09. September 2015, Röszke, 2021 – Jonas Höschl

Die Installation 09. September 2015, Röszke untersucht die Rolle von digitalen Bildern und deren Wahrnehmung in der heutigen Gesellschaft. Sie bezieht sich auf die Ereignisse im Sommer 2015 an der EU-Außengrenze zwischen Serbien und Ungarn. Jonas Höschl dokumentierte als Fotograf und linker Aktivist die katastrophalen Zustände in einem Camp für Geflüchtete, das von der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán abgeriegelt wurde, was zu Tumulten und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Geflüchteten führte.

Jonas Höschl 09. September 2015, Röszke (Ausstellungsansicht)

Zehn schwarz lackierte Stahlaufsteller, weitläufig im Ausstellungsraum verteilt, tragen Glasplatten, in die transparente Vierfarb-Siebdrucke eingebrannt sind. Es sind die Screenshots einzelner Onlineartikel, aus denen der Künstler Abbildungen hervorgehoben hat. Als gestalterisches Display erinnert diese Rahmung an die Touchscreens digitaler Endgeräte, über die wir heute hauptsächlich Medien, Nachrichten und Bilder, aber vermehrt auch Kunst rezipieren. Sie beziehen sich auf die Ereignisse im Sommer 2015 an der EU-Außengrenze zwischen Serbien und Ungarn. Der Künstler dokumentierte als Fotograf und linker Aktivist die katastrophalen Zustände in einem Camp für Geflüchtete, das von der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán abgeriegelt wurde, was zu Tumulten und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Geflüchteten führte. Das Bild einer ungarischen Kamerafrau, die während dieser Unruhen nach fliehenden Menschen trat und ihnen ein Bein stellte, um sie am Weiterkommen zu hindern, ging um die Welt. Höschl selbst stand in dem Moment, in dem zahlreiche Aufnahmen entstanden, neben jener Kamerafrau und wurde somit selbst Teil der (internationalen) Rezeption dieser Momentaufnahme.

Die Aufsteller zeigen uns jene nur minimal voneinander abweichenden Aufnahmen in den unterschiedlichen Layouts verschiedener Onlinezeitungen. Hier etwa sollen rote Umkreisungen auf Details hinweisen, dort sehen wir den Playbutton für ein verlinktes Video. Das impliziert eine Vielzahl von Fragen, denn die Bedeutung der Bilder ändert sich je nach Kontext: Über welches Framing haben wir die Bilder wahrgenommen? Wie verändert sich ihre Rezeption, abhängig von solch redaktionellen Entscheidungen? Wie umfassend wird unsere Wahrnehmung globaler Ereignisse von deren medialer Aufbereitung beeinflusst? Welche Kontextualisierung kommt dem tatsächlichen Geschehen am nächsten? Kann es eine Berichterstattung geben, die dieses objektiv wiedergibt? Unklar bleibt auch, welche Rolle der Künstler im Moment der Aufnahme spielt, in welcher er sich zwischen der vermeintlichen Objektivität seiner fotojournalistischen Tätigkeit und der Position eines dem Gerechtigkeitsanspruch verschriebenen Aktivisten bewegt.1


Biografie

JONAS HÖSCHL, geboren 1995 in Regensburg, ist Konzeptkünstler und Fotograf. Für sein künstlerisches Werk, welches die Medien Druckgrafik, Sound, Video und Installation umfasst, erhielt er unter anderem den Bayerischen Kunstförderpreis für Bildende Kunst, sowie den Kulturpreis des Bezirks Oberpfalz für Druckgrafik. Jüngst erschienen seine beiden Kunstbücher Fade Away Medley (Das Wetter) und Politik von Medienbildern (Hatje Cantz).

Der Krampf des Atlas, 2023 – Maik Schrainer

Die 2023 entstandene Arbeit Krampf des Atlas setzt sich mit dem Gefühl der Überforderung auseinander, das oftmals bei den scheinbar unlösbaren Herausforderungen unserer Zeit emporsteigt. Der aus der Mythologie entlehnte Altas, der sonst mit aller Kraft die gesamte Erdkugel auf seinen Schultern trägt, ist unter der Schwere der Last zusammengesackt und greift sich in die noch krampfende Wade. Mark Schrainer fängt bildnerisch die Ohnmacht ein, die eine ganze Generation empfindet, die sich mit der Lösung von globalen Krisen und Klimakatastrophen konfrontiert sieht.

„Als ich dieses Jahr an einer Ausstellung zum Thema Anthropozän mitwirken und teilnehmen durfte, wurde bei den teilnehmenden Kunstschaffenden angefragt, ob diese eine künstlerische Arbeit zu diesem aktuellen wie auch enormen Themenkomplex beitragen oder erarbeiten könnten. Als ich mir daraufhin Gedanken zum Bildinhalt und zu einer malerischen Umsetzung machte, versuchte ich Kernaspekte der Klimakrise ausgehend von Gesprächen und Medien zu verdichten. Eine unmittelbare Dringlichkeit und Wichtigkeit, aufgrund von ansonsten drohenden, beinahe apokalyptischen Konsequenzen wurden dabei geäußert. Zu leichtsinnig, zu überholt, zu plakativ erschien mir ein Gemälde mit Weltuntergangsszenario, z.B. mit einer brennenden Erdkugel. Zu absolut und wohl möglich zu abschreckend wäre ein dystopischer Ansatz für mich gewesen, als dass ein Anregen zum Nachdenken bei oder eine Interaktion mit den Betrachtenden entstehen würde. Intendiert war ein Verweisen auf das Thema über den gewählten Bildinhalt, ohne mich jedoch von meiner üblichen Arbeitspraxis zu entfernen. Ich dachte auch über eine schlüssige Anknüpfung an meine vorherigen Arbeiten nach, ohne dieses Thema für dieses Bild zu instrumentalisieren. Ich wollte weniger die Tatsachen, Fakten oder Diskurse der Klimakrise aufzeigen. Vielmehr dachte ich darüber nach, wie es sich für mich oder möglicherweise andere anfühlte. Ich wollte meine innere, gefühlte Haltung und gegenwärtige Wahrnehmung noch weitläufiger, eher in einem Gesamtbild zusammenfassen und äußern. Das gefühlte Zusammenbrechen unter den Herausforderungen und Sorgen des Hier und Jetzt, die Last des Vergangenen als auch eine Ungewissheit im Hinblick auf das noch Bevorstehende.

Ich arbeite sehr gerne mit Themen aus Sagen, Mythen, Märchen und Geschichten, da sie erfahrungsgemäß unzählige Inhalts-, Interpretations- und Identifikationsebenen bieten. Angesichts der Thematik als eine wahrgenommene, unstemmbare Herausforderung suchte ich nach einer bildgestalterischen Darstellung. So verknüpfte ich die empfundene Belastung mit dem Sinnbild einer physischen Last. Die Figur des Atlas war dabei am eindeutigsten, bekannt und für mich bereits vorher als Motiv und als Symbol interessant.

In der griechischen Mythologie, in der alle übermenschlichen Figuren stets Personifizierungen darstellen, ist Atlas einer von vielen Titanen, der durch Aether (dem oberen Himmel) und Gaia (der Erde) gezeugt wurde. Von seinen drei Brüdern ist wohl Prometheus der Bekannteste. Atlas wird in Folge des Titanenkampfes gegen die olympischen Götter durch Zeus nicht wie die anderen Titanen im Tartaros, dem tiefsten Ort der griechischen Unterwelt, verbannt, sondern soll fortan am westlichsten Punkt der Erde und somit nicht allein den Himmel hochstemmen. Atlas wird zudem in den heroischen Sagen zu Herakles und Perseus erwähnt. Spannend ist hierbei zu wähnen, dass Atlas kurzzeitig seine Last an Herakles übergibt und von Perseus mithilfe des Hauptes der Medusa versteinert wird. Dem Atlas wurde somit mehrfach die „Last“ abgenommen.

Anders als in der mythologischen „Vorlage“, hält Atlas in unserem heutigen, allgemeinen Bildgedächtnis zumeist die gesamte Erd-/Himmelskugel bzw. einen Globus und nicht „nur“ die Himmelscheibe oder Säulen, auf denen der Himmel lastet. Kunsthistorische Rezeptions- und Adaptionensprodukte formten dieses nun allgemein verinnerlichte Bild, welches ich hier wieder aufgreife, hinterfrage und zu aktualisieren versuche. So finden wir heute noch architektonische, stützende Bau- und Schmuckelemente, die Atlanten genannt werden.

Maik Schrainer: Der Krampf des Atlas, 2023.

Zu sehen ist ein zu Boden gegangener Atlas, der sich schmerzvoll an seine krampfende Wade fasst. Ein statisches Verharren, nach einem raschen Sturz. Der Blick geht zu seiner Linken, weg von der (Erd-)Kugel, wobei ein Schaden an dieser noch unklar scheint; sie ist auch durch den gewählten Bildausschnitt für den Betrachtenden verdeckt. Atlas schaut auf den unmittelbaren Schmerz, doch hält er mit der anderen (rechten) Hand noch immer an der Kugel fest. Es ist ein Griff zur Sicherung der Kugel, aber auch zum eigenen Schutz. Droht die Kugel weg zu rollen oder doch ihn zu überrollen? Das weitere Handeln von Atlas bleibt dem Betrachtenden unklar. Klar ist, dass Atlas unter seiner vorherigen Last zusammenbrach und seine „Aufgabe“ oder auch „Verpflichtung“ nicht „schaffen“ konnte. Auch nach seinem Scheitern verschwindet die Last noch immer nicht. Was ist nun, wenn nicht mal mehr Atlas die Weltkugel tragen kann?

Eine weitere mythologische Figur, Sisyphus, weißt aus meiner Sicht, viele Parallelen zu der des Atlas auf: Beide sind mit einer Tätigkeit bestraft worden, welche ewig fortwährend und nicht „abschließbar“ ist. Diese beinhaltet bei beiden Figuren eine Kugel im weiteren Sinne. Atlas hält die Weltkugel wohingegen Sisyphus einen immer wieder zurückrollenden Stein auf einen Berg hoch drücken muss. Die körperliche Belastung steht zwar bei erster Betrachtung zentral im Vordergrund, doch ist es auch eine psychologische. Die Sinnlosigkeit der eigenen Tätigkeit, ein zwangsläufiges Scheitern und die auferlegte Unfreiheit sind Grundmotive, die ich darin sehe. Der Titel der Arbeit Der Krampf des Atlas erscheint somit als ausschlaggebendes Element für die inhaltliche Verortung des Bildgegenstandes. Es hätte auch Sisyphus daliegen können. Doch durch die Benennung der Figur als Atlas wird klar, dass es sich bei der blauen Kugel um unsere Erde handelt. Der durch den Titel implizierte inhaltliche Gegenstand bietet dabei eine breite Identifikationsebene. In Zweigesprächen mit Betrachtenden wurden mir so individuelle und oft sehr intime, persönliche Deutungen des Bildes mitgeteilt. Ziellosigkeit, Selbstzweifel, Machtlosigkeit und nicht immer klar geäußerte aber vermeintlich allgegenwärtige, zu erfüllende Erwartungen wurden dabei thematisiert. Eine Person sprach über eigene Versagensängste, Leistungsdruck und mentalen Stress, welche sich dann wieder in Form von physischen Schmerzen äußern können. Eine andere Person sah in Atlas als ein Symbol für ein auf ihm lastendes Rollenbild.

Am Ende des Prozesses erschloss sich mir die Erkenntnis, dass auf jeden Sturz auch wieder ein Aufstehen folgt. Oder so hoffe ich.“


Biografie

MAIK SCHRAINER studiert seit 2018 Kunst, Geschichte und Erziehungswissenschaften am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald. Künstlerisch agiert er in den Bereichen Malerei, Zeichnung, Bildhauerei und Druckgrafik. Malerisch arbeitet er bevorzugt figurativ, mit variierend breitem und lebhaftem Duktus. Ausgehend von eigenen Gedanken- und Wortspielen, Mythen & Sagen und durch das Hinterfragen tradierter Bildformeln aktualisiert und entwickelt er diese weiter. Sein besonderes Interesse gilt dabei dem Körper, und der malerischen Wiedergabe von dessen Fleischlichkeit sowie seiner ihn umgebenden Haut

Gegen gewaltvolle Ignoranz. ACT UP und der performative Weg aus der Ohnmacht, 2023 – Lea Celine Nohr

Politische Passivität und unterlassene Schutzmaßnahmen während der AIDS-Krise kosteten viele Menschen das Leben: Infizierte wurden Sterben gelassen, ihre Leben schienen entbehrlich. Erst die aktivistischen Aktionen ACT UPs lenkten in größerem Maßstab Aufmerksamkeit auf diese Ungerechtigkeit und stießen eine soziale Transformation an. Dabei beruhte die Wirksamkeit von Aktionen wie Stop the Church 1989 vor allem auf der Einbindung realer, unverfremdeter Körper in das theatrale Handeln.

