David Wojnarowicz – Sex Series von 1989, 2024 – Nina Maier

Als Aktivist, Künstler und Autor im New York der 80er-Jahre erfuhr David Wojnarowicz die AIDS-Epidemie am eigenen Leib. In den Bildern der Sex Series (1989) thematisierte er seine eigene Krankheit, jedoch immer vor einem universellen, öffentlichen und politischen Hintergrund. Es handelt sich dabei um collagenartige Fotoarbeiten, die im Negativ, also mit invertierten Tonwerten erscheinen. Es ist bemerkenswert, wie das Fotonegativ als ursprünglich technisches Hilfsmittel im fotografischen Prozess eine entscheidende Rolle für die aktivistische Bildaussage einnimmt. Denn die Sex Series thematisiert auf formaler Ebene, wovon sie inhaltlich berichtet, nämlich dass die Dichotomie von Negativ und Positiv im Falle von HIV/AIDS über Leben und Tod entscheiden konnte. Die Frage ist, ob das Negativ als Bild eine Ausdrucksform des Aktivismus sein kann?

In New York City war die Aids-Epidemie in den 1980er und 90er-Jahren auf ihrem Höhepunkt. Die Öffentlichkeit sah in Aids damals eine Krankheit1 von „Randgruppen“ wie Homosexuellen oder Drogenabhängigen, was den Grad der Stigmatisierung parallel zu den Zahlen der Todesopfer in die Höhe schnellen ließ. 1987 – im selben Jahr, in dem Prinzessin Diana einem Aids-Patienten die Hand schüttelte und damit zur Entstigmatisierung der Erkrankung aufrief – erhielt der Künstler, Aktivist und Autor David Wojnarowicz seine eigene HIV-Diagnose. Wojnarowicz schuf bis dahin hauptsächlich Collagen und Malereien, doch als sein Freund und Mentor Peter Hujar, der im selben Jahr an den Folgen von Aids verstarb, ihm seine Dunkelkammer vermachte, begann Wojnarowicz auch rein fotografische Arbeiten herzustellen.

In einem aufwendigen Montageverfahren erarbeitete er die aus mehreren Teilen bestehende Arbeit Sex Series (1989). Es handelt sich um collagenartige Fotoarbeiten, deren prominentestes Merkmal ihr negatives Erscheinungsbild mit invertierten Tonwerten ist. Wojnarowicz belichtete Farbdias in einem Vergrößerungsgerät auf schwarzweißes Fotopapier, wodurch die Umkehrung von Hell und Dunkel stattfand.2 Durch Maskierungen und sehr präzises Arbeiten schaffte er es, die Bilder von Stadtansichten, Fortbewegungsmitteln oder Naturphänomenen mit kleinen runden „Peepholes“ zu kombinieren, die, wie die Okulare eines Mikroskops Blutzellen und andere verschiedene Referenzen, meist aber intime oder pornografische Darstellungen enthalten. Die Bilder sind auf einer dritten Ebene überblendet mit Textpassagen von Wojnarowicz selbst, in denen er zum Beispiel seine sexuellen Begegnungen verarbeitet, sowie Poesie oder Pressetexte, die von Ereignissen im Kontext der Aids-Epidemie berichten.

Im Folgenden soll analysiert werden, inwiefern die negative Bildsprache, welche die Sex Series als eigentümliches Hauptmerkmal bestimmt, mit der inhaltlichen Ausrichtung der Bilder und auch Wojnarowiczs politischer Haltung, die aus seinen Texten hervorgeht, korrespondiert. Denn durch das Negativ als Stilmittel thematisiert David Wojnarowicz‘ Sex Series auf formaler Ebene, wovon sie inhaltlich berichtet: Die Dichotomie von Negativ und Positiv kann im Falle von HIV über Leben und Tod entscheiden. Das fotografisch-technische Verfahren, die fotografische Materialität, wird mit der inhaltlichen Ebene der Fotocollagen in Verbindung gebracht und zum Instrument eines spezifischen Bildausdrucks erweitert. Es soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie besonders die invertierte Erscheinung des Negativs hier eine aussagekräftige, wenn nicht aktivistische Bildsprache findet.

