„I Had a Dream“, 2023 – Razan Sabbagh

Razan Sabbaghs Projekt- und Textbeitrag „I Had a Dream“ gibt Einblicke in die Tiefen des Saydnaya-Gefängnisses. Die Installation basiert auf Zeugnissen von ehemals inhaftierten Personen und fokussiert sich dabei auf Aussagen über einen Ort, an dem Klang, Stille und Zuhören zu zentralen Instrumenten der Macht und Ohnmacht werden. In der Dunkelheit von Saydnaya hat das Zuhören eine ambivalente Funktion inne: Während der Hörsinn von den Aufsichten zur Überwachung und Kontrolle instrumentalisiert wird, nutzen die Gefangenen aktives Zuhören, um Informationen zu sammeln, sich zu orientieren und zu kommunizieren, wodurch sie das Sinnesorgan als entscheidendes Mittel des Widerstands einsetzen. Mit “I had a Dream” analysiert Sabbagh die feinen Nuancen und die tiefgreifenden Auswirkungen im Kontext von Machtverhältnissen, die Klang und Stille in extremen Umgebungen haben können.

Das Projekt „I Had a Dream1 das sowohl als Kunstinstallation als auch als schriftlicher Beitrag verstanden werden kann, taucht in die Tiefen des Saydnaya-Gefängnisses ein – ein Ort, an dem Klang, Stille und Zuhören zentrale Instrumente von Macht und Ohnmacht sind.2 Die Installation basiert auf 14 Zeugnissen (115 Seiten) von Überlebenden des Saydnaya-Gefängnisses, die im Juli 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison (ADMSP) in englischer und arabischer Sprache veröffentlicht wurden. Jedes dieser Zeugnisse wurde sorgfältig präsentiert, mit besonderem Augenmerk auf den Aussagen, die sich auf die Akustik beziehen. Diese Auswahl veranschaulicht, wie die Inhaftierten in einem Schwebezustand zwischen Macht und Ohnmacht verharren, gefangen in einem akustischen Raum, der sowohl Unterdrückung als auch Widerstand repräsentiert.

In der Dunkelheit von Saydnaya wird das Hören essenziell. Die Infrastruktur des Gefängnisses – die Klänge der Folter durch Luftkanäle, Wasserleitungen und durchlässige Wände transportiert – macht Gebrauch vom Klang als Mittel der Gewalt und Unterdrückung. Zuhören dient jedoch auch einem dualen Zweck: Eingesetzt von Wärtern zur Überwachung und Kontrolle, verwenden die Inhaftierten aktives Zuhören, um sich Informationen zu verschaffen, sich zu orientieren und akustisch zu kommunizieren. Dabei avanciert das Zuhören zum Schlüsselmechanismus für Widerstand und Überleben.

Das Projekt betont die Zweideutigkeit von Klang und Stille im Rahmen von Machtstrukturen. Es offenbart, wie Sinneswahrnehmungen, besonders das Hören und Zuhören, in einem dynamischen Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht existieren können. Eine Überlegung zu den subtilen Unterschieden und den weitreichenden Effekten, die Klang und Stille in extremen Umgebungen mit sich bringen können.

Abb. 1: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Hamburg, xpon-art gallery, Credits: Helge Mundt.

Das syrische Gefängnissystem ist ein zentrales Element der Durchsetzung von Macht, das geschaffen wurde, um politische Akteure zu brechen. Dieses System hat tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf die syrische Gesellschaft. Es ist nicht nur ein Instrument zur Resozialisierung von Kriminellen, sondern vielmehr ein komplexes Steuerungs- und Kontrollsystem zur Unterdrückung abweichender Meinungen und zur Aufrechterhaltung der politischen Macht.