„When a government turns its back on its people is it civil war?“ 

 – Gran Fury 

Diese provokative Frage stellte das Kunstkollektiv Gran Fury in einer ihrer kritischen Kampagnen in Bezug auf die AIDS-Epidemie (Abb. 1). Im Rahmen der Ausstellung Vollbild AIDS 1988 wurde das Motiv auf Werbetafeln der Berliner U-Bahn plakatiert. Der Plakatentwurf verurteilte die mangelnde staatliche Unterstützung von AIDS-Kranken in den USA zu Beginn der Epidemie und das damit verbundene Gefühl der Entbehrlichkeit ihrer Leben von Seiten der Politik. Aufgrund dieser Umstände und der daraus resultierenden prekären Lebenssituation vieler infizierter und erkrankter Personen wurde die politische Gleichgültigkeit auch als eine Form des Krieges bewertet.1 Zudem verwies Gran Fury in seinem Entwurf (vgl. Abb. 1) auf Parallelen zwischen den Verhältnissen während des Apartheidsregimes und der derzeit vorherrschenden Ungerechtigkeit des Gesundheitssystems: „The U.S. Government considers the 42,000 dead from AIDS expendable. Aren’t the ‚right‘ people dying? Is this medical apartheid?“

Auch Gwen Fauchois, Teil der Pariser ACT UP-Gruppe, beschreibt die emotionale Situation während ihres politischen Engagements im Nachhinein mit der eines Kriegszustandes:2 „It’s like a war, you haven’t time to cry, to mourn, to worry about the worsening condition of one or the other, because someone else is already dying.“3 Wie betäubt aufgrund des massenhaften Sterbens, konnten Angehörige nicht einmal ihrer Trauer angemessen Zeit und Raum geben. Infizierte hatten durch das schnelle Fortschreiten ihrer Erkrankung zudem nicht mehr die Möglichkeit, auf sich und ihre Notlage zu reagieren.

Abb. 1: Gran Fury: When a Government Turns its Back on its People, Is It Civil War?, 1988, Courtesy the artists. Ausst.-Kat. LOVE AIDS RIOT SEX, 2014, S. 27.

In einem Katalogtext zu der 1988 von ihnen organisierten Demonstration Read My Lips beschreibt Gran Fury nicht nur die Verzweiflung von Betroffenen aufgrund ihrer gefährdeten Lebenslage durch HIV und AIDS, sondern auch wie ihr Leiden durch die politische Ignoranz noch vergrößert wurde.4 Mangelnde politische Interventionen bewirkten eine negative Entwicklung der gesundheitlichen Gesamtsituation insbesondere für marginalisierte Risikogruppen.

Die bereits geschilderten gesellschaftlichen Missstände deuten auf ein politisches Versagen hin, dass sich auf die unterlassene politische Unterstützung zurückführen lässt und in einem gesundheitlichen Ausnahmezustand resultierte. Im damaligen Umgang mit Betroffenen lassen sich Parallelen zu Judith Butlers Theorie der Betrauerbarkeit und deren Instrumentalisierung zur Festigung von Hierarchien aufzeigen. Einen wichtigen Beitrag zum Wandel hat die aktivistische Gruppe ACT UP mit aufsehenerregenden Aktionen wie Stop the Church geleistet. Hierbei waren vor allem der Einsatz theatraler Mittel und die Körperbezogenheit der Handlungen Auslöser eines breiteren gesellschaftlichen Diskurses über die Krankheit. Um die Entwicklungen besser nachvollziehen zu können soll zuerst die Geschichte der Epidemie in ihren Anfangsstadien genauer beleuchtet werden. 

Die Anfänge der AIDS-Epidemie

Die Krankheit wurde in der Zeit ihrer Entdeckung 1981 und der zunehmenden Verbreitung auf besonders negative Weise mit Homosexualität in Verbindung gebracht, weshalb sie zuerst als Gay-Related Immune Deficiency (GRID) bezeichnete wurde. Homophobe Vorurteile und weit verbreitete Falschinformationen über die Übertragungsweise des Virus erzeugten eine enorme Stigmatisierung von Betroffenen: Aufgrund der potenziellen Nachverfolgbarkeit einer Ansteckung wurde die Infektion schnell mit Schuld und scheinbar mangelnder Selbstkontrolle des Sexuallebens in Verbindung gebracht; das Schicksal der Infizierten wurde automatisch mit schweren Krankheitsverläufen und großem Leid gleichgesetzt.5 Insbesondere die Assoziation des HI-Virus mit einem unausweichlichen, unmittelbar bevorstehenden Tod rief eine große Welle der Angst und eine räumliche Distanzierung gegenüber Betroffenen hervor.6 Dazu trug auch die mediale Repräsentation der Krankheit durch die Berichterstattung bei, welche durch das Exponieren von Opfern in fortgeschrittenen Stadien des körperlichen Verfalls eine abschreckende Wirkung auf die Öffentlichkeit auslöste.7

In Reaktion auf die negativen Konnotationen des ihnen auferlegten Labels AIDS-Patient:in führten Betroffene für sich und ihre Angehörigen die Selbstbezeichnung People With AIDS, kurz PWA ein. Der Fokus sollte nicht mehr auf der Krankheitssymptomatik selbst, sondern dem Leben im Umgang mit der Krankheit liegen.8

Silence = Death – Ignoranz als Mittel staatlicher Machtausübung

Die US-amerikanische Regierung reagierte derweil mit Gleichgültigkeit auf die sich kontinuierlich verschlechternde Situation der Betroffenen. Bis 1987 waren es noch 50.280 Krankheitsfälle in den USA, welche sich im Zeitraum von 1988 bis 1992 vervierfacht haben.9 Zu Anfang wurde von staatlicher Seite rigoros jeglicher Diskurs über die Krankheit vermieden und keine Gegenmaßnahmen ergriffen.10

Verschiedene Staaten reagierten im weltweiten Vergleich indes sehr unterschiedlich auf die Epidemie. In den USA wurde der öffentliche Diskurs vor allem durch einen emotional geprägten Aktivismus angeregt, der konkrete politische Ziele verfolgte. Währenddessen waren in Deutschland radikale Proteste von geringerer Notwendigkeit, da das Gesundheitssystem früh eine Versorgung von PWA gewährleistete.11

Jene passive Haltung sowie non-existenten Reaktionen auf die vielen Krankheitsfälle und das mangelnde Mitgefühl für die missliche Gesamtsituation der Betroffenen sind hingegen keineswegs Ausdruck von politischer Neutralität. Sie lassen sich vor dem Hintergrund des von Judith Butler formulierten Konzeptes der Betrauerbarkeit als Mechanismen staatlicher Machtausübung und Hierarchisierung von Personengruppen deuten – und verurteilen.

Betrauerbarkeit = Leben, oder wieso PWA im Stich gelassen wurden

Trauer scheint aufgrund der Massen verstorbener Infizierter ein wichtiger Antrieb aktivistischer Bestrebungen gewesen zu sein. In ihrem Buch Die Macht der Gewaltlosigkeit geht die Philosophin Judith Butler nicht nur auf das politische Veränderungspotential radikaler Gewaltlosigkeit ein, die sich in ihren Augen keineswegs passiv verhält.12 Sie verknüpft in ihrer Theorie auch die unterschiedlichen Grade der Trauer um den Verlust von Menschenleben mit einer Bewertung letzterer und darauf aufbauend der Konstitution politischer Machtverhältnisse. Biopolitische Vorüberlegungen bilden hiervon die Grundlage: Der von Butler in den Mittelpunkt gerückte Faktor Betrauerbarkeit entspricht einer Wertschätzung des Lebens anderer in der Gesellschaft und geht mit Schutzmaßnahmen zum Fortbestand dieser einher. Im Falle der AIDS-Epidemie bestand gleichwohl kein ausreichender Schutz der Infizierten (Minderheiten) durch die machthabende Mehrheit (Politik). Die Trauer der Angehörigen über die zahlreichen Verstorbenen kann allerdings wiederum zur Form des Protests werden. Indem marginalisierte Personen den Verstorbenen Respekt und Aufmerksamkeit entgegenbringen, verstellen sie sich gegen das Schweigen der Mehrheitsgesellschaft.13

ACT UP

Erst sechs Jahre nach offiziellem Beginn der Epidemie in Amerika, im März 1987, formierte sich die aktivistische Gruppierung Aids Coalition to Unleash Power in New York. Unter dem Akronym ACT UP bekannt verstand sie sich als überparteiliche Instanz, die mithilfe zivilen Ungehorsams und Aufklärungsarbeit für die Rechte und medizinische Versorgung von AIDS-Erkrankten kämpfte. Später formierten sich weltweit weitere Ableger der Gruppe, 1989 mitunter der erste deutsche Zusammenschluss in Berlin.14

ACT UPs Interventionen bekämpften die Passivität von Seiten der Politik, um PWA erneut eine Zukunft zu eröffnen. „Inmitten der Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit stellte ACT UP einen Schritt der Selbstermächtigung dar“15, beschreibt Ulrich Würdemann, einer der Chronisten deutscher AIDS-Geschichte, ACT UPs soziale Rolle im Kampf gegen AIDS. Der Kunsthistoriker und Kurator Raphael Gygax betont des Weiteren die Bedeutung ihrer Aktionen für den öffentlichen Diskurs: ACT UPs „[a]ctions designed to galvanize public opinion energized and politicized the discussion on HIV/AIDS and propelled a lobbying campaign that, after years of neglect, championed the rights of infected people and their families.“16

Eine der wichtigsten Interventionen mit denen ACT UP großes mediales Aufsehen erregte und ein Bewusstsein für die Bedürfnisse von PWA erzeugte, war wohl die Aktion Stop the Church in New York.

Die Stop The Church-Aktion

Die katholische Kirche in New York vertrat unter der Leitung des Erzbischofs und Kardinals John O’Connor eine höchst konservative Sexualmoral und sprach sich gegen Safer-Sex-Praktiken und eine diesbezügliche Aufklärung in Schulen aus. O’Connor mischte sich aktiv in die städtische Politik ein und nahm durch homophobe Kampagnen negativen Einfluss auf die Gesundheitspolitik der Stadt. Er setzte sich mitunter gegen die Verfügbarkeit von Kondomen in der breiten Bevölkerung ein.17

Am 10. Dezember 198918 fanden sich insgesamt 7.000 Demonstrierende während der Messe des Kardinals vor und in der St.-Patrick’s-Kathedrale ein19, um sich gegen seine reaktionären Bestrebungen zu widersetzen (Abb. 2). Mittels verbalen Protests, dem Bewurf mit Präservativen oder einem sogenannten Die-In, bei dem sie sich als Tote inszenierten,wehrten sie sich gegen den denunzierenden Umgang mit Infizierten, aber auch Homosexuellen ganz allgemein und machten auf ihre Rechte aufmerksam.20 Einige Aktionen fanden parallel statt und nicht alles verlief wie geplant. Das Die-In beispielsweise hätte im Stillen vonstattengehen sollen, um den Gottesdienst nicht zu stören.21 Dass einige Aktivist:innen lautstark Protestrufe äußerten, die heilige Hostie verwehrten oder sich an das Kirchengestühl ketteten, rief Ablehnung bei den Gläubigen hervor und wurde teilweise als Sakrileg gesehen.22 Auch wurden einige Aktivist:innen festgenommen. Eine mediale Verarbeitung des Ereignisses fand zwar großflächig statt, aber die Reaktionen darauf waren vorwiegend negativ.23 Ähnliche Aktionen fanden später auch an anderen Orten statt, unter anderem 1991 während der Tagung deutscher Bischöfe im Dom zu Fulda in Deutschland.24

Abb. 2: Protestierende während der Aktion Stop the Church, Bildschirmaufnahme, Inside Edition: Author Sarah Schulman Explains How ACT UP Achieved Incredible Victories for People With AIDS, 19.06.2021, URL: https://www.insideedition.com/author-sarah-schulman-explains-how-act-up-achieved-incredible-victories-for-people-with-aids-67671 (30.10.2023).

Wie die Autorin und ehemaliges ACT UP-Mitglied Sarah Schulman in einem Interview beschreibt, wurde die Aktion als Wendepunkt in der Geschichte des AIDS-Aktivismus wahrgenommen. Erstmalig im Verlauf der Epidemie lehnte sich die diskriminierte Minderheit gegen eine machtvolle Institution wie die Kirche auf.25 „[The c]ontroversial protest helped create a shift in how the LGBTQ community stood up for itself,“26 fasst das Nachrichtenmagazin Inside EditionSchulmans Beobachtungen zusammen. In ihrem Buch Let the Record Show wird der Ablauf der Aktion von der Planung bis zur nachträglichen Reflektion aus mehreren Perspektiven ausführlich geschildert.27

Das Die-In – Die Inszenierung des Todes

Insbesondere das sogenannte Die-In kann eine wichtige Funktion im Adressieren der gesamtgesellschaftlichen Gefahr durch das Virus und den Folgen unterlassener institutioneller Hilfeleistungen zugeschrieben werden. ACT UP eignete sich dieses Vorgehen von vorhergegangenen Protesten wie dem Earth Day 1970 in Boston an, bei dem Aktivist:innen die tödlichen Folgen von Luftverschmutzung durch ihren performativen Tod inszenierten, und gebrauchte es als eine ihrer regelmäßigen Aktionsformen.28 Die implizite Verbindung der Krankheit mit dem bevorstehenden Tod wurde in Die-Insveranschaulicht. Die sich auf den Boden legenden Aktivist:innen (Abb. 3) protestierten üblicherweise im Stillen. Visuell verwiesen sie damit auf den wichtigsten Slogan von ACT UP: Silence = Death

Abb. 3: Die-In in der St.-Patricks-Kathedrale, Bildschirmaufnahme, DIVA TV: Like a Prayer, in: ACT UP Oral History Project: Stop the Church, URL: https://actuporalhistory.org/actions/stop-the-church (30.10.2023), TC: 14:02.

Im Falle von Stop the Church war der Kirchenraum als Ort von besonderer Relevanz für die hervorgerufene Wirkung des Ereignisses: Dieser und die eng mit ihm verbundene konservative Weltanschauung standen in einem antagonistischen Verhältnis zu den Werten der Protestierenden. Durch ihr Handeln in diesem räumlichen Kontext wurden implizit Fragen nach Schuld und Sünde aufgeworfen, welche die Meinungsdivergenz von Seiten der Kirche noch verschärften.

