Every day I bleed, 2025 – Daniel Görlich

Krankheiten und der damit vielfach einhergehende körperliche Zerfall sind weiterhin ein gesellschaftliches Tabu, das oftmals nur peripher in den Wahrnehmungsrahmen Nichtbetroffener eindringt. Die Sichtbarkeit von Krankheit berührt innere Ängste, während die körperlichen Auswirkungen gängige Vorstellungen von idealen Körpern torpedieren.
Daniel Görlich beleuchtet in seinem Essay Tracey Emins dokumentarische und künstlerische Praxis seit ihrer Krebserkrankung 2020. Im Zentrum stehen die Spuren, die die Krankheit und ihre Heilung auf ihrem Körper hinterlassen hat und die Emin in Beiträgen auf Instagram dokumentiert. Zwischen Narben, Texten und Bildern entfaltet sich ein Körperarchiv, in dem autobiografische Erfahrungen, künstlerische Praxis und politische Dimensionen untrennbar verwoben sind.

Die Kamera ist in der Untersicht so positioniert, dass der aufgenommene Körper monumental wirkt, während die fragmentierte Darstellung zunächst Irritation erzeugt. Worauf blicken die Betrachtenden?1 Am oberen linken Bildrand ist eine offene Wunde sichtbar, aus der Gewebe und Blut hervortreten. Von dort ziehen sich mehrere feine Flüssigkeitsrinnsale über die Hautoberfläche. Neben den klar erkennbaren Blutspuren durchziehen auch hellere, fast transparente Bahnen die Haut, die sich mit dem Rot überlagern und vermischen. Dieses Nebeneinander von dichter Farbe und beinahe unsichtbarer Feuchtigkeit legt nahe, dass hier nicht nur Blut, sondern ein Gemisch unterschiedlicher Körperflüssigkeiten sichtbar wird. Das Bild zeigt kein idealisiertes Selbst, sondern einen Körper in einem Moment der Versehrtheit. Die Verletzung, die Spuren der Flüssigkeiten und der gewählte Bildausschnitt fordern die Betrachtenden zur Auseinandersetzung mit dem Gesehenen auf.

Abb. 1: Tracey Emin, EVERY DAY I BLEED Screenshot: Instagram-Profil, @traceyeminstudio, 2024. https://www.instagram.com/p/C2pIOq1Is0g/. Abruf: 15.09.2025

Der dargestellte Körper (Abb. 1) gehört der britischen Künstlerin Tracey Emin (*1963). Seit den frühen 1990er-Jahren entwickelt Emin ein Œuvre, das von autobiografischen Spuren geprägt ist und persönliche Erfahrungen beständig zum Material ihrer Kunst macht. Sie arbeitet dabei in unterschiedlichen Medien, wie u. a. Text, Zeichnung, Skulptur, Installation und Malerei. Dabei bewegen sich ihre Werke stets zwischen Dokumentation und Fiktion, Intimität und Öffentlichkeit. Eine neue Radikalität erhält diese Praxis in Verbindung mit ihrer Blasenkrebserkrankung im Jahr 2020. Seither verschiebt sich der autobiografische Ansatz von Themen wie Sexualität und Trauma hin zu Krankheit, Versehrtheit und Überleben. Über ihren Instagram-Kanal (@traceyeminstudio) teilt Emin Werk- und Atelieraufnahmen, Ausstellungsansichten und private Momente, etwa nach dem Schwimmen im Meer oder mit ihren Katzen. Zugleich zeigt sie Fotografien, die ihre Krebserkrankung dokumentieren: Operationen, Wunden, Narben, Katheter und medizinische Utensilien.2 Auf diese Weise verwebt sie künstlerische Produktion und dokumentarische Praxis zu einem dichten Körperarchiv der Versehrtheit. Instagram dient ihr zugleich als erweiterter Atelier- und Ausstellungsraum sowie als Dokumentations- und Archivmedium und ermöglicht damit eine Parallelität von Kunstwerken und Krankheitsbildern.
Dieser Essay reflektiert, wie sich Spuren von Krankheit in Emins Werk und ihrer öffentlichen Selbstinszenierung auf Social Media manifestieren: Sie bilden eine Schnittstelle zwischen Körper, Krankheit und Kunst, verweisen auf Erlebtes und machen Verletzlichkeit sichtbar. Zugleich eröffnen sie Räume für ästhetische, persönliche und gesellschaftliche Reflexion.3
Die Grenze zwischen künstlerischer Arbeit und Dokumentation ist bei Emin bewusst unscharf gehalten. So besteht die Installation Insomnia Room (2019) aus einer Serie von Selfies, die zunächst als spontane, private Aufnahmen entstanden, im Ausstellungsraum jedoch eine künstlerische Rahmung erhalten und in eine neue Wahrnehmungssphäre überführt werden. Ähnlich verhält es sich mit Fotografien ihres Urostomas4, die in die Ausstellung I Followed You to the End (2024) integriert wurden. Indem Emin solche privaten Bilder in einen institutionellen Kontext stellt, überschreitet sie die Grenze zwischen persönlicher Dokumentation und künstlerischem Statement. Sie selbst betont dies in einem Interview:

“People just know that you have a bag, but they don’t think much more of it. And I wanted people to see the bleeding. It looks like tears of blood. So I think a lot of us cry deeply inside. I think a lot of us cry tears of blood and I think.. the world at the moment, I think a lot of us are crying. There’s a lot of tears and a lot of blood. And I think that that work also represents a feeling that a lot of people can relate right now.”5

So wird deutlich, dass ihre Praxis nicht nur auf autobiografischer Selbsterzählung beruht, sondern dass gerade der Akt der Sichtbarmachung – die Transformation privater Dokumentation in Kunst – das Potenzial birgt, gesellschaftliche Diskurse über Körper, Krankheit und Verletzlichkeit zu eröffnen.

