Saskia Ackermann zeichnet in ihrem Aufsatz Das sind unsere Räume! die Entstehung von Gegenräumen durch feministische Kollektive aus dem Kunstfeld nach, die den Beteiligten eigene neue Handlungsräume eröffnen. So entstehen Räume, in denen sich Menschen, die von dominanten Strukturen marginalisiert, überhört und diskriminiert werden, angenommen fühlen, Erfahrungen teilen und gemeinsam Handlungsstrategien entwickeln können.
Für die erste Ausstellung feministischer Kunst nahmen sich die Frauen1 des Feminist Art Program gleich ein ganzes Haus: 1972 renovierten Judy Chicago und Miriam Schapiro zusammen mit ihren Studentinnen ein Haus in Los Angeles, um darin ihre Arbeiten zu installieren und präsentieren.2 Das Feminist Art Program ermöglichte es Kunststudentinnen, sich der Auseinandersetzung mit Kunst von und über Frauen zu widmen. Im Womanhouse realisierten sie ihre eigenen Formen künstlerischer Praxis, in der sie sich vorrangig gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen an Frauen annahmen. Diese inhaltliche Auseinandersetzung war insbesondere von zwei Aspekten geprägt: Zum einen wurden die persönlichen Erfahrungen der Beteiligten zum Ausgangspunkt künstlerischer Prozesse gemacht. Die gesellschaftliche Bedingtheit der individuellen Erfahrungen als Frau und als Künstlerin wurden in regelmäßigen Runden der Selbstbefragung und des Austauschs, Methoden des sogenannten consciousness-raising,3 herausgearbeitet. Zum anderen hatte die Kollaboration in der Gruppe einen hohen Stellenwert: Von den bereits genannten consciousness-raising sessions über die handwerklich-praktischen Tätigkeiten beim Renovieren des Hauses bis hin zur Entwicklung und Umsetzung der Installationen, Performances und Raumgestaltung ging es darum, die Tätigkeit der Einzelnen als Teil des Miteinanders zu verstehen:
“Brainstorming took place as a group, by ‚going round the circle’ to build on an idea, an image, a story. The ideas for the rooms were generated this way, as the women opened up about their experiences with domesticity. The texts for the performances were drafted as a group, and while some students had their own rooms to ‘decorate’, others collaborated in such a way that it was not clear who had contributed what.”4
Das Womanhouse verschob und irritierte die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, indem „der öffentliche Ausstellungsraum zugleich ein häuslicher Raum [war], wo konventionelle Ansichten über adäquate künstlerische Objekte über Bord geworfen wurden“.5 Das Haus verdeutlicht hier besonders eindringlich die Notwendigkeit sowie die Potentiale des Zusammenschlusses unter Menschen, die gesellschaftlich marginalisiert und unsichtbar gemacht werden. Gemeinsam ist es möglich Gegenräume zu eröffnen, in denen die persönlichen Perspektiven gezeigt und eigene Praxisformen verwirklicht werden können. Diese Realisierung von Idealvorstellungen über künstlerische Arbeit und ihre Präsentation wird im Kreise des Kollektivs für die Einzelnen möglich. Der Transfer des Erfolgs eines Projektes wie Womanhouse auf die individuelle künstlerische Laufbahn gelingt zumeist jedoch nur für wenige der Beteiligten. So verbleibt die Eröffnung neuer Möglichkeitsräume im Rahmen der kollektiven Praxis und eine strukturelle Verbesserung der Chancen von Frauen auf eine finanziell tragende berufliche Laufbahn als Künstlerin bleibt aus.
Sowohl der Umfang des Projekts – die Vorbereitungen erforderten einen hohen zeitlichen, körperlichen und geistigen Einsatz – als auch die Aneignung eines ganzen Hauses stehen für die großen Ambitionen, die Chicago und Schapiro der bisherigen Unsichtbarkeit von Künstlerinnen entgegenstellen wollten. Das konnte nur im Kollektiv gelingen und erforderte außergewöhnliche Anstrengungen. Sie forderten von den Studentinnen bis an ihre Grenzen und darüber hinaus zu arbeiten.6 Dieser Bezug zur Notwendigkeit von Leistung und dem (Nicht-)Berücksichtigen der eigenen Kapazitäten hat sich inzwischen bei feministischen Initiativen innerhalb und außerhalb des Kunstkontexts geändert. Heute nimmt häufig gerade die Reflektion dessen, welche Arbeit geleistet werden kann und welche persönlichen Grenzen es gibt, eine große Rolle in den Formen der Zusammenarbeit ein.
