Die Nacht: Der Tod als Leerstelle bei Ferdinand Hodler, 2024 – Mika Hannes Denke

In seinem Aufsatz schlägt Mika Hannes Denke einen alternativen Blick auf Ferdinand Hodlers 1890 entstandenes Werk Die Nacht vor, welcher die Unbestimmtheit der verhüllten Gestalt des Todes nicht zu negieren versucht, sondern von dieser ausgeht und mit ihr arbeitet. Unter Heranziehung verschiedener Beispiele des Sujets bezieht er sich dabei auf die Ebene der Deutung der Darstellung, welche die Integrität der Leerstelle bewahrt und stellt Hodlers Auseinandersetzung und Verbildlichung des Todes als für moderne, wissenschaftlich gesinnte und weniger streng gläubige Betrachtende, denen der Tod in weniger visuell definierter Art begegnet, als besonders zugänglich und Identifizierbar heraus. 

Abb. 1: Ferdinand Hodler: Die Nacht, 1889/90, Öl auf Leinwand, 116 × 299 cm, Kunstmuseum Bern, in: Ausst.-Kat. Ferdinand Hodler, Berlin (Nationalgalerie, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz) 1983. S. 4f. 

„Sie ist nicht ein Gegenstand mir gegenüber, sie umhüllt mich, sie durchdringt alle meine Sinne, sie erstickt meine Erinnerungen, sie löscht beinah meine persönliche Identität aus.“1

–  Maurice Merleau-Ponty über die Nacht

1890 schuf der Schweizer Maler Ferdinand Hodler das erste seiner Schicksalsbilder, einer Reihe von in Format und Thematik monumentalen Gemälden. In Die Nacht (Abb. 1) thematisiert Hodler den Tod, nicht intim und dokumentarisch, wie er es 20 Jahre später, mit den Porträts seiner sterbenden Partnerin Valentine Godé- Darel tun sollte, sondern überpersönlich und überzeitlich. 

Im ans Panorama grenzenden Querformat erstreckt sich eine helle Steinlandschaft durch das Gemälde. In diesem sind schlafende Menschen, einzeln oder in kleinen Gruppen, insgesamt acht an der Zahl, zu erkennen. Allesamt sind sie nackt, allesamt nur von den gleichen schwarzen Tüchern bedeckt. Keiner von den Ruhenden scheint sich an der Konfrontation zu stören, die in ihrer Mitte stattfindet. Dort befindet sich die einzig wache Figur, deren Gefühlslage so gar nicht der der friedlich Schlummernden entspricht. Mit einer Miene des Schreckens schaut er an sich hinab, denn unter dem schwarzen Tuch kauert eine Gestalt auf seinem Oberkörper. Diese scheint die gesamte Dunkelheit aus der merkwürdig hellen Nacht gesogen und in sich aufgenommen zu haben. Das Wesen ist gänzlich verhüllt und was es ist oder was es tut lässt sich nicht ausmachen. Zwar ist der Mann möglicherweise im Begriff, das Mysterium zu lüften, indem er den schwarzen Schleier herunterzieht, im Moment der Darstellung ist dies jedoch noch nicht geschehen. Für den Mann, wie für uns als Betrachtende, bleibt die Leerstelle, welche die Figur verkörpert, intakt. Während diese Leerstelle in Form der Darstellung besteht, verrät uns eine Inschrift auf der Rückseite des Werkes etwas über die Bedeutung der Figur. Dort heißt es : „Manch einer, der sich am Abend ruhig hingelegt hat, erwacht am nächsten Morgen nicht mehr.“2 Diese Kreatur, die die Dunkelheit der Nacht anzuziehen scheint, lässt sich also als Darstellung des Todes verstehen. Geht man von dieser Deutung aus, dann stellt sich die Frage, inwiefern die Verbildlichung des Todes als Leerstelle, Parallelen zu der gelebten Beziehung der Betrachtenden zum Tod aufweist. Um dieser Frage nachzugehen, soll zunächst das Konzept der Leerstelle genauer untersucht werden.  

Abb. 2: Ferdinand Hodler: Die Nacht (Detail), 1889/1890, Öl auf Leinwand, 116 x 299 cm, Kunstmuseum Bern, in: Ausst.-Kat. Ferdinand Hodler, Berlin (Nationalgalerie, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz) 1983. S. 4f.