Instagram als Raum performativer Selbstinszenierung

Neben Museen, Galerien und anderen Institutionen nutzen heute auch zahlreiche Künstler:innen soziale Medien wie Instagram, um ihre Arbeiten einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Plattform dient nicht nur der Präsentation aktueller Werke, sondern auch der Dokumentation von Arbeitsprozessen, der Selbstinszenierung und dem Austausch mit Follower:innen.6 Zudem ermöglicht sie Einblicke in persönliche Erfahrungen der Künstler:innen bis hin zu sehr privaten Momenten, die im klassischen Ausstellungsraum oft keinen Platz finden. Hier verschränkt sich künstlerische Praxis mit biografischem Erleben. Diese Verbindung von Kunst und Intimität eröffnet neue Formen der Rezeption, bei denen die Grenzen zwischen Werk, Künstler:in und öffentlicher Wahrnehmung zunehmend verschwimmen. Tracey Emin nutzt diese Grenzbereiche besonders prägnant, indem sie Instagram nicht nur als Plattform ihrer künstlerischen Produktion, sondern auch zur Thematisierung von Körper, Krankheit und Heilung einsetzt.7

Bei bildbasierten sozialen Medien stehen Selbstthematisierung und -inszenierung im Vordergrund. Hannah Jäger beschreibt diesen Prozess als Transformation alltäglicher Routinen in performative Akte: „Selbstkonstruktion, Selbstnarration und Selbstrepräsentation vollziehen sich über die banale Fotografie.“8
Am Beispiel des Selfies verweist Ramón Reichert mit Bezug auf die Triple-Oppression-These jedoch auf das subversive Potenzial solcher Selbstdarstellungen:

„Selfies können die Mehrfachunterdrückungshypothese im Modus der Geschlechterperformativität erschüttern, wenn sie das Selbst nicht als ontologische Instanz verkörpern, sondern als eine Maske interpretieren, die getragen oder abgenommen werden kann.“9

Charakteristisch dafür sei, so Reichert, „dass nicht ein starkes Selbst mit Hilfe der Selfies in Szene gesetzt wird, […] sondern ein visuell subversiver Akt […] dann entsteh[t], wenn das Blicken selbst und die vom Bildakt ausgehende Identifikation selbst in Frage gestellt wird.10 Vor diesem Hintergrund lassen sich auch Emins Instagram-Beiträge betrachten, wenn sie Selfies und Darstellungen ihres Körpers veröffentlicht. Während Selfies im gängigen Gebrauch häufig ein ästhetisiertes „starkes Selbst“ inszenieren, entfalten sie bei Emin ein abweichendes Potenzial. Ihre Selbstporträts im Kontext von Krebserkrankung und Genesung verweisen nicht auf eine stabile, souveräne Identität, sondern öffnen einen Raum, in dem Verletzlichkeit, Krankheit und die Möglichkeit des Abjekts sichtbar werden. Damit entsprechen sie dem, was Reichert als subversive Counter-Selfies11 bezeichnet: Sie unterlaufen normative Vorstellungen weiblicher Selbstdarstellung und setzen auf eine kritische Sichtbarmachung von Körperlichkeit, die sich einer glatten Repräsentation entzieht. Emins Beiträge destabilisieren den Blick, indem sie den Körper nicht als geschlossene Einheit präsentieren, sondern als verletzliche, fragmentierte und zugleich widerständige Oberfläche, die soziale Zuschreibungen infrage stellt. Sie widersetzen sich der Tabuisierung von Krankheit und der Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum. Ihr versehrter Körper wird insistierend öffentlich gemacht und fordert zur Auseinandersetzung mit den physischen, emotionalen und ästhetischen Spuren von Krankheit und Heilung auf. Damit unterläuft Emin patriarchale Zuschreibungen und Erwartungen an den weiblichen Körper und kritisiert zugleich die androzentrisch geprägte Körpergeschichte der Frau in der Kunst.

Der Körper im Patriarchat: Norm, Macht und Subversion

Der Körper ist niemals nur eine biologische Gegebenheit, sondern immer auch ein soziales und kulturelles Konstrukt. Er fungiert als Träger von Identität, über den Geschlecht, Alter, Hautfarbe oder Beeinträchtigungen sichtbar und gesellschaftlich verhandelt werden. Zugleich wird er zur Projektionsfläche von Normen, etwa in Bezug auf Schönheit, Gesundheit oder Leistungsfähigkeit, die sich historisch verändern und dennoch stets disziplinierende Wirkung entfalten. Damit markiert der Körper auch eine politische Dimension: Fragen nach Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, medizinischer Intervention oder körperlicher Autonomie verdeutlichen, wie eng Macht und Körperpolitik miteinander verwoben sind.
Darüber hinaus sind Körper Symbole, die gelesen werden können: Narben, Tattoos oder Kleidung kommunizieren Zugehörigkeit ebenso wie Differenz. Die Kategorie Körper speist sich aus Dichotomien wie gesund/krank, männlich/weiblich, schön/hässlich oder privat/öffentlich. Medizinische und ästhetische Normen werden dabei miteinander verschränkt, wenn Gesundheit und Schönheit normativ gekoppelt werden. Krankheit, Alter und Tod verweisen auf die Fragilität des Körpers und machen sichtbar, wie Gesellschaften mit Verletzlichkeit und Abhängigkeit umgehen. Der Körper existiert so als Schnittstelle zwischen individueller sowie gesellschaftlicher Erwartung und politischer Ordnung. In den visuellen Massenmedien werden Körper häufig auf stereotype Muster reduziert. Sie erscheinen in Kategorien, die sich an normativen Vorstellungen von Geschlecht, Gesundheit, Alter und Zugehörigkeit orientieren, während nicht-normative Körper – gealtert, krank, behindert, queer oder Schwarz12 – marginalisiert oder nur selektiv sichtbar gemacht werden.13 Solche Typisierungen stabilisieren bestehende Machtverhältnisse und führen gesellschaftliche Ausschlüsse fort.14
Körper, die Spuren von Krankheit oder Beeinträchtigung tragen, erscheinen weniger als Stereotyp, sondern werden vielmehr zum Skandalon oder Tabu erklärt. Während Stereotypisierung durch Wiederholung und Fixierung von Differenz wirkt, entzieht sich die Repräsentation dieser Körper oft vollständig der Sichtbarkeit, oder erscheint nur im Modus des Schocks und der Abweichung. Auf diese Weise wird Differenz nicht verhandelt, sondern verdrängt.15