In meiner eigenen Recherche zu feministischen Perspektiven auf Öffentlichkeit hat mich interessiert, wie Aktivist:innen und Künstler:innen öffentlichen Raum oder öffentliche Diskurse einnehmen, sich in dominante Strukturen der Öffentlichkeit wie zum Beispiel die parlamentarische Politik begeben oder aber eigene, dem entgegengesetzte Sphären des Verhandelns gemeinsamer Interessen herstellen, also Gegenöffentlichkeiten, wie sie beispielsweise in Protestbewegungen entstehen.7 In der Geschichte feministischer Kämpfe nehmen das Heraustreten von Frauen aus dem privaten Bereich (Haushalt, Familie) sowie das Einfordern der öffentlichen Diskussion von Themen wie (Frauen-)Gesundheit, Schwangerschaft, Kindererziehung, Sexualität und sexuelle Gewalt ganz zentrale Rollen ein.8 In Gesprächen mit Feminist:innen, die in aktivistischen und/oder künstlerischen Gruppierungen organisiert sind, erzählten mir viele, dass der besondere Wert solcher Zusammenschlüsse für sie in der Art liege, wie Feminist:innen sich darin aufeinander beziehen. Dazu gehört an erster Stelle die Möglichkeit des Teilens und gemeinsamen Herausarbeitens bestimmter gesellschaftlich vermittelter (Diskriminierungs-)Erfahrungen wie Sexismus, Frauenfeindlichkeit oder Heteronormativität. Anne May betonte im Gespräch die Notwendigkeit dieses Teilens:
„Es ist so wichtig irgendwann die Erfahrung zu machen, dass es nicht nur ich selbst bin, die denkt, es läuft etwas verkehrt. […] Dafür ist Vernetzung auf dieser grundlegenden Anerkennungsebene wichtig. Sodass die persönliche Erfahrung auf eine kollektive Ebene gebracht wird und wir merken, dass es ein breites gesellschaftliches Phänomen ist.“9
Aber auch die Verteilung aller Formen von Arbeit, die zusammen mit der politischen und/oder künstlerischen Arbeit anfallen, wird in den Gruppen ernstgenommen. Eine wichtige Frage dabei ist, welchen Platz Emotionen in der gemeinsamen Praxis haben und inwiefern diese durch emotionale Arbeit kollektiv verarbeitet werden. Die kollektive Arbeit erhält so einen Wert an sich. Sie wird zu einer unterstützenden Struktur der Mitglieder und dieses Innenleben, dieser Raum des Miteinanders, nimmt für die Beteiligten oft eine größere Bedeutung ein als die Produkte dieser Arbeit. Die erfolgreiche Durchführung einer Veranstaltung, die Organisation einer Demonstration oder die Präsentation einer Ausstellung sind dann vielmehr selbst Momente, in denen die Strukturen dahinter, also die Beziehungen der kollektiv Organisierten, gestärkt, gefeiert und wertgeschätzt werden – das Nach-Außen-Treten, Sich-Zeigen und Raum-Einnehmen ist zwar für Aktivist:innen und Künstler:innen gleichermaßen wichtig. Die empowernde Rückwirkung auf die Akteuer:innen selbst hat aber eine größere persönliche Bedeutung.
