich beispielsweise Schuhsohlen aus Pilzen oder Flugtreibstoff aus Algen.29 Für all dies braucht es naturwissenschaftliche Erkenntnis und technische Innovation. Nicht unumstritten setzt Letztere dabei maßgeblich auf die Genmanipulation von Leben. So können in den Forschungslaboren der Bioökonomie mittels der synthetischen Biologie „lebendige, sich selbst regenerierende Organismen“ erzeugt werden, die sich dann „entsprechend der gewünschten Kriterien gestalten und ökonomisch nutzen“ lassen.30 Damit aber steht die Bioökonomie auch „für eine neue Qualitätsstufe der wirtschaftlichen Verwertung der Natur und damit [für] eine Verabsolutierung des ökonomischen Denkens sowie eines industriell-technologisch geprägten Leitbildes.“31 An dem gesteigerten Modus der Verwertung der Natur, an dem technisch vermittelten menschlichen Zugriff auf eine als Ressource behandelte Natur, an der Gestaltbarkeit des Lebens durch Formen des Wissens und der Manipulation zeigt sich das oben angesprochene dichotome Denken der europäischen Wissensgeschichte: Nun, in den Forschungslaboren der Bioökonomie wird es neuerlich angewandt und wiederaufgeführt, um eine als nachhaltig (im Sinne der Erhaltung des wirtschaftlichen Status Quo) imaginierte Zukunft herbeizuführen. Es ist die alte Erzählung der Trennung von Natur/Kultur, eine Geschichte der hierarchischen Begegnung, der Ordnung und Unterordnung von Natur zum Zwecke der eigenen Bevorteilung, es ist ein Epos der Ausbeutung und des Profits – die menschliche Naturbemächtigung schreibt sich im Handlungsablauf fort, soll die Zukunft gestalten.

In diesem Sinne treten im Forschungslabor der Bioökonomie unterschiedliche Zeiten miteinander in Kontakt: Eine sich seit Jahrhunderten forttragende Form des Wissens, welche auf der Trennung von Natur/Kultur beruht, wird in der Gegenwart angewandt, um bestimmte Formen des Zukünftigen herbeizuführen. Doch nicht nur auf zeitlicher, sondern auch auf räumlicher Ebene zeigt sich erneut die vielschichtige Brückenfunktion des Labors als Heterotopie: Mit Blick auf die ethischen Diskussionen rund um Genmanipulation und der damit verbundenen Schaffung und Gestaltung von Leben lässt sich erkennen, dass das Forschungslabor ein umkämpfter Ort der Gegenwart ist. Konflikte und Diskussionen um die Patentierung genetisch modifizierter Natur ergänzen dieses Bild. Am Beispiel von genmanipuliertem Maissaatgut, welches widerstandsfähig gegenüber veränderten klimatischen Bedingungen und Schädlingsbefall sei, dabei aber auch höhere Ernteerträge erzielen soll, lässt sich zumindest ein (auch) an Profiten orientiertes Interesse der Forschung und Innovation erkennen. Um in diesem Beispiel zu bleiben: Wenn technisch-kulturell hervorgebrachter Mais dann auch noch als Ressource für Biokraftstoff verwendet werden soll, kann entlang der Diskussion von „Teller oder Tank“ ein Zielkonflikt der Bioökonomie nachvollzogen werden: Die Anbauflächen der Erde sind begrenzt und es sind diese planetaren Grenzen, die zu umkämpften Räumen der imaginierten Zukünfte werden. Wenn von einer wachsenden Weltbevölkerung ausgegangen wird, dann gibt es auch weltweit einen erhöhten Lebensmittel-, Energie- und Rohstoffbedarf. Sollte nun tatsächlich eine Transformation der Wirtschaft im Sinne der Bioökonomie stattfinden, wird eine gigantische Menge an Biomasse – und entsprechende Äcker, um diese zu produzieren – benötigt, um den Bedarf der Weltgesellschaft zu decken, wobei auch über „die extrem ungleiche Ressourcenbeanspruchung“ und „die globale Verteilungsdimension“32 dieser im Kapitalismus lebenden Weltgesellschaft nachgedacht werden muss. Gerhard befürchtet, „dass vor allem die Armen des Globalen Südens die Zeche für eine verstärkte Nachfrage nach Biomasse zahlen müssen.“33 Daher sind es nicht nur Fragen nach menschlichem Zugriff auf Natur und Leben, nach der Vormachtstellung Weniger durch Wissen und Patente, die in den Laboren der Bioökonomie verhandelt werden, sondern es ist auch ganz praktisch eine Frage danach, an welchen Orten, bzw. auf welchen Äckern dieser imaginierten Zukunft Biomasse wo, für wen und wofür produziert werden soll. Somit treten die umkämpften Räume der Gegenwart mit denen möglicher Zukünfte im Labor als Heterotopie in Verbindung.

So zeigt sich abermals, dass „die gesellschaftspolitische Rolle von Wissenschaft und Technologie im Sinne der Lösung von großen gesellschaftlichen Herausforderungen“34 zuvorderst technizistisch-innovativ interpretiert, im Modus kapitalistischer Interessen umgesetzt und ohne systemkritische Ambitionen weiterbetrieben wird. Außerdem ist erneut zu erkennen, dass die Frage, wer für wen welche Geschichte erzählt – und dabei Probleme identifiziert, Lösungen und Zukünfte imaginiert – unbedingt gestellt werden muss. Auch, wenn multiple Krise und Anthropozän die Menschheit an sich als geologischen Faktor kennzeichnen, fehlt diesem Diskurs jedoch eine differenzierte Sicht auf die Menschheit, eine Sensibilität dafür, dass nicht alle gleichermaßen an den erdsystemischen Krisen Verantwortung tragen, an Strategien des Umgangs mit dem Anthropozän partizipieren dürfen und/oder können und auch nicht alle im selben Maße von künftigen Veränderungen des Planeten betroffen sein, bzw. von den getroffenen Maßnahmen profitieren werden.

So erzählt der Narrativ einer grünen Ökonomie ausgehend von den sich ändernden erdsystemischen Materialitäten und unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit zwar von der Notwendigkeit zu handeln und Veränderungen herbeizuführen, doch entpuppt sich die so imaginierte Zukunft als ein „weiter so“ lediglich in einer anderen Farbe. Imaginiert wird ein „weiter so“, das vorrangig Innovation und Technik innerhalb des alten Dualismus Natur/Kultur nutzen möchte, um Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse in den kapitalistischen Mensch/Mensch und Mensch/Natur-Beziehungen aufrecht zu erhalten. Solche Hardwarelösungen entbehren dabei leider jeglicher Reflexion über diese schon so lange bestehenden Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse und der Bedeutung der ihnen zugrunde liegenden dichotomen Trennung von Natur/Kultur.