Auf den ersten Blick erschien ihr Handeln sehr theatral: Die Aktivist:innen schlüpften in die Rolle der bereits Verstorbenen und sich im Sterben befindlichen Erkrankten, indem sie durch das stille auf dem Boden liegen in einer symbolischen Geste ein Massensterben imitierten. Auch AIDS-kranke Künstler:innen wie Mark Morrisroe nahmen in Fotografien ihren Tod vorweg: „Diese selbstbestimmte Inszenierung des eigenen Sterbens lässt sich als ein AIDS-spezifisches Phänomen deuten,“29 erkennt die Kunsthistorikerin Sophie Junge.

Jedoch ist der hier vorgespielte Tod nicht nur ein symbolischer, sondern die beängstigende Realität vieler der Beteiligten.30 Das Liegen kann als eine körperliche Darstellung von Ohnmacht verstanden werden, die mit der tatsächlichen Hilflosigkeit zusammenfiel. Durch die körperliche Aufführung der eigenen Machtlosigkeit wurde eine Interaktion zwischen den Akteur:innen und den Kirchenbesucher:innen angestoßen, wodurch ihre Emotionen unmittelbar auf die Umgebenden wirkten und ihre Aussichtslosigkeit erlebbar wurde.31 Die „Grenze zwischen semiotischen Körper“, also der eingenommenen Rolle, „und dem phänomenalen Leib“32, dem realen Körper verwischte dabei, um es in den Worten der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte zu beschreiben. Damit handelte es sich offenbar um ein performatives Handeln: „Während Theatralität sich auf den […] Theaterbegriff bezieht und die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten fokussiert, hebt Performativität auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab.“33 Letzteres war das Hauptanliegen des Vorhabens: Die eigene Realität trotz vehementer Widerstände in positiver Weise zu beeinflussen (Abb. 4).

Abb. 4: Abtransport eines Protestierenden während des Die-Ins, Bildschirmaufnahme, DIVA TV: Like a Prayer, in: ACT UP Oral History Project: Stop the Church, URL: https://actuporalhistory.org/actions/stop-the-church (30.10.2023), TC: 4:27.

Ausblick 

Die offensichtliche Notwendigkeit politischer Entscheidungen in Anbetracht vieler katastrophaler Entwicklungen veranlasst nach wie vor Menschen auf die Straße zu gehen und für ihre Rechte zu protestieren. Klimaaktivist:innen berufen sich wie damals schon AIDS-Aktivist:innen auf wissenschaftliche Fakten, welche die Gegenseite bewusst relativiert oder ausklammert. Mit Fridays For Future wurde ein erster Schritt getan, um engagierte und um ihre Zukunft besorgte Menschen zu vereinen, und auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Im Gegensatz dazu erregt die letzte Generation trotz geringerer bürgerlicher Beteiligung mit ihren Aktionen ein deutlich breiteres mediales Aufsehen. In der Art wie sie die Kunst in Museen attackieren oder sich auf Straßen festkleben – ihren Körper und ihre Umgebung mit in ihren Protest involvieren, lassen sich Parallelen zu der beschriebenen Aktion ACT UPs erkennen. Der performative Körper wird zum Ausdrucksmedium des erfahrenen Unrechts und potentieller Auslöser eines gesellschaftlichen Umdenkens. Das Potential performativer Strategien wird weiterhin von Aktivist:innen genutzt und gewinnt in der visuell geprägten Medienlandschaft zunehmend an Bedeutung. 


Biografie

LEA NOHR absolviert derzeit ihren Magister in Kunstwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, studiert zudem Ausstellungsdesign sowie Pädagogik und Angewandte Kulturwissenschaften am Karlsruher Institut für Technologie. Sie befasst sich aktuell unter anderem mit Fragen rund um die Normierung und Idealisierung von Körpern innerhalb der Kunst, den Medien sowie der visuellen Lebensumgebung, der Entwicklung historischer und gegenwärtiger Ausstellungspraktiken und unterschiedlichen Ausprägungen von Erinnerungskultur.

Omnipotenz, 2023 – India Marie Adams

Die größte Macht, der jeder Mensch einmal ausgeliefert sein wird, ist die des Todes. Unabhängig von allen weltlichen Zuschreibungen macht er vor niemandem Halt. Und dennoch, obwohl er unausweichlich auf uns wartet, nehmen vor allem in der westlichen Welt die Versuche zu, ihn so lange wie möglich fernzuhalten. Verjüngungskuren und allerlei kosmetische Eingriffe versuchen den fortschreitenden Alterungsprozess aufzuhalten, um länger der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit aus dem Weg zu gehen. India Marie Adams beschäftigt sich in ihrer Arbeit Omnipotenz mit diesem Versuch der Ohnmacht des Todes zu entgehen. Der von ihr programmierte künstliche Organismus basiert auf den Fähigkeiten der Qualle Turritopsis dohrnii, die sich selbstständig immer wieder verjüngen kann. Adams Arbeit ruft zur Reflexion über die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist auf und versucht sich der Frage zu widmen, welche Konsequenzen sich durch diese Art der Verjüngung für den Menschen ergeben würden. 

India Marie Adams: Omnipotenz, 2023.

Wenn ich an das Gefühl der Ohnmacht denke, muss ich unweigerlich an den Umgang mit dem Tod denken. Beim Versuch sich das Unvorstellbare vorzustellen, schnürt es uns die Eingeweide zusammen. Verzweiflung kommt auf, wenn wir es wagen, etwas so Unbegreifliches wie die Nichtexistenz in das alltägliche Leben eindringen zu lassen. Denn ist es nicht so, dass wir stets am seidenen Faden des Lebens hängen? Der mit viel Glück hält, aber jeden Augenblick durch eine Krankheit oder einen Unfall reißen kann und uns wieder zurück in die dunklen Tiefen unseres Ursprungs stürzen lässt? Eins ist sicher: Wir haben bei unserer Entstehung bereits das Rückfahrtticket eingelöst.

Um diese Ohnmacht zu bekämpfen, wird vor allem in der westlichen Kultur das Schicksal, das uns alle ereilen wird, verdrängt. Dennoch scheint es omnipräsent zu sein. Wir achten auf Ernährung und Bewegung, um jung zu bleiben und somit den Tod auf möglichst große Entfernung zu halten. Das Leben soll so wenig Spuren wie möglich auf unserem Körper hinterlassen, damit wir uns und vor allem dem Tod vorgaukeln können für immer jung zu sein. Mit einer Reihe von Beauty Produkten und kosmetischen Eingriffen kann unsere Seele in vollen Zügen leben und Erfahrungen sammeln, während die Zeit kaum einen Einfluss auf unseren Körper hat.

Keine Entscheidung im Leben soll endgültig sein, denn damit müssten wir uns eingestehen, dass das Leben endlich ist. Wir wollen nach dem Vorbild der jüngsten Form des Lebens omnipotent bleiben – alles soll immer möglich sein. Können wir so die Ohnmacht des Todes überwinden? Welche Auswirkungen hätte eine biologische Verjüngungskur – das Rückversetzen in die Kindheit – wie sie die Qualle Turritopsis dohrnii beliebig oft durchführen kann und somit biologisch unsterblich ist? Manifestieren sich die Erfahrungen der Seele nicht auch im Körper? Und bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass mit einer Veränderung auf biologischer Ebene eine Veränderung unserer Erfahrungen und Persönlichkeit mit einhergehen muss?

Auf der Suche nach Antworten zu diesen Fragen programmiere ich einen künstlichen Organismus, der sich ähnlich wie die Qualle Turritopsis dohrnii immer wieder verjüngen kann. Die interaktive Simulation soll zum Betrachten und Interagieren mit dem Organismus einladen, um über den Umgang mit der Ohnmacht, die der Tod auslöst und der Überwindung dieser zu reflektieren: Was lässt uns in die Ohnmacht stürzen? Ist der Tod die Auflösung der Grenzen des individuellen Bewusstseins in ein grenzenloses kollektives Bewusstsein? Ist unser gegenwärtiges Ich nicht die Konsolidierung unserer vergangenen Ichs? Besteht unser Leben nicht aus vielen kleinen Toden, die uns ein Stück weit auf das große Finale vorbereiten? Welche Erfahrungen nehmen wir mit in den nächsten Lebenszyklus? Welche möchten wir vergessen? Was macht uns zu uns? Was muss aufgegeben werden um Macht über den Tod zu besitzen? Das Leben?


Biografie

INDIA MARIE ADAMS studiert Medienkunst an der HfG Karlsruhe. Ihre künstlerische Tätigkeit umfasst Mixed-Media-Arbeiten, sowie interaktive Animationen und Kunstspiele. Ausgangspunkt für ihre Werke sind dabei immer die Beobachtung und Erforschung vermeintlich banaler Alltagssituationen, die sie unter kritischem Einbezug dekonstruiert und reorganisiert. Ihre feinfühlige Analyse hebt dabei die Nuancen hervor, die schlussendlich die Komplexität des Gewöhnlichen sichtbar machen. Ihr Interesse gilt vor allem den Zwischenräumen und Überschneidungen, die unvermeidlich beim Einbezug historischer Ereignisse, gesellschaftspolitischer Entscheidungen und der Hinterfragung tradierter Vorstellungen zum Vorschein kommen. Ihr genaues Hinsehen enthüllt dabei absurde, groteske und teilweise grausam erscheinende Szenen. Adams schreckt jedoch nicht davor zurück, sich diesen unangenehmen Grauzonen zu widmen, vielmehr sucht sie nach ihnen. Die Loslösung von einem zweidimensionalen Schwarz-Weiß-Denken stürzt die unhinterfragte Ordnung in ein Chaos, durch das jedoch neue Potenziale freigelegt werden können

Multidimensional Racial Capitalism – One dimensional currency, 2021 – Imke Felicitas Gerhardt

Reflections on the entanglement of freedom and bondage, the inside and outside, past and present

Wie lässt sich der Wert eines (Kunst)Objektes bestimmen und wer besitzt die Macht dazu? Imke Felicitas Gerhardts Essay beschreibt eine fiktive Reise zweier real existierender Objekte, in welche sich die (Kolonial)Geschichte spurenhaft eingeschrieben hat. Eine Objektbiographie also, die die Verwobenheit von Geschicht(en) (entangled histories) zu illustrieren versucht. Der experimentelle Schreibstil und der Einbezug von transdisziplinären Ansätzen kann dabei als Kritik an institutionalisierten Formen westlicher Wissensproduktion verstanden werden. Der Essay versucht zu verdeutlichen, dass sowohl eine transkulturelle als auch eine transnationale Perspektive unerlässlich ist.

For the reader:

The following essay is a transdisciplinary attempt to illustrate the entanglement of histories by following two objects on their journey. Telling their stories, like writing their ‘object biographies’ should open alternative perspectives on the materiality of ones everyday world. The more experimental writing style and the use of theories from different disciplines is an attempt to critique and overcome institutionalised forms of western knowledge production. The essay tries to illustrate that a transcultural, as well as a transnational perspective is indispensable.

2010

London

A day in September

Concrete. Le Corbusier’s most desired material, or Modernity’s most desired material, or its expression. Metonymy.
Concrete: an object. Here, in its clarity, in front of us: An Exterior Light, £26,250.1 (fig.1)

Figure. 1:
Le Corbusier, Exterior Light, from Chandigarh, India, 1952-1956, concrete, steel, glass, 88 x 87,5 x 57cm.
Image Credits: Phillips Auktionshaus – https://www.phillips.com/detail/le-corbusier/UK050210/1?fromSearch=corbusier&searchPage=2

Like nervous flies, pulled towards light. Here, by desire too. Fraught faces of bidders buzzing in speculation. An object, itsprice. Its value — in the future.
1796, Westminster London, the foundation of Phillips. An auction house, proud of its history, even prouder ofthe present — its presence, globally. Continuities.
“Le Corbusier, Exterior light, from Chandigarh, India, 1952-56, estimate £18,000-22,000.”2 Le Corbusier’slight for India, a vision, exterior, an Exterior Light, expired.
Wrested of its being. No longer an integrated part of a whole, of a building, extracted, singularized, like commoditized, pulled by its value, which is defined by its outside. The art market.
Its lines of flight, its change in nature (Deleuze), in migration. Being now the abstract of the abstract is the result of a process — of its commodification. A value, not innate, but infused, not only by exchange, but by culture, too. Igor Kopytoff calls it the moral economy. A cultural and cognitive marking of the thing, concealed by objective transaction.3 What is value?
Chandigarh, the planned city. India’s expression of a new beginning. A monument of modernity, built shortly after independence (1947). A masterpiece of Le Corbusier – the authority of modernity. A vision for a future — in decay. In 2011, The Guardian headline reads: “Le Corbusier’s Indian masterpiece Chandigarh is stripped forparts. Group rallies to rescue city built as monument to modernity from neglect and plunder.” “To plunder,” to steal, or to loot. A word, used in the context of war, or of colonialism. Continuities. The article goes on: “Recently, international art dealers have made substantial sums selling hundreds of chairs, tables, carvings, and prints designed by Le Corbusier and his assistants but obtained at knockdown prices from officials often unaware of their value.”4 Sold, too, is an Exterior Light, made of concrete, steel and glass, 88 x 87,2 x 57 cm. Auctioned for £26,250 in London. On a day in September. One dimensional currency.

Art, often imagined in this autonomous sphere, opposed, or exterior to the economic realm – to property relations – to power relations. And its spectator, the libertarian subject, contemplating on the latter, on its innate, insightful qualities, which stimulate this process of finding cognition through exchange. This process which should enable a higher truth.

This 18th century conceptualisation of Art in its difference — indeed, already questioned by the presence of a powerful art market and critiqued for being a bourgeois and western ideology in its nebulous elevation of the work of art and its premise on the enlightened spectator — nevertheless still shapes the conception of the artwork today. Perhaps because its perception is rooted and so deeply intertwined with our concept of the self, the autonomous subject and the object as its antithesis. However, conceptualised in the historical context of slavery and colonialism, this opposition, which pertains to be natural, is based on a racist opposition, and is, an inherently racial construction. It functions as the ideological groundwork for the distribution of value.