Emin unterläuft diese Mechanismen, indem sie die Spuren ihrer Krebserkrankung öffentlich macht und über Instagram verbreitet. Ihre Bilder durchbrechen die übliche Unsichtbarkeit kranker Körper und transformieren die Plattform in einen Ort, an dem alternative Formen von Sichtbarkeit und Selbstermächtigung entstehen. Bettina Richter betont die Bedeutung von Künstler:innen, „die die Definitionsmacht über Körper mit widerständigen Entwürfen permanent hinterfragen und damit auch die verkrusteten massenmedialen Repräsentationen langsam aufbrechen.“16
Die Normierung weiblicher Körperlichkeit ist eng mit Schönheitsidealen verknüpft und wurde, weitaus stärker als beim männlichen Körper, historisch immer wieder neu verhandelt. Richter hebt hervor: „Weibliche Schönheitsvorstellungen, die so gut wie ausschließlich den jungen Frauenkörper implizieren, veränderten sich […] über die Zeiten hinweg kontinuierlich und wurden wesentlich von Männern definiert.“17 Deutlich wird, dass Weiblichkeit in besonderem Maße an äußere, patriarchal geprägte Zuschreibungen gebunden ist.
Über Jahrhunderte hinweg war es in der abendländischen Kunstpraxis üblich, dass männliche Künstler Frauen darstellten. Insbesondere der Frauenakt zählt zu den zentralen Sujets der westlichen Kunstgeschichte und fungiert als Träger und Vermittler von Idealen von Weiblichkeit. Die Darstellungsweise war vom Verhältnis zwischen Künstler und Modell bestimmt: Das männlich verstandene schöpferische Genie hielt die Hoheit über den weiblichen Körper, der meist objektifiziert, nackt und sexualisiert präsentiert wurde. Darin spiegelt sich die androzentrische Struktur der Kunstgeschichte, die auf Basis des männlichen Blickregimes eine spezifische Geschichte weiblicher Körper entwarf.18 Seit den 1960er- und 1970er-Jahren begannen Kunsthistorikerinnen und Künstlerinnen, diese Strukturen kritisch zu hinterfragen, vergessene oder marginalisierte Künstlerinnen sichtbar zu machen und die patriarchalen Narrative der Disziplin zu dekonstruieren. Auf dieser Basis entwickelte sich ein neuer Zugang zur Kunstgeschichte, der Geschlechterverhältnisse explizit thematisierte und tradierte Hierarchien infrage stellte.19 Künstlerinnen entgegneten den überholten Vorstellungen mit eigenen Arbeiten, häufig mit dem weiblichen Körper als Ausgangspunkt. Dieser wurde zugleich Ausdrucksmittel und Motiv, über das Erfahrungen, Subjektivität und gesellschaftliche Rollenbilder reflektiert und patriarchale Strukturen zurückgewiesen wurden. In bewusster Abkehr von der abendländischen Kunstpraxis, die den weiblichen Körper über Jahrhunderte als Objekt des männlichen Blicks konstituierte, zeigt Emin diesen als Subjekt eigener Erfahrung und Verletzlichkeit. Damit führt sie feministische Strategien der Selbstrepräsentation fort und eröffnet zugleich neue Perspektiven auf Körperlichkeit und ihre Darstellungsmöglichkeiten.

Abb. 2: Tracey Emin, This time four years ago I was coming out of seven and half hour surgery […] Screenshot: Instagram-Profil, @traceyeminstudio, 2024. https://www.instagram.com/p/C9nPvmsIWuL/?img_index=4. Abruf: 15.09.2025

Der Beitrag (Abb. 2) zeigt neben weiteren Fotos eines, auf dem Emin in Krankenhaus-Einwegunterwäsche in der Nasszelle ihres Zimmers vor dem Spiegel steht. Mit dem linken Arm verdeckt sie ihre Brust, in der rechten Hand hält sie das Smartphone, auf dem Handrücken sind medizinische Zugänge sichtbar. Ihr Unterleib ist weitgehend verdeckt vom angelegten Stoma und dem Beutel, von Pflastern sowie einem Drainage-Beutel, in dem sich rötliches Wundwasser sammelt. Den versehrten Körper, wie hier, ins Zentrum zu rücken, bedeutet zugleich, ihn dem patriarchalen Blickregime zu entziehen und aus der Sphäre von Verfügbarkeit und Attraktivität herauszulösen. Das Sichtbar-Machen der Wunden und Körperflüssigkeiten entlässt den Körper aus dem Begehren anderer. Emin demonstriert sowohl äußere als auch innere Spuren der Erkrankung und deren Nachwirkungen über die Genesung hinaus. Der Sieg über die Krebserkrankung bedeutet zugleich den dauerhaften Verlust wesentlicher Körperstrukturen. Im Rahmen der Operation wurden Blase und Harnröhre ebenso entfernt wie Gebärmutter, Eierstöcke sowie Teile von Vagina und Dickdarm. Indem Emin Bilder von Zugängen, Wunden, Narben und ihrem Urostoma veröffentlicht, macht sie die Permeabilität des Körpers sichtbar und zeigt, wie Verletzungen und chirurgische Eingriffe die Grenzen der Haut, der Autonomie des Körpers und seines Inneren durchbrechen.