Die komplexe chronische, nationale und bürgerliche Krise in Syrien lässt sich zum Teil auf die Politik des Gefängnissystems zurückführen. Gefängnisse dienen als grundlegende politische Institutionen, die darauf abzielen, politische Individuen zu entpolitisieren und sogar zu vernichten. Die Inhaftierung ist tief in den politischen und kulturellen Kontext des Landes eingebettet und zu einer kollektiven Erfahrung geworden3 Fast jeder in Syrien ist entweder inhaftiert gewesen oder kennt jemanden, der inhaftiert war/ist. Das Gefängnissystem liegt im Herzen des syrischen Gemeinwesens und wirkt sich nicht nur auf die Gefangenen, sondern auf die gesamte Gesellschaft aus. Diese kollektive Erfahrung hat die gesamte Nation in ständige psychische Angst versetzt. Das syrische Gefängnissystem wird oft als syrischer Gulagbezeichnet, eine Anspielung auf die Zwangsarbeitslager, die in der Sowjetunion existierten und als Instrumente der politischen Unterdrückung dienten. Dieser Vergleich wird aufgrund des Ausmaßes des Gefängnissystems in Syrien angestellt, das sowohl statistisch als auch qualitativ einen Einfluss auf die Gesellschaft hat, der weit über die Gefängnissysteme anderer Länder hinausreicht.4

Das Saydnaya-Gefängnis hat während der Herrschaft des Assad-Regimes über Syrien und insbesondere seit 2011 eine zentrale Rolle gespielt. Das Regime hat dieses Gefängnis als wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung seiner Macht eingesetzt. Insbesondere seit dem Beginn der syrischen Revolution ist es bekannt als Ort schwerer Menschenrechtsverletzungen unter Bashar al-Assad.

Abb. 2: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Es hat sich als äußerst schwierig erwiesen, zuverlässige Informationen über die Bedingungen im Saydnaya-Gefängnis zu erhalten, da Journalist:innen und Beobachter:innengruppen kein Zugang gewährt wird. Die einzigen Informationsquellen über die Vorfälle innerhalb des Gefängnisses sind die Überlieferungen von ehemaligen Häftlingen. Nach Berichten ehemaliger Gefängniswärter, Offiziere und Gefangener aus Saydnaya besteht eine der wichtigsten Regeln darin, dass die Häftlinge zu jeder Zeit absolutes Stillschweigen zu bewahren haben; es ist ihnen nicht erlaubt zu sprechen oder auch nur zu flüstern. Innerhalb des Gefängnisses sind die Häftlinge häufig einem System des Sinnes-Entzugs ausgesetzt das ihnen die Orientierung nimmt. Da ihnen die Augen verbunden werden oder sie sich mit verdeckten Augen hinknien müssen, wenn die Folterer ihre Zellen betreten, wird der Hörsinn zur primären Wahrnehmungsmöglichkeit. Das von ehemaligen Häftlingen als Echo-Kammer beschriebene Gefängnis verstärkt die Geräusche der Folter und macht sie unausweichlich, da sie durch Lüftungsschächte und Wasserrohre widerhallen. Die akustische Erfahrung der Gewalt wird von allen Gefangenen geteilt, wodurch eine einzigartige und verstörende Form des kollektiven Leidens entsteht.

Abb. 3: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Sound, Stille und aktives Zuhören

Der Hörsinn kann gezielt zum Zuhören eingesetzt werden, kann sich aber auch manchen Geräuschen nicht verschließen. Einerseits können damit Geräusche als Instrumente der Aggression in systematischen Akten der Gewalt eingesetzt werden, wie sie in Haftanstalten, in Kriegszeiten oder inmitten politischer Unruhen vorkommen, andererseits können Geräusche auch als symbolische Ressourcen erkannt werden, die als positive Werkzeuge bei der Neuformierung der persönlichen Identität helfen – insbesondere nach Zwangsvertreibungen oder extremen Gewaltakten. Töne können somit als Mechanismen des Überlebens, des Widerstands aber auch als Instrumente der Überwachung, der Quälerei und der Auslöschung der Individualität dienen. Unabhängig vom Kontext sind Klänge und Praktiken des Zuhörens nicht greifbare Elemente, die für unsere menschliche Existenz von grundlegender Bedeutung sind, was die komplexe und vielschichtige Rolle unterstreicht, die sie in unserem Leben spielen5

Sound und Stille als Waffe

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Belege für den Einsatz von Stille und Geräuschen als Folterwerkzeuge in vielen Haftanstalten weltweit. Ein entscheidender Meilenstein in der Untersuchung dieses Bereichs ist die bahnbrechende Forschung von Suzanne Cusick, die sich auf das von den USA im Rahmen ihrer Kampagne gegen den Terrorismus eingerichtete verdeckte Gefangenennetzwerk konzentrierte.6 Ähnliche Strategien wurden auch in US-Gefängnissen, vor allem in Guantanamo Bay7 und in lateinamerikanischen Gefängnissen8, in bestimmten griechischen Gefängnissen während des Bürgerkriegs und der Militärjunta von 1967-19749, in chilenischen Gefängnissen während der Pinochet-Diktatur und in portugiesischen Gefängnissen während des Estado Novo10 festgestellt.