Abb. 5: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.

Die Bilder, die David Wojnarowicz als Grundlagen für seine Montagen verwendet, gehören allesamt dem Bereich der Öffentlichkeit an. Es handelt sich beispielsweise um eine Landschaftsaufnahme mit Zug (Abb. 5), einen Wirbelsturm (Abb. 2), den New Yorker East River (Abb. 1 und 7) oder eine Luftaufnahme eines Flugzeugs mit Fallschirmspringern (Abb. 3). Das Thema der Bewegung scheint eine Rolle zu spielen, manchmal verkörpert durch ein Fortbewegungsmittel, an anderer Stelle durch die flüchtige, leicht verwackelte Aufnahme, so als hätte man sie im Vorbeifahren gemacht, wie beim Beispiel des Silos (Abb. 8).

Abb. 8: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.

Über dem Bild des wütenden Wirbelsturmes (Abb. 2) blendet sich ein weißer Text ein, in dem Wojnarowicz vom Sex mit einem Fremden berichtet. Er beschreibt sehr detailliert, fast ohne Punkt und Komma, dessen Kleidung und wie er ihn derer Schritt für Schritt entledigt. Das Lesen gerät in einen fluiden Sog, wie im Strudel des abgebildeten Sturms – bis plötzlich eine Art Realitätsabgleich stattfindet:

„and he kissed behind my ears and licked across my throat and across my face and down the bridge of my nose to my mouth where he put his warm tongue in and I have the secondary stages of Aids and the man on the T. V. who looks like he has a potatoe for a head is telling me and the rest of the country that I must supress my sexuality“3

Abb. 2: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.

Die Aufmerksamkeit verschiebt sich auf ein Fernsehgerät, das die private und intime Begegnung zu einem öffentlicheren Zusammenhang hin öffnet. Sie wird in einen größeren Kontext der Verantwortung gestellt, die vor allem jeder Art von Sex auferlegt wurde, der nicht eine langfristige und monogame Form der Sexualität implizierte. Nicht Promiskuität an sich, sondern ganz bestimmte, „abweichende“ Formen und Praktiken von Sexualität wurden mit dem Vorwurf der riskanten Fahrlässigkeit zu unterdrücken versucht.4 Generell aber sollte Enthaltsamkeit als der wirksamste Schutz gegen eine Infektion kommuniziert werden.

Insgesamt sechs runde Vignetten flankieren links und rechts das Bild. Wie durch Gucklöcher erhalten Betrachtende hier einen Einblick auf zwei Menschen, die sich küssen und berühren; auf Geldscheine und Münzen; den Ausschnitt eines Gemäldes, das den heiligen Sebastian darstellt, einen Pestheiligen der später zu einer queeren Ikone avancierte; einen Funkturm, der sich wohl auf die Medienberichterstattung bezieht; Zellen unter einem Mikroskop und der Röntgenaufnahme eines Embryos.

Während die Hintergrundbilder allesamt zu einem „Außen“ und „Öffentlichen“ gehören, gewähren die Gucklöcher, die einen viel privateren Blick versprechen, die Sicht auf etwas Inneres. Ein Guckloch, eine kleine Öffnung in einer Wand oder Tür, durch das man (heimlich) sehen kann, was auf der anderen Seite geschieht. Der Durchblick macht etwas sichtbar, was eigentlich nicht zu sehen wäre; und möglicherweise kommt etwas ans Licht, was gar nicht gesehen werden soll oder will. Etwas Verborgenes wird plötzlich sichtbar. Das Guckloch verbindet die Bereiche des Außen mit dem Innen, wie etwa bei einem Türspion; das Private mit dem Öffentlichen, wie etwa bei einem Blick durchs Schlüsselloch. Im Guckloch offenbart sich etwas, was abseits der Öffentlichkeit, abseits der Normen und Regeln der konservativen, heteronormativen Gesellschaft existiert.

