Dein Papa ist nicht dein Papa, 2023 – Julia Walerian

In jeder Familie gibt es Geheimnisse. Mehr oder weniger schwerwiegende Dinge, über die nie oder nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Doch was ist, wenn durch die Enthüllung eines solchen Geheimnisses plötzlich die Hälfte einer Identität in Unwissen verschwindet, ein dunkler Fleck auf das Selbstbild geworfen wird und das Verständnis von Familie komplett neu gedacht werden muss? In ihrer Videoinstallation „Dein Papa ist nicht dein Papa“ setzt sich Julia Walerian mit dem schambehafteten Thema der Familiengründung durch Samenspende auseinander. In der virtuellen Gesprächsrunde kommen eine Solomama, ein Reproduktionsmediziner, ein Spenderkind, ein Samenspender und ein sozialer Vater zu Wort. Jede:r schildert seinen/ihren persönlichen Umgang mit dem Thema und lädt somit die Betrachtenden dazu ein, den eigenen Standpunkt bezüglich der traditionellen Familiengründung zu hinterfragen.

Julia Walerian: Dein Papa ist nicht dein Papa – eine audiovisuelle Auseinandersetzung mit Familiengründung durch Samenspende, eine Videoinstallation auf fünf Monitoren, Dauer: 14:42 Minuten.

Auch ich persönlich musste nach einem Kinobesuch vor zehn Jahren mein Familienbild überdenken. Ohne Hintergedanken habe ich mit meiner Mutter einen Spielfilm angeschaut, der von einem Samenspender und den durch seinen Samen gezeugten Kindern handelt. Kurz danach hat mir meine Mama am Grab meines verstorbenen Vaters offenbart: „Dein Papa ist nicht dein Papa“. 

In den 1980er-Jahren haben meine Eltern die Entscheidung getroffen, ein Kind mit Hilfe eines Dritten zu bekommen. 24 Jahre lang habe ich nichts davon gewusst, geschweige denn etwas geahnt. Wer ist mein biologischer Vater? Habe ich vielleicht Geschwister? Aus Neugier habe ich einen DNA-Test gemacht. Ich habe in ein Röhrchen gespuckt und war vom Ergebnis vollkommen überrascht: Ich hatte plötzlich eine Schwester.

Seit den 1970er Jahren wurden in Deutschland schätzungsweise 125.000 „Spenderkinder“1 geboren, genaue Zahlen gibt es nicht – nicht nur, weil Samenspende sowohl für Spender als auch für Empfängerinnen ein schambehaftetes Thema ist. Bis jetzt wird in der Öffentlichkeit nur zurückhaltend über Unfruchtbarkeit und Kinderwunschbehandlungen gesprochen. Lange Zeit war es die allgemeine Empfehlung der Ärzt:innen, Stillschweigen über die künstliche Befruchtung zu bewahren. Dadurch entwickelten sich Familiengeheimnisse mit weitreichenden Folgen. Wird das Geheimnis zufällig gelüftet, berichten „Spenderkinder“ nicht selten von Identitätskrisen und begeben sich auf die emotionale Suche nach dem fehlenden Teil ihrer Persönlichkeit.

Immer mehr Paare schieben ihre Familienplanung in ihrem Leben nach hinten, sodass auch zunehmend mehr von ihnen auf die Hilfe von reproduktionsmedizinischer Assistenz angewiesen sind. In Deutschland ist jede fünfzigste Geburt das Ergebnis künstlicher Befruchtung.2 Das Thema ist nicht nur für heterosexuelle Paare relevant, sondern auch für lesbische Paare und Frauen, die sich ohne Partner:in dazu entscheiden, ein Kind zu bekommen. Sie sind zur Erfüllung ihres Kinderwunsches auf eine Samenspende angewiesen. Der Diskurs wird auch weiterhin wichtig sein, weil neuerdings darüber diskutiert wird, ob die in Deutschland noch verbotene Eizellspende erlaubt werden sollte.

Die „Familiengründung zu Dritt“ wirft allerdings eine Reihe ethischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Fragen auf. Wie viel Verantwortung sollte ein:e Gametenspender:in für das aus seiner/ihrer Spende entstandene Kind tragen? Was macht eine Familie aus? Welche Bedeutung hat das Recht auf Wissen der eigenen Herkunft?