Allerdings werden gerade in neuen und anderen Erzählungen, durch Geschichten mit unterschiedlichen Handlungsabläufen, veränderten Formen des Wissens Möglichkeiten gesehen, der multiplen Krise der Gegenwart in einem veränderten Modus des Denkens und Handelns begegnen zu können. Da in vielen Ansätzen mitunter die Dichotomie von Natur/Kultur (nicht nur) für die Umweltprobleme der Moderne verantwortlich gemacht werden,35 bietet das Auflösen und Hinterfragen alter Dualismen großes politisches Potential36. In Anbetracht der multiplen Krise und durch Vorstellungen darüber, wo diese herrührt, welche Narrationen und Denkmuster ihr zugrunde liegen und in der diese Krise herbeigeführten Gesellschaftsform namens Kapitalismus so tief verankert sind, wird erkennbar, dass es nicht die entfesselten technischen und ökonomischen Kräfte sein können, nicht ein Fortschreiten und Verbreiten dieser Kultur sein kann, welche einzig Auswege aus der Krise aufzuzeigen vermögen.37 Die aus solchen Narrativen der Gegenwart hervorgehenden Imaginationen sind mit Blick auf ihre Genealogie zu hinterfragen.38 Um die Krisen der Gegenwart überwinden zu können, sind vielmehr „gesellschaftliche Veränderungen in Richtung einer „moralischen“, solidarischen, genossenschaftlichen Ökonomie gefordert“.39 Wenn die gegenwärtigen und globalen Krisendynamiken als ein kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsverhältnissen inhärentes Kernproblem aufgefasst, also als ein kulturelles Problem, als ein Problem der Denktraditionen erkannt – und nicht ausschließlich an erdsystemischen Materialitäten abgelesen – werden, dann ergeben sich aus solchen neuen Erzählungen auch andere Imaginationen von Zukünften, eröffnen sich Freiräume für die Gestaltung postkapitalistischer Zukünfte.40

So möchte auch die in diesem Text vorgenommene Erzählung mit einem hoffnungsvollen Ausblick schließen.

Denn letztlich geht es um den Umbau der kapitalistischen Industriegesellschaft im Weltmaßstab.41 Nun stellen aber Wissenschaft, Weltmarkt und Politik vom Westen dominierte Institutionen dar, die dem Rest der menschlichen und nicht-menschlichen Welt ihre Ordnungsentwürfe globaler Verhältnisse aufzwingen42 und dabei nicht erkennen können oder wollen, dass unser Lebensstil auf Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnissen beruht und unsere hierfür grundlegenden Denkkategorien – die Trennung von Natur/Kultur – keine ewig währenden Wahrheiten, sondern historisch bedingte sind.43 Daher müssen an den nichtinstitutionalisierten Orten, in kleinen Gruppen, in unterschiedlichen Räumen, eigene, diverse Geschichten erzählt werden, sodass auch die Imaginationen dessen, was herbeigeführt werden soll, sich von den Erzählungen der allzu dominanten Sprecher:innen, von den Narrativen eines kapitalistischen Hegemon unterscheiden. So müssen neue und vor allem herrschaftsfreie Ordnungsentwürfe entstehen, in denen die Beziehungen und Positionen von Mensch, Natur und Technik, von Wohlstand und gutem Leben, von dem Verhältnis belebter und unbelebter Materie und von Wissen überhaupt, umstrukturiert werden können und dürfen.44 Genau dafür ist es „dringen notwendig, gemeinsam und neu, quer zu historischen Differenzen und zwischen allen möglichen Wissensformen und Expertisen zu denken.“45

Daher gilt der letzte Hinweis dieser Erzählung einer gewissen chinesischen Enzyklopädie, welche Erwähnung in Borges (1966) Schrift „Die analytische Sprache John Wilkens“ findet und auch von Foucault (1974) im Vorwort zu „Die Ordnung der Dinge“ aufgegriffen wird.46 Sie soll den Lesenden als ein inspirierendes Beispiel eines Ordnungsentwurfes dienen, welcher zunächst befremdlich wirken, dadurch jedoch auch die Dringlichkeit der Hinterfragung der in einem selbst festgeschriebenen Ordnungen aufzuzeigen vermag:

„die Tiere, die sich wie folgt gruppieren:

a) Tiere, die dem Kaiser gehören,

b) einbalsamierte Tiere,

c) gezähmte,

d) Milchschweine,

e) Sirenen,

f) Fabeltiere,

g) herrenlose Hunde,

h) in diese Gruppierung gehörige,

i) die sich wie Tolle gebärden,

k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind,

l) und so weiter,

m) die den Wasserkrug zerbrochen haben,

n) die von weitem wie Fliegen aussehen“

(Borges, 1966)47


Biografie

Nils Mojem

Nils Mojem hat seinen Kombi-Bachelor in den Fächern Germanistische Linguistik und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin gemacht und studiert dort seit 2018 im Master Kulturwissenschaft. Er ist seit 2020 als studentischer Mitarbeiter am Zentrum für Technik und Gesellschaft der TU Berlin als auch am Institut Futur der FU Berlin tätig. Stets im Kontext nachhaltiger Entwicklung und sozial-ökologischer Transformation und Umweltveränderungen situiert, reizt ihn besonders eine Position im „Dazwischen“ – an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen und den Berührungspunkten von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

Unter der Haut der Stadt – Daniel Kuhnert und Joshua Guiness

Die Arbeit Unter der Haut der Stadt dokumentiert das Erleben infrastruktureller Hohlräume unter den Straßen Berlins, die Daniel Kuhnert und Joshua Guiness bei Expeditionen in die dunklen unterirdischen Gänge erkunden. Die literarischen Auszüge spiegeln dabei eine Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Erfahrung von Grenzüberschreitungen, die sie dabei durchlaufen.

„Ich sehe nichts, stehe auf einer Treppe, weiß nicht wie groß der Raum ist, von hinten Geräusche, mein eigenes Echo? Ok, ich bin alleine. Was ist das? Taubenkot? Menschenkot? Egal, die Füße rauf, es ist nur Erde, halb so wild, zur Ruhe kommen, umgucken, hier geht‘s nicht weiter.“

Im Innern von Betonbrücken, Autobahnpfeilern und Kanalisationsschächten verbirgt sich ein Netzwerk aus Hohlräumen. Die massiven Infrastrukturbauten unserer Städte sind hohl. Hunderttausende Kubikmeter umbaute Luft, eingeschlossen in Stahlbeton, bilden ein Patchwork losgelöster Interieurs ohne jeglichen Bezug nach Außen. Eine gänzlich unsichtbare Ebene der Stadt schlummert innerhalb ihrer festen grauen Materie vor sich hin. Diese unsichtbare Welt kommt einer Art Unterbewusstsein der Stadt gleich. Sie ist das, was per Definition immer unter der Oberfläche bleibt, deren Existenz nicht einmal wahrgenommen wird. Eine Welt, die nur Dunkelheit und Dreck beherbergt. Im Innern wohnt das Verdrängte, Vergessene, Unbekannte.