Was die Peepholes zu sehen gewähren, sind Assoziationsmomente und Referenzen, die in Kombination gesehen ein Gesamtbild ergeben, das syntaktischen Regeln folgt.

„To me, photographs are like words and I generally will place many photographs together or print them one inside the other in order to construct a free-floating sentence that speaks about the world I witness.“5

Jeder Teil des montierten Bildes steht für einen Teilzusammenhang, der im Gesamten seinen Sinn entfaltet. Werden diese Einzelelemente, die Wojnarowicz hier als Worte bezeichnet, dann aus ihrem Kontext genommen, verlieren sie diese Bedeutung, die sie in ihrer syntagmatischen Zusammenstellung im Gesamtgefüge angenommen hatten.

Im Bild mit dem Wirbelsturm ist unten rechts die Röntgenaufnahme eines embryonalen Skeletts montiert, und darüber ein mikroskopisches Bild von Blutzellen. Beides sind wissenschaftliche Bilder, die einen Blick ins Innere des menschlichen Organismus, dessen Strukturen und Grundfunktionen gewähren.

„It’s like stripping the body of flesh in order to see the skeleton, the structure. I want to know what the structure of all this is in the way only I can know it.“6

Die Dinge auf ihre zugrundeliegenden Strukturen herunterzubrechen, um ihre genaue Funktionsweise und ihre Mechanismen zu erkennen und gegebenenfalls kritisieren zu können, wird besonders im Fall der Sex Series zu Wojnarowiczs Strategie: „I’m trying to lift off the weight of the preinvented world so I can see what’s underneath it all.“7 Es geht um die Erforschung dessen, was unterhalb der klar ersichtlichen Oberfläche existiert und (noch) keine Sichtbarkeit erlangt hat. Wenn David Wojnarowicz von der preinvented world spricht, so meint er eine Welt voller festgesetzter Werte, mit einer bestimmen Art des Denkens und des Blicks auf die Welt, mit Normen, die eingehalten werden müssen, um das System der Konventionen aufrecht zu erhalten. Eine Welt also, in der er für sich selbst als stigmatisierter Infizierter und Homosexueller ganz und gar keinen Platz sieht.

Dies spiegelt sich in der Verwendung des Fotonegativs als formales Symptom dieser Darstellung der Struktur der Dinge, des Skeletts und Grundgerüsts eines Zusammenhangs wider. Mit dem Negativ wird die sonst unsichtbare Grundlage des fotografischen Mediums und seine Funktionsweise in den Fokus gerückt. Das Negativ ist das Ur-Bild, das Eigentliche der Fotografie, das primäre Bild, das im fotografischen Prozess entsteht. Jedoch ist es im Vergleich zum Positiv ein weitaus unbeliebteres und weniger gesehenes Bild. Das Positiv ist das, was wir umgangssprachlich als Foto bezeichnen. Das Positiv ist es auch, das gesehen, vermarktet und verbreitet wird. Dem Negativ verbleibt dann nur noch die Rolle des Helfers, das einen Zwischenschritt im Prozess zum richtigen und gültigen Bild darstellt. Die Umkehrung der Licht- und Schattenverhältnisse im Negativ ist nicht nur auf formaler Ebene eine Irritation unserer Sehgewohnheiten, sondern bewirkt auch im übertragenen Sinne, dass die Welt aus ihren gewohnten Fugen gerät und sich in ihr düsteres, merkwürdiges und monströses Gegenteil verkehrt. Formal betrachtet sind die beiden Gegenpole Negativ und Positiv zunächst gleichwertige Teile, die sich genau gegenüberstehen. Doch durch die ungleiche An- und Verwendung sowie durch kulturelle Konnotationen und die pejorativen Assoziationen des Negativen hat sich ein klares hierarchisches Verhältnis und eine Asymmetrie gebildet.