Die Leerstelle 

Die Unbestimmtheit als konstitutives Element des Kunstwerkes ist kein neues Konzept. Schon im kunstphilosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts wurde sie als solches identifiziert.3 Von Künstler:innen bewusst eingesetzt wurde sie sogar schon deutlich früher. Man denke etwa an Caravaggios Darstellungen von christlichen Heiligen und griechischen Göttern, welche zugleich als Trunkenbolde oder senile alte Männer auftreten. Die autologische Bezeichnung „Unbestimmtheit“ wird je nach Diskurs durch andere, teilweise präzisere, teilweise synonyme oder sich in der Bedeutung überlappende Begriffe ersetzt. Heute weit verbreitet sind auch Bezeichnungen wie Ambiguität oder Mehrdeutigkeit. Im Folgenden soll sich vor allem auf Wolfgang Kemps ursprünglich aus der Literaturwissenschaft von Wolfgang Iser entlehntem Konzept der Leerstelle berufen werden, damit vereinbare Ideen zur Unbestimmtheit unter anderem Namen, sollen dabei jedoch nicht außen vor gelassen werden. Eine Leerstelle ist ein Punkt fokussierter Unbestimmtheit, die den Betrachtenden zur zweifelsfreien Deutung nötige Informationen vorenthält. Damit unterscheidet sie sich beispielsweise von der Art der Ambiguität, die jedem Kunstwerk allein dadurch innewohnt, dass es zugleich als ein materieller Gegenstand und als eine von diesem Gegenstand abstrahierte Bedeutung existiert. Als rezeptionsästhetisches Konzept ist in der Definition der Leerstelle zentral, dass diese sich gezielt an die Betrachtenden richtet, sie in das Werk einbindet.4 Dabei ist die Unbestimmtheit keine versehentlich abhanden gekommene oder vergessene Information, kein Defizit im negativen Sinne. Vielmehr ein „Produktiver Mangel“5 wie es Gottfried Boehm ausdrückt oder in Wolfgang Isers Worten „ausgesparte Anschließbarkeit“6. Leerstellen bereichern, sie geben den nötigen Raum, um das Werk im Werk fortzusetzen. Und dies geschieht in der Betrachtung. Nach Kemp ist das Werk sogar nur dann vollendet, wenn diese Art von letztem Produktionsschritt durch die Betrachtenden ausgeführt wird. Bei Kemp liest man daher „daß jedes Kunstwerk gezielt unvollendet ist, um sich im Betrachter zu vollenden.“7 Sowohl Michael Lüthy als auch Boehm sehen gerade in der Unbestimmtheit zudem das Potenzial für spezielle Formen der Erkenntnis, die sich nicht in rationalen Begrifflichkeiten fassen lassen oder diesen vorausgehen.8 Nur Unbestimmtheit kann Realitäten abbilden, in denen mehr als eine Antwort zur Zeit richtig ist oder Betrachtende in ihren unterschiedlichen, individuellen Erfahrungen ansprechen. Leerstellen sind also, so Kemp, nicht „Feind des selbstverständlichen Bildes“9, stattdessen können sie sogar zu dessen Verständnis beitragen. Leerstellen können sowohl die Funktion haben, die Betrachtenden zu involvieren als auch für die inhaltliche Deutung des Werkes eine zentrale Rolle spielen – Also zugleich Form und Inhalt, Stilmittel und Bedeutung sein. 

Ein unbestimmtes Wesen 

In Die Nacht findet man die größte Leerstelle, die eindeutigste Unbestimmtheit in der Gestalt des verhüllten Wesens in der Bildmitte. Dass es sich hierbei um eine Leerstelle handelt, wird schon durch die zwangsweise ungenaue Beschreibung des Dargestellten direkt ersichtlich. Was einem da begegnet, kann nur sehr vage als „Wesen“ oder „Gestalt“ beschrieben werden, da noch nicht einmal erkenntlich ist, ob es sich um einen Menschen, ein Tier oder etwas völlig anderes handelt. Man mag sich anhand der Form der Silhouette vielleicht vorstellen, dass da eine Kreatur auf dem Mann kniet oder kauert, vielleicht ähnlich dem Nachtmahr bei Füssli. Vielleicht denkt man auch wie Oskar Bätschmann an Gustave Moreau und die Sphinx, welche Ödipus bedrängt.10 Oder man sieht sie wie Mühlestein als „eine Art gespenstisches, leichenfressendes Wesen oder schwarz verhülltes Nachtweib.“11 Diese Assoziationen und Interpretationen sind die Produkte des „produktiven Mangels“. Ikonographisch zwar interessant, bedeuten sie aber immer auch ein Auflösen der Spannung, ein Ausfüllen der Leerstellen. Ich möchte einen alternativen Blick auf das Werk vorschlagen, welcher die Unbestimmtheit der Figur nicht zu negieren versucht, sondern mit dieser arbeitet. Für Ferdinand Hodler ist die Gestalt der Tod.12 Diese Aussage bezieht sich auf die Ebene der Deutung, nicht der Darstellung, sie bewahrt die Integrität der Leerstelle. Der Tod an sich wird nicht dargestellt, vielmehr wird er durch die Leere exemplifiziert. Dies wird noch deutlicher, wenn man herkömmlichere Darstellungsweisen dieses Sujets heranzieht. 

