Buchantwort – Pirmin Wollensak

Die Arbeit Buchantwort geht auf eine langjährige Auseinandersetzung mit Deniz Yücel zurück. Der Journalist war wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda fast ein Jahr lang in Untersuchungshaft in der Türkei. Seine Erfahrungen publizierte er 2018 in dem Buch Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Pirmin Wollensak baute bereits für seine Masterarbeit die Zelle Yücels im Maßstab 1:1 nach. Bei einer Lesung begegneten die beiden sich persönlich. Yücel hinterließ eine Widmung in Pirmin Wollensaks Ausgabe. Buchantwort ist die daraus resultierende E-Mail an den Autor und Aufarbeitung des Künstlers. Die Arbeit zeigt die mehr oder weniger lose beziehungsweise intensive Verbundenheit der beiden Personen und ihrer Werke auf sprachlicher wie visueller Ebene. Eine Antwort gab es nicht.

Hallo Deniz, 

ich schreibe dir, weil du deine Emailadresse auf meinem Buch hinterlassen hast. Ich bin der junge Herr aus Stuttgart, der sich die komische Signatur „Für Pirmin und seine Zelle“ gewünscht hatte. Du hast sie mit dem Zusatz „(welche eigentlich meine wahr[sic])“ unterschrieben. 

Ich schreibe dir so spät, weil ich zuerst dein Buch lesen wollte, um noch mehr über deine Haft und deine Geschichten zu wissen, bevor ich dich mit meiner Geschichte überrumple. Außerdem bin ich durch meinen Beruf während des Corona-Lockdown nicht weiter dazu gekommen diesen Text zu komplettieren – ich wünsche dir ein schönes 47. Lebensjahr: 

Mein Name ist Pirmin Wollensak und ich habe Architektur in Weimar, Tokyo und Stuttgart studiert. Während meines Masters beschäftigte ich mich immer mehr mit Kunst am Institut für Darstellen und Gestalten (idg) an der Fakultät für Architektur an der Uni Stuttgart. Nach einer intensiven Beschäftigung mit dem 1:1 und einem Praktikum in einem Atelier in Rotterdam (S. 1), beschloss ich meine Masterarbeit als einen Abschlussstein meiner Universitätslaufbahn unter dem Titel o.T. (Epitaph) anzumelden. Schon diese Handlung war im Zeichen meiner Masterarbeit und zu Arbeitsbeginn hatte ich einen Ofen (S. 2) gebaut für die Architekturmodelle meines gesamten Studiums. Ich verbrannte die Modelle; es war wahrhaftig ein Abschluss und zugleich ein Neubeginn. 

In diesem Ofen fing ich dann an die ersten Überlegungen für meine Masterarbeit zu konkretisieren. Ich baute eine Plastik für den heiligen Sebastian (S. 3) um zu veranschaulichen, dass sich die Axiome des Modellbaus schon an der Dicke einer Tischplatte – oder eben einem Stahlrohr und einem Stahlblech – verstehen lassen. 

Kurz darauf bohrte ich heimlich eine Serie von Löchern durch den gesamten Brandschutzabschnitt meines Ateliers, ich verband 6 Räume mit 5 Löchern und fasste diese mit Aluminiumrohren. Damit sie nicht weiter auffielen, verdeckte ich sie mit Steckdosenabdeckungen. Es war in gewisser Weise der Gegenpol zum Sebastian am anderen Ende der Maßstäblichkeit, denn das optische Wahrnehmen so einer Arbeit ist schlichtweg nur im 1:1 möglich.

Als sich die Frage stellte, was ich darüber hinaus analysieren würde, begann ich zu hadern… ich wusste, dass es eine raumgroße Arbeit sein musste, aber wusste nicht welcher Formulierung ich diesen Rang zusprechen sollte. Nur eine künstlerische Form hätte nicht genügt. Ich hatte bei Porsche angefragt, ob ich das lehrstehende Gebäude der ZEG (S. 4) in Stuttgart(-Zuffenhausen) mit einer Gordon-Matta-Clark-ähnlichen ‚Hausverschnitt‘-Arbeit bespielen dürfte, aber bekam auf Grund der begrenzten personalen Kapazität eine Absage.

Es war eines Abends, als mir mein Vater – der mir sonst auch oft Artikel aus dem Feuilleton der Welt zum Thema Architektur gibt – den Artikel zum 300. Tag deiner Verhaftung in die Hand drückte. 