The synchronous emergence of a transatlantic capitalism, of slavery and colonialism, or, in other words, the co-constitution of the rise of a modern western civilisation and the exploitation and degeneration of everything which is discriminately constructed to be its outside — this entanglement, makes the purification of the economic and the cultural sphere indefensible. I’m speaking of the inseparatability of economic exploitation and cultural negation, of economic prosperity and cultural hegemony, manifested in its inextricability in the object itself (‘the object’ / ‘the slave’) through its endowment with (non)value. I’m speaking of the seperatability as a western ideology.

Igor Kopytoff analyses the process of commoditisation – already premised on an anterior objectification – as a process of becoming, which conversely implies the potential to de-commodify an object by taking it out of the economic sphere. Understanding its status not as given but made, thus as historically specific, he stumbles upon a contradiction, which unfolds its full paradoxicality in the context of art. Commodification intentioned for exchange requires not only the homogenisation of value for the sake of a wider exchange – confining the heterogeneous – it also presupposes the cultural process of defining the non-commodity. With reference to Durkheim, Kopytoff identifies the apparent need of a society to keep a specific amount of its surroundings heterogeneous, singularised as non-commodity, to function as society’s collectively shared ‘symbolic inventory.’5 Its being a non-commodity is the effect of discourses (moral/aesthetic/religious), supposedly outside an abstract economic sphere, which it actually shapes and by which it is being shaped alike. A reciprocal process, conceivable in its simultaneity alone. An interdependency blatantly expressed in the realm of art, which still cloaks its production of value – saturated by asymmetrical power relations – with the myth of the artwork as possessing an inherent value in itself. “A Picasso, though possessing a monetary value, is priceless in another, higher scheme. […] But in a pluralistic society, the “objective” pricelessness of the Picasso can only be unambiguously confirmed to us by its immense market price. Yet, the pricelessness still makes the Picasso in some sense more valuable than the pile of dollars it can fetch […].”6 The Picasso thus obtains value in these simultaneous interdependent processes, which solely can be differentiated and split artificially into a cultural and an economic value, if one constructs their spheres as separated.

In order to refute this binary thinking, as a discriminatory form of representation originating in the colonial encounter and organising our thought-system into oppositions still today, like freedom and bondage, the inside and outside, past and present – always marked with an implicit hierarchy — one has to follow Stuart Hall’s call for a re-reading, for a re-narrativzation of this violently Eurocentric, linear, (neo)colonial perspective.7 “The very notion of an autonomous, self-produced and self-identical cultural identity, like that of a self-sufficient economy or absolutely sovereign polity, had in fact to be discursively constructed in and through ‘the Other’, through a system of similarities and differences, through the play of difference and the tendency of these fixed signifiers to float, to go ‘on the slide’.”8 (Stuart Hall). It’s a plea for an inevitable transcultural, transnational and transdisciplinary perspective – in favor of the hybrid. It’s the plea of this essay!

Picasso, like Le Corbusier.

2020

London

A day in January

Pacotille. Slavery’s abject invention. A ‘slave’s’ value. It’s expression. Metonymy. Pacotille: an object. Here,in its clarity? in front of us: Glass beads, brass manillas (fig.2).

Figure 2: Cameron Rowland, Pacotille, 2020, brass manillas, glass beads, 103 x 68 x 3cm, Institute of Contemporary Arts London.
Image Credits: Imke Felicitas Gerhardt

Grand boulevard. Vanishing point: Buckingham Palace, Westminster London. 12 Carlton House Terrace, Crown Land, Crown Estate, the Monarch. Institute of Contemporary Arts. Continuities. “[…] citizens of European nation states are most certainly affected, and shaped in ways that are not particularly visible to many people it seems, by the legacies of colonialism and slavery that continue right into the present. And these are not just “affective legacies” but are material to their core.” (Brenna Bhandar).9

Property. This universalised and naturalised concept, to order the world, to shape the relations in(dependence) to ownership. Premised on reification, commoditisation and abstraction, this internalised matter of course is simultaneously describing a historical process, which enabled a transnational capitalism to emerge — throughslavery and colonialism, through making the slave an exploitable commodity, through  appropriating, commoditising and exhausting colonised land, declared asres nullius — and at the same time, in its ongoing dominance, it’s the fundament of a western system of thought, it’s a naturalised way of understanding, explaining and representing the world. Continuities. Inscribed — like traces in the commoditised object, appropriated, property, in migration.

Pacotille, french for ‘rubbish.’ Rubbish, like valueless. One dimensional currency. In Cameron Rowland’s seminal exhibition 3 & 4 Will. IV c.73 in Londons Institute for Contemporary Arts (ICA), January – April 2020, one sees the Pacotille lying on the floor — position 3.10 
A delicate chain, strung with white glass beads and grey brass manillas. Unobtrusive, its presence, blending with the grey floor, where it gets lost, overlooked, quickly measured in its appearance just. Just an object in its clarity, like the Exterior Light in concrete by Le Corbusier. This Pacotille, worth a slave life, maybe.

In the essay The racial thing. On Appropriation, Black Studies, and Thingliness, published in Texte zur Kunst[Issue: Property 2020] David Lloyd challenges the prevalent superficial cognition of the ‘object’ as just given, just there, like the subject too, who captures it. This naturalised split — broadly criticised already in Black Studies by raising awareness to those millions of silenced voices, bereft of their subjecthood and violently degraded to an exploitable objecthood, from slavery to Apartheid, or further (“[…] the colonial lives in its after-effects […].” Stuart Hall11 — is Lloyds point of origin from where he goes on to dive into its complexity. “For any thing to be reified, it must already have become an object, whether as an object in exchange or an object of the law, or an object subject to the epistemological violence of representation. It must, paradoxically, have ceased to be a thing.”12 Referring to Hegel and in the same second impugning him, Lloyd describes the process of a thing becoming an object, where the immediacy of the former – presenting itself to the senses in its here and now (Hegel) – is transcended through its translation into a concept, through its transformation into an object for representation. In a dialectical process this objectification becomes the condition for subjectification to take place. It enables man to realise himself as an autonomous subject through the repulsion of the object as his antithesis, through its appropriation in becoming “[…] an object for him […].” (Hegel).13

Autonomous subject. To become a subject. This empowering transformation — so imperceptible. For those, who are not perceiving the scars of objectification on their skins.

When objectification – of a thing, of a person – always implicates the violence of being represented, of being appropriated – whether for the sake of epistemological dominance or – and this is interdependent – for its economical mastery by voraciously turning things into commodities to extract and exchange value – is it then possible – and this is Lloyd’s ingenious idea – to think the thing anew, to conceptualise it as a residue of resistance, as “[…] not-yet subsumed into representation as a value.”14

Starting with Hegel’s definition, which understands the thing as pre-reflexive and pre-determined, as not being translated into a coherent concept – hence object yet, Lloyd however differs clearly from the latter in his positive interpretation of the thing by disclosing its potential for resistance, located exactly in its pre-determinacy. If the thing in its status of being non-defined harbors a multiplicity of properties, which are violently negated by its objectification for the sake of representing, appropriating and exchanging it — isn’t then the revelation of its multiplicity, the fracturing of its assumed coherence in appearance — its liberation?15

Pacotille. A delicate chain, strung with white glass beads and grey brass manillas. Unobtrusive, its presence, blending with the grey floor, where it gets lost, overlooked, quickly measured in its appearance just. Just an object in its clarity, like the Exterior Light in concrete by Le Corbusier. This Pacotille, worth a slave life, maybe.

Reverse. How to fracture the outer coherence, allowing its differences to occur? How to grasp the multiplicity inits unity? — How to think outside the episteme (Foucault) which in producing the object’s oneness defines the horizon of the seeable and speakable?

Less a surgical intervention to extract its inner parts by cutting the opaque – infinitesimally – it’s rather the attempt to overcome its constructed duality entirely, and in doing so denying the supposed neutrality, or let’s speak in the pathos of Le Corbusier, the universality of the pure form. It’s rejecting the myth of formal objectivity by uncovering its unheeded presence in time, its traces of circulation, its violent fissures received in migration. Object biography.

1760

London

A day in July

“Pacotille was the name for the category of goods made for the trade of slaves, which carried nearly no value in Europe.”16 – but 100% profit – then. – Now, in the ICA? Lying there, on Crown Land. „Abolition preserved theproperty established by slavery. This property is maintained in the market and the state.”17

Manufactured in 18th century Europe, these brass manillas and glass beads traveled the world. Connecting the formerly unconnected and dividing it. Carrying the division of the globe in its two-fold character, in its dual existence as (non)value, in its being as a one dimensional currency. Valueless in Europe – rubbish- they were used to buy slaves in the overseas.

Oversea they crossed. These Pacotilles, like a joining separation of the continents. A division, which they actually set in place, incessantly. A separation or polarisation (re)produced by its change in value. The invention of an Inside and outside, here: the West and its rest. Civilisation and its supposedly degenerated Other. An ideological construction working through opposition. And then purifying the opposed. Exclusivity. Denying its interdependency, its hybridity. Denying that the rise of capitalism is based on the rise of slavery, that progress rested upon enforced stagnation, that western modernity is predicated upon exploitation, that our liberal understanding of freedom is grounded in bondage. The traveling object carries the history of this ideology into the present and nourishes it. These Pacotilles, or this Exterior Light, plundered from a symbol of independence. To give and receive value – this western prerogative. Continuities. A prerogative that also has the power to determine what is an object and what is a subject in the first place. Or let’s put it differently, regarding its processual character — what, or who is made into an object for the sake of extracting value and who is allowed to become a valued subject.

The Barbados slave act from 1672 determines the ‘slave’ doubly. As simultaneously being a chattel – a moveable property – and as being an immoveable property alike – chained to the plantation as an integral part of the real estate, or let’s say, as a commoditised part of a newly commoditised land.18 Again an object in migration. And then in stagnation. Again a dual inscription with value to thoroughly construct and cement this ideological division which bears the Other in the first place. To deepen that fracture, to naturalise it, internalise it as western self-conception. The ‘slave’ and ‘its’ dual value. Being at once defined as non-person without – and determined to be an object with or of – value – surplus value – to exploit. A dual inscription violently enforced by the West, in dependency to it. Codependency. To make the slave an object there, is to have its value here. To appropriate, commoditise and exploit land outside is to flourish the land inside – allowing ‘modernity’ to occur. To enable progress here is to enforce stagnation there. To morally rise above the ‘savage Other’ is to deny the construction of my own identity. The refusal of cultural entanglement equals the white-washing of economic interdependency. Or the other way around. Its inseparability – traceable in the materiality of the ‘object’ – the befallen violence – expressed in its (non)value – given.

Marx once famously said: “[…] capital is not a thing, but a social relation between persons which is mediated through things.”19 
In this regard, Gyan Prakash aptly asserts:“[…], the history of unfreedom is the history of capital in disguise.”20

2,000,000 enslaved people, shipped in the 17th century from Africa to America.21 Creating social relations, creating capital — being violently mediated and its mediator alike. They became objects in circulation. Their value extracted for circulation. And accumulation — in the West. Their being, made abstract to let the abstract arise. Capitalism anchors its genesis, similar to another Western dogma, in trinity. Triangular trade. Its synthesis — abstraction. God or Capital. Metonymy.

“Eric Williams describes the triangular trade as providing a ‘triple stimulus to British industry’ through the export of British goods, manufactured for the purchasing of slaves, the processing of raw materials grown by slaves, and the formation of new colonial markets for British-made goods. ‘By 1750 there was hardly a trading or a manufacturing town in England which was not in some way connected with the triangular or direct colonialtrade’.” (Cameron Rowland).22

The doctrine of the trinity in Christianity is based on a paradoxical simultaneity. A differentiation of its components and their indissoluble unity at once. God in the middle is the synthesised abstraction of his differentiated parts. Capital in the middle is the synthesised abstraction of its discriminated parts. Or in other words, industrialisation is not Slave Trade, it is not Colonialism – but Capital, like God is every single one and its unity. Whereas the Christian God precedes his parts in which he finds his expression, capital and capitalism as its attendant social order, could – on the contrary – just develop as its all-encompassing middle, through the closing of the triangle, which brought its middle into existence. Triangular trade. The middle – Capital – is thus the abstraction of the real. Is abstracting the real into real estates, real properties, real value through real dispossession, real appropriation, real violence. As soon as Capitalism came into being, hence, from a historical perspective, when the triangle closed (triangular trade), it assisted in every single part and became simultaneously expression of its abstract whole. This abstract whole, incessantly fed on the depletion of the real, whose abstract substitution it became, got continually broadened by voracity. The need to accumulate in the center forces its sides to expand. Expansion. Continuities.

Let’s quote Marx another time: “The discovery of gold and silver in America, the extirpation, enslavement and entombment in mines of an indigenous population of that continent, the beginnings of the conquest and plunder of India, and the conversion of Africa into a preserve of the commercial hunting of [blackskins], are all things which characterize the dawn of the era of capitalist production.”23 It is the dawn of something abstract, more abstract than a (transatlantic) division of labour, it’s the beginning of finance capitalism. Its the foundation of the banking market — former slave traders turned into powerful banking houses – such as Barclays — it’s the establishment of an abstract Creditsystem — which according to Marx could just develop in symbiotic relation with colonialism24 — its the onset of an abstract and violently asymmetrical play with value. Retracing the development of Capital means retracing its conditioning parts, it means retracing its lines of connection, or to stay with the picture of the triangle, retracing the routes of triangular trade. Traces to be found in the circulating ‘object’ on which they got imprinted. This needs a going beyond the ‘object in its clarity in front of us’, to follow its objectification in time, the process of its becoming an object for – appropriation – circulation – exploitation. To thereby understand its changes in value is to ‘open it up’ with the hope for resistance to occur.