Die Arbeit mit den Grundlagen des fotografischen Mediums ist hier die Voraussetzung für eine Grundlagenanalyse der Gesellschaft. Wie ist sie konstituiert? Wie bringt sie bestimmte Repräsentationen und Sichtbarkeit hervor und wie werden andere Daseinsformen unterdrückt? Was erlangt wie Sichtbarkeit und warum? Und was eben gerade nicht?

Die hellen Schatten und dunklen Lichter, von denen man angesichts des Negativs sprechen muss, stellen seine sprachliche Beschreibung vor Herausforderungen und Widersprüche. Es gibt keine Worte für das, was da beschrieben werden soll, weil das Negativ als Bild unseren Sehgewohnheiten kaum entspricht, und weil es der Welt, wie wir sie kennen, unähnlich ist. Zum einen spricht dies für das enorme bildliche Potenzial des Negativs, denn durch den charakteristischen Modus der Umkehrung ist es zu einem bildlichen Ausdruck befähigt, der die Möglichkeiten der Sprache und des Denkens überschreitet. Zum anderen steht es aber auch dafür, wie wenig Spielraum unsere Gesellschaft für Phänomene bietet, die sich sprachlich nicht greifen lassen, oder für Phänomene, die eben nicht den festgesetzten Normen entsprechen.

Es wird eine Umpolung von hierarchischen Strukturen bewirkt, die im Kontext der Sex Series eine besondere Tragweite entwickelt, denn die oben beschriebene Disposition des Negativs lässt sich vom formalen Erscheinungsbild auf die inhaltliche Ebene der Bilder der Sex Series übertragen, wodurch auf größere Zusammenhänge wie Ungleichbewertung und Unterdrückung hingewiesen wird.

„Describing the once indescribable can dismantle the power of taboo. Speaking about the once unspeakable can make the invisible familiar if repeated often enough in loud and clear tones and pictures.“8

 Nicht-normative Vorstellungen und Bilder von Intimität verbleiben in der preinvented world in der Regel unsichtbar. Werden sie nun doch, wenn auch nur durch kleine Gucklöcher, in den Bereich des Sichtbaren verschoben, erzeugt dies eine Irritation und Provokation, die eine Destabilisierung von festgesetzten Vorstellungen zum Effekt hat. Das Negativ wird zum Ausdruck einer Andersartigkeit, der die heterosexuelle, weiße Öffentlichkeit mit Stigmatisierung und Unterdrückung begegnete.

Besonders durch die Bilder von Sex in Wojnarowiczs Arbeit kulminiert sein politischer Aktivismus und die gesellschaftliche Dimension der Aids-Epidemie mit deren eigentlich privaten, persönlichen oder gar intimen Aspekten. Die Verbindung der beiden Seiten ist für Wojnarowicz offensichtlich. In seinem Buch Close to the Knives schreibt er:

„When I was told that I’d contracted this virus it didn’t take me long to realize that I’d contracted a diseased society as well.“9

An dieser krankhaften Gesellschaft kritisiert er die Unterdrückung von Lebensformen, die abseits der Konventionen einer bürgerlichen Gesellschaft existieren. In seinen vielzähligen Texten greift er Institutionen wie die Familie, den Staat und die Religion an und setzt sich mit sozialen und politischen Ordnungen auseinander, durch die viele Menschen ausgeschlossen wurden und werden. Das Bildermachen ist für ihn eine Möglichkeit, aus den Zwängen dieser Gesellschaft herauszufinden, sie herauszufordern.