Ich war sofort angerührt und riss mir den Grundriss deiner Zelle von der Titelseite ab. Ich entnahm nur die Zeichnung und den Artikel, denn ich wollte ihm nicht die ganze Zeitung abknüpfen. Nach einiger Recherche und Überlegung zeichnete ich deinen Grundriss nach, um die Zelle in 1:1 nachzubauen. Ich war fasziniert von der Vorstellung, dass du in deiner äußerst prekären Situation dazu kamst, den Grundriss deiner Zelle per Hand zu zeichnen. Ich wollte wissen, wie es wohl sei, die Dimension der Zelle physisch nachzuvollziehen. 

Ich stellte eine Anfrage an die Universität, ob ich die Zelle auf dem Campus an dem Jahrestag deiner Verhaftung ausstellen dürfe. Ich schrieb der Welt und gab ihnen über mein Vorhaben Bescheid, fragte nach redaktioneller und ggf. finanzieller Hilfe.

Für mich war die Zelle eine Studie im Rahmen meiner Masterarbeit, aber darüber hinaus auch eine grunddemokratische Geste, von welcher Aussage ich mir sicher war: Die Pressefreiheit ist eines der höchsten Güter unserer Demokratie. Die Meinungsfreiheit ist auch dafür da, um Leuten genau das zu sagen, was sie nicht hören wollen. 

Während ich auf die Antwort von der Welt wartete, meldete sich die Uni. Ein Mitarbeiter des Hörsaalmanagements sagte zu und stellte die Bedingung zum Einhalten der Landesbauordnung, allgemeiner Formalitäten und Zustimmung der Nachbarn. Ja, das war die offizielle Position der Universität für 43 Minuten, aber dann meldete sich der Leiter des Hörsaalmanagements per Email und selbst nach späteren Telefonaten mit dem Rektor war klar: „Die Universität Stuttgart als Ort der Wissenschaft und Forschung ist zur politischen Neutralität verpflichtet. Diese Vorgabe steht im Gegensatz zu Ihrem [meinem] Wunsch, die Zelle öffentlichkeitswirksam auf den Flächen der Universität Stuttgart zu positionieren.“ 

Ich berichtete der Welt über die veränderten Gegenheiten, doch bekam keine Rückmeldung. 

Frustriert über die Absage der Universität und das Auslassen einer Antwort der Redaktion, führte ich den Bau meiner Zelle weiter. Eigentlich hatte sich ja nichts für mich und meine Arbeit geändert. Vielleicht geriet mein Glaube an Institutionen ins Wanken, aber das war eben nicht von Relevanz. Ich bin Bildhauer/Student/Architekt einer freien demokratischen Ordnung und hatte mich dafür entschieden ein Manifest zu präsentieren, dies konnte mir keiner verwehren. 

Die Luft war natürlich trotzdem ein bisschen raus, denn ich hatte ja keinen Ausstellungsort mehr, also noch nicht einmal für meine gesamte Masterarbeit (den Ofen und alles was folgen würde). Ich haderte mit mir selbst und wusste nicht, ob die Redaktion mein Schaffen als zu opportun gesehen hatte und ich deshalb keine Antwort auf meine Schreiben bekam. 

Am Valentinstag saß ich in der fast fertigen Zelle in meinem Atelier, las dein Buch Wir sind ja nicht zum Spaß hier und fragte mich, wie lang’ du noch in Haft sein würdest. Ich wollte wissen, wie es ist im Nachbau deiner Zelle zu sein und zu denken, dass du in einem gleich großen Raum zur selben Zeit sein würdest. 

Als du am 16. Februar freikamst, fragte ich mich, wie sich die Arbeit nun verändert hatte. Ich stellte fest, dass die Zelle ein essentieller Teil meiner Masterarbeit geworden war. Nicht nur physisch, sondern auch in dem, wie sich meine Situation entwickelt hatte und ich wusste, dass ich sie fortentwickeln müsste. 

Ich suchte nach einem geeigneten Ausstellungsort, betätigte Anfragen an die Stadt Stuttgart, Galerien und andere Orte für die Präsentation meiner Masterarbeit. 

Nach der Absage für die Ausstellung der Zelle im öffentlichen Raum der Stadt Stuttgart (S. 6), war ich doch sehr enttäuscht. Ich empfand es als eine Absage der Bildhauerei gegenüber, denn ich kannte ja eigentlich die Einnahme des öffentlichen Raums durch die wöchentlichen Proteste der Kurden und der Stuttgart21-Gegner. Der Meinungsfreiheit gegenüber ein ‚Ja‘, der Kunst gegenüber ein ‚Nein‘ (so fühlte sich das an). Die Masterarbeit lehrte mich viel über öffentliches Recht und Demokratieverständnis. 