Wie in diesen anderen Fällen wird auch im Gefängnis von Saydnaya großer Wert auf die Geräuschkulisse gelegt. Dabei wird der Akt des Zuhörens sehr wichtig, und der Sound – mit seiner Fähigkeit, eine Stimmung zu erzeugen, Sinne zu berühren und Emotionen zu wecken – wird zu einem mächtigen Werkzeug in den Händen derer, die Gefangene unterdrücken und foltern wollen. Auch Stille, die Abwesenheit von Geräuschen, wird als Methode der Kontrolle eingesetzt.

Gefängnisse werden häufig als lärmende Orte beschrieben, und zwar sowohl von Gefängnisforscher:innen als auch von Personen, die direkte Erfahrungen mit der Inhaftierung oder der Arbeit im Bereich des Gefängniswesens haben. In Saydnaya ist genau das Gegenteil der Fall. Dort ist jede Form von Geräuschen völlig verboten: jede Form von Lärm, Konversation, Flüstern, sogar die qualvollen Schreie während der Folter. Dieser tiefgreifende sensorische Entzug ist ein wesentlicher Bestandteil des Überwachungssystems.

Abu Omar, einer der ehemaligen Häftlinge, die von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison (ADMSP) interviewt wurden, erinnert sich an die Konsequenz von akustischer Kommunikation: “Even talking was prohibited. If a jailer comes and hears a whisper in the dormitory, he would beat all the prisoners. To communicate with each other we used signs.”11

Dieses syrische Gefängnis ist von einer überwältigenden Stille erfüllt. Diese extreme Stille entspricht dem, was Suzanne Cusick als „akustische Dystopie”12 bezeichnet hat. Die Stille wird so zu einem komplexen Instrument der sensorischen Manipulation.13

Ein weiterer ehemaliger Häftling, der von den Amnesty International Researchern interviewt wurde, Jamal A., beschreibt dies wie folgt: “All speaking was forbidden—even a whisper was forbidden—so we were whispering even quieter than a whisper. The guards would take off their shoes and try to surprise us, to catch us whispering or talking. They even said that if we breathed too loudly, we would be punished”.14

Abb. 4: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Das Schweigen selbst ist eine akustische Beschränkung, die „das Recht auf Schweigen und das Recht auf Sprache mit schrecklicher Kraft durchdringt“.15 Dieses Konzept findet sich in Brandon LaBelles (2010) Analyse der Gefängnisstille als Befehl und Verhaftung in seinem Werk „Acoustic Territories“.

Gleichzeitig werden die seltenen Geräusche, die diese Stille durchbrechen, vor allem die gequälten Schreie der Gefolterten, mit „akustischen Angriffen“16 gleichgesetzt. Innerhalb der räumlichen Grenzen dieser Stille kann jedes Geräusch, insbesondere die sporadischen, unkontrollierten Geräusche der Gewalt im Saydnaya-Gefängnis, zu einer Reizüberflutung führen und so zu einer weiteren Variante der „akustischen Folter“ werden.17

Inmitten der erzwungenen, totalen Stille können die Einzelzellen schnell von geschlossenen Räumen zu ineinander verschlungene Teile eines komplizierten Netzes von Echos und lauten Geräuschen werden; Geräusche von Schritten, zuschlagende Türen, sprechende Stimmen, Kabel oder Gürtel, die man benutzt, werden alle in einem Resonanzraum extremer Stille intensiviert.18