„History is created by and preserved for rich white straight people. Views of the human body have been informed by this version of history to the point at which the functions of the body, such as sexuality have been reduced to a generic set of symbols that remain at odds with what we privately embody“10

Mit der Wahl der negativen Bildform wurde auch ein Instrument gewählt, genau diese „version of history“, mit der gleichsam eine bestimmte Version von Bildlichkeit einhergeht, aufzugreifen, sie umzukehren und zu kritisieren. Mithilfe des Negativs anders zu sehen, offenbart dann das Potenzial, durch Sichtbarmachung Veränderung zu bewirken und den Blick zu erweitern.

Abb. 4: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
Abb. 6: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.

Vor allem die Darstellung von Sex im Negativ, wie sie in den Bildern mit dem Wald (Abb. 4), dem Schiff (Abb. 6) oder dem Fluss (Abb. 1 und 7) zu sehen ist, spiegelt  die Alienierung, Entfremdung und Entmenschlichung von Homosexualität aus dem konservativen Blick heraus wider, und gleichzeitig ist diese Sichtbarmachung im Negativ ein Vor-Augen-führen und Anklagen dieses Blicks selbst.

Abb. 1: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
Abb. 7: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.

„To make the private into something public is an action that has terrific repercussions in the preinvented world.“11

Etwas privates in etwas öffentliches zu kehren, oder allgemeiner gesprochen, einen Teil einer dualen Struktur in sein Gegenteil umzukehren, hat enorme Auswirkungen auf diese gesellschaftliche Grunddisposition, die Wojnarowicz kritisiert. Mithilfe der negativen Bildform gelingt es ihm also auf die systematische Unterdrückung zu verweisen, und durch das Sichtbarmachen des Unterdrückten stellt er dar, wie der Umgang mit Aids von mangelnder, fehlender oder falscher Information geprägt war. Das Entgegensetzen des Negativs gegen einen „positiven Blick“ spiegelt dann auch die Polarisierung der US-Amerikanischen Politik und Kultur wider: Religiöse Traditionalisten wie der Politiker Jesse Helms, der aktiv der Aufklärung über Aids entgegenarbeitete, standen progressiven, säkularen Protagonisten gegenüber, die gegebene Strukturen für verhandelbar ansahen.12

Susan Sontag reflektiert in ihrem Buch Aids und seine Metaphern, das ebenfalls 1989 erschien, darüber, wie Haltungen gegenüber einer Krankheit gesellschaftlich geformt werden. Besonders virulent ist dabei die Kriegsmetapher, die im Allgemeinen häufig für Krankheiten verwendet wird.

Abb. 3: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.

Im Bild mit den Fallschirmspringern (Abb. 3) findet eine Art Invasion statt: Aus einem Flugzeug, das aus der Luft aufgenommen wurde, springen Fallschirmspringer über einer unbesiedelten Landschaft ab. In der unteren linken Ecke befindet sich ein Peephole, das eine Person zeigt, die über eine zweite, auf dem Bauch liegende Person gestützt ist. Das Wort „Invasion“ hat sowohl eine militärische als auch eine biologische Bedeutung. Die  beiden kulminieren in dem Bild durch die Montage, die Wojnarowicz vornimmt. Die Besetzung eines Territoriums durch eine (feindliche) Partei, hier aus der Luft, gerät so in den Zusammenhang der sexuellen Übertragung des HI-Virus, des potenziellen Eindringens von schädlichen Viren in einen Organismus.

Aids wird entsprechend der Kriegsmetapher als eine Krankheit wahrgenommen, die durch einen von außen kommenden Feind verursacht wird. Es ist nicht nur eine Infektion einer Einzelperson, sondern die Infiltration der gesamten Gesellschaft. Die Effekte, die dadurch ausgelöst werden, haben reziproke Wirkungen: Die Diagnose

„beleuchtet blitzartig eine Identität, die man Nachbarn, Arbeitskollegen, Angehörigen und Freunden sorgsam verheimlicht hatte. Sie bekräftigt aber auch Identität: In jener ‚Risikogruppe‘, die in den USA bisher am schlimmsten betroffen ist, nämlich bei den homosexuellen Männern, hat sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugt, aber auch die Erfahrung gebracht, daß die Kranken isoliert sind und von der Umwelt drangsaliert und verfolgt werden.“13

Das Othering, das die Krankheit mit sich bringt, kann also auch ein identitätsstiftendes Merkmal einer betroffenen Gruppe sein.