Krankheit als autobiografische Praxis und fotografische Zeugenschaft

Seit den 1970er- und 1980er-Jahren ist Krankheit ein wiederkehrendes Motiv in der fotografischen Praxis – nicht nur als Dokumentation körperlicher Veränderung, sondern auch als Medium im Umgang mit Verletzlichkeit, Sterblichkeit und gesellschaftlichen Zuschreibungen. Während Künstler wie Peter Hujar oder David Wojnarowicz das von HIV/AIDS geprägte Leben eindrücklich ins Bild setzten, nutzten Jo Spence in The Picture of Health (1982–1986) und Final Project (1991–1992) sowie Hannah Wilke in Intra-Venus (1991–1993) die Kamera, um ihre eigenen Krankheitsgeschichten sichtbar zu machen. Sie verbanden darin ästhetische und politische Dimensionen von Krankheit und Sterben. Susan Sontag beschreibt Fotografie in diesem Kontext als Teilnahme an „Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge)“. Indem sie Momente herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen Fotografien für sie das „unerbittliche Verfließen der Zeit“.20 Auch in der Selbstdokumentation tragen sie eine besondere Beweiskraft: „Eine Fotografie […] kann als unwiderleglicher Beweis dafür gelten, dass ein bestimmtes Ereignis sich tatsächlich so abgespielt hat.“ Sie mag verzerren, aber sie verweist auf eine Realität, die existiert hat.21 Tracey Emin knüpft an diese Tradition an, verschiebt die Bedingungen der Sichtbarkeit jedoch deutlich. Ihre Fotografien entstehen nicht mehr in kuratierten Serien oder im Studio, sondern als spontane Smartphone-Aufnahmen, die sie über Instagram einem potenziell unbegrenzten Publikum zugänglich macht. Als visuelles Tagebuch zeigen sie den Alltag mit Stoma, Katheter oder Krankenhausbett fragmentarisch doch ungeschönt. Ihre Fotografien offenbaren nicht nur Verletzlichkeit in aller Drastik, sondern markieren zugleich einen Anspruch auf Teilhabe:
Der private, kranke Körper wird in den digitalen Raum getragen und fordert dort ein Publikum, das Krankheit und Heilung bezeugt. Im Zentrum von Emins autobiografisch geprägtem Ansatz steht der eigene Körper, verstanden als Archiv dessen, was Hannelore Bublitz treffend als „Spuren, die historische Ereignisse am Körper hinterlassen“ bezeichnet.22 In diesem Sinne lässt sich der Körper, wie Sigrid Schade betont, als Text lesen: als ein Körper, der „Gesten, Mimiken, Haltungen, Krankheiten etc. produziert und darin Figurationen aufweist, die geschlechtsspezifische Zuschreibungen erfahren und in Bezug auf eine zumeist dominierende heterosexuelle Norm als affirmativ oder abweichend wahrgenommen werden.“23

Abb. 3: Tracey Emin, This is my stoma […] Screenshot: Instagram-Profil, @traceyeminstudio, 2022. https://www.instagram.com/p/CckO5dcMRv2/?img_index=1. Abruf: 15.09.2025

Wunde, Narbe, Abjekt: Körpergrenzen im Bild

Das Foto (Abb. 3) zeigt in Nahaufnahme den Bauch Emins. Im Zentrum liegt ein leuchtend rotes Stoma, das trotz der Nähe weniger dramatisch wirkt als die eingangs beschriebenen Aufnahmen: die Blutströme fehlen, sodass der Blick auf das Stoma selbst gelenkt wird. Sein intensives Rot kontrastiert mit der Helligkeit der Haut. Umgeben ist es von nahezu weißem Narbengewebe, das sich wie feine Einschnitte abzeichnet, und von geröteter Haut, die vermutlich durch das Pflastermaterial gereizt ist. Mit Abstand erkennbar ist der kreisförmige Abdruck des Beutels, dessen unterer Bereich wiederum weitere Rötungen zeigt. Zusätzlich sichtbar sind der Bauchnabel, eine vertikale Narbe, die darüber verläuft, sowie eine kleinere am oberen linken Bildrand. Anders als das Stoma erscheinen die Narben blass, faserig, fast unscheinbar. Während die Haut sonst glatt wirkt, brechen die Narbenlinien ihre Homogenität auf. Die Körperoberfläche wird so zum Archiv medizinischer Eingriffe. Zwischen dem vitalen Rot des Stomas und den blassen, verheilten Narben entsteht ein Kontrast von offener Wunde und überstandener Heilung, wobei beide Zustände gleichzeitig präsent sind. Wunden markieren eine Schnittstelle zwischen Innen und Außen, Verletzlichkeit und Sichtbarkeit. Medizinisch sind sie ein Bruch der körperlichen Integrität, kulturell ein aufgeladenes Zeichen. In der Kunstgeschichte stehen sie seit Jahrhunderten für Leiden, Erlösung oder Transformation, von Passionsdarstellungen bis zur feministischen Körperkunst. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt die Wunde dabei nicht nur als Metapher auf, sondern als konkrete Spur: geöffnete, genähte oder vernarbte Haut erzählt vom Eingriff und macht den Körper als gezeichnet sichtbar. Klaus Speidel beschreibt Wunden und Narben als „Ereignisspuren“:
„Wie Blutflecken sind Wunden und Narben Ereignisspuren. Das hat sich selbst in unserer Sprache niedergeschlagen, denn wenn wir von Schürfwunden oder Schnittwunden sprechen, entwerfen wir Bilder von Handlungen, Ereignissen und Instrumenten. Wo eine Wunde ist oder Narbe ist, muss etwas passiert sein.“24 Ihre Materialität verleiht ihnen Authentizität. Sie wirken nicht nur als historische oder körperliche Zeichen, sondern berühren emotional. Speidel betont:

„Sie berühren uns tief, weil sie uns daran erinnern, dass auch wir verletzlich sind, dass unser Inneres nicht fest ist, sondern flüssig. Wird unsere fragile äußere Hülle verletzt, kann es zum Austritt von Flüssigkeiten oder zum Eindringen von Fremdkörpern kommen, die unseren Körper von innen zerstören.“25

Auch bei Emin ist die Wunde Nachweis körperlicher Transformation und fungiert als Evidenz von Verletzung und Heilung zugleich. Sie hält den Moment der Grenzöffnung fest und zeigt im Verheilen neue Texturen. Damit widerspricht sie der Kunsttradition des unversehrten Körpers. Tobin Sievers bringt es auf den Punkt:

„Gesunde Körper haben in der Kunst keine Details. Sie sind nicht markiert. Details erscheinen in der Ästhetik als Pathologie, weil sie die Abhängigkeit der Bilder von der Differenz des behinderten Körpers aufdecken.“26