Wird der Tod in der Kunst gezeigt, dann am häufigsten in seinen Folgen, in Form des sterbenden oder toten Körpers. Peter Paul Rubens malt das abgeschlagene Haupt einer Medusa, Jaques-Louis David den schlaffen Körpers Marats, unendlich viele Maler Christus am Kreuz. Aber dies ist eigentlich nicht der Tod selbst, sondern nur seine physische Spur, das, was übrigbleibt oder das, was bald nicht mehr sein wird. Wenn wir dem Tod in der Kunst nicht auf diese eigentlich indirekte Weise, sondern von Angesicht zu Angesicht begegnen, dann in der Regel, indem der Tod personifiziert und vermenschlicht wird. Am weitesten verbreitet ist dabei die Darstellung des Todes als belebtes Skelett. Dieser Darstellungsmodus entspringt dem Motiv des Totentanzes des Hochmittelalters13 und hat seitdem an Popularität nichts eingebüßt. Ubiquitär findet man ihn sowohl auf Kupferstichen Albrecht Dürers als auch in Disney Cartoons. In Hodlers erweitertem Kreis, stellt etwa Gustav Klimt den Tod auf diese Weise dar. Sein Gemälde Tod und Leben (1910/15) weist in der Figurenkonstellation starke Parallelen zu Die Nacht auf. Ebenfalls findet man hier die eine wache Figur im Meer der Schlafenden, welche als einzige den Tod wahrnimmt. Klimts Skelettmann scheint hier eine Persönlichkeit, ein Innenleben zu besitzen. Er erwidert den Blick der ihn betrachtenden Figur, lächelt sein Lächeln mit Zahnlücke und greift nach seinem Knüppel. Diese Darstellungsweise macht den Tod zu einer sichtbaren und sehenden, handelnden und intentionalen Figur. Sie macht ihn dem Menschen ähnlicher. Man kann versuchen diese Figur zu verstehen, vielleicht sogar mit ihr zu kommunizieren, zu verhandeln, ihr zu entgehen.

Die Darstellungsweise in Hodlers Bild unterscheidet sich hiervon grundlegend. Zwar wird dem Tod hier auch in gewisser Weise eine vage Form gegeben, der man vielleicht eine Handlungsfähigkeit unterstellen könnte, dies reicht aber nicht, um von einer Personifikation zu sprechen. Es werden keine Absichten oder Charaktereigenschaften dargestellt. Dem Mann in der Bildmitte, wie auch den Betrachtenden, wird keine Möglichkeit zur Kommunikation angeboten, der Blick prallt von der Dunkelheit ab. 