Die Besonderheit von Saydnaya verdeutlicht die Realität der Gefängnisfolter, bei der Geräusche die Atmosphäre des Gefängnisses in einen Ort des gemeinsamen Leidens transformieren können. Der menschliche Körper, insbesondere das Gehör, ist schlecht darauf gerüstet, sich gegen unerwartete Geräusche zu schützen – insbesondere gegen Geräusche aus einer unsichtbaren Quelle, die ihn unvorbereitet erreichen, seine Aufmerksamkeit erfordern und kaum Möglichkeiten zum Ausweichen bieten.19 Goodman liefert in seinem Buch Sonic Warfare eine interessante Darstellung dieses Sachverhalts:

“That sound chills your spine. You can’t close your ears; you are defenseless. You cover the ears, but your skin is still exposed. You can’t see it coming either. Stealthily, insidiously, it wriggles its way toward you, bristling with an unfathomable potential for replication. It wants you. At least, it wants to use you. And then leave. It approaches with the croaking, crackling, chittering, seething intimacy of microbial life.”20

Diese Beschreibung deckt sich mit der Aussage von Abu Anas al-Hamwi, der von seinen Erfahrungen mit der ADMSP berichtete. Er erklärte: “Listening to the voices of those being tortured was a punishment by itself. It was horrible, as if you enter an empty city and hear sounds of ghosts and storms.”21

Die gemeinsame akustische Erfahrung der Gefängnisumgebung, sowohl in Goodmans Analyse als auch in al-Hamwis Zeugnis, spricht für die verstörende Kraft von Geräuschen, wenn diese als Mittel eingesetzt werden, um Menschen Leiden hervorzurufen.

Saydnaya ist trotz seiner Stille paradoxerweise ein Ort des extremen Zuhörens, ein Zentrum intensiver akustischer Überwachung.22 Die Stille scheint strategisch darauf ausgerichtet zu sein, die Bedeutung des Zuhörens innerhalb der Mauern zu unterstreichen. In dieser Gefängnisatmosphäre wird das Gehörtwerden –  die Wahrnehmung der eigenen Geräusche durch andere – zum grundlegenden Instrument der Überwachung und Kontrolle.

Abb. 5: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Michel Foucault untersucht in seinem 1975 erschienenen Werk Discipline and Punish das Konzept des Panoptikums, einer von Jeremy Bentham entworfenen Überwachungsstruktur.23 Das Panoptikum ermöglicht es einem einzigen Wächter, alle Insassen, ohne deren Wissen zu beobachten, wodurch ein Zustand bewusster und permanenter Einsicht geschaffen wird, der das automatische Funktionieren der Macht gewährleistet. Das Panoptikum funktioniert auf der Grundlage der Sichtbarkeit; die Beobachteten können den Beobachter nicht sehen, wissen aber, dass sie jederzeit beobachtet werden könnten, und passen daher ihr Verhalten entsprechend an.

Das Saydnaya-Gefängnis führt ein ähnliches Konzept ein, allerdings mit einer Neuerung – dem Panaudicon.24. Hier tritt das allgegenwärtige Ohr an die Stelle des Auges, und das Schweigen dient als primäres Mittel der Kontrolle.25 Die Gefängnislandschaft ist so strukturiert, dass selbst das kleinste Geräusch, etwa ein Flüstern oder ein Atemzug, eine potenzielle Regelüberschreitung darstellen kann, die zu einer Bestrafung führt. Dieses akustische Überwachungssystem beruht auf der absoluten Stille der Gefangenen und erhöht die Empfindlichkeit gegenüber jedem Geräusch, das diese Stille durchbricht.

Die Praktiken in Saydnaya, einschließlich der gnadenlosen akustischen Belästigung, des erzwungenen Schweigens und der eingeschränkten, überwachten Kommunikation mit der Außenwelt, spiegeln die breitere Dynamik von Macht, Kontrolle und Angst wider, mit der das Regime das Land regiert hat. Ebenso wie die Gefangenen nicht frei sprechen oder sich ohne Erlaubnis bewegen dürfen, ist die syrische Bevölkerung insgesamt in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt.

Aktives Zuhören

“If the listening ear is expediently prioritized in the Syrian prison, it is also—rather inadvertently then—allowed to grow in full force.“ beschreibt Maria Ristani die Situation in Saydnaya.26

Unter diesen harten Bedingungen, in denen das Sehvermögen stark eingeschränkt ist, schärft sich der Hörsinn der Gefangenen erheblich. Diese Entwicklung ist ein Überlebensmechanismus, der die Fähigkeit fördert, verschiedene Geräusche zu erkennen, zu unterscheiden und zu interpretieren.