Wunden und Narben dokumentieren Verletzlichkeit, Transformation und die Materialität von Erfahrung und rücken die Differenz des Körpers ins Zentrum ästhetischer und kultureller Reflexion, sie sind Bedeutungsträger. Emin nutzt in ihrer dokumentarischen wie künstlerischen Praxis die Wunde sowohl als konkretes wie als symbolisches Element, um Verletzlichkeit, Krankheit und persönliche Metamorphose sichtbar zu machen. Ihre Körperdarstellungen sind, ähnlich den von Klaus Speidel beschriebenen „Ereignisspuren“, unmittelbare Zeugnisse von Erfahrung: Wunden und Narben transportieren Authentizität, Realität und ihre individuelle Entstehungsgeschichte. Emins visuelle Zeugnisse verweigern konsequent die Darstellung des unversehrten, idealisierten Körpers. Stattdessen konfrontieren sie die Betrachtenden direkt mit der erfahrenen Versehrung. Die Wunde erscheint dabei nicht allein als Pathologie oder Defizit, sondern als ästhetische und narrative Figur, die Transformation, Heilung und die Kontingenz des Lebens erfahrbar macht. Offen gelegte Verletzlichkeit wird so zu einem Mittel der körperlichen und künstlerischen Selbstvergewisserung. Indem Emin intime und schmerzhafte Erfahrungsebenen sichtbar macht, eröffnet sie zugleich einen Diskursraum über den gesellschaftlichen Umgang mit Körper und Krankheit.

Abb. 4: Tracey Emin, This time four years ago I was coming out of my seven and half hour surgery […] Screenshot: Instagram-Profil, @traceyeminstudio, 2024. https://www.instagram.com/p/C9nPvmsIWuL/?img_index=7. Abruf: 15.09.2025

Emins Fotografie (Abb. 4) zeigt die Verletzlichkeit des Körpers in radikaler Deutlichkeit. Die Nahaufnahme entzieht das Bild jeder Distanzierung; Spuren medizinischer Eingriffe und chirurgischer Interventionen treten unmittelbar ins Blickfeld. Die visuelle Wundbeschau macht Verletzung und Erfahrung sichtbar und lädt zur Reflexion über die Fragilität des menschlichen Körpers ein. Zugleich fungiert sie als kommunikatives Ereignis: die intime Verletzlichkeit wird mit öffentlicher Sichtbarkeit verknüpft und damit zu einem Akt der Zeugenschaft. Doch die Zurschaustellung körperlicher Versehrung birgt auch das Risiko einer abjekten Wahrnehmung. In Anlehnung an Julia Kristeva lässt sich die Wunde als Schwellenphänomen verstehen: Sie markiert die brüchige Grenze zwischen Innen und Außen und ruft Abwehr wie Faszination hervor.
Mit Kristeva lässt sich das Abjekt als Phänomen begreifen, das sich nicht nur auf symbolischer, sondern auch auf körperlich-materieller Ebene manifestiert, besonders deutlich im Kontext von Krankheit. Krankheit selbst kann als abjektes Moment des Körpers verstanden werden, da sie die gewohnte Kohärenz stört und die Integrität der Haut, der Organe und der körperlichen Hülle infrage stellt. Tumore etwa durchbrechen die Grenze von innen, verändern die Ordnung des Körpers und entziehen ihn der Kontrolle. In ähnlicher Weise lassen sich Körperflüssigkeiten wie Blut, Urin oder Schweiß als Ausdruck des Abjekts lesen. Sie überschreiten die Grenze zwischen Innen und Außen, bringen das Verborgene an die Oberfläche und machen die Fragilität körperlicher Integrität wahrnehmbar.27 Besonders Krankheiten, die mit sichtbaren Transformationen einhergehen, verschieben die Trennung zwischen „innerlich“ und „äußerlich“ und machen den Körper zugleich vertraut und fremd. Das Abjekt verweist in diesem Spannungsfeld auf die ambivalente Erfahrung von Nähe und Distanz zum eigenen Körper: Er erscheint als Teil des Selbst und doch zugleich als Störfaktor oder Widerpart.28 Krankheiten wie Krebs machen diese Diskrepanz besonders deutlich, da der Körper einerseits als integraler Teil des Selbst erfahren wird, andererseits durch Symptome, Tumore oder Entleerungen die bisher stabile Grenze des Ich nach außen durchbricht.29 Aus der Fremdperspektive treten abjekte Phänomene als irritierend oder ekelerregend hervor, da sie gesellschaftlich fixierte Normen von Reinheit, Gesundheit und Ordnung verletzen. Der Anblick von Krankheit, Blutungen oder Deformationen aktiviert kulturelle Kategorien des Grotesken und Abstoßenden. Diese Zuschreibungen prägen nicht nur die soziale Reaktion, sondern auch die Selbstwahrnehmung: Das Subjekt übernimmt die gesellschaftliche Abwertung und richtet sie gegen sich selbst. Das Abjekt entsteht somit im Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive: Es ist ein Prozess, in dem die Erfahrung körperlicher Fragilität mit kulturellen Konzepten von Grenze, Reinheit und Ekel verschränkt wird.

Abb. 5: Tracey Emin, About 25 years ago […] Screenshot: Instagram-Profil, @traceyeminstudio, 2022. https://www.instagram.com/traceyeminstudio/reel/ClhDaDhIGfi/. Abruf: 15.09.2025

Emins Erkrankung, die Anlage eines Urostomas und ihre anschließende Genesung verdeutlichen, wie stark das potenzielle Hervortreten des Abjekts an die Erfahrung des Körpers gebunden ist. Das Stoma, als sichtbare Öffnung und Ort der Ausscheidung, markiert einen Grenzbereich zwischen Innen und Außen. Es muss jedoch nicht von vornherein als abjekt gelesen werden. Seine Bedeutung entsteht im Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung: Während Emin den Eingriff als lebensnotwendig akzeptiert und das Stoma im Verlauf der Heilung in ihre Körperlichkeit integriert, wird es aus gesellschaftlicher Perspektive oft mit Ekel und Abwehr verknüpft.
Winfried Menninghaus beschreibt Ekel als „die Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird“30 und hebt hervor:

„Nicht nur die Anatomie, auch die Geschichte des Körpers wird im Negativen durchweg von Chiffren des ‚Ekel‘ determiniert: Verwundung, Zerstückelung, Alter, Tod. […] [D]as Wundmal ist Makel der geschlossenen Hautfassade und Erinnerung an den darunter tobenden Chemismus.“31

Vor diesem Hintergrund lassen sich Emins Fotografien nicht als bloße Darstellung des (vermeintlich) Ekelerregenden begreifen. Vielmehr untersuchen sie genau jene Grenzzonen, in denen Abjektion entstehen kann. Indem sie das Stoma sichtbar macht, verschiebt sie die Wahrnehmung weg von der pathologisierenden Zuschreibung hin zu einer Reflexion über Verletzlichkeit, Körperströme und Identität. Das Stoma wird so nicht zwingend zum Symbol des Abjekts, sondern zu einem Medium, das normative Vorstellungen von Körperlichkeit destabilisiert.