Zwischen Aids als Krankheit, Homosexualität und der medialen Beschaffenheit des von Wojnarowicz für die Sex Series gewählten Mediums lassen sich weitere metaphorische Parallelen ziehen. Die Inversion der Tonwerte als Hauptmerkmal des Negativs ist begrifflich verwandt mit einer veralteten medizinischen Beschreibung von Homosexualität. Im Duden findet sich die Bezeichnung „ein Invertierter“ für eine Person, die „homosexuell veranlagt“ ist.14 Die Umkehrung dient hier zur Beschreibung einer Abweichung von einer im Gegensatz dazu nicht verkehrten Art der Sexualität.

Weiter hat Aids mit dem Fotografischen metaphorisch gemeinsam, dass es sich um eine prozessuale Disposition und ein Denken in Stadien handelt.

„Aids, diese Krankheit, bei der Menschen als krank begriffen werden, bevor sie es sind; […] und die vielen den sozialen Tod beschert, bevor sie noch physisch tot sind […]“15

Diese Vorgängigkeit entspricht dem Negativ in seiner Rolle als Vor-Bild, einem Bild, das vor dem eigentlichen Positivbild existiert und dessen Grundlage ist. Es handelt sich um eine infizierte Sichtbarkeit, die existiert, noch bevor das positive Bild ausbricht.

In Close to the Knives deutet David Wojnarowicz die Verbindung seiner HIV-Diagnose zur fotografischen Materialität und zum Negativ ebenfalls an:

„These days I see the edge of mortality. The edge of death and dying is around everything like a warm halo of light sometimes dim somtimes irradiated. I see myself seeing death. It’s like a transparent celluloid image of myself is accompanying me everywhere I go.“16

Hier werden gleich mehrere Bezüge erkenntlich: Erstens stellt Wojnarowicz einen direkten Zusammenhang zwischen seinem Zustand und der fotografischen Materialität her: Das Zelluloidbild, also das Negativ, dient ihm als Metapher, um seinen entrückten, befremdlichen und merkwürdigen Zustand zu beschreiben. Zweitens stellt sich das Bild einer Verdopplung ein, wenn er schreibt, das Zelluloidbild seiner selbst begleite ihn überall hin. Diese Verdopplung kennen wir von Negativ und Positiv, und der Tatsache, dass eine Fotografie im Grunde aus zwei Bildern besteht, die untrennbar miteinander verbunden sind. Parallel zum Dualismus von Negativ und Positiv assoziiert Wojnarowicz den Dualismus von Leben und Tod. Er schreibt: „I see myself seeing death.“ Mit diesem Satz erzeugt er zum einen eine Betrachtung zweiter Ordnung, und zum anderen ein weiteres Paradox, das der oxymoronartigen Struktur des Negativs entspricht: Ich sehe mich selbst, wie ich den Tod sehe. Das Erleben des eigenen Sterbens ist eine unmögliche und unauflösbar widersprüchliche Vorstellung, analog zu den widersprüchlichen Lichtverhältnissen, die im Negativ sichtbar werden.

Jedoch befindet er sich, wie Wojnarowicz schreibt, am Rande der Sterblichkeit, das heißt in einem Zwischenzustand, der ebenfalls dem Negativ in seiner Helferrolle vergleichbar ist, wenn man bedenkt, dass das Negativ dasjenige Bild ist, das in seiner Transitfunktion zwischen einem Abbild der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst steht. Das Negativ befindet sich im Dazwischen, macht das Ungesehene sichtbar, präsentiert das Abwesende, macht das Unsagbare und Paradoxe ausdrückbar; genau weil es, wenn es als es selbst sichtbar wird, auch seine eigene Unterdrückung erkennbar macht. Das Negativ als Bild erzeugt also paradoxe Situationen und befindet sich oft genau im Dazwischen, indem es eine Doppel- oder Zweiseitigkeit und ihre asymmetrische Wertung aufzeigt.