„Ich bin bedeckt mit Schmutz und Taubenkot. Um die Taubenskelette haben sich Maden gesammelt, die mittlerweile auch tot sind.“

Sie mäandrieren nomadisch umher. Sie durchqueren Beton, schneiden durch die gerasterte Substanz der Stadt und lösen aktiv ihre Barrieren auf, indem sie neue Passagen durch sie erfinden. Alle Ebenen der Stadt bespielen! Ihre weichen, fragilen Körper dienen ihnen als Instrumente der Erschließung: verbiegen sich, schmiegen sich dem Stein an, klettern, kauern und kriechen. Mittels Werkzeug werden sie zu Cyborgs. Das Überqueren physischer Barrieren ist hier auch das Überqueren des normativen Konstruktes dessen, was ein Körper kann, darf und wie er zu domestizieren ist. Die Betonhaut unserer Stadt markiert die Trennung der zivilisierten Gesellschaft und der feindlichen, unerschlossenen Kehrseite in ihrem Inneren. Beginnt man diese Haut als eine Schwelle zu begreifen, überschreitet der Körper das Sittliche, Ergonomische und setzt sich dem Feindseligen, dem Abgeschiedenen aus. Neue Räume benötigen neue körperliche Praktiken. Die Eroberung des Ungewissen ist immer auch ein Schritt ins Wilde, der den Körper in ein prekäres Umfeld versetzt – und manchmal unverhoffte Freizügigkeit gewährt.

„Meine Knie sind vom Kriechen wund. Hier sind mit Feuerzeug kyrillische Namen an die Decke geschrieben worden.“

Der Blick schärft sich. Sie scannen, filtern, kartieren. Hinterlassen Symbole, schaffen eigene Mythen. Man wird Tier: Mit geschultem Blick für die spezifischen Zeichen und Lücken in der Umgebung erschließt man sich ein Habitat. Dieses Immer-auf-der-Hut-Sein steht komplett im Gegensatz zum ruhenden Zustand, den uns das warme, sichere Wohnzimmer erlaubt. Alles bleibt gleich und doch sieht man mehr von der Welt – von dem in potenzieller Reichweite: Durch neue Referenzen der Wahrnehmung wird die Stadt größer. Wissensbestände wachsen und ermöglichen neue Handlungsspielräume, neue räumliche Praktiken, neue Routinen. So wie sich Stück für Stück das eigene Milieu ausdehnt, erweitert sich auch der mentale Möglichkeitsraum.

„Meine Augen tränen vom Staub. Trotz FFP2 muss ich husten.“

Staub und Feuchtigkeit. Das, was nicht ist. Die leblose Härte und der mineralisch kalte Geruch des Erdreichs, verschlungen von der totalen, referenzlosen Dunkelheit eines unendlichen Bunkers. Es ist im Sommer kühl, im Winter lau. Ein toter Raum ohne wahrnehmbare Fluktuation, in dem das Schwarz festgefroren im Raum hängt und Jahre im Stillen vergehen. Die Negation der Reizüberflutung der hochfunktionalen Gesellschaft: der Lichter und Farben, der Zeichen und Aufforderungen. Abgekapselt davon schärfen sich die Sinne und neue Dimensionen von Raum treten hervor. In der erblindenden Dunkelheit verschieben sich die sinnlichen Gewichtungen und der Mensch versetzt sich wieder in einen Zustand des Hellwachseins.

„Hier ist es so groß, dass jede meiner Bewegungen ein Echo auslöst, das ich einem nichtexistenten Anderen zuordne.“

Durch die Aneignung dieser Hohlräume wird Bedeutung geschaffen: Die abweisendste, inhumanste Umgebung wird plötzlich zu einem Milieu für das Leben gemacht – man überwindet seine eigenen Sitten. Hohlräume gewähren Unsichtbarkeit. Schutz vor den erwartungsvollen Augen anderer, Rückzug vor dem alles durchdringenden Netz der Überwachung, Ausnahme von den Zwängen zivilisatorischer Konventionen. All das schafft ein Innen für das, was von Außen nicht geachtet wird. In der kartierten, kontrollierten Stadt bleibt nichts dem Zufall überlassen. Der rationalisierte Funktionalismus kollidiert jedoch mit der Realität dieser Welt und gebärt dadurch Lücken, Risse, Geheimverstecke. An der Stelle größter Ausnutzung und Geschwindigkeit faltet sich die Oberfläche unserer gebauten Umwelt um sich selbst und umschließt dabei ungewollt Blasen. Das Netzwerk dieser Freiräume bildet eine Stadt in, unter und über der Stadt. Im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, dem allumfassenden, vor nichts Halt machenden Außen, bietet nur noch der Hohlraum im Inneren einen Moment der Stille. Im Auge des Sturms ist man frei. Ein Archipel des Widerstands schwillt bereits innerhalb unserer trägen Masse. Das Andere ist in uns.

„Mein Rücken schmerzt, die Decke ist zu niedrig. Das (einzige) Licht meiner Kopflampe wird schwächer.“

Alle Abbildungen: ©Daniel Kuhnert und Joshua Guiness.


Biografie

Daniel Kuhnert studiert im Master an der TU in Berlin Soziologie mit einem besonderen Interesse für Raum- und Organisationssoziologie. In seiner Freizeit ist er professioneller Flaneur.

Joshua Guiness ist Architekt, ausgebildet in Berlin, Madrid und Zürich. Derzeit liegt sein Interesse in der Entwicklung von Gegen-Narrativen zur herkömmlichen Lesart von Stadt und Raum, um bestehende Machtverhältnisse zu hinterfragen.

Ein Endlager für Kunst – Herr Clair Bötschi

Zwei Probleme, eine Lösung: die Planung eines Endlagers für Atommüll soll Kunstsammlungen entlasten, sowohl logistisch als auch finanziell. Eine große Idee, eigenwillig formuliert – Clair Bötschi erklärt wie es funktioniert! Purer Ernst oder Provokation? Künstlerischer Beitrag oder Projektidee?

Ein Endlager für Kunst

Ein Museum ist eine Heterotopie der Zeit. Es spiegelt die Kulturgeschichte wider und verhandelt kulturelle Relevanz immer wieder neu. Es speichert Zeit und bietet der Gesellschaft einen Raum zur Reflexion.

Das muss wohl in Zeiten von Foucault, der den Begriff Heterotopie prägte, gestimmt haben. Heute dagegen nähern sich Museen immer mehr der Norm des Zeitgeistes an. Relevanz wird durch den Markt der Aufmerksamkeit hergestellt. Die Ausstellungen werden bombastischer, größer und schneller. Mehr ist mehr. Ein Hoch auf das Wachstum, die Moral und den Zeitgeist.