Für die Gestaltung und Entwicklung der solidarischen und persönlichen Beziehungen (nicht nur) unter Feminist:innen haben bereits viele Gruppierungen Methoden und Strategien entwickelt.10 Einige davon hat Alex Martinis Roe in ihrem Projekt To Become Two (2014–2017) gesammelt. In einer Serie von sechs Filmen beziehungsweise Filminstallationen verarbeitet sie ihre Recherchen zu verschiedenen feministischen Gruppierungen, die seit den 1960ern in Europa und Australien aktiv sind oder waren. Das gleichnamige Buch besteht aus zwei Teilen: der erste davon versammelt Essays, die von den verschiedenen communities erzählen, der zweite ist eine Art Handbuch mit Vorschlägen für die feministische kollektive Praxis, die sie gemeinsam mit den portraitierten Gruppen und Feminist:innen jüngerer Generationen entwickelt oder festgehalten hat.11
In It was an unusual way of doing politics: there were friendships, loves, gossip, tears, flowers… (2014) bezieht sich Martinis Roe auf Materialien der Gruppe Psychoanalyse et Politique (kurz: Psych et Po), die seit 1968 in Paris aktiv war. Deren Mitglieder legten ihrer politischen Arbeit eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Differenzen zugrunde, entgegen einer häufig in der politischen Linken postulierten „Gleichheit aller“. Und auch sie gingen von den ganz persönlichen, aber miteinander geteilten Erfahrungen aus, die sie in kollektiv vollzogenen Prozessen der Psychoanalyse identifizierten und bearbeiteten. So schreibt Martinis Roe: „[Psych et Po‘s] members used it as a space to create new language and narratives for themselves, and for femininity.“12 Diese Formen des Offenlegens geteilter Erfahrungen und dem damit verbundenen Finden eigener Narrative entspricht dem, was eingangs als consciousness-raising bezeichnet wurde.
Den Film A story from Circolo della rosa (2014) widmet Martinis Roe einer anderen besonderen Form der Soziabilität: „The political model of the Milan Women‘s Bookstore co-operative takes as its primary concern the relations between those who participate it.“13 Dieses Konzept wird als Affidamento bezeichnet und soll ein solidarisches Handeln in difference ermöglichen. Anstatt das Kollektiv als Ganzes und als Idee zum Imperativ des Miteinanders emporzuheben gilt es bei den Beteiligten des Milan Women‘s Bookstore Collective die persönlichen Beziehungen zwischen den Einzelnen zur Grundlage der Gemeinschaft zu machen. So unterwerfen sich die Mitglieder nicht einem gemeinsamen Verständnis des Frau-Seins, sondern erkennen die Autorität jeder Einzelnen, die Vielfalt der persönlichen Beziehungen und die menschlichen Differenzen untereinander an.
Sowohl die psychoanalytische Auseinandersetzung mit den persönlichsten und den gemeinsamen Erfahrungen bei Psych et Po als auch die Anerkennung der Beziehungsgeflechte und persönlichen Souveränität beim Milan Women‘s Bookstore Collective sind anspruchsvolle Formen des Sich Aufeinander-Beziehens, die ausschließlich unter Frauen bestehen. In beiden Fällen ist die Realisierung der eigenen Ansprüche an das Miteinander nur im Rahmen eines abgegrenzten Personenkreises möglich, in dem sich Vertrauen und Verlässlichkeit entwickeln können. Außerdem ist die geteilte Erfahrung des Frau-Seins (oder als Frau gelesen zu werden) eine notwendige Voraussetzung dafür, sich auf die jeweiligen Beziehungen einzulassen, die ein hohes Maß an Verletzlichkeit mit sich bringen. Doch innerhalb dieses abgesteckten Rahmens können utopisch anmutende Formen des Gemeinschaftlichen erprobt und etabliert werden.
Darüber hinaus wird in den Arbeiten von Martinis Roe aber auch deutlich, wie stark sich die einzelnen feministischen Gruppen aufeinander beziehen, wie sie untereinander sowie auch in andere gesellschaftspolitische Bewegungen hinein vernetzt sind. Ihr Anliegen ist es, eine Genealogie nachzuzeichnen, die feministische Theorie- und Praxisgeschichte mit all ihren Wandlungen und Kontinuitäten umfasst. Die jeweiligen Kollektive stehen nicht für sich allein, sondern sind in gemeinsame geschichtliche und soziale Kontexte eingebettet. Unabhängig von den konkreten personellen Überschneidungen, direkten Kontakten und organisatorischen Vernetzungen wird erkenntlich, dass das Bestehen feministischer Gruppen als abgeschlossene Frei- und Gegenräume eine historische und kulturelle Kontinuität hat, deren Erscheinungsformen sich jedoch selbstverständlich wandeln. Dies äußert sich auch in Formulierungen wie „feminism itself as ‚feminist genealogy‘“14 bei Martinis Roe und „Citation is feminist memory“15 bei der Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Sara Ahmed: Wo das Wissen und Handeln bestimmter gesellschaftlicher Gruppen historisch unsichtbar gemacht und in den hegemonialen Narrativen ausgeklammert wird, ist die Verortung des eigenen Handelns in der Geschichte feministischer Kämpfe selbst eine politische Notwendigkeit. Die bleibende Existenz feministischer Gegenentwürfe zu den bestehenden gesellschaftlichen Formationen bildet eine sozialgeschichtliche Konstante durch die jüngere Zeitgeschichte sowie über die verschiedenen Weltregionen hinweg.