Abu Hamdan stellte fest, dass die Häftlinge ihre Ohren auf jeden akustischen Hinweis und jedes Signal einstellten, um so viele Informationen wie möglich über den Ort ihrer Inhaftierung, ihre Entführer und die Formen der Folter, denen sie ausgesetzt waren, zu erhalten.27 In diesem Zusammenhang entwickelte sich das Zuhören zu einer Form der Zeugenschaft, die Orte erreichte, die für das Auge unzugänglich waren.28 Muneeer al-Faqeer, ein ehemaliger Gefangener von Saydnaya, erwähnte dies in seiner Zeugenaussage: “The largest part of our time was dedicated to caution, attention and awareness of the sounds coming from outside the cells.”29

In einem Artikel im Guardian aus dem Jahr 2016 berichtete Oliver Wainwright über die tiefgreifende Entwicklung des Hörvermögens der Gefangenen:

„detainees developed an acute aural sensitivity, able to identify the different sounds of belts, electrical cables or broomsticks on flesh, and the difference between bodies being punched, kicked or beaten against the wall”.30

Salam Othman, ein weiterer ehemaliger Gefangener von Saydnaya, verweist auf die entscheidende Rolle des Gehörs während seiner Zeit in Gefangenschaft. Das Erkennen von Personen anhand ihrer Fußschritte, der Essenszeiten anhand des Klangs einer Schüssel, das Assoziieren von Schreien mit der Ankunft neuer Gefangener und das Verstehen von Stille als Zeichen der Anpassung an die düstere Realität von Saydnaya – all das war Teil seiner Hörerfahrung.31

Muneer al-Faqeer beschrieb, wie sie die Menge des Brotes, die sie erhalten würden, anhand des Geräusches, das der Brotsack beim Aufschlagen auf den Boden machte, vorhersagen konnten: “Gradually we could distinguish if the bread bag thrown at the door of the cell was complete (8 loaves) or missing some loaves, just from the sound it gives when falling on the ground.”32

Trotz des strikten Verbots, zu sprechen oder zu flüstern, gelang es den Gefangenen in einigen Zellen, sich in kurzen Momenten leise auszutauschen, was ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Ermutigung vermittelte. Diese Gespräche reichten vom Austausch persönlicher Geschichten, Hoffnungen und Träume bis hin zum Üben von Hymnen oder gemeinsamen Gebeten und das Diskutieren über Essenszubereitungsmethoden.

Fantasieren und gegenseitiges Zuflüstern sind zu einem wichtigen Mittel des Überlebens geworden. Ein ehemaliger Häftling, Mutasem Abdul Sater, erklärte, wie sie auf Fantasie, Kommunikation und Zuhören zurückgriffen, um ihren Hunger zu stillen: “I’ll tell you how we used to ‚cook‘. Please don’t be surprised. We did not have anything that might be used for usual cooking. Instead, we resorted to fancies. Three or four of us gather to whisper explaining the way of cooking rice, okra (ladies’ fingers), or preparing cookies!” 33

Abb. 6: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.
Die Akustik des Widerstands:

Trotz des allgegenwärtigen Horrors, der akustischen Gewalt, der erzwungenen Stille und der Atmosphäre intensiver Unterdrückung, gab es auch Momente der Hoffnung. Diese Hoffnungsschimmer wurden durch schöne Klänge und kleine Akte des Widerstands verstärkt. Ob durch bestimmte Klänge, die sie zu hören bekamen, oder durch die gemeinsame Erzeugung von Klängen, z. B. beim gemeinsamen Beten oder Singen von Hymnen, oder durch verbale Kommunikation, bei der sie den Stimmen der anderen zuhörten, wurden diese Aktivitäten zu einer Form des „akustischen Widerstands“34

Der Klang kann für Menschen, die Gewalt erlebt haben, sehr wichtig sein. Diese Erfahrungen können das Leben einer Person drastisch verändern und sie dazu bringen, Dinge zu hinterfragen, die sie einst für normal hielten.35Die Art und Weise, wie Menschen die Welt erleben, kann durch ihren Körper, Symbole und materielle Objekte beeinflusst werden. Klang kann Menschen helfen, sich selbst und ihre Erfahrungen zu verstehen.36