1760

Anomabu

A day in August

Pacotille. Here: these brass manillas manufactured in Birmingham and these glass beads produced in Venice. Declared rubbish. The production of rubbish – of non-value for value. Transforming its outside from where it gets defined. Flourishing or withering it. A reciprocal process, boosting the production in the West, stimulating it’s industrialisation — to then ship it to Africa, heavily loaded with an invisible ideological burden, to let a continent decrease. “British trade in West Africa was understood to be nearly 100% profit.”25 A connection found in division. The passage — the formation of land, like the formation of the Other – the arriving. This Pacotille – it changes value – now being a little change for exchange – in exchange – a human life.

Reading Marx, Capital is stated as a social relation, and so value, a social construct. If not intrinsic, not a natural quality, what then is defining a commodity’s value? For Marx, the latter is to be found in its exchange value, expressed in turn in its market value, hence its price. Two commodities can be exchanged based on a specific exchange ratio, which is grounded in the assumption that they have something in common. That means that a barter – allowing five pieces of this to equal two pieces of that (exchange ratio) – requires a third, that which makes it equatable. For Marx, this third is labour (labour theory). It’s the question of what is the average time needed to produce a specific commodity. If the invested average labour time thus defines a commodity’s exchange value, which is expressed in its market price — profit can only be attained by producing below the expected time and simultaneously reducing the costs of production, which are understood to be the raw materials, the wages of the worker and the means of production needed. Marx sees the gain of profit primarily enabled by the exploitation of the worker, which is mainly expressed in the wages he/she receives. Regarding that labour power is itself recognised to be acommodity, it becomes the question of how much is needed for its (re)production, that means how little can the wage be to still keep the worker – the labour power – sustained. 26 That’s said, wages were often held at a moderate level, or at least at one slightly beyond the securing of existential needs, allowing capitalism – with a partly content workforce and a healthy consumer demand – to flourish.

Indeed, while the exploitation of the worker in the West was horrendous, the super-exploitation Capitalism caused everywhere else, in its supposedly detached ‘outside’, needs to be scrutinised. Shreeram Krishnaswami depicts the potential provided by slave trade and colonialism for a drastic reduce of the costs of production, causing therefore a surreal discrepancy between the investment and its profitable outcome: “Thus under colonialism, the overall rate of exploitation could be increased substantially by using slave labour with its almost infinite rate of exploitation – or super-exploited labour in the colonies, whilst keeping the rate of exploitation constant in the core or even allowing it to decrease (i.e., allowing real wages to increase). Furthermore, capital costs (C) include costs of raw materials used in production. The cost of raw materials-extracted primarily in the colonies- was kept to a minimum by the colonial powers.”27

Pacotille. The perfect commodity? — Solely produced for the sake of making profit in exchange. Is it the purest expression of the capitalist logic of maximisation, which it itself enables to come into being – in the West – in its distorted libertarian face? Pacotilles — they are at least the purest expression that the emergence of a capitalist logic, of Capitalism, is not explicable in economic terms alone. Their paradoxical double inscription with value shows that the economic and cultural discourses are hybrid in their core. It’s this integrated existence which then allows in turn to disclaim the dependence on the Other, who is constructed in his denial. What is simply meant here: If one would just follow an economic definition, then the Pacotille – having no exchange value- would be valueless. If one combines an economic understanding with a cultural — one would assume that an economic logic is overlaid with a racist cultural logic, or the other way around, but would still imagine the discourses to be separated – just interconnected. But being so deeply engrained into each other, they are in fact inseparable. The economic logic is the cultural logic, because the way it came into being and the way it works is inherently racist and sexist.

The Pacotille in its worthlessness is exchanged with a commodified being, a ‘slave’, which in a racist capitalist logic, equals the Pacotille in its valuelessness. A fair barter. Simultaneously and paradoxically this worthless rubbish is becoming value in the moment of exchange. Or rather – in the moment of exchange it is of value for – not the one who receives it – but for the one who gave it away. However this seems equally imprecise due to its assertion that there is an immediate release of value. Infused with a racist logic, which classifies the commodity received – the ‘slave’ – as equally valueless, a fact in turn expressed in its status as a commodity – this exchange can’t be seen as releasing any direct value. If it would release a direct value, then this would be expressed by, in turn, value, given to and therefore be seen in at least one of the commodities in exchange. Rather it is an indirect, a postponed value, not yet there — not present in the exchange in Africa – neither fully on the plantation in America, where the ‘slave’, for which the Pacotille got exchanged is brought — but soon in its entirety to come. It exists and continually grows in imagination —taking shape in the assumption of a profit in the future. It is a value not given to the ‘object’ (the former Pacotille — now the enslaved person) but just extracted from it. It is a coming into existence through destroying the Other’s existence, from which it derives. No-thing in itself — just in some-thing — a value always in conversion – now converted for its homecoming. Circulating in the shape of its temporary carrier, which is granted no value in itself, the Pacotille first, the commodified body later, it can, after coming back from this long journey, finally realise and materialise itself in (the) Capital. Grand boulevard. Vanishing point: Buckingham Palace, Westminster London. 12 Carlton House Terrace, Crown Land, Crown Estate, the Monarch. Institute of Contemporary Arts. The Pacotille, now lying in the ICA, is surrounded by its value, which was already there 260 years before itself.

Rewind. Pacotille, these brass manillas, these glass beads strung on a delicate chain — exchanged for another ‘object’ in chains. Global value-added chain. To add to, like to build up. To build up, like to increase. To increase like to enlarge or to expand or to spread. To add, like to accumulate. It’s the triangle’s coming into being, successively growing with the collected sum in its middle.

However, the synonyms which expresses its becoming can be replaced by their antonyms.

To subtract, like to take from. To take from, like to decrease. To decrease like to shrink, or to diminish, or to lessen. To accumulate can be replaced with to scatter, to divide, or to disperse.

Bodies and their land.

1760

Barbados

A day in October

The objectified and commodified ‘slave’ gets violently dispossessed from his/her body, from his/her land to be made possess-able. Being a chattel in transit, he/she becomes fixated property on the ground.

Property — this two-faced expression of liberty, concealing its hypocrisy with Enlightenment’s permission. Hiding its feint, behind the authority of the civilised white man and his interpretation of property as the embodiment of ones freedom. The idea of property as a basic right – hegemonised – internalised – anchored in the constitutions of these forward-thinking societies and in the minds of its members. – To own – this basic right, based in exclusivity, but shining universally, one has to be a subject. One has to be allowed to become a subject and then to become a citizen, a legal body. The idea of the free thinking, autonomous subject, endowed with the basic right ‘to own’, in which his liberty gets expressed, was/is the sole right of the white man. To own anything starts with owning ones body. A matter of course denied to all women, all people of colour, all – outside a heteronormative spectrum, a matter of course, denied to the majority of humankind. Property – Its dominance as an internalised and naturalised understanding of the world and of the self in relation to it, its dispersion worldwide, illustrates nothing else than the economic and cultural dominance of the white man in its simultaneity. The idea of property, through which we structure the world today develops in concurrence with the historical formation of colonialism and slavery.28 The way we conceptualise the self-contained subject as well as our self-conception as a culture is based on the latter. John Locke’s Two treatises of Government (1689) with its seminal claim for private property, generally understood to be the foundation of liberal democracy and capitalism, should obviously less be treated as its origin than as already influenced by – and as the legitimising update of – a proto-capitalism and its appropriation and colonisation of land in the Americas. His ideas of a liberal democracy thus of the subject, developed under- and are embedded in the impression of slavery. (Locke himself was amongst other things: Secretary to the Council of Trade and Plantations 1673-74 / member of the Board of Trade 1696-1700 / shareholder in the (slaveholding) Bahama Adventurers).29 

Locke’s conceptualisation of private property as a natural right is premised on self-ownership, that means owning ones body. By working the land, which is formerly communal, man puts something of himself (of his own property) into the land and is thereby entitled to own it. To justify the appropriation of indigenous land in America as righteous, Locke argues that uncultivated land is valueless and only becomes of value through the achievement of farmers, to whom it therefore belongs.30 

This notion of being ‘entitled’ to claim a land as ones own, is not only expression of an initiating ‘commoditised vision of land’ as Brenna Bhandar puts it, but also of colonialism’s ‘racial logic of abstraction’, which denies indigenous people – , or makes it bureaucratically nearly impossible for them to register for (their) land.31 “Property law is one of the central motor forces of colonialism. As one of the primary means of seizing and asserting ownership over the land base of another people, property law was used to fundamentally transform the use and control of land and resources, and with that, the social relations, economies, and cultural practices that were imbricated with indigenous and existing forms of land use.”(Brenna Bhandar).32 

The enslaved person, the chattel, shipped from Africa, arrives in America. Dispossessed from his land – and his culture – suppressed – like his body – maltreated – to cultivate – land – of someone else – dispossessed from his land – and his culture – suppressed – like his body – maltreated.

The objectified and commodified slave – the objectified and commodified land of the indigenous people became synonymous. An involuntary bond in bondage. “Colonized land and enslaved labor were made interdependent.”33 Both appropriated, they became the condition, the integral part of a plantation’s value. To be part of a plantations value meant to be part of its exchange value. The exchange value increased – as the costs of production decreased. This is witnessed in the West in the ongoing balancing act of weighing up wage rates against labour power. The civilised twin of balancing or weighing up which torture method, or how much violence is ‘within reason’, to still guarantee efficiency. “The plantation’s value was determined in part by the efficacy of its confinement.”34 The ‘slave’, this dehumanised objectified being, with ‘its’ twofold inscription of value. Treated as a non-person his/her value is denied and simultaneously, because abased to be a property, he is in many respects of value for his owner: Being of no- value, hence of value – regarding that the former legitimizes unlimited exploitability – means being of value to indefinitely produce value to be extracted. ‘Released’ of the slave to be accumulated in the abstract center, it is creating Capital in the capital, bearing capitalism. The ‘slave’ and ‘its’ paradoxical status of non(value) shapes the core in directly two lasting regards, firstly enabling (the) Capital’s beautiful facade, its display of wealth and secondly it is the condition for the invention of its organism. The enslaved person is again of value because of his/her use as collateral, as mortgage for a plantation, financed by credit. Colonialism and slavery, by being the premise for capitalism to occur, are therefore the testing ground and the first embodiment of its central features: credit and debt. The explosion of banking houses in Great Britain, 12 banks in 1750 – 668 banks in 1800, are one expression of the fact that the whole plantation system in the 18th century was based on credit, which as a system thereby came into being.35 The plantation and its value, the way it cultivates value is the integral part of the abstract whole in formation. Capital, like God. To finally close the triangle, to become total in being its parts, it’s time for the sending of the Holy Spirit, to bring the word of God into the entire world.

Plantation, this depletion of nature by starting to cultivate in excessive monocultures (Climate Change). Continuities. This depletion of bodies for profit. The gambling with it. Continuities Creditsystem, this naturalised abstraction, a matter of course. These grand scale speculations, these bursting bubbles (2008). Continuities. The slave as mortgage for the debt of the plantation’s owner means: the plantation is the ‘slave’, Capital is the plantation, the ‘slave’ is nothing but its core.

“Plantation mortgages exemplify the ways in which the value of the enslaved, the land they were forced to labor on, and the houses they were forced to maintain were mutually constitutive. The enslaved simultaneously functioned as collateral for the debt of their masters while laboring intergenerationally under this debt.”36 

300 years later, debt is the imprisonment of the individual. It’s the confinement of the collective in abstraction. Debt, this invisible haunter. Its presence in the subliminal is the reality of life of the English citizen. Debt and guilt, in German they are used synonymously (Schuld). — Spirits that I’ve cited, my commands ignore [Die Geister die ich rief, werd ich nun nicht mehr los] (J.W. Goethe).

2010

London

A day in September

Concrete. Le Corbusier’s most desired material, or Modernity’s most desired material, or its expression. Metonymy.

Concrete: an object. Here, in its clarity, in front of us: An Exterior Light, £26,250.

Like nervous flies, pulled towards the light. Here by desire, too. Fraught faces of bidders buzzing in speculation. An object, its price. Its value — in the future. An auction, this exciting and delightful pricing of an object – it’s evalueation. A gamble with the imaginable – a fathoming  of contingencies – a pushing of limits. Finding potency in potentiality. Potential profit – a fast- selling-item. This auction, it spreads the charm of the arbitrary — like power does. A former power, so used to its monopoly over the colonial markets, over the pricing of goods which went there. Now, presenting itself in less absolutist airs, unforced and free, this free market, with its monopoly to set the price for the colony’s independence. Corbusier’s Exterior Light made for Chandigarh. The simultaneity of assessing value and determining it. Like an inscription from the outside, but one which gets re-essentialised, re-embedded into the object, as if it’s just aninnocent affirmation of its inner value which was already there. This romanticisation of the purity of the object, this inner truth of Le Corbusier’s piece of concrete. An attested universal truth.