Abb. 1: Von der griechischen Küste stammen die Wracks von Flüchtlingsbooten, aus denen der Künstler GuillermoGalindo seine Installation gemacht hat. (Bild © picture-alliance/dpa). Abbildungsnachweis: URL: https://www.hessenschau.de/kultur/documenta/highlights/der-sound-von-flucht-und-migration,gallindo-100.html (01.08.2021).

Museen und besonders Kunstmuseen sind nicht mehr Heterotopien und damit keine Gegenräume in einer Gesellschaft, die fortwährend auf Fortschritt und Wachstum setzt. Gerade der heutige Zwang, einen gesellschaftsrelevanten Beitrag zu leisten, wie es in der Zeitgenössischen Kunst zu beobachten ist und damit immer schnelleren moralisch-politischen Themen ein herzufallen, bietet nur einen oberflächlichen Raum der Reflexion und ist eigentlich nicht zu unterscheiden von einem Shopping-Center. Die Moden kommen und gehen und das, was relevant bleibt, wird ins Depot geschoben.

Wenn man den Begriff Heterotopie ernst nimmt und sich auf die Suche nach einem Gegenraum in der Gesellschaft macht, kann man diesen heute vielleicht am ehesten im Kunstdepot erkennen. Wer es schafft die sakrosankten Hallen zu betreten – dem eröffnet sich ein Ort mit einem eigenen Verständnis von Welt, Zeit und Geschichte. Kunstdepots sind Orte, die außerhalb des Zeitgeistes stehen und die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden.

Doch das Kunstdepot ist in Gefahr. Es wird zu einer immer größeren ökonomischen Belastung für die Museen. Gerade weil es eine Heterotopie ist – ist es nicht marktfähig und relevant. Zwar wird alle Jahre mal etwas Besonderes, fast Vergessenes im Kunstdepot gefunden und dann ans Licht geholt – aber über 95 % einer Sammlung liegt dauerhaft im Depot (Walter Grasskamp, Das Kunstmuseum, Eine Erfolgreiche Fehlkonstruktion, München 2016) und erblickt nicht mehr die Ausstellungsräume. Je nach finanzieller Ausstattung kümmern sich die Museen mal gut bis weniger gut um die kulturellen Hinterlassenschaften. So vergammelt langsam, aber sicher die Kunst und wenn nicht – verbraucht sie ungeheure Summen bei den einzelnen Institutionen. Da fleißig neue Kunst produziert und angekauft wird, gibt es ein immer größer werdendes Platzproblem. Wohin also mit dem teuren Edelmüll, wie die Wochenzeitung Die Zeit einmal titelte?

Abb. 2: Ausschnitt aus Teurer Edelmüll (Die Zeit, 21. April 2016). Abbildungsnachweis: URL: https://www.magazin-restkultur.de/teurer-edelmuell/ (30.07.2021).

Ein Endlager für Kunst ist die Lösung. Ein zentrales Depot für das künstlerische Erbe der Gesellschaft, um die Museen zu entlasten, die Depots zu leeren und einen wirklichen Gegenort, eine Mega-Heterotopie in der Kunst zu schaffen. Doch wo in Deutschland sollte dieses Endlager sein?

Wer sich mit Endlager-Suchprozessen auskennt, weiß, wie langwierig und schwierig die Suche nach einem sein kann. Deutschland sucht gerade ein Endlager für radioaktive Abfälle (Atommüll) und die Blockaden, Bedenken und Ablehnungen werden den Prozess auf Jahre hinziehen. Keiner will den Atommüll vor seiner Tür haben und das ist auch verständlich.

Abb. 3: Unbekannt/Joseph Beuys, Tag X, Plakat (Offsetdruck), 1984/85. Abbildungsnachweis: URL: https://www.bpb.de/apuz/333364/gorleben-als-kulturelles-erbe-die-anti-atom-bewegung-zwischen-historisierung-und-aktualitaet (30.07.2021).

Doch die Kraft der Kunst kann das ändern. Wie wäre es, wenn wir ein Endlager für Kunst und Atommüll zusammendenken würden und damit den bisherigen rein wissenschaftlich-technischen um einen kulturellen Prozess erweitern?

Durch die Kombination von radioaktiven Abfällen und Kunst ändert sich die Bedeutung und Ausstrahlung eines Endlagers. Das künstlerische und technische Erbe gilt es zu bewahren und nicht in Vergessenheit zu kippen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die Kommune oder Stadt, welche ein Endlager für Deutschland errichtet, einen Großteil der Kunstwerke, die schon jetzt nur in Depots liegen, von den anderen Bundesländern geschenkt bekommen würde – als kulturellen Ausgleich?

Das könnte einen Anreiz bieten, sich für ein Endlager zu entscheiden und würde zwei Endlagerprobleme lösen. Als Künstler und Ökonom befasse ich mich schon mehrere Jahre mit dieser Frage. Im Folgenden möchte ich die Region Stuttgart als erstes Endlager für Kunst und Atommüll vorschlagen und ihnen einen möglichen Standort anempfehlen.

Endlager Stuttgart

Am 28. September 2020 wurde der Zwischenbericht Teilgebiete von der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) veröffentlicht (https://www.bge.de/de/endlagersuche/zwischenbericht-teilgebiete/).

Ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Endlager für hoch radioaktive Abfälle in Deutschland und auch die Region Stuttgart – genauer der Stadtbezirk Bad Cannstatt ist mit dem sogenannten kristallinen Wirtsgestein (Granit und Gneis) noch im Rennen.

Abb. 4: Zwischenbericht Teilgebiete 2020 – Endlagerstandort in der Neckarvorstadt – Stadtbezirk Bad Cannstatt – Kristallinen Wirtsgestein (Orange). Abbildungsnachweis: Garmin, https://www.bge.de/de/endlagersuche/zwischenbericht-teilgebiete/ Interaktive Karte – Ausschnitt Baden-Württemberg, Stuttgart und Bad Cannstatt.

Zwar bemühte sich das Amt für Umweltschutz der Stadt Stuttgart zugleich um eine Untauglichkeitserklärung, es handle sich um ein Heilquellenschutzgebiet, aber fast jede Kommune, die in Deutschland betroffen ist, hat scheinbare Gründe gefunden, warum sie eben nicht geeignet ist. Das zeigt hervorragend die gesellschaftliche Haltung zu diesem Thema. Dabei hat Stuttgart neben den geeigneten geologischen Formationen auch die Human Resources zu bieten. Die Tunnelarbeiten von Stuttgart S21 sind fast fertig und es könnte somit zeitnah mit den ersten Bohrungen für ein Endlager begonnen werden. Die Karte vom Zwischenbericht Teilgebiete zeigt, wo der passende Untergrund ist. Stuttgart-Mitte, Zuffenhausen und Untertürkheim sind nicht geeignet. Ein perfekter Standort für das Endlager wäre der Stadtbezirk Bad Cannstatt, genauer das Gebiet des Kraftwerk Stuttgart-Münster in der Neckarvorstadt.