In seinem Artikel listen with displacement hebt Tim Western die zentrale Rolle von Sound im Kontext von Migration hervor. Er untersucht, wie sich Hörkulturen im Kontext von Vertreibung entwickeln und wie Sounds zu integralen Bestandteilen der Mechanismen der Zugehörigkeit werden, die oft unbemerkt bleiben, aber in Debatten über die Bewegungsfreiheit von Bedeutung sind. Die Untersuchung wurde in Athen, durchgeführt, einer Stadt, in der die Menschen trotz abgelehntem Asyl, rassistisch motivierter Verfolgung und der Politik der EU-Grenze, die sich im urbanen Raum abspielt, ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl durch den Klang ausdrücken. Der Artikel plädiert für ein aufmerksameres Zuhören bei Vertreibung, eine Praxis, die die kreativen Anpassungen von Menschen, die Grenzen überschreiten, hervorheben, das gängige Narrativ, durch das die Migration als Problem darstellt wird, in Frage stellen und Repräsentationspraktiken hinterfragen kann, die die Vorstellung einer Flüchtlingskrise verfestigen.

Migration ist, wie in dem Artikel beschrieben, im Grunde ein akustischer Prozess (sonic process).37 Da Sound in ständiger Bewegung ist, kann er uns neue Perspektiven eröffnen, um die Gesellschaft selbst durch die Perspektive der Bewegung zu überdenken.38

In Deborah Kapchans Werk Slow Activism: Listening to the Pain and Praise of Others, erforscht sie das Potenzial von Sound und Zuhören als Werkzeuge für die soziale Analyse und empathische Bindung, insbesondere weil Sound niemals unbeweglich bleibt.39 Sie argumentiert, dass die visuelle Beobachtung oft ein Gefühl des Individualismus und des Separatismus verstärkt, während akustische Phänomene Individuen vereinen können, indem sie Körper, Nervensysteme und emotionale Reaktionen miteinander in Einklang bringen.

Zurückkommend auf den Fall des Saydnaya-Gefängnisses können wir sehen, wie akustische Phänomene als Waffe eingesetzt wurden, ihr Sein, ihren psychischen und emotionalen Zustand zu einer unterdrückten Einheit zu verbinden und einen Raum des gemeinsamen Leidens zu schaffen. Andererseits können wir auch sehen, wie die akustischen Phänomene und das Zuhören in den Zellen die Gefangenen zu einem Körper des Widerstands vereinigt haben.

Zuletzt ist es unsere Aufgabe unsere Ohren achtsam einzustellen, darüber nachzudenken, wessen Stimmen verstärkt werden und wessen Stimmen ungehört bleiben.

Das Projekt I had a Dream wirft eine Reihe kritischer Fragen auf und fordert uns auf, darüber nachzudenken, wie wir diese Momente des Mikro-Widerstands und des aktiven Zuhörens in eine brückenbildende Kraft in unserem Leben und in unseren Gesellschaften verwandeln können. Es erinnert uns daran, dass unser Verständnis von Macht und Ohnmacht durch achtsames Zuhören neu definiert werden kann.

Abb. 7: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Biografie

RAZAN SABBAGH beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Identität und soziopolitischen Themen und hinterfragt dabei unterdrückerische Machtstrukturen, indem sie beispielsweise die politische Infrastruktur von Gefängnissen untersucht. Sabbagh sammelt häufig mündlich überlieferte Erzählungen und Geschichten oder nimmt vorhandene Texte, Interviews und Zeugnisse als Ausgangspunkt für ihre Arbeit. Ihre minimalistischen Installationen, Videos und Performances erforschen oft die Beziehung zwischen Kunst, Aktivismus, Ästhetik und Macht. Sie hat an zahlreichen internationalen Ausstellungen teilgenommen, u. a. im Museum für Kunst und Gewerbe, Kampnagel und Thalia Theater, Hamburg (DE), im Sharjah Art Museum (AE), im Goethe-Institut, Paris (FR), und im Casino Display in Luxemburg (LU).