Die Meinungen der Gegner:innen und Befürworter:innen von Samenspende polarisieren stark. Es ist zu bezweifeln, dass dieser Diskurs früher oder später zu einem Konsens führt. Deshalb ist es wichtig, die öffentliche Debatte immer wieder anzufeuern. Subjektiv betrachtet ist die mediale Darstellung der Argumente für oder gegen Samenspende einseitig, da sie jeweils nur aus einer Perspektive beleuchtet wurde. Es kamen bisher entweder Wunscheltern, Spenderkinder oder Samenspender zu Wort: Unfruchtbare Männer fühlten sich stigmatisiert, Spenderkinder sahen sich durch die Offenbarung ihrer Zeugungsart mit einem Gefühlschaos konfrontiert, Samenspender glaubten, dass ihre „Hilfe“ zu durchweg dankbaren Kindern führt. Die sozialen Väter der Spenderkinder kommen in der Debatte kaum zu Wort. In meinem Projekt möchte ich die gegensätzlichen Positionen ausloten, sie zulassen und zusammenbringen.

Die Videoinstallation „Dein Papa ist nicht dein Papa“ bricht das Stillschweigen über das Thema Samenspende und lässt Betroffene und beteiligte Akteur:innen zu Wort kommen. Dabei ist die Installation kein (Zeit-)Zeug:innen- oder Betroffenenbericht, sondern schafft einen emotionalen Zugang zu einer längst überfälligen Diskussion. Ich beziehe dabei unterschiedliche Sichtweisen auf die Problematik mit ein. Die oft einhergehenden Herausforderungen für alle Beteiligten bei dieser Form der Familiengründung können dadurch hervorgehoben und von verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet werden.

Da in der Debatte die Perspektive möglichst vieler Beteiligter berücksichtigt und ihren Meinungen Raum gegeben werden soll, zeigt die Installation eine virtuelle Gesprächsrunde zwischen einer Solomama, einem Reproduktionsmediziner, einem Spenderkind, einem Samenspender und einem sozialen Vater. 

Diese Arbeit kann nur Fragen aufwerfen, die zur Auseinandersetzung einladen. Ich will und kann mit meiner Arbeit keine Fragen beantworten, denn das Problem ist zu komplex. Eventuell lassen sich auch keine anderen Antworten finden als die bereits vorhandenen. Letztlich muss jede:r für sich seinen eigenen Standpunkt einnehmen. Wie eine Familie mit Samenspende umgeht, kann nur individuell geklärt werden.

Auch wenn ich Samenspende komplett ablehne, plädiere ich in der Debatte zu mehr Offenheit und Ehrlichkeit. Es gibt die Möglichkeit ein Kind per Samenspende zu bekommen und Paare und alleinstehende Frauen nehmen diese Möglichkeit dankend in Anspruch. Ich hoffe allerdings, dass so gezeugte Kinder frühzeitig über ihre Entstehung aufgeklärt werden. Von meinen Eltern hätte ich mir auch gewünscht, dass sie mir die Wahrheit schon viel früher gesagt hätten. Ich sehe mich jetzt mit Dingen konfrontiert, die bisher keine Rolle in meinem Leben gespielt haben: Was notiere ich beim Arzt auf dem Anamnesebogen bei Krankheiten väterlicherseits? Wie gehe ich damit um, dass ich eine Schwester habe, obwohl ich als Einzelkind groß geworden bin? Wie reagiere ich, wenn sich plötzlich ein Bruder über eine DNA-Datenbank bei mir meldet? Manchmal wünschte ich, ich hätte die Wahrheit nie erfahren, obwohl es mein Recht ist meine Abstammung zu kennen. Es gibt aber auch Menschen, die das anders sehen – sie wollen auf diese Kenntnis für keinen Preis der Welt verzichten. Genau deshalb möchte ich mit meiner Videoinstallation eine Plattform zur Diskussion bieten und den unterschiedlichen Stimmen Gehör verschaffen. Die Betrachtenden sollen zum Zuhören eingeladen werden, denn nur wenn wir einander zuhören, werden wir weiterkommen, weil wir Zusammenhänge besser verstehen können. So helfen die Argumente anderer, den eigenen Standpunkt zu überdenken und die eigene Haltung zu hinterfragen. Das gelingt nur, wenn man sich auf einen Perspektivwechsel einlässt und sich mit den Argumenten anderer auseinandersetzt.

Link zur Projekt-Website: https://www.nichtdeinpapa.de/


Biografie

JULIA WALERIAN ist Grafik-Designerin. Nach ihrer Ausbildung zur Mediengestalterin digital und print arbeitete sie für verschiedene Agenturen und Unternehmen mit Fokus auf Editorial und Corporate Design.  Nach 9 Jahren im Beruf entschloss sie sich für ein Bachelor-Studium in Kommunikationsdesign an der HTW Berlin. Ihre Videoinstallation „Dein Papa ist nicht dein Papa“ entstand 2023 im Zuge ihrer Abschlussarbeit.

Fußnoten

  1. Vgl. Verein Spenderkinder, URL: http://www.spenderkinder.de/ (23.04.2023).
  2. Vgl. Wolfgang Oelsner, Gerd Lehmkuhl: Künstliche Befruchtung, Samenspende, Leihmutterschaft und die Folgen, Munderfing 2016, Seite 9.