Schon jetzt ist das Kraftwerk ästhetisch ein Ort, wo Energie auf Gestaltung trifft. Die Architektur spricht eine brutale Sprache der Zeitlosigkeit. Die Travertinsäulen, die bestellt und nie abgeholt wurden, können in diesem Sinne auch als Symbol eines Gegen-Orts der Gesellschaft gesehen werden. Hier, zwischen Kraftwerk, Recycling-Hof und Travertinpark schlummert eine Heterotopie, die es aufzugreifen gilt und die durch das Ansiedeln des Endlagers ins Unermessliche vergrößert werden würde. Die Infrastruktur mit Straße, Fluss und Schiene (Eisenbahnviadukt) ist für ein Depot und Endlager perfekt. Hier könnten die Bergbauarbeiten zeitnah beginnen und der Schlund in das unterirdische Endlager würde sich öffnen. Später könnte die bestehende Kraftwerks-Architektur umgenutzt und umgebaut werden, sodass hier ein überirdisches Kunstdepot geschaffen werden würde.

Abb. 5: ENBW Heizkraftwerk Stuttgart-Münster. Abbildungsnachweis: URL : https://www.enbw.com/unternehmen/konzern/energieerzeugung/fossile-energie/standorte.html (30.07.2021).

Wichtig wäre dabei, dass der Ort an sich den Charakter von heute behält und nicht kulturell aufgewertet werden würde. Direkt hier könnte ein Endlager entstehen, welches eine wirkliche Heterotopie darstellt – kein totes urbanes Quartier wie überall sonst. Die Neckarvorstadt würde zum Endlager von Kunst und Energieerzeugung – genau dieser kreativen Gesellschaft.

Das Endlager in der Neckarvorstadt könnte aus drei Teilen bestehen. Der oberirdische Teil könnte als Kunstdepot genutzt werden. Von hier würden große Stollen in die Tiefe gehen zum zweiten Komplex, wo mittel und leicht radioaktive Abfälle gemeinsam mit Kunstwerken gelagert würden. Der dritte Teil des Endlagers wäre noch tiefer gelegen und würde Platz bieten für die 5000 Castoren mit dem hoch radioaktiven Abfall.

Abb. 6: Endlager Neckarvorstadt – Bad Cannstatt.

Dass dies gar nicht so abwegig ist, konnte ich 2019 auf einer künstlerischen Forschungsreise in das Zwischenlager Covra NV im niederländischen Vlissingen erfahren. Hier werden schon längst Kulturgüter und radioaktiver Abfall gemeinsam gelagert. Museen aus der Region können dies kostenlos beantragen und nehmen das Angebot gerne an. Denn sowohl der „Edelmüll“ als auch der radioaktive Abfall brauchen das Gleiche. Ein konstantes Klima, wenig Umwelteinflüsse und maximale Sicherheit. Während der radioaktive Abfall in Betonfässer gelagert wird, können die Kunstwerke dank des perfekten Klimas offen gezeigt werden. Was lässt sich daraus für Stuttgart lernen?

Es ist nicht nur möglich, Kunst und radioaktiven Abfall gemeinsam zu lagern, sondern wirtschaftlich sinnvoll. Dabei reicht es nicht das Museen kostenlos lagern können. Nein, das Stuttgarter-Endlager-Modell würde voraussetzen, dass sich die Eigentumsverhältnisse der Kunst ändern würden. Mindestens 50 % der Kunstwerke aus allen Depots in Deutschland, welche in öffentlicher Hand sind, sollten in das Eigentum der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) überführt werde. Das würde die Museen entlasten, die BGE zu einem der wertvollsten Unternehmen machen und das Endlager in der Neckarvorstadt zum größten Lager für Kunst in Deutschland. Natürlich müssten die anderen Bundesländer hierfür zusätzlich einen finanziellen Ausgleich schaffen, der die Erweiterung des Endlagers für Kunst ermöglicht und die dauerhafte und wiederkehrende Restauration der Kunstobjekte erlaubt. Wie genau das funktionieren könnte, ist noch offen. Klar ist, dass sich der Endlagersuchprozess durch die Erweiterung mit Kunst vereinfachen würde und eine Umsetzung wahrscheinlicher erscheint. Für den Atommüll sollten wir Verantwortung übernehmen – für die Kunst müssen wir das. Eine Gesellschaft, die das nicht einsieht – ist nicht zukunftsfähig. Stuttgart könnte als gutes Beispiel vorangehen und sich für ein Endlager bewerben. Worauf warten wir noch?


Biografie

Herr Clair Bötschi

Herr Clair Bötschi ist Künstler und Ökonom. Er arbeitet und forscht an der Schnittstelle von Kunst und Wirtschaft. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf einer künstlerischen Praxis, die ökonomische Strukturen nutzt, entwickelt oder verfremdet, um damit selbst Kunst zu produzieren. Daneben arbeitet er als Produktionsleiter für das Kunstfestival CURRENT– Kunst und urbaner Raum und hat sein Studio im Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart.

Über die normativen Rhythmen kollektiver Identität und ihrer Störung oder: Bedingungen der (Un)Sichtbarkeit von Kunst an Flughäfen – Imke Felicitas Gerhard

Der Text nimmt Kontrollrhythmen und Kunst an Flughäfen in den Fokus: automatische (Selbst)Disziplinierung und freiwillige Anpassung des eigenen Rythmus’ an den gläsernen Sicherheitsapparat Flughafen. Zentrum der Auseinandersetzung ist die Performance Safety Travelling von Nural Moser, bei der sie vor ihren Flugreisen eine Burka anzieht, ihre Verschleierung dokumentiert sowie Reaktionen darauf auf Instagram teilt. Ein Spiel der (Un)Sichtbarkeit wird eröffnet und diesem im Beitrag – kaum sichtbar im Hintergrund ablaufende – Ambient Art entgegengestellt.

Abb. 1: Art+Com Studios, Dance of the Clouds, 2018. 16 Elemente aus Aluminium, Algorithmisch in ihrer Choreographie gesteuert, Terminal 4, Changi Airport, Singapur. (Copyright: Art+Com Studios)
Abbildungsnachweis: Art+Com Studios, https://artcom.de/?project=petalclouds (04.06.2021).