Drittens eröffnet David Wojnarowicz mit seiner Beschreibung des „warm halo of light“ einen Bezug zur Lichtmetaphorik, die kulturgeschichtlich eine prägende Funktion innehat. Alles Helle, Sichtbare und Anwesende ist kulturgeschichtlich mit dem Positiven und Guten assoziiert. Das Negativ als die dunkle Seite der Fotografie dient hier als Metapher für den düsteren Schleier einer Krankheit, die sich über das Leben, das Bild und die Wahrnehmung dieses Mannes gelegt hat. Es ist ein infizierter Blick auf die Welt, der ein Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit und die gesellschaftlichen Bedingungen der Erkrankung in den Bereich der Sichtbarkeit zu verschieben vermag.

David Wojnarowicz’ Sex Series wirft einen Blick auf eine Welt voller Konventionen und Vorurteilen. Durch die Verwendung des Negativs und das Integrieren der montierten Peepholes als Gestaltungselemente wird etwas sichtbar gemacht, und gleichzeitig dessen eigentliche Unsichtbarkeit thematisiert. Durch die Umkehrung des Negativs soll genau das Sichtbarkeit erlangen, was sonst unterdrückt wird. So kann das Andere, die Abweichung für sich sprechen und neue Perspektiven aufzeigen. Was dadurch sichtbar wird, verändert den Blick auf die Welt – es ist nun ein Blick, der aus der Perspektive einer unterdrückten Minderheit gerichtet wird.  Diese Art der Umkehrung ist der Modus, nach dem diese Bilder funktionieren, und sie ist auch genau ihr Thema.

Sowohl die private als auch die gesellschaftliche Ebene werden in Wojnarowiczs Serie parallel geführt und das Thema der Sexualität wird mit der politischen und sozialen Dimension der Aids-Epidemie und den individuellen Erfahrungen als HIV-Infizierter verknüpft. Wojnarowicz macht dadurch das (eigene) Infiziertsein zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem, indem er es in einen größeren, öffentlicheren und politischen Zusammenhang stellt.

Die Gegenüberstellung von Privatem und Öffentlichkeit, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Leben und Tod, von Identität und Alterität wird durch die Verwendung des Negativs deutlich. Die gegebene Ordnung der Dinge wird bildlich umgekehrt und eine Irritation in der Wahrnehmung ausgelöst. Dies ist ein radikaler Akt, weil er Glaubens- und Wertesysteme der heteronormativen Gesellschaft auf den Kopf stellt. Es werden visuelle und gesellschaftliche Codes herausgefordert und die von Wojnarowicz sogenannte „preinvented world“ wird mit einer anderen, scheinbar fremden Welt konfrontiert, in der das Unterdrückte (Re-)präsentation erlangt. Die Umkehrung des Blicks und der Denkweisen wird zum Bildprogramm der Sex Series. Es wird dadurch umso sichtbarer, wie die Welt und unsere Wahrnehmung strukturiert sind. Erst dann können gegebene Denkmuster hinterfragt und neu gedacht werden. In dieser Betrachtungsweise werden die Werke der Sex Series zu aktivistischen Bildern.


Biografie

NINA MAIER (*1994) studierte Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften (BA und MA) an der Universität Konstanz. Zur Zeit arbeitet sie für eine private Kunstsammlung und promoviert an der Uni Konstanz zum fotografischen Negativ. Ihre Schwerpunkte sind die Theorie und Geschichte der Fotografie, zudem gilt ihr Interesse der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Nina Maier ist Kuratorin in der Kunsthalle Neuwerk in Konstanz.