Die Fantasie und Faszination feministischer kollektiver Praxis besteht als eigenständige Heterotopie, die auch für folgende Generationen Raum zur Umsetzung eigener Vorstellungen von Soziabilität und gesellschaftlichem Handeln bieten wird. Für die Beteiligten sind diese Räume notwendig, auch wenn sie separiert bleiben vom Rest der Gesellschaft. Die Verwirklichung des vermeintlich Utopischen in einem geschlossenen Kreis Gleichgesinnter bleibt der Beweis für die Möglichkeit des „Es könnte anders sein“ und gibt Grund und Mut zum Weitermachen.
Martinis Roe möchte mit ihrer Arbeit gegenwärtige und zukünftige Feminist:innen ermutigen, sich auf diese Geschichte(n) zu berufen und die bereits erarbeiteten Formen kollektiver Praxis zu übernehmen und weiterzuentwickeln. In To Become Two macht sie den heterotopischen Wert feministischer kollektiver Praxis deutlich. Hier und in anderen Projekten verfolgt sie ebenfalls einen eigensinnigen Weg des künstlerischen Arbeitens, mit dem sie sich von konventionellen oder weiterhin dominanten Vorstellungen des Kunst-Machens und Kunst-Zeigens emanzipiert. So weicht sie die Grenzen zwischen Produktion und Präsentation im künstlerischen Prozess auf und löst den Ausstellungsraum von der Vorstellung des fertigen Kunstwerks. Die Installation von Filmen versteht sie mehr als situation design, in dem Prozesse des Austauschs angestoßen werden können.16
Auf eine ähnliche Weise entfernte sich auch die Initiative LEVEL (2010–2018) von den Normen dessen, was als Kunst gilt. Wie beim Feminist Artist Program ist die Feststellung der andauernden Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb Ausgangspunkt des Zusammenschlusses und Motivation zum kollaborativen Handeln.17 Statt auf institutionalisiertem und pädagogischem Wege verfolgten die Künstlerinnen mit LEVEL diese Auseinandersetzung aber in selbstorganisierten Formen und legten besonderen Wert auf den Gedanken der Vernetzung und der Förderung von community-based projects. Die Ausstellung THIS IS NOT THE WORK (2014) nahm die Form eines Protestcamps mit Pavillons, Fahnen und Bannern an, das dazu einlud, sich mit Initiativen und Netzwerken auseinanderzusetzen, in denen Künstler:innen (insbesondere Frauen) kollektive und hierarchielose Strukturen verwirklichten (Abb. 7).18 Mit dieser Art der Raumgestaltung sowie der Verbindung mit Workshops und einer acapella performance eines Frauenchors eröffnete LEVEL über die Präsentation künstlerischer Praxis hinaus einen Raum für Austausch und Vernetzung.
Die Reihe We need to talk (2013 und 2014) verzichtete ganz auf das althergebrachte Format der Ausstellung und stellte den Austausch in der Gruppe und das gemeinsame Agieren in den Mittelpunkt.19 Der Gegenraum wurde hier in Form einer Picknickdecke eröffnet, die Gäste zum gemeinsamen Essen und Sprechen einlud (Abb. 8). Anstatt vollendeter Werke stehen hier die Teilhabe am Gespräch, das gemeinsame Denken und Diskutieren, der Moment der Gemeinschaft im Vordergrund – das Verständnis künstlerischer Arbeit schließt hier auch die Auseinandersetzung mit den Bedingungen kreativer Prozesse ein. Letztere sind der öffentlichen Veranstaltung nicht vorgelagert sondern entstehen im Moment des Zusammenkommens, der soziale Momente und die kulturelle Komponente des gemeinsamen Speisens miteinschließt. Auch in der Serie Food for Thought (2014), einer Reihe von Dinner Partys mit Diskussionen zu Feminismus und Frauen in Kunst und Medien, ist der Ansatz zu erkennen, die Beteiligten gewissermaßen ganzheitlich zu betrachten: Als Menschen, die gleichermaßen hungrig nach Wissen, gesellschaftlichem Wandel und gutem Essen sind. LEVEL gestaltete so zeitlich begrenzte und überdies mobile Räume, die den Beteiligten ermöglichte in einem abgeschlossenen, geschützten Raum eigene Themen zu platzieren und zu besprechen.20 Durch die Gestaltung und die Formen gemeinsamer Essenssituationen kann außerdem eine freundliche, einladende Atmosphäre hergestellt werden, die das Inhaltliche und das Politische nicht vom Wohlfühlen und vom Sozialen trennt (Abb. 9).