Rekonvaleszenz und körperliche Transformation

Tracey Emins Krankengeschichte markiert den Übergang von einem als gesund betrachteten Körper zu einem Körper mit Einschränkungen. Sie zeigt, dass Rekonvaleszenz oft bedeutet, sich nach einer Erkrankung oder medizinischen Intervention neu im eigenen Körper einzurichten. Dabei stellt sich die Frage, welche Funktionen weiterhin vollständig ausgeführt werden können, welche nur eingeschränkt oder mit Unterstützung möglich sind und welche dauerhaft verändert bleiben. Die Spuren der Heilung, seien es sichtbare Narben, veränderte innere Strukturen oder funktionale Anpassungen, prägen das körperliche Erleben tiefgreifend.32 Chirurgische Eingriffe hinterlassen durchtrennte Strukturen, vernarbtes Gewebe und bewusst herbeigeführte Fehlstellen. Dabei entstehen reale, nur teilweise sichtbare Spuren, die sich einer vollständigen Zeugenschaft entziehen. Sie bezeugen das Geschehene nicht durch Offenlegung, sondern im Modus der Abwesenheit. Ihre Unsichtbarkeit markiert die Grenze der Zeugenschaft: das, was erfahren, aber nicht gezeigt werden kann. Je nach äußerlicher Sichtbarkeit lässt sich das Ausmaß von Krankheit erkennen, vieles bleibt jedoch verborgen. Das Körperinnere wird neu geordnet, ehemals selbstverständliche Abläufe müssen wiedererlernt oder ausgelagert werden.33 Nur die betroffene Person selbst erfährt die sichtbaren und verborgenen Dimensionen von Krankheit und Behinderung in ihrer Gesamtheit.34

Abb. 6: Tracey Emin, My new life saver […] Screenshot: Instagram-Profil, @traceyeminstudio, 2022. https://www.instagram.com/p/CeQwOxVIYkm/. Abruf: 15.09.2025

Das Bild (Abb. 6) zeigt einen intimen Ausschnitt einer häuslichen Szene: Emin liegt im Bett, der Blick fällt auf ihre Beine in dunkler Schlafbekleidung. Auf dem Laken ist ein Schlauch zu erkennen, der sich über ihren Körper legt, sowie ein bereits deutlich gefüllter Urinbeutel, ein „disposable night bag“, der mit dem Stoma verbunden ist. In warmes, diffuses Licht getaucht und von einem halbtransparenten Vorhang gerahmt, entsteht eine Atmosphäre des Privaten. Die Aufnahme wirkt fast beiläufig und richtet den Fokus weniger auf Emin selbst als auf die Verbindung von Körper und medizinischem Gerät. Anders als in den vorangegangenen drastischeren Darstellungen des Stomas zeigt dieses Foto eine nüchternere, alltägliche Situation. Körperliche Versehrtheit erscheint nicht als Ausnahmezustand, sondern als Teil des Lebensalltags. Während Narben und Wunden meist als Zeichen des Außerordentlichen wahrgenommen werden, wird hier die permanente Abhängigkeit von medizinischer Technik als Normalität sichtbar. Der Beitrag trägt eine doppelte Geste, indem er eine intime Situation offenbart und zugleich politisch sichtbar macht, was gesellschaftlich oft verborgen bleibt. Während Emin ihren veränderten Körper nicht verbirgt, sondern ihn konsequent im Kontext von Krankheit, Verletzung und Unvollständigkeit thematisiert, stellt sie hegemoniale Vorstellungen von Weiblichkeit, Vollkommenheit und Schönheit infrage. Nach ihrer Erkrankung gewinnt ihre dokumentarische und künstlerische Praxis eine neue Dimension, die im Spannungsfeld einer „Ästhetik der Behinderung“ verortet werden kann. Tobin Sievers versteht darunter „eine nach traditionellen Maßstäben ‚zerbrochene‘ Schönheit, die jedoch nicht weniger schön ist, sondern sogar schöner sein kann.“35 Vor diesem Hintergrund lassen sich Emins Fotografien auch im Kontext der Disability Studies lesen: Sie legen gesellschaftliche Normen offen und verhandeln ästhetisch, welcher Körper als „fähig“ und welcher als „behindert“ gilt. Zugleich machen sie sichtbar, dass Fähigkeit und Behinderung nicht als starre Gegensätze bestehen, sondern als ambivalente, sich überlagernde Zustände. Der nächtliche Umgang mit dem Hilfsmittel verdeutlicht, dass Behinderung nicht nur als Defizit verstanden werden kann, sondern als spezifische Lebensrealität und dem beständigen Verhandeln von Lebensqualität, in der Körper und Technik untrennbar verschränkt sind. Im Gegensatz zur radikalen Sichtbarmachung des Inneren, in Form von Wunden, Körperströmen und das Stoma, verschiebt dieses Bild den Fokus auf das Äußere und Alltägliche: die Zeit im eigenen Bett, nächtliche Routinen und der Schlaf. Emins Beiträge ergänzen sich so, indem sie zwei Dimensionen von Krankheit, Heilung und Behinderung sichtbar machen – das Trauma und seine Spuren einerseits, den gelebten Alltag andererseits. 