Changi

Form, Bewegung, Licht und Musik, vereint in einer einzigen monumentalen kinetischen Installation im Flughafen von Singapur: Dance of the clouds – das sind sechs Skulpturen, aus jeweils 16 Elementen, die sich, in rhythmischer Korrespondenz stehend, harmonisch zu einer Gesamtinstallation vereinen. Mit Musik unterlegt, bewegen sich die Elemente zu einer algorithmischen Choreographie, die sie bisweilen sanft zu einem Wolken-Ensemble verbindet, um sie dann im nächsten Moment wieder zu zerteilen.1 Immer in Bewegung verändern sie den Raum, schaffen sie einen Raum, wie die Reisenden selbst, die sich, wie gespiegelt, so scheint es, unter ihnen rhythmisch bewegen, sich hier konzentrieren und dort wieder zerstreuen. Immer in Bewegung, wie Wolken eben. Ephemer. Vergänglich. Selten sind die kurzen bewussten Momente der Bewunderung für die Schönheit ihrer Formation, häufiger jedoch ihre Nichtbeachtung. Wolken oder Dance of the Clouds sind die ästhetische Bespielung des Hintergrunds, ist der Hintergrund selbst, der, weil er sich immer im Verhältnis zum Subjekt bewegt, sich dessen Wahrnehmung entzieht. 200 Meter lang, in imposanter Höhe platziert und dennoch kaum wahrnehmbar, weil sie mit dem Raum verschmelzen und dem Rhythmus, der diesen erzeugt.2 Wann wird Kunst am Flughafen dann aber sichtbar? – Wenn sie den Rhythmus dieses Raumes stört, ihn durchbricht? Tuguo’s Transit perfomances disturb given systems of order and reveal often invisible mechanisms of control […].“3 sagt Hans-Ulrich Obrist über Barthélemy Toguo, der mit seinen Performances an Flughäfen alles andere als unsichtbar bleibt, ebenso wie die Performance Safety Travelling der Künstlerin Nural Moser, die hier thematisiert werden soll. Wann nehmen wir Wolken wahr? Wenn sie sich verdunkeln und ein Gewitter aufzieht?

Exkurs: Panopticon?

„Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“4 Wenn Michel Foucault in seinem wohl prominentesten Werk Überwachen und Strafen die Funktions- und Wirkungsweise von moderner Macht beschreibt, dann „macht” er dabei etwas sichtbar, was sich trotz oder gerade durch seine Omnipräsenz, einer konkreten Wahrnehmung entzieht. Denn untrennbar von den Körpern, welche sie durchdringt und den Räumen, die sie besetzt, entzieht sich die von Foucault beschriebene Disziplinarmacht jeglicher Fixierung, jeglicher Lokalisier- und damit auch Sichtbarkeit. Eher verteilt als konzentriert, eher fluide als starr, eher intrinsisch als extrinsisch, oder: eher Individuum als König:in. Es ist die unsichtbare Mikrophysik der Macht, die die Individuen in den Räumen verteilt, sie in den selben diszipliniert und normalisiert und dabei, indem sie ihre Körper durchsetzt, ein Teil derselben wird.5 Macht ist dem Individuum, welches sich im Prozess der Disziplinierung erst subjektiviert, also nie äußerlich. Folglich wird es aber auch selbst zum Vehikel dieses Apparates, bestätigt und reproduziert in seinen täglichen Verhaltensweisen (unmerklich) das internalisierte Machtverhältnis.6 Anders formuliert: Indem das Individuum zum Subjekt wird (ein nie abgeschlossener Prozess), diszipliniert es sich selbst und gleichzeitig die es umgebenden Mitmenschen, mit denen es in Relation steht. Diese schmerzenden Unterwerfungsprozesse – wobei sich der Schmerz aus der Differenz zur Norm bedingt, sich also mal stärker, mal schwächer äußert – können nie losgelöst von den Räumen betrachtet werden, in welchen sich die Menschen bewegen und die zu ihrer Disziplinierung beitragen. Laut Foucault ist es die Anordnung des Klassenraumes, die Verteilung des Arbeiters am Fließband, die Architektur des Gefängnisses.7 Oder: der Aufbau des Flughafens?

Selbst unsichtbar, verteilt die Macht (dort) die Individuen im Raum, schafft Blickbeziehungen und koordiniert Bewegungen. Sie produziert den disziplinierenden Blick auf sich selbst und auf die/den Andere:n. Sie generiert die monotonen Rhythmen der Konformität. Die Macht, die sich selbst verbirgt, macht sichtbar:8 Das akzeptierte Normale und das sich widersetzende Abnormale.

Exkursion: Flughafen!

Der Flughafen: ein Ort, oder, um einen ähnlich prominenten französischen Theoretiker sprechen zu lassen, der Inbegriff eines, die Supermodernität charakterisierenden Nicht-Ortes (Marc Augé)9. Im Gegensatz zum (anthropologischen) Ort, der in klassisch soziologischer Definition als die Lokalisierung einer Kultur in Zeit und Raum 10 verstanden wird, ist der supermoderne Nicht-Ort im Gegensatz dazu geschichts- und identitätslos.11 Ein künstlicher, kein gelebter Ort. Ein Ort des Passierens, nicht des Verweilens – ein Ort der Anonymität und Einsamkeit.12 Meist ausgelagert in die Peripherie, losgelöst von Alltag und Gesellschaft, kontrastiert der Flughafen in seiner architektonischen Progressivität, in seiner Abstraktheit, in den Massen an Menschen, die er temporär beherbergt und bewegt, das Außen, welches er sich aneignet und zerstört.

Unwiederbringlich räumlich getrennt von jener, und doch als landschaftlicher Ausblick für sie/ihn behalten, überlässt sich die/der singularisierte und anonymisierte und doch in der dirigierten Masse geechote Reisende der temporären Haft in dem gläsernen Gefängnis, der Mobilität. Vielleicht nicht Gefängnis aber gefangen oder vielleicht auch nicht gefangen, aber festgesetzt. Stillstand. Lähmung. Warten. Zeit. Und gleichzeitig gelenkter Fluss, kontrollierter Rhythmus, koordinierte Bewegung, konzentrierte und von dort ausströmende Mobilität. Ein Knotenpunkt in einem dynamischen Netzwerk aus Verkehr, Handel, Kommunikation und Information mit direkter, Zeit und Raum negierender Verbindung zum nächsten seiner Art. Andere Nation, anderer Name, andere Landschaft, andere Zeit? Und doch irgendwie gleich: gleiche Kontrolle, gleicher Rhythmus, gleiche Anonymität, gleicher Starbucks.