Der Versuch, die produktiven mit den reproduktiven Tätigkeiten zu verbinden, ist eine Gemeinsamkeit feministischer Gruppierungen in künstlerischen und aktivistischen Kontexten. Es wird versucht einer Trennung dieser Bereiche entgegenzuwirken, die in der kapitalistisch und patriarchal geprägten Gesellschaft vorherrschend und unhinterfragt ist. Diese Abspaltung reproduktiver Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Sorgen umeinander und für das körperliche und emotionale Wohlbefinden aller, von der vermeintlich eigentlichen Arbeit resultiert aus der Forderung nach einem allein rational zu führenden Diskurs und geht von einem autonomen Individuum aus. Eine solche Orientierung wirkt ausschließend und führt auch bei all jenen, die eigene Befindlichkeiten und Bedürfnisse ausblenden können, auf Dauer zu Gefühlen des Ausgebranntseins oder der Bedeutungslosigkeit. Feminist:innen bilden eigene Strukturen aus, innerhalb derer sie Arbeitsformen und die Beziehungen zueinander auf eine Art gestalten können, die den Bedürfnissen möglichst aller gerecht werden können.
Dieses Verständnis von künstlerischer Arbeit, das emotionale und organisatorische Arbeit als unreduzierbaren Teil des kreativen Prozesses einschließt, macht auch die meisten feministischen (ob Frauen, FLINTA* oder gemischtgeschlechtlichen) künstlerischen Kollektive aus und unterscheidet sich darin von anderen Zusammenschlüssen im Kunstfeld. Seit sich die professionelle Tätigkeit der Bildenden Kunst im 19. Jahrhundert vom Handwerk und aus dessen arbeitsorganisatorischen Kontexten gelöst hat, sind Künstler:innen in berufsspezifischen Fragen weitgehend auf sich allein gestellt.21 Die neue künstlerische Selbstbestimmung ging daher auch mit gesteigerten Konkurrenzverhältnissen einher. Um sich innerhalb dieser besser behaupten zu können tun sich seit der Moderne Künstler:innen zusammen. Meistens geht es dabei neben der Bündelung von Kompetenzen vor allem darum
„kulturelle Innovationen in sozialer Organisation zu kanalisieren und durchsetzungsfähiger zu machen. Die verstreuten Innovationskräfte gewinnen mehr und mehr Bewußtsein davon, daß sie individuell schwach sind, im Kollektiv hingegen an strategischer Stärke gewinnen. […] Noch heute sind es vor allem diese auf die Forcierung des schöpferischen Potentials hin ausgerichteten Vereinigungen, die nach Meinung des Publikums wie der Kunstschaffenden selbst das Etikett einer ‚künstlerischen‘ Gruppe, Gemeinschaft, Bewegung etc. ehestens verdienen.“22
Dagegen werden Zusammenschlüsse, die stärker berufsbezogene und wirtschaftliche Anliegen verfolgen, nicht als künstlerische Kollektive oder Künstler:innen-Gruppe verstanden. Mit der Thematisierung von kreativen Prozessen im Kontext ihrer ökonomischen Bedingungen und ihrer Einbettung in gesellschaftliche Machtstrukturen mit und durch künstlerische Mittel bestreiten feministische Kollektive selbstbewusst ihren eigenen Weg.