Unerfahrbares zeigen

Die Form, die dem Tod gegeben wird, ist also die der Verhüllung, der Unbestimmtheit. Damit stellt es das gelebte Verhältnis des Menschen zum Tod sehr viel akkurater dar als jede Personifikation. Dieses definiert sich nämlich vor allem durch Unbestimmtheit. Sterben beziehungsweise tot sein ist eine Erfahrung, die in der Regel keine Künstlerin, kein Künstler und niemand unter den Betrachtenden jemals gemacht hat und die doch einen jeden erwartet. Käte Hamburger schreibt: „Der Tod kann niemals Erlebnis für uns werden“. Sie sieht es als Paradoxie, dass „wir nur als Lebende und Erlebende vom Tod wissen können, dass aber, wenn wir Tote sind, wir keine Lebenden und Erlebenden mehr sind.“14 Und dieses Erlebnis, welches noch keines ist und niemals eines werden wird, bildet Hodler in Form einer Leerstelle ab. Die Betrachtenden wissen, dass da etwas ist, etwas, was sich aber wie auch der Tod in unserer realen Erfahrung nur dunkel in seiner Unsichtbarkeit, in seiner Unerfahrbarkeit ausdrückt. Es geht bei diesem Werk also nicht darum, „Das Unergründliche sichtbar zu machen“, sondern es „Als Unsichtbares zu zeigen“15, wie Elisabeth Bronfen es ausdrückt. Die Dunkelheit, welche die Gestalt umgibt, ihr schwarzer Schleier, funktioniert wie die räumliche und zeitliche Beschränkung des Menschen, welche den Blick ins Jenseits versperrt. Ein Blick auf den Tod ist aus der Warte der Lebenden unmöglich. Die Betrachtenden können sich frei positionieren, es wird ihnen selbst überlassen, die Leerstelle in ihrer Imagination auszufüllen und damit aufzulösen und einen wie auch immer gearteten Gegenstand an ihre Stelle zu setzen oder die Ambiguität auszuhalten. Dies gleicht den Möglichkeiten des Umgangs mit dem eigenen Tod. Man kann ihm ein Gesicht und Namen geben, durch seinen Glauben die eigene Ungewissheit auslöschen oder auch nicht. Dabei ist ersteres für die meisten Menschen sehr viel ansprechender, wie der Erfolg der Religion als Bedeutungsgeberin und Erklärerin des Todes beweist. Aber es ist eine Sache, sich vorzustellen, was hinter dem schwarzen Schleier wartet, sogar daran zu glauben, die Antwort zu kennen, und eine andere, tatsächlich den Schleier herunterzuziehen.

Gestaltlosigkeit des Todes in der Moderne

Die Konzeption des Todes als Leerstelle, als dunkle Lücke ist ein Darstellungsmodus, der besonders für Betrachtende ab der Moderne von Relevanz ist. Diese sind nämlich, in höherem Maße als ihre Vorgänger, daran gewöhnt, über die Auslöser des Todes als unsichtbare Dinge nachzudenken. Während vor der Zeit der Mikrobiologie Krankheiten hauptsächlich als deren Symptome konzeptualisiert wurden, wissen wir heute von nicht mit dem bloßen Auge sichtbaren, todbringenden Bakterien, Viren und mutierenden Zellen. Auch die Feststellung des Todes einer anderen Person erfolgt mit der Zeit immer weniger über die direkte sinnliche Wahrnehmung. Die medizinische Todesdefinition hat sich vom Aussetzen der Atmung, über das Aussetzen des Herzschlages zum Aussetzen der Gehirnaktivität gewandelt. Während die ersten beiden Definitionen noch mehr oder weniger mit dem Sehsinn, dem Tastsinn oder dem Gehör nachzuvollziehen sind, wird dies bei Letzterem schwierig. Das Konzept des Hirntodes bedingt das Paradoxon eines Körpers, welcher von außen als lebendig, schlafend erfahren wird, in einem eigentlichen, wesensbestimmendem, aber unsichtbaren Sinne jedoch nicht mehr lebendig ist. Der Tod ist eingetroffen, lässt sich aber nicht mit den Sinnen, sondern nur mit medizintechnischen Instrumenten feststellen. Nicht nur hirntote, sondern auch gänzlich tote Körper werden in der modernen Gesellschaft verborgen. Durch die Institutionalisierung der Medizin und damit der Todesbekämpfung, sterben heute weniger Menschen zu Hause und mehr in Krankenhäusern.16 Auch durch den Bedeutungsverlust der Religion hat der Tod sein Gesicht verloren. In vielen Religionen und Mythologien gibt es Todesgötter oder andere Wesen, welche dem Menschen vor seinem Tod erscheinen, oder ihn sogar persönlich in das Totenreich führen. Der Skelettmann bietet hier in der visuellen Kultur als Symbol einen Ersatz, die meisten Menschen erwarten aber nicht tatsächlich einem belebten Skelett zu begegnen, wenn sie an der Schwelle zum Tode stehen. In der Moderne fehlt es an einer überzeugenden Formgebung des Todes, was die Darstellung des Todes als Leerstelle plausibler macht. Die Nacht ist demnach in mehrerer Hinsicht den modernen, wissenschaftlich gesinnten, atheistischen, oder zumindest weniger streng gläubigen Betrachtenden, denen der Tod in weniger visuell definierter Art begegnet, besonders zugänglich. 