Ankunft

Geleitet durch die, nicht weniger anonymisierenden, rigide lenkenden Straßensysteme, erreicht die/der Reisende den Flughafen, das temporäre Ziel, welches zugleich den Anfang bedeutet, der sich gerne mal verzögert. Durch die eigene Destination prädisponiert, gilt es die eine richtige Abfahrt zu nehmen, das Auto an einer spezifischen Stelle zu parken und den korrekten Terminal zu wählen. Progressiv, gläsern und leicht zeigt sich die Architektur von Flughäfen, die immer auch als Gradmesser des nationalen Fortschritts fungiert.13 Machtsymbolik, ohne konkrete Symbole? Die Architektur der Moderne, welche die Fassade als Bühne der Bedeutungskonstruktion, als applizierte Ideologie kritisiert und ihre Offenlegung verlangt, fordert eine ehrliche Architektur: Aufdeckung der Konstruktion, bestenfalls Preisgabe des Inhalts oder zumindest der Funktion.

Der Flughafen aus Glas ein Verrat? Illusion der Durchlässigkeit, des uneingeschränkten Zugangs, der Freiheit. Vielmehr Kontrolle, Identifikation, Überwachung. „In a way, the user of the non-place is always required to prove his innocence.“ 14 Gläserner als die Architektur ist das Subjekt, das sich sofort nach Betreten, rhythmisch von einem Punkt der Kontrolle – kurzer Stop in der freiheitlichen Konsumwelt – zum nächsten Kontrollpunkt bewegt, wobei es, vom indoktrinierten Sicherheitswahn getrieben, seinen Körper und seine Freiheit freiwillig der Überwachung überlässt.

Transit

Trans ire. Ort. Bewegung? Als eine Umgebung des Moments, beschreibt Marc Augé den Nicht-Ort, der einen von den identitätsbestimmenden Determinanten des Alltags temporär, durch die Anonymität des nur-dort-seins, befreit und einen paradoxerweise zugleich, auf eben dieselbe reduziert:15 Identität. Ticket, Name, Einwanderungsbehörde, Grenzkontrolle. Identifizierung. (Dis)approved. Abstrahierter Körper einer abstrakten Kontrolle, die auf Zahlen und Informationen basiert, auf den Daten des fragmentierten Körpers, auf dem biometrischen Code des Gesichts, den Papillarlinien des Fingerabdrucks, auf der völligen Durchsicht, die der Ganzkörperscanner gewährt. Mechanisch wird die Bewegung des/der Vorausgehenden adaptiert, sich ordentlich in Schlange gestellt, der Gürtel schon mal abgenommen, das Lachen eingestellt. Kooperation. Es ist der anonyme, normative Rhythmus der Kontrolle, der unterwirft: erzwungenes Stillstehen in der Schlange, dann ein erlaubter Schritt. Stop. Nochmal. Schuhe aus. Arme hoch.

Hyper-sichtbar – und wenn unauffällig, gleichzeitig unsichtbar sein. Es ist die anonyme Masse der Unauffälligen, die durch ein indirektes Vertragsverhältnis (solitary contractuality)16 Konformität unterschreiben und im Zuge dessen eine temporäre, kollektive Identität gewinnen. Und es ist dieser unsichtbare, aber allgegenwärtige Vertrag, dessen Sprache der Macht sich in den Körpern und in den Bewegungen der Subjekte codiert und deren Beziehung zueinander bestimmt. Der Nicht-Ort ist laut Marc Augé das Produkt dieser unausgesprochenen, aber rhythmischen, kontraktuellen Übereinkunft, deren Klauseln aus Anweisungen, Informationen, Nutzungshinweisen, Forderungen und Verboten bestehen.17

Rhythmus

„What is an ideology without a space to which it refers, a space which it describes, whose vocabulary and links it makes use of, and whose code it embodies? […]. […] what we call ideology only achieves consistency by intervening in social space and in its production, and by thus taking on body therein.”18

„Gestural systems embody ideology and bind it to practice. Through gestures, ideology escapes from pure abstraction and performs actions […].“19

Ewiges Werden, nie absolutes, abgeschlossenes Sein: der (soziale) Raum ist laut Henri Lefebvre, um einen dritten französischen Theoretiker zu zitieren, gleichzeitig (unabgeschlossenes) Produkt einer Vielzahl differierender Rhythmen und selbst Produzent dieser. Die aus diesen Prozessen hervorgehenden räumlichen Codes, deren Lesbarkeit und Umsetzbarkeit den Zugang zu einer spezifischen Gesellschaft/Gruppe bedingen, sind laut Lefebvre immer durchzogen vom unsichtbaren Code der Macht, der, indem er alle anderen räumlichen Codes subsumiert, sich selbst der Lesbarkeit entzieht.20

Vergnügen

Von den Pflichten einer, auf standardisierten Rhythmen basierenden, abstrakten Sicherheitskontrolle befreit (Duty-free jetzt?), schreitet die/der Reisende fort, auf ziemlich gelenkten Bahnen, angelockt von parfümierter Freiheit in ein sich verschließendes Inneres, das keine Reversion erlaubt. Kosmetika, dann ausgewählte Lebensmittel, exklusive Sonnenbrillen, Prêt à Manger. Wiederholung. Dann Kunst. 7000 ausgestellte Werke im Flughafen von Mumbai, mehr als 100 Kunstwerke in jenem von Seattle: Louise Nevelson, Frank Stella, Robert Rauschenberg. Dance of the Clouds. Ambient Art?21 Häufig korrespondierend mit der sie umgebenden leichten Architektur, zum Teil wie verwoben in diese, schweben großformatige Installationen namhafter Künstler:innen an internationalen Flughäfen und werden dabei so gut wie nie bemerkt. Fehlt den Kunstwerken die exklusive Präsentation? Bedarf es einer externen, es als Kunst ausweisenden, Rahmung – einem institutionellen Signifikanten? Ist es der Raum, der sie bezeichnet? Oder ist es vielleicht der Rhythmus, welcher die Rezeption bedingt? Jan von Brevern, dessen Einordnung von Kunst an Flughäfen als Ambient Art hier aufgegriffen wird, diagnostiziert sowohl eine veränderte Präsentation sowie Rezeption, die dem akzelerierten Zeitgeist aber vielleicht weitaus mehr entspricht als die anachronistisch anmutende, konzentrierte Versenkung, die das Museum, dessen Konzeption in den ästhetischen Diskursen des 19. Jahrhunderts reift, unverändert als Bedingung für eine erstrebte ästhetische Erfahrung einfordert.22 Nostalgie? – belegte doch eine Studie des Metropolitan Museum von 2001, dass die Verweildauer der Besucher:innen vor Werken im Museum im Durchschnitt nicht mehr als 30 Sekunden betrage.23 Mehr Ambient Art also? (In)direkt die Wahrnehmung hintergründig beeinflussen? Aber was, wenn der Hintergrund, den die Kunst inszenieren will, von Macht gestaltet wird? Der sukzessive Verlust, des als soziales Produkt verstandenen sozialen Raumes, ist laut Lefebvre Konsequenz eines homogenisierenden Kapitalismus, der abstrakte Räume, abstrakte Waren und ein abstraktes Subjekt schafft oder sie durch repetitive Rhythmen produziert. Augé (Non-Place) und Lefebvre (Abstract Space) zufolge sind es illusionäre Orte, die auf Wort und Zeichen und einer gewissen Übereinkunft basieren.24 Weniger als Befreiung aus der Kontrolle denn als deren modifizierte Fortsetzung ist der Konsumbereich des Flughafens zu verstehen, der die Reisenden rhythmisch beugt, konformiert und normalisiert. Und zugleich ist es das Subjekt selbst, dessen Körper und Wahrnehmung von Macht durchsetzt, diese rhythmisch reproduziert und sich dabei selbst diszipliniert. Rhythmischer Konsens (Vertrag) einer temporären, kollektiven (weißen) Identität. Ist Kunst am Flughafen – sind die Wolken in Changi – deshalb unsichtbar, weil sie mit diesem unsichtbaren sozialen Vertrag nicht brechen?

