#9 Editorial

Issue #9 Traces

Spuren erzählen Geschichten. Manchmal klar, manchmal brüchig, oft sind sie erst nach einer Rekonstruktion wieder lesbar. Sie markieren Übergänge zwischen Sichtbarem und Verborgenem, zwischen materiellen Ablagerungen und flüchtigen Gesten. Wie in der Fotografie Lichtbewegungen ganze Zeitverläufe aufzeichnen, so erzählen auch künstlerische Praktiken von dem, was bleibt, obwohl es längst vergangen ist. Die Spur wird zum Medium des Erinnerns und zur Aufforderung, genauer hinzusehen.

In den Beiträgen unserer aktuellen Ausgabe zeigt sich, dass Spuren weniger Dokumente als Prozesse sind: verdichtete Handlungen, sich überlagernde Schichten. Mal sind es Textilien, die Gesten und Wissen in ihre Fasern einschreiben. Mal Bildserien, die die unsichtbare Existenz möglicher Geister oder das Ausgelöschte politischer Erinnerung heraufbeschwören.
Wir präsentieren künstlerische sowie historische Recherchen, die anhand archäologischer Fragmente Geschichten von Gewalt, Verdrängung oder abrupten Brüchen rekonstruieren, ohne sie abzuschließen. Und Spuren, die sich nicht nur in Dingen, sondern auch in Körpern zeigen – in Narben, Erschöpfungen, Bewegungen, und so persönliche, politische und gesellschaftliche Ebenen verbinden.

In Issue #9 begegnen uns Spuren im Raum: als Überreste gescheiterter Ideologien, als unbequeme Architekturfragmente oder als stillgelegte Gebrauchsformen des Alltags, in denen sich Vergänglichkeit und Gegenwart überlagern. Auch ökologische Spuren rücken in den Blick, wenn Materialien wie Feinstaub oder Wasser sich als Träger einer vom Menschen geformten Umwelt erweisen. Andere Arbeiten widmen sich den Spuren von Migration und Erinnerung, den Weitergaben über Generationen hinweg und der Frage, wie Geschichte in neue Formen übersetzt wird. Wieder andere wenden sich der Interaktion von Tieren zu oder den Nachwirkungen ritualisierter Praktiken, die sich in Landschaften, Körpern oder Atmosphären niederschlagen.

Doch Spuren existieren nicht nur in der physischen Welt. Im digitalen Raum werden sie zugleich unsichtbarer und unauslöschlicher, verdichten sich zu Datenkörpern und algorithmischen Mustern, die neue Formen der Kontrolle erzeugen. Und in spekulativen Projekten entstehen poetische, futurale Spuren, imaginierte Archäologien einer Gegenwart, die zwischen Zerstörung und Möglichkeit oszilliert.

frame[less] widmet sich in Issue #9 diesen Politiken und Poetiken der Spur. Die Beiträge zeigen, dass Spuren nicht einfach Hinweise sind, sondern komplexe Verflechtungen: von Zeit und Körper, von Material und Erinnerung, von Verlust und Zukunft. Sie fordern uns heraus, nicht nur zu lesen, was sichtbar ist, sondern auch das zu erkennen, was sich in Zwischenräumen abzeichnet. Leise, beharrlich, unabgeschlossen.