Als letzten Teil meiner Masterarbeit widmete ich Josef Süß Oppenheimer ein Monument. Oppenheimer war ein erstes Opfer des Antisemitismus, man ließ ihn 1738 in Stuttgart vom Volk erhängen, als der katholische Herzog Karl Alexander an einem Lungenödem verstarb. Sein Fall wurde unter den Nationalsozialisten im 1940 Film Jud Süß als Vorbild für den typischen, geizigen und volksverräterischen Juden. Ich stelle keine Anfrage für die Ausstellung dieses Käfigs an die Stadt, denn obwohl die Stadt schon seit Jahren nach einer Verschönerung des Josef-Süß-Oppenheimer-Platzes suchte, wusste ich nun, warum es der Stadt noch nicht gelungen war. 

Für die Abschlusspräsentation brachte ich meine Werke als räumliche Aphorismensammlung auf das Werksgelände der Baufirma Gustav-Epple in (Stuttgart-)Degerloch. Es war ein Zufall, dass die Firma ihr Hauptgebäude abreißen wollte und dieses leer stand. Es war ein Zufall, dass ich jemanden kannte, der das wusste und mir die Möglichkeit geboten wurde allen Werken überdacht genügend Raum geben zu können. Ein Loch im Dach ließ es auf die Zelle herabregnen, bei der Präsentation hatte sie schon Flugrost gefangen. 

Am Abend vor meiner Abgabe fertigte ich die letzten Züge der beiliegenden Dokumentation an, welche ich auch in dem Gebäude in einem Nebenraum präsentierte. Der Rundgang meiner Präsentation sollte dort enden und, um einfach in den Raum zu gelangen, nahm ich mit einem Freund ein Stück aus der Wand: eine Hommage an Gordon Matta Clark (S. 7), das letzte Stück Bildhauerei der Masterarbeit. 

Für die Absolvent:innenfeier schlug meine Professorin vor, dass man meine Arbeit nicht in dem Uni-Hauptgebäude (Keplerstraße 11) zeigen sollte, sondern vor den Ateliers, wo ich eingangs auch die Verbrennung meiner Architekturmodelle vorgenommen hatte.

Ich transportierte die einzelnen Arbeiten zurück an die Uni und der Flugrost deiner Zelle breitete sich aus. Ich entnahm Scheiben aus dem Hauptgebäude der Firma Gustav-Epple, um die Dokumentation auch draußen zu präsentieren. Ich war immer noch ein Außenseiter, aber wenigstens hatte ich es auf den Campus zurück geschafft. Um ehrlich zu sein, bin ich mir gar nicht sicher, wie viele Leute wirklich die Arbeit gesehen haben und große Werbung konnte und wollte ich wirklich nicht machen. 

Die Anerkennung kam durch die unabhängige Jury, welche den jährlichen Absolvent:innenpreis vergibt. Sie richteten in diesem Jahr einen Sonderpreis ein, nur für die Arbeit (https://www.architektur. uni-stuttgart.de/aktuelles/preise-auszeichnun- gen/studierende/winter-201819/#link523). 

Ich denke, sie haben das eigentlich nur wegen der Zelle gemacht, ich bin gespannt, was du darüber denkst. 

Ich wünsche noch einen angenehmen Abend, feierliche Grüße,

Pirmin * 

* Der Text wurde von der Redaktion in Absprache mit dem Künstler angepasst; sowohl die Seitenzahlen, als auch die Rechtschreibung wurden korrigiert; außerdem wurde gegendert.

Biografie

Pirmin Wollensak

Pirmin Wollensak studierte Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar, der Waseda-Universität in Tokyo und der Universität Stuttgart. In seinem Masterstudium in Stuttgart spezialisierte er sich auf das Themenfeld Kunst und Architektur. Dort unterrichtet er mittlerweile Bildhauerei und arbeitet nebenbei als Schreiner und Architekt. Schwerpunkte seiner künstlerischen Praxis sind Selbstreflexion und -entlarvung. Die Conditio Humana spannt einen Bogen zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und künstlerischer Narrenfreiheit. Seine Arbeitshaltung bezeichnet er gerne als Scharlatanerie (ital. ciarlare, reden) und sieht sein Œuvre als eine moderne Kabale.