Given the inseparatibility, or hybridity of the cultural and economic sphere, which is laying bare in the act of pricing, as a quantitative expression of (cultural) value, the price for the Exterior Light from Chandigarh expresses either a paradox, or simply a continuity. Again, if cultural significance is implicit in an object’s price, how do we explain that this Exterior Light from Chandigarh, a city, planned under the aegis of Le Corbusier, as India’s symbol of independence, as their monument of modernity, is of no value in India, but is gaining high sums, labeled as monument of modernity in the West? The lamp substitutes Chandigarh – Chandigarh substitutes modernity. Corbusier, the substitution of both. Monument derives from the Latin word monere – reminding -remembering. A monumentalised memorandum. A collective symbol, a shared sign – whose significance? Whose modernity? Whose monument? Whose value? Whose belonging? Whose independence? India has another symbol for the latter. A symbol capable of both: remembering the word’s root, and proudly visualising and realizing its prefix. Less concrete heaviness rather waving lightness. Less abstract rather hands in motion. Less intellectualised rather lived. Less planned rather organically grown. It’s the national flag, it’s the Charkha on the national flag. It’s about its coming into being. A nation coming into being. A vision of the collective, not simply for the collective. An idea of a nation, before a nation.37 1921, 26 years before the latter’s foundation (1947), it becomes India’s inofficial flag, chosen by India’s National Congress38, which, established in 1885 as an elitist project to lead the country to independence, becomes a mass movement around that time.39 Charkha, the spinning wheel, the important symbol on the symbol.

Coincidentally this emblem is similarly metonymic with an authority figure like Chandigarh is. Gandhi and Le Corbusier. If for the latter Chandigarh as a whole, as well as the material (concrete) and the Modulor system, which he invented and applied there, are expressions of his prophetic vision, a higher, universal truth laying bare40 — then Gandhi’s invention of the Satyagraha, a Sanskrit neologism, translatable as truth-force, practiced as a form of passive resistance or civil disobedience against the British oppressor, is equally prominently expressed through a symbol, through the Charkha, the spinning wheel. Satyagraha, two of its many rules are non possession and Swadeshi, an economic strategy implying, amongst other things, the boycott of imported goods.41 The spinning wheel, a symbol for independence and at the same time its condition, its driving force. Spinning, its continuousness, this processing of time and place, this golden thread, slowly covering the dependent body in self-sufficiency. The spinning wheel, a symbol being present participle and future perfect in one. Independence, the formation of a nation, not an event in a linear story, like the 15.08.1947 suggests, less hierarchical, not top-down, but a horizontal becoming, imagined in a form of dissemiNation, as Homi Bhabha terms it.  A self-generating process, the rise of a national consciousness through a narrative performance,42 like spinning a thread and then weaving a dress to become a symbol, carried through streets, like the embodiment of an idea, like the making and materialisation of a consciousness, searched and found in symbolic unity. Non possession and swadeshi, two rules, inseparable. A western understanding of the world and of the subject – its boycott – through the boycott of the formers materialised presence in the world. Independence. To reclaim land, dis-possessed is to reclaim a dis-possessed body. Not in the sense of a re-possession as this would be just an exchange of prefixes by keeping an underlying structure, which only allowed land and bodies to be commodified possessions in the first place, but rather an attempt to dissolve an economic structure together with its cultural implementation. A capitalistic structure, which not only disintegrates a land and its people, but by doing so, divides the world. Exploiting the former, keeping them stagnant, to let the West – in supposed autonomy – dynamically progress, thereby materially and ideologically widening the split to the Other, who is simultaneously constructed. The principles of Non possession and Swadeshi question a doctrine of faith, based on a concept of trinity. They question a triangular trade and its abstract God, Capital. The spinning wheel as the visual expression of these principles, their symbol and the prerequisite of theirrealisation, gains its vigour from its capability to allow the prefix to come into being and to refer to its root at the same time. Cotton is the embodiment of India’s violent dependence and of its liberation alike. Cotton is the embodiment of the triangular trade. Shreeram Krishnaswami calls cotton the link between capitalist and underdeveloped countries,43 or rather one should call it the connective of their mutual coming into being in opposition. A brief illustration with historical facts: Between 1780 and 1840, cotton, or rather the cotton industry became the main stimulus for industrialisation in England. Thereby systematically corroding India’s existing cotton industry, by inhibiting India’s export through untenable taxation, partly destroying its cotton factories by military force and simultaneously exempting only British goods from import taxes in India.44 “Not only did the colonies provide cheap raw cotton through the exploitation of slave labour, but the colonies also provided 90 per cent of the market for finished cotton goods.”.45To phrase it differently: The exploitation of raw materials in the colonies through the super-exploitation of enslaved people, then shipped to England to be processed, is one of the two conditions for industrialisation. The other is to bring these materials back to its country of origin, enclosed in manufactured goods, which not only provided unimaginable profit rates, increased by England’s monopoly over the pricing of these goods, but also kept India’s economy dependent and stagnant, preventing any broad development to take place.

The Other, this integral part of the western-self. It’s separated, alienated and denied constituent. Nourished by the schism so engrained in its being. It forms the western identity, which can only imagine itself as free through the distinction to the Other, the denied half of itself. The dependency of its being, sustained by its suppressed part, needs to be negated to oneself – in fear of losing integrity, alongside needing to be loudly repudiated to the outside. This dependency is incessantly combated with the proclamation of ones own superiority, which finds its expression, and sought affirmation, in a material supremacy, being itself the result and the ongoing driving force in the destruction of the Other. It’s this feeling of cultural superiority, which is the spawn of the latter and its legitimisation. It’s the elevation over the inferior Other, over this inferior part of the self, turned inside out. This fear and this hate towards the allegedly alien in oneself, in ones culture, this conjuring of the purity of the latter’s origin is product and producer of a simultaneously emerging capitalism and colonialism together with its enlightened foundation in its unity. To deny the condition of my own identity, to negate the exploitation of the Other as part of my existence, is to turn this inner opposition inside out. It is the need to think in outside oppositions, to be able to deny ones own moral turpitude. The suppressed inferiority of the enlightened self. Eugene Genovese writes: “The power of slavery as a cultural myth in modern societies derives from its antithetical relationship to the hegemonic ideology of bourgeois social relations of production.”46

And Gyan Prakash – by analysing the West’s need to hide the conditions of its development in a constructed dichotomy, allowing to ground its self-conception in exclusivity, its exclusive achievement of free labour, the free subject or modernity, and other cultures as backward in opposition – states: “Such a naturalization of free labour conceals capitalism’s role in constituting bondage as a condition defined in relation to itself, and presents servitude as a condition outside its field of operation, as a form of social existence identifiable and analysable as alien and opposed to capitalism.”47 Slavery, although being the condition for capitalism to develop as a success story in the West, becomes the morally denied Other. Enveloped in a linear narrative of progress, economically, as well as culturally, the West — thereby also writing the narrative of the Other in dependence — promises now civilisation through assimilation. This white man’s burden. Indeed, Britain’s abolition of slavery, 1833, is for Saidiya Hartman therefore a non-event: “The entanglement of slavery and freedom trouble facile notions of progress that endeavor to erect absolute distinctions between bondage and liberty.”48 An economic progress, which required exploitation. A subjectification which asked for objectification. A conceptualisation of property, of liberty, which is the resultof the dispossession of the Other. The violence of Capitalism’s coming into being and the violence of its persistence, is denied by its discourse of freedom, humanity and civilisation.

It’s biggest pretender – the creditsystem – this value accumulation out of the abstract. Creating this illusive freedom to possess, to own, which is actually based in unfreedom, in dependence. It’s not a direct possession, it’s indirect dispossession.
In the beginning of the creditsystem this was surely more violently clear: the financing of the plantations through credit, a possession based on the dispossession of the enslaved person, its body, which becomes the guarantee of its liquidity. A possession based on the dispossession of land. Property derives from appropriation. This fetish of ownership. Responsible for the distribution of a land and its social relations on it – in the past and in the present. Nearly everywhere. For post-abolition India, Gyan Prakash explains how the British in their ‘civilising mission’ modified, or reformed the caste system, which they morally condemned as embodiment of unfreedom, as classifying people and keeping them in a violent relationship of dependency to each other. Conceptualised as freedom’s Other, as liberty’s opposition, discursively negating its interdependency, the British, by feeling once more legitimised to civilise, do so by just translating the dependencies of the caste system, by literally just displacing them into a more abstract realm. Former intergenerational dependencies, partly dissolved, allow new dependencies to rise. A differently conceptualised dependency, a contractual, a legal dependency. Prakash speaks of a successive transformation through the objectification of labour relations in things and the establishment of an idea of private property. This goes together with the emergence of a land market and the commercialisation of agriculture.49 “The objectification of social relationships in land […],”50 entails the reordering of the former social hierarchy due to ownership, that means altering established identities as well as their uncommodified relation to the land. A new legal system of ownership based on loans. It’s not the master forcing the objectified slave to work a land which is not his own, like his body is not his own. It’s not the master’s debt which requires the Others lifelong exploitation. Instead it’sthe establishment of an understanding of being through owning, that now forces to work under ones own debt. Inabstract dependence to the abstract. Voluntary servitude or debt bondage, as Prakash calls it.51 Like an individualisation of dependency, a micro-dependency embedded in macro-dependencies, where the former is the offspring of the latter carrying forth and preserving its legacy. Being dependent on the abstract, which is in turn dependent on dependencies. An interdependency in asymmetry. In violence. If Capital’s formation and longevity is dependent on the borrowings of the plantation owner, on his indebtedness, then the master’s solvency is dependent on the ‘slave’. The ‘slave’ in turn is paying these dependencies — which are not only the condition for accumulation to occur, but its life-extending measure at the same time — with his/her life. His/Her objectified body, is a usable part in an accumulation-machinery, which, though successively sucking in everyone and everything into a relation of interdependency, can only run on full power, when these dependencies, on which it is itself dependent, are based in asymmetry. A hierarchy, which is not just expressing who is owning more and who less, but who is allowed to become a valued subject and who is not in the first place.

Like the master is dependent on the slave in his solvency, so the Empire is on its colonies. So civilised in this past-abolition 20th century, it is still a solvency not just paid with money, but with bodies alike. In the second World War, India was not only enforced to sacrifice its people for the Crown, but also its money. “[…] the United Kingdom ended the Second World War with a debt to India of £1,300 million, an amount equivalent to almost half the country’s GNP. After 1945 […], Britain’s continued solvency hinged to a very large extent on the negotiation of a satisfactory political settlement with its Indian creditors.” (Ian Copland).52 The post in post-abolition apparently doesn’t mean past-abolition, like postcolonialism signifies the continuance of its root. Sometimes these dependencies – which accumulate in the abstract, where they hide behind this big banner of freedom, the free market, the free subject – become visible. Sometimes when the gambling with them becomes to big, sometimes when the speculation over their value fails, then these abstract bubbles, saturated with dependencies, start to burst. Often at first in Capital’s capitals, thus in the West, but because of its global interdependence, they burst and causing pain everywhere.

1953

Chandigarh

A day in December

Independence. Chandigarh as the symbol of in dependence? An event in a continuum? A proclaimed new identityin imported forms? Visions which carry in their articulations the entanglements of the past.

Independence. This desire for a rupture in built continuities. Continuing infrastructure, road systems, maps, revenue records, architecture, court procedures, administrative institutions, political forms, economic trade. The continuing syntax of a language.53 

Chandigarh, this planned new city, this planned rupture, this implemented continuity. — In continuity, the spinning of the Charkha, this performance of a tradition, this processualised detachment. Frantz Fanon once said: “To educate the masses politically is to make the totality of the nation a reality to each citizen. It is to make the history of the nation part of the personal experience of each of its citizens.”54 Without wanting to question the concept of the nation in this moment — as itself a western notion, occurring at a specific historical moment in time and saturated with an understanding of possession, a sense of cultural purity,— Fanon’s emphasis on personal experience, on a nation’s realisation in concreteness, instead of imported concrete, seems nevertheless relevant. Disregarding the figure of Gandhi himself and his romanticisation of a living in autarky and simplicity, it seems yet obvious that the long-time inclusion, his mobilisation of the masses, their arising awareness of a shared pain, the rising of a self-awareness, is exactly Fanon’s individualised realisation of the nation. It is this self-spun image, a roughly spun narrative, connecting hands and ideas, connecting the individual with its community. This self- and collectively spun thread, not a rupture, but a link between ones history and future. It’s the omnipresence of the spinning-wheel, its ability to concretise an idea, make it tangible in ones hand and sensed on ones body, which carries it out. It is something abstract becoming concrete, not abstraction in concrete. Chandigarh.

“Let this be a new city, unfettered by the traditions of the past, a symbol of the nation’s faith in the future.” (Jawaharlal Nehru- India’s first prime minister).55 A symbol, pre-loaded. Like representation is a substantive and not a verb. So concrete, that it is universal. Le Corbusier’s vision. A vision exterior. His Exterior Light is shining into the void. Chandigarh. Built in a void. Of a partition, filled with violence, the lost unity of a desired identity. Ethnic violence, more than one million deaths, 13 million refugees, more than 88 million people directly affected.56 India’s and Pakistan’s coming into being in the moment of their separation. To divide and rule, Britain’s ingenious strategy in the colonies. The partition, their generous farewell gift. Gandhi the father figure, assassinated. The masses, divided. They’re joining clothing, unseamed. The thread, lost.

Nehru. Another man, another vision. Or a desire. Shared, by another man, with another vision, Le Corbusier. Their power to see, their wisdom to plan — a future — in a Five-years plan and a planned City. A vision, emanating from the subject. A new beginning, a new day.