Wie sich neoliberale Werte und Vorstellungen von Leistung, Arbeit, Erfolg und Identität – nicht nur, aber ganz besonders – genderbezogen und – ebenfalls nicht nur, aber auf spezifische Weise – in der Kunst auswirken, thematisiert das Cake & Cash Curatorial Collective (seit 2020) als feministisches Austausch- und Rechercheprojekt an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und darüber hinaus.23 In den eigenen Arbeitstreffen, einer Veranstaltungsreihe mit Lesekreis, Inputs und Workshops, einer Ausstellung und der Start-Up-Gründung der Grind & Shine Inc. im Kunstverein Harburger Bahnhof (2021)24 macht das Kollektiv auf die Widersprüche aufmerksam, denen junge Künstler:innen ausgesetzt sind: Der Vorstellung der Selbstverwirklichung durch Kunst stehen prekäre Arbeitsbedingungen und ein krasser Individualismus gegenüber. Dadurch ist es nur einem ganz kleinen Kreis von Künstler:innen möglich, sich in ihrer Kunst selbst zu verwirklichen, und zwar denjenigen, die finanziell, körperlich, emotional und sozial die Bedingungen erfüllen, die es benötigt, um sich im Wettbewerb durchzusetzen und künstlerisch zu überleben. Bei Cake & Cash liegt ein Fokus auf den Erfahrungen und Arbeitsbedingungen im Kontext der Kunsthochschule, schließlich werden hier – nach der ersten großen formalen Hürde der Aufnahme als Kunststudent:in – wichtige Weichen für die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten gelegt. Dabei ist auch dem studentischen Kollektiv wichtig, sich mit ähnlich motivierten anderen Gruppierungen zu verbinden beziehungsweise verbünden, wie es insbesondere beim Pop & Squat Festival (2020) zur Vernetzung feministischer Initiativen an Kunst- und Gestaltungshochschulen unter dem Motto: „Das ist unser Raum!“, verwirklicht wurde.25 Die an diesem Austausch beteiligten Personen und Gruppen zeigen, dass an den Ausbildungsstätten der gegenwärtigen Kunstwelt – zunächst unabhängig voneinander und dann in Bezug zueinander – die Idee der feministischen Gegenräume aktuell besonders starke Resonanz erfährt und umgesetzt wird.
Das Herstellen der eigenen Räume und das Teilhaben an Diskursen über feministische Entwürfe eines rücksichtsvollen und solidarischen Miteinanders in kleinen und geschlossenen, räumlich und oft auch zeitlich begrenzten Gegenraum ermöglicht die Verwirklichung utopisch anmutender Ansätze und ist ein Zufluchtsort, oder: Ein safe space, in dem Erfahrungen geteilt und Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden können, die außerhalb dieser Räume gerechtfertigt werden müssen. Dafür ist die Abgeschlossenheit notwendig, doch gleichzeitig bleibt auch der Wunsch oder die Vision, über diese Heterotopien hinaus zu wirken – nicht nur das „Andere“ im „Eigentlichen“ zu sein, sondern aus den safe spaces und Gegenwelterfahrungen heraus in alle gesellschaftlichen Lebensräume hineinzuwirken. Feministische kollektive Praxis in der Kunst bleibt wichtige Quelle der Erprobung solidarischer und rücksichtsvoller Formen des Miteinanders. Sie wirkt durch ihre Radikalität aus dem Abgeschlossenen heraus zumindest punktuell als Inspiration für Veränderungen in anderen Bereichen des menschlichen Lebens. Sabeth Buchmann denkt angesichts der Auswirkungen der Covid-19- Pandemie im April 2020 an die Ausstellung Defiant Muses. Delphine Seyrig and the Feminist Video Collectives in France in the 1970s and 1980s (Reina Sofia Museum, 2019) zurück, die
„ein in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der Frauenbewegung offenbar ausgeprägtes Bewusstsein um die Notwendigkeit nicht nur der ‚Sorge um sich selbst‘ (Foucault), sondern auch der solidarischen Etablierung lokaler und internationaler Infrastrukturen inklusive kollektiv geteilter Erfahrungen und Wissenspraktiken zur Verbesserung der oftmals katastrophalen sozialen und gesundheitlichen Situation von Frauen und Mädchen erkennen [ließ].“26
Ein solches Bewusstsein ist auch in den gegenwärtigen verschiedenen und miteinander vernetzten künstlerischen Kollektiven zu sehen.27 Diese reagieren nicht nur auf die vielerorts „katastrophalen“ Lebensbedingungen von Mädchen und Frauen sondern prangern darüber hinaus tieferliegende, grundsätzliche Paradigmen und Machtstrukturen in Kunst und Gesellschaft an. Sie kritisieren das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminerungsstrukturen und deren gemeinsame gesellschaftliche Grundlagen sowie die enge Verknüpfung von patriarchalen und kapitalistischen Mechanismen, wie sie in Debatten um Care-Arbeit thematisiert werden.