Eine überzeitliche Beziehung

Während dieser Darstellungsmodus also möglicherweise besonders mit den Erfahrungen der modernen Betrachtenden übereinstimmt, liegt ihm jedoch zugleich eine Überzeitlichkeit zugrunde, die an die Grundbedingungen des menschlichen Lebens anknüpft. Die oben thematisierte Unerfahrbarkeit des Todes stellt eine zeitunabhängige Konstante dar, welche noch nicht einmal nur für Menschen, sondern für alles Lebendige besteht. Von anderen Tieren, oder zumindest den meisten anderen, unterscheidet sich der Mensch lediglich im Wissen um den Tod. Eugen Fink schreibt: „Unter den vergänglichen Wesen hat der Mensch alleine den „bösen Blick“, – er sieht im Frühlingsprangen bereits die künftige winterliche Öde, in der Blüte den Verfall, in der Kraft die Schwäche, im Anfang schon den Untergang, im Leben schon den Tod.“17 Diesen Blick scheint, wie die Betrachtenden, auch der Mann in Hodlers Gemälde zu besitzen, er sieht seinen Tod vor sich, auch wenn dessen genaue Form ihm verborgen bleibt. Auch seine Reaktion auf das Erkennen des Todes, die Todesangst, ist überzeitlich. Die Urangst vor dem Sterben, welche aufgrund ihrer tiefen evolutionären Verwurzelung nicht von gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst wird.18 Nach Gion Condrau ist die Angst vor dem Tod eine „Grundform des menschlichen Existierens.“19 Die Zeitlosigkeit und Unveränderbarkeit in den Grundzügen der menschlichen Beziehung zum Tod drückt sich bei Hodler dadurch aus, dass der Bildinhalt sich nicht zeitlich einordnen lässt. Dies liegt vor allem am Fehlen von menschengemachten Objekten im Bild. Die Menschen sind allesamt nackt, sie tragen keine Kleidung, die sich einer Epoche zuordnen lässt. Um sie breitet sich nur eine öde Landschaft aus. Keine Technologien oder sonstige Objekte verweisen auf eine bestimmte Periode. Die Unbestimmtheit in der zeitlichen Einordnung erlaubt es Betrachtenden nicht, eine historisch distanzierte Position zur unbestimmten Figur des Todes und der von ihr ausgehenden Bedrohung einzunehmen. Weiter wird die Unumgänglichkeit des Todes durch die dunklen Tücher vermittelt, welche nicht nur den Mann in der Bildmitte bedecken, sondern auch alle anderen Figuren vermittelt. Es ist leicht sich vorzustellen, dass sich das Todeswesen im nächsten Augenblick auch unter der Decke einer/eines anderen Schlafenden manifestieren könnte und genauso könnte es sich bei den Betrachtenden ereignen.

Zwei Körper

Zuletzt soll es noch um zwei ineinandergreifende Aspekte der Inszenierung des Todes in Die Nacht gehen: die Körperlichkeit der Beziehung zwischen Mann und Tod und die Identifikation der Betrachtenden mit dem Mann. Trotz seiner Bedeutung als Leerstelle im Bild und seiner Unbestimmtheit der Form besitzt das verhüllte Wesen eine beachtliche Körperlichkeit. Es schwebt nicht als Wolke über dem Mann, sondern lastet mit einer ihm eigenen Schwere auf dessen nacktem Oberkörper. Der fremde, unbestimmte Körper ist dem Mann nicht nur nah, selbst zu sagen, dass er ihn bedrängt, erscheint noch untertrieben. Es ist nichts zwischen ihnen, was irgendeine Form von Distanz schafft. Aufgrund des Tuches fällt es schwer, überhaupt eine Grenze zwischen den beiden Körpern zu ziehen. Dem Tode nahe sein wird hier von einer temporalen auf eine physische Ebene verlagert. Und auch die Reaktion des Mannes auf diese nicht einvernehmlichen, zutiefst bedrohliche und angsterregende Nähe ist höchst physisch: Von den angespannten Muskeln, über die verkrampften Finger, zur von Angst verzerrter Mine. Es wurde bereits erläutert, wie die Betrachtenden durch die Leerstelle aktiviert werden und wie sie mit dieser, wie mit dem eigenen Tod, verfahren können. Noch intensiver wird die Einladung für den Betrachter am Bild teilzunehmen, in dieses einzutreten und damit auch selbst den Tod zu konfrontieren, durch die unweigerliche Identifikation der Betrachtenden mit der Figur des Mannes. Diese Identifikation ist ein in hohem Grade körperlicher Prozess. Der Mann in der Bildmitte ist die einzig sehende, fühlende und handelnde Figur im Bild und uns in der Betrachtung damit automatisch am ähnlichsten. Einzig er nimmt wie wir den Tod und die von ihm ausgehende Gefahr war. Die anderen Figuren schlafen und stehen damit nicht zur Identifikation zur Verfügung. Auch seine Reaktion auf das Gesehene ist nicht nur zutiefst körperlich, sondern für die Betrachtenden auch in ihrer starken Emotionalität zutiefst nachvollziehbar und damit nachfühlbar. Durch die Identifikation fühlen auch wir den Tod auf unserer Brust lasten. Auch wir fürchten er könnte, wie die Nacht bei Merleau-Ponty, uns „umhüllen“, „ersticken“ und schließlich „unsere Identität auslöschen“20