Störung: Safety Travelling

Post 9/11

Terror. Überwachung. Sicherheit. Freiheit. Totale Überwachung als Bedingung für Sicherheit. Sicherheit als Bedingung für Freiheit. Außerdem: Ausweitung des Sicherheitsbegriffs und dessen Beschlagnahmung durch eine weiße Definitionsmacht: Sicherheit, ehemals eng definiert als staatliche, nationale Sicherheit, die es militärisch gegen eine konkrete Gefahr nach außen zu gewährleisten galt, ist heute nicht mehr die Sicherheit des Staates, sondern des Individuums und sie wird nicht mehr national verstanden, sondern global. Abstrakte Risiken ersetzen eine konkrete Gefahr und verlangen nach einer permanenten proaktiven Sicherheitspolitik.25 (USA – War against terrorism.) Die angebliche Omnipräsenz der Risiken fordert die stetige (infinite) Ausweitung der Überwachung und eine Prävention, die sozialgestalterisch wirkt, also Gesinnungen und Lebensweisen beeinflusst.26

Abb. 2: Nural Moser, Performance Safety Travelling, Metamorphose auf Passfotos, 2017.
Abbildungsnachweis: Alia Lübben: Künstlerin Nural Moser: „Burka-Influencerin oder Staatsfeind Nummer Eins”, in: monopol, Magazin für Kunst und Leben, 12.11.2018, (04.8.2021). (Courtesy: Nural Moser).

(In)Security? Das Passieren des in der EU freiwilligen Ganzkörperscanners am Flughafen ist Ausdruck dessen. Safety Travelling heißt das Projekt der Künstlerin Nural Moser, die, indem sie sich am Flughafen mit einer Burka verschleiert und die gewaltvollen Reaktionen auf diese veröffentlicht, auf komplexe Machtstrukturen hinweist. Eine medial befeuerte Paranoia zeigt hier ihre gewaltvolle Wirkung. Moser ist das Außen, das „Fremde“. Sie ist „Gefährderin“ einer illusionären (weißen) Identität, die sich nur temporär und negativ, also durch die gemeinsame Ablehnung der Differenz und durch die Unterwerfung und Reproduktion unter die Rhythmen der Kontrolle bilden kann.

Als Eurhythmia bezeichnet Lefebvre das Zusammenspiel differierender, aber harmonierender Rhythmen. Und als Arrhythmia dessen Störung,27 die erst die Wahrnehmung der dominanten (ideologischen) Rhythmen erlaubt. Nural Moser stört durch (Un)sichtbarkeit. Sie entzieht sich den Rhythmen der Kontrolle und damit einer (westlichen) Macht, die ihre Gewalt in dem von ihr dominierten Feld des Visuellen (unter anderem Überwachung – Satelliten – Drohnen(krieg) – Werbung) entfaltet. Sie versagt sich also der Identifikation durch Überwachungskameras, rebelliert gegen einen durchsehenden Körperscanner und verweigert sich dem disziplinierenden Blick des Anderen. Durch den freiwilligen Akt des Verschleierns, wider der häufig vernommenen (westlichen) Kritik von links und rechts, die die Burka als Symbol der „Rückschritts” und der Unterdrückung verachten, ist es hier nicht ihr Körper, der „unterworfen” und „enteignet“ wird, sondern es ist der, im Namen der Sicherheit hergegebene, durchleuchtete, rhythmisch beherrschte, enteignete und abstrahierte Körper des Subjekts, auf den sie durch ihre Verweigerung aufmerksam macht. Bleibt andere, häufig kinetische Kunst am Flughafen im Gegensatz dazu meist deshalb unbemerkt, weil sie sich den unwahrnehmbaren, weil inkorporierten Rhythmen eines kontrollierenden Kapitalismus anpasst, und diese aufgreifend bestätigt?

Abb. 3: Nural Moser, Performance Safety Travelling, No body is free until the female body is free, 2017. Abbildungsnachweis: Alia Lübben: Künstlerin Nural Moser: „Burka-Influencerin oder Staatsfeind Nummer Eins”, in: monopol, Magazin für Kunst und Leben, 12.11.2018, (04.8.2021). (Courtesy: Nural Moser).

Ein Paradox zum Schluss: Nural Moser macht sich für eine (westliche) Kontrolle unsichtbar und erlangt dabei Sichtbarkeit. Störende Sichtbarkeit – keine anerkannte Sichtbarkeit. Anders formuliert: sie ist hypervisible.28 Wird ihr störendes, weil die kollektive, weiße Identität gefährdendes (Un)sichtbarsein jedoch als Kunst wahrgenommen, dreht sich das Verhältnis um: Die Störung hebt sich auf und Anerkennung stellt sich ein. Als Künstlerin identifiziert und akzeptiert wird das gewaltvolle Verhör eingestellt, der misstrauische Blick gesenkt und der Durchgang problemlos gewährt. Sie wird Teil der unsichtbaren Kunst an Flughäfen.

Alle Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung der Künstler:innen zur Verfügung gestellt.


Biografie

Imke Felicitas Gerhardt

Imke Felicitas Gerhardt studierte Politik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, wo sie momentan ihren Master in Kunstgeschichte abschließt. Der Fokus ihrer theoretischen Analysen liegt stets auf der Verschränkung von Machtverhältnissen und visuellen Regimen. Als Tänzerin ist es ihr dabei auch immer ein Bedürfnis, die Effekte dieser Verflochtenheit im Hinblick auf die Wahrnehmung und den Ausdruck des Körpers zu hinterfragen. Ihrem Interesse für Poesie geschuldet, versucht sich Imke Felicitas Gerhardt an einem experimentelleren akademischen Schreiben, da sie der Auffassung ist, dass Kritik nur eine Wirkung erzielen kann, wenn sie die Strukturen der Sprache und Kommunikation herausfordert, in der sich Ideologie versteckt.