Das Knüpfen von Beziehungen zwischen Akteur:innen (Einzelpersonen und Gruppen) feministischer künstlerischer Kollektive ist nicht nur zur Stärkung „nach außen“ wichtig, also um sich in der bestehenden Kunstwelt vernetzt oder verbündet besser behaupten zu können. Auch die gemeinsame Reflektion persönlicher oder gruppenbezogener Entwicklungen, des Scheiterns oder von Ratlosigkeit sind von besonderer Bedeutung für das Bestehen der Gruppen. Aus meiner eigenen Erfahrung als Mitglied der Experimentellen Klasse (seit 2019)28 sowie von anderen Künstler:innen, wie es zum Beispiel Charlotte Perka von In The Meantime (seit 2020)29 bei einem meiner Gespräche über feministische kollektive Praxis erzählt,30 kann ich berichten, dass es sich beim Streben nach diesen Idealen um einen andauernden und teilweise durchaus anstrengenden Lernprozess handelt. Gerade die eigenen Ansprüche, persönliche Grenzen über einen vermeintlichen produktiven Erfolg zu stellen, können oft nicht erfüllt werden. Der Wunsch, die künstlerische Praxis besser als bisher üblich und auf eine neue, eigene Weise zu gestalten, führt selbst immer wieder dazu, dass die Motivation die eigenen Kapazitäten überrollt. Die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in Arbeitsprozessen schnell untergeht, die Aushandlungen in der Gruppe, die oft dazu führen, dass wir das Gefühl haben langsamer voran zu kommen als im individuellen Arbeiten (Abb. 11), die Spannung zwischen kollektivem Agieren und dem Voranbringen individueller Vorhaben – all dies erfordert erst einmal mehr Kraft im Vergleich zum Arbeiten als Einzelperson. Die Beteiligten feministischer Initiativen sind sich dieser Herausforderung sehr bewusst und reflektieren kritisch, inwiefern sie den eigenen Ansprüchen genügen. Wichtig ist es, das, was als Scheitern empfunden wird, als Teil des Lernprozesses zu akzeptieren, der auch das Verlernen tiefsitzender Vorstellungen wie zum Beispiel von Leistung und Erfolg beinhaltet.
Kunst bietet wie kein anderes Feld die Möglichkeit eigene Formen des Miteinanders, des Handelns und des Gestaltens von Bildern und Erzählungen über sich selbst und die Welt zu entwickeln. Diese Potentiale sind gerade für marginalisierte Gruppen wichtig, um sich selbstbestimmt in der Gesellschaft zu bewegen und zu präsentieren. Doch wird das Wahrnehmen dieser Freiräume in der Kunst durch Individualismus und Wettbewerbsdenken, patriarchale, rassistische, klassistische, ableistische und weitere Machtverhältnisse beschränkt. Sie sind unter dem Deckmantel der „Freiheit der Kunst“ noch stärker verschleiert.31 Dagegen stellt sich feministische kollektive Praxis: Es geht darum eigene Formen künstlerischer Praxis zu erproben und das der Kunst inneliegende Potential für alle zugänglich zu machen.
Biografie
Saskia Ackermann
Saskia Ackermann hat ihren Master in Bildender Kunst an der Hochschule der bildenden Künste in Hamburg gemacht und studiert seit 2016 an der FernUniverstität Hagen Bildungswissenschaften im Bachelor. Einer der Schwerpunkte ihrer Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit feministischen Formen kollektiver Praxis. Eine ähnliche Intention verfolgt sie gemeinsam mit dem künstlerischen Kollektiv Experimentelle Klasse, die sich queeren, feministischen und intersektionalen Fragestellungen und Arbeitsweisen widmen.