Biografie

MIKA HANNES DENKE absolvierte 2023 seinen Bachelor im Fach Kunstgeschichte an der Universität Düsseldorf. In seiner Abschlussarbeit über Ferdinand Hodler und Gustav Klimt beschäftigt er sich mit Darstellungen des Todes aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive. Seit 2023 studiert er im Master an der Universität Hamburg, wobei sein Fokus vor allem auf der Kunst des 19. Jahrhunderts, auf Methodenfragen und der Geschichte der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts liegt. Auch für die Frühe Neuzeit hegt Mika Hannes Denke ein großes Interesse.

Fußnoten

  1. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (6. Aufl.), übers. von Rudolf Boehm, Berlin 1966 (1945). S. 329.
  2. Vgl. Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008. S. 158.
  3. Vgl. Michael Lüthy: Ambiguität in der bildenden Kunst. Eine differenzierende Bestimmung, in: Groß, Bernhard et.al. (Hrsg.): Ambige Verhältnisse. Uneindeutigkeit in Kunst, Politik und Alltag, Bielefeld 2021. S. 73-110. Hier S. 73.
  4. Vgl. Wolfgang Kemp: Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Ders. (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992. S. 307-332. Hier S. 313.
  5. Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn Erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. S. 199. S. 199.
  6. Wolfgang Kemp: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: Ders. (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992. S. 7-28. Hier S. 315.
  7. Kemp 1992. S. 313.
  8. Vgl. Lüthy 2021. S. 73., Boehm 2007. S. 208.
  9. Kemp 1992. S. 314.
  10. Oskar Bätschmann: Ferdinand Hodler. Die Nacht, der Tag, die Wahrheit, Bern 2019. S.23.
  11. Hans Mühlestein: Ferdinand Hodler. Ein Deutungsversuch, Weimar 1914. S. 166.
  12. Vgl. Carl Albert Loosli: Ferdinand Hodler. Leben, Werk und Nachlass (Bd. 2, Das Werk Ferdinand Hodlers 1870 bis 1889), Bern 1921. S. 207 und Carl Albert Loosli: Ferdinand Hodler. Leben, Werk und Nachlass (Bd. 4, Urkunden), Bern 1921. S. 4.
  13. Vgl. Eva Schuster: Der Tod, ein immerwährendes Thema in der bildenden Kunst, in: Dies. (Hrsg.): Das Bild vom Tod, Recklinghausen 1992. S.9-23. S. 9.
  14. Käte Hamburger: Das Todesproblem bei Jean Paul, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929). S. 446-474. Hier S. 448 nach Heinrich Schipperges: Das Phänomen Tod, in: Hans H. Jansen (Hrsg.): Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst, Darmstadt 1989. S. 12-22. Hier S. 12. 
  15. Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008. S. 159.
  16. Vgl. Klaus Feldmann: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick (2. Aufl.), Wiesbaden 2010 (2004). S. 21.
  17. Eugen Fink: Metaphysik und Tod, Stuttgart 1969.  S. 10.
  18. Vgl. Christoph Klimmt: Was ist die Funktion von Tod und Sterben in medialer Unterhaltung?, in: Publizistik 54/3 (2009). S. 415-430. Hier S. 426.
  19. Gion Condrau: Der Mensch und sein Tod. Certa moriendi condicio, Zürich 1984. S. 87.
  20. Maurice Merleau-Ponty 1966 (1945). S. 329.