Fußnoten

  1. Der Titel der Installation, I Had a Dream (Ich hatte einen Traum), geht auf ein bestimmtes Zeugnis in der Sammlung zurück, das einen Moment des Widerstands und der Kameradschaft inmitten der bedrückenden Bedingungen des Sednaya-Gefängnisses symbolisiert. Der Satz ist dem morgendlichen Ritual der Gefangenen entnommen, Träume der vergangenen Nacht auszutauschen – ein heimliches Flüstern intimer Gedanken, Hoffnungen und Ängste, das unter dem Schleier äußerster Vorsicht stattfand, um einer Bestrafung zu entgehen. Muneer al-Faqeer beschrieb diese Momente in seinen Ausführungen mit den Worten:”we created a daily program titled “I had a dream” to be performed after breakfast. Each of us would tell what he had dreamt of the night before, and we all exchanged interpretation due to the absence of an authorized interpreter, […] It was an amusing episode in which we conditioned not to have words about foods or drinks, believing that seeing them in the dreams is a reflection of the will of the dreamer to have them. […] immediately after waking up we support our faith spiritually with prayers and hymns, followed by a physical support, food, and a psychological support from the dream episode.[…] Of course, all of these activities were practiced in whispers and in short times, fifteen or maximum thirty minutes for each..” Trotz der Formulierung in der Vergangenheitsform bringt der Satz „I Had a Dream“ die Beharrlichkeit der Gefangenen zum Ausdruck, mit der sie diese tägliche Tradition aufrechterhielten. Auf diese Weise blieben ihre Träume aus der Vergangenheit in der Gegenwart lebendig und bewahrten ein Gefühl von Menschlichkeit und Individualität in der entmenschlichenden Atmosphäre des Gefängnisses. Dieser Titel ist ein ergreifendes Symbol für den unbeugsamen Geist derjenigen, die unvorstellbare Umstände ertragen und ihre Identität sowie ihre Würde selbst in den größten Widrigkeiten bewahren.
  2. ADMSP: Prison of Sednaya during the Syrian revolution, URL: https://www.admsp.org/wp-content/uploads/2021/07/Testimonies-EN-1-1.pdf (2019), S. 77.
  3. Yassin Al-Haj Saleh: The greater jail: The politics of prison in Syria, URL: https://aljumhuriya.net/en/2021/02/19/greater-jailpolitics-prison-syria/ (19.02.2021).
  4. Jaber Baker und Ugur Ümit Üngör: The Syrian Gulag: Reality and Narratives about the Prison System, Justice visions. URL: https://justicevisions.org/podcast/the-syrian-gulag-reality-and-narratives-about-the-prison-system/ (30.06.2022).
  5. Luis Velasco-Pufleau und Laëtitia Atlani-Duault: Sounds of survival, weaponization of sounds: Exploring sonic lieux de mémoire (2020), S. 266.
  6. Suzanne Cusick: Towards an acoustemology of detention in the “global war on terror.”, Part IV – Music and sound: torture, healing and love (2013), S. 275–291.
  7. Suzanne Cusick: You are in a place that is out of the world . . . ”: Music in the detention camps of the “global war on terror.” Journal of the Society for American Music (2008), S. 1–26.
  8. Ana María Ochoa Gautier: Los silencios de la guerra, El silencio como armamento sonoro(2017) S. 117–157.
  9. Anna Papaeti: Music, torture, testimony: Reopening the case of the Greek junta (1967–1974), The World of Music (2013) S. 67–89.
  10. Anabela Duarte: Acousmatic and acoustic violence and torture in the Estado Novo: The notorious revelations of the PIDE/DGS trial in 1957, Music and Politics (2015).
  11. ADMSP: Prison of Sednaya during the Syrian revolution, URL: https://www.admsp.org/wp-content/uploads/2021/07/Testimonies-EN-1-1.pdf (2019), S. 39.
  12. Das Schreiben über Inhaftierung im Kontext des „global war on terror.“ beschreibt Suzanne G Cusick, wie Häftlinge gezielt durch schalltechnische Intervention in eine Art „akustische Dystopie“ überführt wurden – „eine Welt, die akustisch zwischen aggressiv laut und still geteilt ist“, was im Wesentlichen ihre Orientierung und ihren Platz in der Welt störte (Cusick 2013, S. 285).