Abb. 7: Tracey Emin, There is nothing wrong with bleeding […] Screenshot: Instagram-Profil, @traceyeminstudio, 2025. https://www.instagram.com/p/DEUduQ_IhvL/. Abruf: 15.09.2025

Im Beitrag (Abb. 7) zeigt Emin ihren nackten Rumpf in Nahaufnahme. Aus der Haut tritt ein rotes, fleischiges Gebilde hervor, aus dem Blut senkrecht nach unten rinnt. Das frische, glänzende Blut kontrastiert mit der hellen Haut. Darüber ist die Unterseite der Brust zu erkennen, im Hintergrund zeichnen sich unscharf weiße Wandkacheln ab. Der Fokus liegt auf dem fragmentierten Körper, der Hautöffnung und den Spuren von Blut. Emins Fotografien wie diese, die Blut, Urin, Stomata oder andere Körperphänomene und -zustände sichtbar machen, durchbrechen etablierte Bildkonventionen, die den Körper meist als geschlossen und intakt inszenieren. Indem sie diese tabuisierten Aspekte offenlegt, irritiert sie kulturelle Abwehrhaltungen gegenüber Körperflüssigkeiten und eröffnet zugleich einen Raum für alternative Perspektiven auf Weiblichkeit, Krankheit und Behinderung. Dieser Bruch ist gesellschaftlich produktiv, indem er Normen von Scham, Reinheit und Schönheit destabilisiert und die Realitäten verletzlicher, chronisch kranker oder behinderter Körper ins Zentrum rückt. Das Offenlegen von Körperflüssen, Narben und Wunden wird so zu einem Akt der Selbstermächtigung, indem es Erfahrungsräume markiert, die sonst unsichtbar und marginalisiert blieben.

Die Analyse hat gezeigt, dass Emins Beiträge verschiedene Ebenen von Kunst, Körper und Krankheit verschränken. Sie setzen sich mit patriarchalen Strukturen der Kunstgeschichte auseinander, unterlaufen Normierungen weiblicher Körperbilder und überführen feministische Strategien der Selbstrepräsentation in den digitalen Raum sozialer Medien. Durch die Sichtbarmachung von Krankheit und Behinderung brechen sie mit dominanten Körpernormen und eröffnen neue Zugänge zu ästhetischen und politischen Dimensionen von Verletzlichkeit. Tracey Emins Werk verdeutlicht, dass Körper weder rein biologische Gegebenheiten noch ausschließlich kulturelle Konstrukte sind, sondern komplexe Schnittstellen von Intimität, Materialität und Macht. Emins Praxis macht sichtbar, dass Verletzlichkeit und Brüche nicht nur Defizite markieren, sondern auch produktive Ausgangspunkte für neue Formen von Repräsentation und Subjektivität sein können. In einer Zeit, in der soziale Medien häufig normierte und idealisierte Körperbilder verstärken, setzt Emin dem eine Ästhetik entgegen, die Fragmentierung, Offenheit und Transformation in den Mittelpunkt rückt. So wird deutlich: There is nothing wrong with bleeding – es ist vielmehr die Fortführung ästhetischer und politischer Prozesse, die den Körper in seiner Verletzlichkeit ernst nimmt und damit neue Räume für Kunst, Identität und gesellschaftliche Teilhabe erschließt.


Biografie

DANIEL GÖRLICH, M.A., studierte Kunstgeschichte sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin. 2023 schloss er sein Masterstudium mit der Arbeit „Marginalisierte Frauenkörper im (Selbst-)Bild – Künstlerinnen der Gegenwart und ihr Umgang mit Alter und Krankheit“ ab, in der er sich mit künstlerischen Positionen von Maria Lassnig, Gisela Breitling und Francien Krieg beschäftigte. Seine Forschungsinteressen gelten der Kunst des 20. und 21. Jahrhundert, der Kultur- und Medientheorie sowie den Schnittstellen von Körper, Identität und künstlerischer Selbstrepräsentation – mit besonderem Fokus auf weibliche und (queer-)feministische Positionen.