“At the stroke of the midnight hour, when the world sleeps, India will awake to life and freedom. A moment comes which comes but rarely in history, when we step out from the old to the new, when an age ends […].” (Nehru – Independence speech).57 A-voided we. A void — that is on what Chandigarh was built. The void after a separation. And Chandigarh the substitution for its loss. When India and Pakistan were divided, Punjabwas, too. Lahore, its cultural Capital was from then on belonging to Pakistan.58 Chandigarh, thus, built into this vacancy as its replacement. A substitution for the collective we. Or for the new. This fetish of the new and of progress. Yesterday’s stagnancy. Time in linearity. A colonial discourse. Backward and forward – this internalised axis. Internalised humiliation. Inferiority complex (Frantz Fanon). Which maybe roughly expresses itself like that: “Everything was static — there are bright individuals and bright movement but taken as a whole India was static. In fact India was static before that. […]. Even before the British came, we had become static. In fact, the British came because we are static. A society which ceases to change ceases to go ahead, necessarily becomes weak and itis an extraordinary thing how that weakness comes out in all forms of creative activity.”(Nehru, 1957).59 

New, like change, like progress, like modernity – simply like good. A western ideology constructed through the establishment of its opposite. The Other. Their histories stolen, their traditions suppressed, their identities denied. To be, is to be white. Internalised inferiority therefore speaks the language of desire. “Then I will quite simply try to make myself white: that is, I will compel the white man to acknowledge that I am a human.”60 – Fanon writes this in his seminal book Black skin white masks and concludes later: “I am overdetermined from without. I am the slave not of the „idea” that others have of me but of my own appearance.”61 Whiteness, explains the Pakistani writer Ziauddin Sardar in his introduction to Fanon’s book, becomes synonymous with purity, Justice, Truth, virginity. “It defines what it means to be civilized, modern and human.”62 Let’s connect the words differently. It is the purity of the form. So pure, that it is nothing but the absolute. An embodiment of a higher Truth. To be found inside the form, but outside. Its virginity, proclaimed neutrality. Neutrality, like fairness, like Justice. Justice, the achievement of civilisation. The victory of an enlightened humanity. Enlightened humanity, or Modernity. Or Le Corbusier. His most celebrated building in Chandigarh, the Palace of Justice (fig.3). Le Corbusier is modernity, modernity is Chandigarh, Chandigarh is the form, the form is pure, it is truth, it is just. Just the form. Or everything the other way around. The pure form, its value, its price.

Fig. 3: Le Corbusier, Palace of Justice, Chandigarh , 1952.
Image Credits: https://www.eruditionmag.com/home/what-if-le-corbusier-is-not-also-jeanneret-a-creative-investigation

The Other needs to suppress himself to be recognized by the white man as a human. Le Corbusier needed to suppress his sympathy for Hitler, the Fascists and his collaboration with the Vichy Government to be recognized until today as the prophetic light of a new humanity.

“We must rediscover man. We must rediscover the straight line wedding the axis of fundamental laws: biology,nature, cosmos.” (Le Corbusier, The final Testament).63

Le Corbusier devised – what he called – a masterplan for Chandigarh. For the City and its Capitol, the prestigious government district. Due to several disagreements, Le Corbusier withdrew from the realisation of the City itself, executed by his cousin Pierre Jeanneret, Jane Drew and Maxwell Fry, and instead concentrated fully on the realisation of the Capitol, with its Palace of Justice, an Assembly Hall, a Secretariat and a never built Museum of Knowledge.64 “My palaces 1500 meters away fill the horizon better than at 650 meters. … The scale is more noble and grand from a distance.”65 From a distance, they should be admired. These palaces of modernity. Their rational-scientific objective style – their universality. The enlightened institutions they harbor. The values they express. Their material, their architect. A self-identical unity. These symbols of a modernity, detached. Their appropriation denied. To appropriate it to oneself, to interpret it. Le Corbusier prohibited the realisation of any other buildings in a great radius around the Capitol Complex. Equally, the standardisation of the houses in the City was to be respected. A frame-control system regulated any private constructions in the whole city.66 Appropriation denied, but appropriation of land and its expression of a future, once again. Chandigarh, India’s monument of modernity. It’s symbol of a new beginning. Chandi, in the Hindu cosmogony is the “[…] energy, the enabling force of transformation and change.”67  There was, and still is a temple for this goddess. Never intended to be integrated in the City’s plan, it became its margin. Chandi also was the name of one of 24 rural villages and its 9000 inhabitants, which were forced to relocate.68 Chandi, substituted by Chandigarh, its proclaimed antithesis. To be new is to be unfettered by the past. This Nehruvian doctrine. This internalised colonial doctrine. Constructed oppositions. In hierarchy: old/new – traditional/modern – backward/progressive. It’s violent anchoring in cultures to raise boundaries. Its inscription on bodies to mark them as inferior. A binarisation and its equation with value. The new – this fetishized value in itself. And the internalisation of being valueless as the inferiorised Other. Homi Bhabha asserts: “First: to exist is to be called into being in relation to an Otherness.”69 It’s the cause of a desire, it’s the longing for an escape out of the assigned epidermalized inferiority.

Fanon detects this violently nourished inferiority complex especially in the educated Elite.70 To speak the colonizers language, to read his books, to share his taste and his philosophy. And to be the Other, still. “Modernization, thus, was a mimicry of the colonial project, of the aims and aspirations of colonization, imitated and re-legitimzed by the English-educated, Indian elite.”71 It’s the reproduction of a colonial value system, it is, as Vikramaditya Prakash, an architect grown up in Chandigarh puts it, the continuation of a constructed mutual exclusivity. Chandigarh is perceived to be modern, because it’s un-indian. It’s un-indian because it’s modern.72 However, Le Corbusier consciously decided to retain one rural village, which he delicately included into the view from the Capitol. Maybe in the way like a pseudo-ancient roman monopteron is integrated into the view in an English Garden. “For not only must the black man be black; he must be black in relation to the white man.”(Frantz Fanon)

Alienation and romanticisation of a lived tradition. No permeation but, as the western museal logic teaches, preservation. The Capitol, in its detachment from the City, becomes the ideal vision, the expression of a supposed universal liberty, in distance. The rural village, in turn, in its detachment from the City and the Capitol, becomes the ideal vision, the romanticisation of the noble savage, in distance.73 Sight, this overburdened sense of the West. The view on the Capitol, is a view on a symbol for modernity — an intangible vision. It is not the self-spun vision, which gets tangible in the process, and visible, when it is carried out in a collective act on the bodies of the people – as their symbol of a modernity in independence – in progress. The spinning wheel – this was the counter-vision to this violent ideological construct, which equates modernity with the West, and grounds it in exclusivity by breeding an opposed Other. The entanglement of their histories encloses itself in the object, which by reducing it on its outer appearance gets purified, to deny its inner impurity. To understand the latter is to overcome ones own internalised inferiority. It’s to understand that one was never just outside an supposedly exclusive Western modernity.

Charkha. The reclamation of the materials, thus of the land — the execution of a self-determined work, thus the reclamation of ones body — is to understand the history of one’s own dependence through the spinning of a vision of independence. It’s to understand that when land and body, or better the extracted value of land and body, not gets coercively taken away, to be abstractly re-imported as genuinely western value, supposed to be an expression of an exclusive western modernity — modernity can instead be developing on site.

In 2016, the Capitol Complex was marked by UNESCO as a transnational World Cultural Heritage. Transnational, not because of the inseperatability of shared histories, but simply because Le Corbusier’s buildings, to which this award is dedicated, are to be found all over the world. Or rather an expression of modernity, which is understood to be singular and is then in turn equated with a single white man, is understood to be transnational. The reason to pick 17 buildings of Le Corbusier was their pathbreaking character, their exemplary expression of modernity.74

Provoked was this method of preservation by the decay of the buildings and their plundering. As India’s proclaimed monument of modernity it got appropriated for a little amount, for its little value. To get its value then defined – when it gets extracted – from the outside – in the outside – when its value is realised. This value of the Exterior Light by Le Corbusier.

2010

London & Zurich A day inSeptember

All these little discrepancies in the end: That it gets forcefully scattered – this monument of modernity – belonging to those who nevertheless do not have the privilege to receive its value. Neither its economic value nor the liberal values it expresses. Thus, that there is no value, no respect given to its unbrokenness as a monument in Chandigarh, but that it gets its value defined pars pro toto somewhere else. To substitute the whole through a little part and to make it then incredibly valuable in turn as representation of this whole. To not value the monument but to make it valuable, thus sellable as Monument of Modernity.

And then its preservation. Making it a World Cultural Heritage, to stop it’s problematic sellout. To replenish it with value again. With cultural value, thus economic value. To increase the price globally, for instance, for everything that is to do with Le Corbusier. To claim it a Cultural Heritage is to hold together that, which got and got to be dispersed. Its scattering and its preserving — both due to its being a monument of modernity.

In the end it still seems to be a genuinely western matter to decide what is an object – what can be exchanged as a commodity – with what value it can be ascribed and what value can be extracted from it. This couldn’t better be symbolized than by finding Chandigarh’s Capitol on a currency, which is not the Indian. One spots the ground plan of the Capitol on the 8th Swiss banknote series (10 franc note) (fig.4), claiming it the cultural heritage of Switzerland, just because Le Corbusier, though having a french citizenship, was born there. Chandigarh, its extracted value thus again in circulation as value.75

The genesis of the abstract, of Capital, enforced the entanglement of histories through violence, which then, for the sake of cultivating ones own superiority, got denied. The symbol of India with which it claims its independence from these violent power relations, now on the currency of a country which occupies the first place on the Global Innovation Index (2019), a country in which every tenth adult has an asset, higher than one million dollar.76

Value is a currency and currency is abstracted value. To make it one dimensional is to let the abstract feed itself.


Biografie

IMKE FELICITAS GERHARDT studierte Politik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, wo sie kürzlich ihren Master in Kunstgeschichte abgeschlossen hat. Ihr primäres Interesse gilt Moderner- und Zeitgenössischer Kunst, Media & Performance. Im Anschluss hat die Autorin Tanz am Trinity Laban Conservatoire in London studiert. Der Fokus ihrer theoretischen Arbeiten liegt stets auf der Analyse von Machtverhältnissen. Dabei ist es für sie als Kunsthistorikerin und Tänzerin vor allem interessant, wie sich Macht in visuellen Regimen ausbildet, wie Macht in Körper eindringt und Objekte formt. Ihrem Interesse für Poesie geschuldet, versucht sich Imke Felicitas Gerhardt an einem experimentelleren akademischen Schreiben, da sie der Auffassung ist, dass Kritik nur eine Wirkung erzielen kann, wenn sie die Struktur der Sprache und Kommunikation herausfordert, in der sich Ideologie versteckt.

Power Game, 2019 – Irina Rubina

Power Game/ MACHTSPIEL ist eine audiovisuelle Inszenierung für das Ensemble Modern auf der CRESC Biennale, die 2019 als Kurzfilm realisiert wurde. Stop-Motion frames mit surrealistischen und symbolträchtigen Motiven flackern über die Projektionsflächen, als Teil des Bühnenbildes, auf dem Musiker:innen platziert sind. Grafische weiße Linien auf schwarzem Grund, die wie von den Tönen des Ensembles gesteuert erscheinen. Auf vielen Ebenen spielt die Animation des Stücks MACHTSPIEL mit Assoziationen der Kontrolle, Macht und dessen Verlust.

Irina Rubina: Power Game / Machtspiel – eine audiovisuelle Produktion für das Ensemble Modern auf der CRESC Biennale mit der Komposition Schakal von Martin Grütter (c) Filmakademie Baden-Württemberg | 2019

“Von welcher Seite wird das Netz zwischen den Beherrschten und Herrschenden gewoben? Eine nicht zu trennende Nabelschnur. Zum Zerreißen gespannt. Im Rahmen aus Stahl und Holz wird gespielt, ausgetauscht, zerbrochen und geschwiegen.”

Irina Rubina

Video Credits

Regie & Animation Irina Rubina
Musikalische Komposition Schakal Martin Grütter
Bühnenbild Hannah Ebenau
Projektionsmapping Paula Schwabe
Musiker Johannes Schwarz (Kontraforte), Saar Berger (Horn), Sava Stoianov (Trompete), Valentin Garvie (Trompete), Uwe Dierksen (Posaune)
Matrjoshkas Geräuschemacher Christian Hommel, Hermann Kretzschmar, Jagdish Mistry, Michael M. Kasper
Dirigent & Leitung Johannes Kalitzke
Produktion Irina Rubina
Produktionsassistenz Hannah Ebenau
Zusätzliche Animation Ela Duca, Maite Schmitt, Emelie Paylar, Kathrin Kuhnert
Betreuender Bühnenmeister Matthias Rößler
Betreuender Bühnentechniker Roland Wedel
Gefährdungsbeurteilung Rainer Ott
Statische Beurteilung Dr. Steffen Lettow
Bühnenbild Aufbauhelfer Benjamin Gräbner, Marta Magnuska, Moritz Lenz, Ulrich Hopp, Ela Duca, Gero Eckart
Projektleitung EM Thomas Schmölz
Produktionsleitung EM Michael Karl Schmidt
Klangregie EM Norbert Ommer
Projektbetreuer FA Guido Lukoschek, Thorsten Schütte
Projektkoordinatoren FA Wolfgang Kerber, Christian Müller
Projektionstechnik Big Cinema, Johannes Bernstein
Keramikmatrjoshkas Anka Szlegel
Kamera Roland Mönch, Thorsten Schütte, Timm Kröger
Schnitt Irina Rubina
Musikmischung Marius Kirsten
Filmmischung Luis Schöffend

(c) Filmakademie Baden-Württemberg 2019


Biografie

IRINA RUBINA ist Animationskünstlerin, Regisseurin und Produzentin. Sie studierte Animations- und Dokumentarfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg, GOBELINS l’école d’image und Animationsregie an der Konrad Wolf Film Universität Babelsberg. Mit ihrer Produktionsfirma IRARU.FILMS realisiert sie Kurzfilmprojekte und interdisziplinäre Kollaborationen, die sich zwischen Animation, Film, sowie Performance, Musik und Tanz bewegen. Irina Rubinas Filme wurden bereits auf namhaften Filmfestivals vorgeführt und prämiert, darunter das Annecy International Animation Film Festival, das Internationale Trickfilm Festival Stuttgart, Ottawa International Animation Festival, Monstra Lisboa Animation Film Festival, Ars Electronica, London International Animation Festival, interfilm Berlin. Seit 2021 ist sie Vorstandsmitglied der Animation Association Germany.