  13. Maria Ristani: Sound Prisoners: The Case of the Saydnaya Prison in Syria, URL: https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/2633002420945711 (2020), S. 275.
  14. Amnesty International: Syria: ‘It breaks the human’: Torture, disease and death in Syria’s prisons, URL: https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/ (18.08.2016), S.54.
  15. – Brandon LaBelle: Acoustic Territories: Sound Culture and Everyday Life, (2010), S. 72.
  16. Luis Velasco-Pufleau und Laëtitia Atlani-Duault: Sounds of survival, weaponization of sounds: Exploring sonic lieux de mémoire (2020), S. 267.
  17. Ian Hill: Not quite bleeding from the ears: Amplifying sonic torture. Western Journal of Communication 76(3) 2012, S. 217–235.
  18. Ristani (2020), S. 280.
  19. Ebd., S. 279.
  20. Steve Goodman: Sonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fear (Technologies of Lived Abstraction) (2012) S. 138.
  21. ADMSP: Prison of Sednaya during the Syrian revolution, URL: https://www.admsp.org/wp-content/uploads/2021/07/Testimonies-EN-1-1.pdf(2019), S. 124.
  22. Ristani (2020), S. 276.
  23. Michel Foucault: Discipline and Punish: The Birth of the Prison (2012).
  24. Ein Begriff, der sich an Foucaults Verwendung des Begriffs „Panoptikum“ anlehnt
  25. Ristani (2020), S. 276.
  26. Ristani (2020), S. 278.
  27. Isabelle Hore-Thorburn: All wall and no wall at all: Lawrence Abu Hamdan at daadgalerie, URL: https://www.berlinartlink.com/2018/10/08/all-wall-and-no-wall-at-all-lawrence-abu-hamdan-at-daadgalerie/ (08.10.2018).
  28. R. Murray Schafer: A Sound Education, 100 Exercises in Listening and Sound-Making, Arcana Editions (1992), S. 44.
  29. ADMSP: Prison of Sednaya during the Syrian revolution, URL: https://www.admsp.org/wp-content/uploads/2021/07/Testimonies-EN-1-1.pdf (2019), S. 78.
  30. Oliver Wainwright: ‚The worst place on earth‘: inside Assad’s brutal Saydnaya prison. URL: https://www.theguardian.com/artanddesign/2016/aug/18/saydnaya-prison-syria-assad-amnesty-reconstruction (18.08.2016).
  31. Oliver Wainwright: ‚The worst place on earth‘: inside Assad’s brutal Saydnaya prison. URL: https://www.theguardian.com/artanddesign/2016/aug/18/saydnaya-prison-syria-assad-amnesty-reconstruction (18.08.2016).
  32. Sie könnten auch unterscheiden, wie gut der Reis, den sie bekommen, gekocht ist: “we even hear its sound when putting it in the bowels, as if it is raw, not cooked.”ADMSP: Prison of Sednaya during the Syrian revolution, URL: https://www.admsp.org/wp-content/uploads/2021/07/Testimonies-EN-1-1.pdf(2019), S. 79.
  33. ADMSP: Prison of Sednaya during the Syrian revolution, URL: https://www.admsp.org/wp-content/uploads/2021/07/Testimonies-EN-1-1.pdf (2019), S. 48.
  34. Mikhail Karikis: Lisboa Soa: Sound Art, Ecology and Auditory Culture, URL: http://www.mikhailkarikis.com/wp-content/uploads/2021/10/Mikhail-Karikis-Acoustcis-of-Resistance-EN-PT-Lisboa-Soa-book.pdf (2016-2021). S. 300-303
  35. Irini Kadianaki und Tania Zittoun: Catalysts and Regulators of Psychological Change in the Context of Immigration Ruptures (2013) S. 192.
  36. Georgina Born: Music and the materialization of identities, URL: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1359183511424196 (13.12.2011).
  37. Josh Kun: The Aesthetics of Allá: Listening Like a Sonidero (2016). S. 95–115.
  38. Heath Cabot: The Business of Anthropology and the European Refugee Machine (2019). S. 261–275.
  39. Deborah Kapchans: Slow Activism: Listening to the Pain and Praise of Others (14.01.2016). S. 115.

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