Fußnoten

  1. Dieser Text enthält sensible Inhalte, darunter Beschreibungen und Abbildungen von Krankheit, Operationen und Körperflüssigkeiten.
  2. Tracey Emin betreibt ein öffentlich zugängliches Instagram-Profil unter dem Accountnamen @traceyeminstudio. Da es sich um ein offenes Profil handelt, sind die Beiträge Teil eines allgemein einsehbaren digitalen Archivs und können, wie andere publizierte Quellen herangezogen werden.
  3. Als weißer, männlicher und queerer Autor schreibe ich aus einer spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Position heraus, die meine Wahrnehmung von Körperdarstellungen, Krankheit und Verletzlichkeit prägt. Es ist mir bewusst, dass meine Auswahl und Interpretation der hier diskutierten Werke keine objektive Gültigkeit beanspruchen können, sondern Ausdruck einer subjektiven, situierten Lesart sind. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass mein Blick auf Tracey Emin von einer grundsätzlichen Wertschätzung für ihre künstlerische Praxis geprägt ist, was die Deutung unweigerlich in eine bewundernde Perspektive rückt. Indem ich diese Situiertheit offenlege, soll die spezifische Rahmung meiner Analyse transparent werden. Die Reflexion dieser eigenen Positionierung soll nicht als Relativierung verstanden werden, sondern vielmehr als Versuch, die Bedingungen meiner Analyse transparent zu machen und die Perspektivenvielfalt kunst- und kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen betonen. Auch die Entscheidung, welche Bilder Emins in den Fokus gerückt werden, folgt persönlichen Resonanzen und theoretischen Interessen und ist damit unweigerlich selektiv. Die Analyse folgt einer thematischen, nicht chronologischen Ordnung der Instagram-Beiträge.
  4. Ein Urostoma bezeichnet eine operativ angelegte Ableitung des Urins über die Bauchdecke, bei der ein aus einem Abschnitt des Ileums (Dünndarm) gebildetes Ileum-Conduit als Verbindung zwischen den Harnleitern und einer äußeren Stomaöffnung dient, wodurch der Urin kontinuierlich in einen außenliegenden Auffangbeutel abgeleitet wird.
  5. Tracey Emin im Gespräch mit Tina Dahely für das Format BBC 100 Woman: URL:
    https://www.youtube.com/watch?v=MaJeUDcqOF4 (Abruf am: 01.09.2025)
  6. Vgl. Ismene Wyss: Social Media Performance. YouTube und Instagram als Ort künstlerischer Aufführungen, München 2022, S. 15 f.
  7. Ismene Wyss hat anhand ausgewählter Künstlerinnenpositionen zur künstlerischen Brauchbarmachung von sozialen Medien abseits etablierter Nutzungsformen geforscht und analysiert wie z. B. Instagram für die Kunstpraxis und performative Strategien der Selbstrepräsentationen genutzt wird. Tracey Emin findet in der Untersuchung an einer Stelle in Bezug auf ihre ikonische Arbeit My Bed (1998) und deren Verhandlung von (weiblicher) Intimität und Öffentlichkeit Erwähnung. Ebd., S. 138.
  8. Hannah Vogel: Visuelle Tagebücher des Banalen. Stephen Shore und Instagram, in: Ulrich Hägele, Judith Schühle (Hrsg.): SnAppShots. Smartphones als Kamera, Münster/ New York 2021, S. 147-163, hier S. 156.
  9. Ramón Reichert: Selfies. Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur, Bielefeld 2023, S. 47.
  10. Ebd., S. 47 f.
  11. „Ein Counter-Selfie ist dann subversiv, wenn das problematische Verhältnis zum dominanten Sehen und zum Sichtbaren, zum Bild und zur Bildwerdung von Frauen, Minderheiten, sozialen Klassen und Ethnien selbst kritisch reflektiert und sagbar werden kann.“ Ebd., S. 48. [Hervorhebung im Original]
  12. Den Begriff Schwarz verwende ich in der Großschreibung und verweise damit auf seine Funktion als Selbstbezeichnung und -ermächtigung rassistisch markierter Menschen und Kollektive. Zugleich begreife ich Schwarz als Symbol der politisch-emanzipatorischen Widerständigkeitspraxis.
  13. Vgl. Bettina Richter: Vor-bilder – Körpererzählungen in der Kunst, in: Talking Bodies. Bild Macht Wirkung, Zürich 2023, 11-24, hier S. 12.
  14. Vgl. Bettina Richter: Einführung, in: Talking Bodies. Bild Macht Wirkung, Zürich 2023, S. 7-10, hier S. 7.
  15. Vgl. Ebd. S. 9.
  16. Richter 2023, S. 24.
  17. Ebd., S. 14.
  18. Vgl. Anja Zimmermann: Einführung. Gender als Kategorie kunsthistorischer Forschung, in: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin 2006, S. 9-36, hier S. 9.
  19. Vgl. Katy Hessel: The story of art without men. Große Künstlerinnen und ihre Werke, München 2022, S. 326-354.
  20. Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt am Main 1980, S. 21.
  21. Ebd., S. 11 f. Sontag schreibt: „Auch wenn es in gewisser Hinsicht zutrifft, dass die Kamera die Realität einfängt und nicht nur interpretiert, sind Fotos doch genauso eine Interpretation der Welt wie Gemälde und Zeichnungen.“ Ebd., S. 12.
  22. Hannelore Bublitz: Himmlische Körper oder wenn der Körper den Geist aufgibt. Zur performativ produzierten Hinfälligkeit des Körpers, in: Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby: Für Dein Alter siehst Du gut aus! Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers am Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 33-50, hier S. 36. Bublitz schreibt: „Der Körper ist selbst Zeichen und Medium. Erscheint als ‚Text‘, der sich fortwährend schreibt und verändert, während er gelesen wird. Die Spuren, die historische Ereignisse am Körper hinterlassen, können nur ‚archäologisch‘ rekonstruiert werden. Der Körper ist selbst eine Technologie, die sich fortwährend form(ier)t und modifiziert. Zugleich unterliegt auch der technisch-medial geformte Körper einem ‚Verfallsdatum‘, das sich, angekoppelt an modische Rhythmen, stetig verkürzt. Hinfälligkeit ist also ein Markenzeichen des natürlich-künstlichen Körpers.“ Ebd., S. 36.
  23. Sigrid Schade: Körper – Zeichen – Geschlecht. „Repräsentation“: zwischen Kultur, Körper und Wahrnehmung, in: Insa Härtel, Sigrid Schade (Hrsg.), Körper und Repräsentation, Opladen 2002, S. 77-87, hier S. 80.
  24. Klaus Speidel: Wie Wunden wirken: Verletzung zwischen Spur und Allegorien, in Johanna Schwanberg (Hrsg.), Zeig mir deine Wunde, Wien 2018, S. 50-59, hier S. 50.
  25. Ebd., S. 51.
  26. Tobin Siebers: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung, Bielefeld 2009, S. 79.
  27. Vgl. Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982, S. 53.
  28. Vgl. Barbara Oettl: Existenzielle Grenzerfahrungen. Tabubruch als Strategie in der zeitgenössischen Kunst, Bielefeld 2019, S. 155 f.
  29. Vgl. Kristeva 1982, S. 11.
  30. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 7. Menninghaus führt aus: „Diese radikale Formung des Körpers durch Deformation enthält zugleich eine Politik und eine Moral. Alles Ekelhafte sollizitiert eine ethische Reaktion: dieses da […] soll nicht sein, zumindest nicht für uns und in unserer Nähe. Es soll weg. Das theoretische Äquivalent praktischer Vermeidung ist Wegdefinition als ‚unnatürlicher Auswuchs‘ oder die schlichte Deklaration als Krankheit. “ Ebd., S. 80 f. [Hervorhebung im Original]
  31. Ebd., S. 123. [Hervorhebung im Original]
  32. Claudia Peter: Medizin, in: Robert Gugutzer, Gabriele Klein, Michael Meuser, (Hrsg.) Handbuch Körpersoziologie 2. Forschungsfelder und methodische Zugänge, Wiesbaden 2022, S. 247-261, hier S. 250.
  33. Ebd., S. 251.
  34. Ebd., S. 254.
  35. Siebers 2009, S. 8.