Ohn(Macht) dem Visuellen/Männlichen – (Ohn)Macht dem Taktilen/Weiblichen!, 2023 – Philipp Paul Wendt

Schon aufgrund ihrer Materialität und ihrer rezeptionsästhetischen Erfahrbarkeit können Kino und Film als Orte von Ohn-Macht-Erfahrungen beschrieben werden, da sie eine visuelle Wahrnehmung als privatisierte und anonymisierte Erfahrung ermöglichen. Andererseits attestiert der traditionelle Mainstream-Film mit seinen Komponenten wie Kameraführung, Schnitt und Narrativ eine vermeintliche Objektivität, die jedoch ein Ohn-Macht-Gefälle zwischen männlichen Betrachtenden und weiblichen Betrachteten verschleiert. Wie verhandeln feministische KünstlerInnen dies? Inwieweit lässt sich die umrissene Präzedenz des männlichen Visuellen herausfordern und sich das dadurch bedingte, geschlechterdisparitätische Ohn-Macht-Gefälle zur Disposition stellen? Und welcher Stellenwert kann hierfür das Taktile besitzen? Vor dem Hintergrund seiner Forderung Ohn[Macht] dem Visuellen/Männlichen – [Ohn]Macht dem Taktilen/Weiblichen! untersucht Philipp Paul Wendt in seinem gleichnamigen Aufsatz Valie Exports Tapp und Tastkino (1968) als Beispiel für eine feministische Kunst, die Frauen(körper) von sozialen und kulturellen Stereotypisierungen befreien kann, indem sie den Vorrang männlich-visueller Wahrnehmung herausfordert. Außerdem diskutiert er den raumzeitlichen und kunsthistorischen Kontext der Zweiten Frauenbewegung und der feministischen Body und Performance Art seit den späten 1960er Jahren.

Disclaimer

Der Autor ist sich dessen bewusst, dass sich der nachfolgende Beitrag dem aktualisierten Diskurs über Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) entzieht. Mit einem Verweis auf den Entstehungskontext, betont derselbe daher die raumzeitliche gleichwie wissenschaftsdiskursive Spezifizität von Valie Exports Tapp und Tastkino (1968). Angesichts dessen Entstehung im Rahmen der Zweiten Frauenbewegung und einer sich erst sodann etablierenden Geschlechterwissenschaft als wissenschaftsreflektierende Disziplin setzt sich Export dezidiert mit einer patriarchal-essentialistischen Idee von ‚Frau‘ und ihrem binär-cis-geschlechtlichen Verständnis im sozialen und kulturellen Gesellschaftssystem des weißen Westens auseinander. Vor diesem Hintergrund ist der Nennung von Begriffen wie ‚weiblich, ‚Frau‘ oder ‚Frauenkörper‘ sowie ‚männlich‘, ‚Männer‘‘ oder ‚Männerkörper‘ ebenjene Vorstellung Exports implizit. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ‚das‘ Subjekt Frau insofern ein Problem darstellt, als dass es ein allgemein westlich-weißes zu sein scheint, wie schon Judith Butler (1990) am Feminismus der Zweiten Frauenbewegung und deren Auseinandersetzung mit ‚dem‘ Subjekt Frau kritisiert. Butler stellt treffend heraus, dass es sich dabei um ein Subjekt handelt, das – nicht intersektional gedacht – weiß, westlich und bürgerlich ist.1

Ohn[Macht] dem Visuellen/Männlichen – [Ohn]Macht dem Taktilen/Weiblichen! Valie Exports Tapp und Tastkino (1968)2

Wien, den 11. November 1968. Die Zweite Maraisiade Junger Film ‘68 (nachfolgend: Maraisiade) ist in vollem Gange als eine Männerstimme den ‚ersten echten Frauenfilm‘ proklamiert und eine Frau die Bühne des Festsaals betritt. Der Ausruf stiftet ebenso Verwirrung wie das Erscheinungsbild jener Frau:  Ihr Oberkörper ist entkleidet, jedoch bewahrt ihn ein vor den nackten Brustkorb geschnallter Kasten aus Styropor vor der Exposition. Auf der gegenüberliegenden Seite, in die sie ihre Brüste einlässt, befindet sich eine weitere, kleinere Öffnung. Doch der Blick des im Festsaal anwesenden Publikums dringt dort nicht ungehindert ein. Er erfährt sein Hindernis an zwei kleinen Vorhängen aus unbestimmtem Textil.3 Die hier nahezu mystifizierend beschriebene Männerstimme und die Frau sind für das Publikum der Maraisiade keine Unbekannten. Es sind Peter Weibel und die österreichische Multimedia-Künstlerin Valie Export. Letztere gewinnt an diesem Abend für ihren Spielfilm Ping Pong den Preis für den politisch überzeugendsten Film, zeigt nun jedoch ein vollkommen neues Werk: Tapp und Tastkino, das vornehmlich bei dem anwesenden, männlichen Publikum eine heftige Aversion aufgrund des unsichtbaren, nackten Busens auslöst (Abb. 1):

„nach der ankündigung betretenes schweigen im publikum. plötzlich stürmt der schweizer jungregisseur g. radanowicz die bühne, tritt vor v. export und versucht, ihren kinokasten vor dem nackten busen zu zertrümmern, mit ausrufen wie ‚seht her diesen busen fürs volk‘, was eben durchaus den intentionen exports widersprach. bevor es soweit kam, schlug weibel ein paarmal kräftig zu, das licht ging aus […] als es wieder anging, stand weibel als sieger auf der bühne, v. export war geflohen, radanowicz suchte seine brille am boden [Kleinschreibung im Original; Anm. PPW].“4

Abb. 1:  Valie Export und Peter Weibel: Tapp und Tastkino, 1968, mixed media, Wien, Zweite Maraisiade Junger Film ’68 am 11. November 1968 oder München (Karlsplatz), Erstes Europäisches Treffen unabhängiger Filmemacher am 14. November 1968, in: Peter Weibel: Tapp und Tastkino, 1968, URL: https://www.peter-weibel.at/portfolio_page/tapp-und-tastkino-1968/ (22.10.2023).

Wenn auch eher anekdotisch zu verstehen, wirft jene Reaktion Fragen auf: Warum provoziert die Unsichtbarkeit des nackten Busens dermaßen? Inwieweit ist jene provokante Unsichtbarkeit mit der Macht des männlichen Blicks, der Architektur des Kinos sowie mit patriarchal-phalluszentrischen Strukturen des Films verwoben? Und welche Parallelen ergeben sich zur kunstpraktischen Situation der 1960er Jahre? Verflochten mit Laura Mulveys Aufsatz Visuelle Lust und narratives Kino (1975) diskutiert das Nachfolgende das Münchner re-enactment von Tapp und Tastkino am 14. November 1968 in Anbetracht jener Fragen. Begleitet von Anmerkungen der Künstlerin, verhandelt die Analyse folgende These: Valie Exports Tapp und Tastkino artikuliert weibliche [Ohn]Macht im Kino/Film, indem sie den dortigen Vorrang männlich-visueller Wahrnehmung von Frauen(körpern) in materieller, sozialer und kultureller Hinsicht herausfordert.

Haut, Taktiles und der nackte (Frauen-)Körper als künstlerische Herausforderung

„Reintegration von Leben in die Kunst und Kunst in das Leben[!]“5 – um jenem Diktum zu entsprechen, avanciert in der Body und Performance Art seit den 1960er Jahren der Körper zum bevorzugten Material künstlerischen Wirkens. Anliegen ist es, dessen Interdependenz zur „architektonischen, sozialen und medialen Umwelt“6 zu reflektieren. Im Zuge dessen entwickelt sich die Haut zur performativ inszenierten und untersuchten, „symbolische[n] [Grenz-]Fläche ‚zwischen‘ Selbst und Welt“.7 Sie wird dadurch als „Ort von Identitätsbildung und -zuschreibung“8 lesbar – eine Art soziokulturelles Zeichensystem resultiert. In ihrer Einführung Die Tiefe der Oberfläche zu Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse (2001) beschreibt Claudia Benthien daher zurecht Body und Performance Art als „Ausweitung des Genres des Selbstporträts auf den eigenen Leib, der zudem nicht mehr nur abbildhaft repräsentiert wird, sondern dessen Oberfläche selbst zur [soziokulturell inskribierten] Leinwand wird.“9

Es folgt, dass Körper und Haut als künstlerische Materialien einen besonderen Stellenwert besitzen: Sie sind in der Lage, die Macht gesellschaftlicher Identitätszuschreibungen bei der Produktion normierter Körper offenzulegen.10 Auf medialer Ebene fordern Körper und Haut als Materialien künstlerischer Praxis überdies eine persistente Subjekt-Objekt-Dichotomie der bildenden Künste heraus, fusionieren doch Werk/Objekt und Urheber:in/Subjekt entschieden.11 Dadurch, so Markus Brunner, „konnte die vormalige Entgegensetzung von außerkünstlerischer Wirklichkeit und ästhetischer Repräsentation neu befragt werden.“12 Dafür erweist sich die „Berührung [in der Werkrezeption] als Authentizitätsversprechen“,13 denn das Taktile erfordert eine Nähe, Unmittelbarkeit und Direktheit, wodurch es die „Distanz des Sehsinns“14 überwindet. Letztlich macht die Berührung die Haut als „Vermittlerin und Schnittstelle zwischen innen und außen, zwischen dem eigenen Selbst und der Umgebung“15 fruchtbar. 

Die taktile Berührung kann jedoch gleichsam eine intersubjektive und gesellschaftlich tabuisierte (sexuelle) Grenzüberschreitung darstellen, die kunstpraktisch reflektiert wird:16 Insbesondere ein „[korporales] Materialdenken als Befreiung der Frau vom Dingcharakter“17 vonseiten feministischer Künstler:innen ist hervorzuheben.18 Selbstverletzte, fragmentierte und unvollständige Frauenkörper artikulieren nicht nur das „Leiden der Frauen an der Verstümmelung durch die männlichen Konstruktionen und Normierungen ihrer Körper und an der Unmöglichkeit, sich einen eigenen Ausdruck zu verschaffen.“19 Überdies besitzen sie als Materialien feministischer Kunstpraxis das Potenzial zur Selbstbestimmung, indem sie weibliche Erfahrungshorizonte als ein männlich manipuliertes und dominiertes Narrativ verdeutlichen. Gleichsam diskutieren sie Ohn[Machts]-Erfahrungen des (eigenen) Frauenkörpers hinsichtlich seiner soziokulturellen, geschlechtsspezifischen Kodierung.20

Es verwundert daher wenig, dass in der feministischen Body und Performance Art seit den 1960er Jahren ein Fokus auf die medialisierte und mediatisierte Repräsentation von Frauen(körpern) resultiert, „um Geschlechter-, Repräsentations- und Machtdiskurse“21 zu offenbaren. Fotografie und Film avancieren sodann nicht nur zu Dokumentationsmedien, sondern auch zu Medien feministischer Kritik.22 Insbesondere feministische Filmtheoretiker:innen und -kritiker:innen thematisieren seit den 1960er Jahren die geschlechterdisparitätische, patriarchal-phalluszentrische Organisation von Film und Kino. Produktionskonventionen, geschlechtliche Miss/Repräsentationsformen sowie Blick- und Schaustrukturen werden vor dem Hintergrund der Frage nach der Ohn[Macht] der Frau und ihres (nackten) Körpers auf der Leinwand diskutiert. Paradigmatisch dafür ist Laura Mulveys 1975 publizierter Aufsatz Visuelle Lust und narratives Kino.

Laura Mulvey lädt zur Vorstellung. Filmische Miss/Repräsentation von Frauen(körpern)

In Visuelle Lust und narratives Kino unterzieht Mulvey die Fragen danach, inwieweit der Film gesellschaftlich etablierte Geschlechterdisparität visualisiert und diese dazu nutzt, stereotyp-erotisierte Frauenbilder auf der Leinwand zu erzeugen, einer Psychoanalyse.23 Mulvey entgegnet damit dem Postulat eines feministischen counter cinema24 (Claire Johnston). Stattdessen lautet ihre Devise ‚Kampf gegen das Unbewusste‘, durch das Aufzeigen von  Diskontinuität, „indem wir das Patriarchat mit den Mitteln untersuchen, die es uns selbst zur Verfügung stellt, von denen die Psychoanalyse nicht das einzige, wohl aber ein wichtiges ist.“25 Ausgehend vom modernen ‚traditionellen Kino‘ beabsichtigt Mulvey darzubieten, wie ein patriarchales  Unbewusstes Filme und ihre (visuelle) Rezeption organisiert.26 Jenes Unbewusste steht, so Mulvey, für die [ohn]mächtige phalluszentrisch organisierte Konzeption von ‚Frau‘ im Patriarchat, in dem sie die „Kastrationsdrohung durch die reale Abwesenheit eines Penis“27versinnbildliche. 

Mit ihrem physiologischen ‚Mangel‘ des Penis hängt ein symbolischer zusammen, der das Konzept des Phallus28 als Signifikant für Macht und Hegemonie aufruft und die Frau im Patriarchat zum sexuellen ‚Anderen‘ des Mannes degradiert – eine Entwicklung, die sich medienrhetorisch manifestiert und reflektiert:29 In den 1930er Jahren aufkommend und bis in die 1950er Jahre dominierend, sind es die Filmproduktionen des ‚traditionellen Kinos‘, in denen sich dieses Unbewusste über und die Perspektive auf die Frau, ihren Körper und die „Lust am [Zu-]Schauen“30 eines männlichen Voyeurs konstruiert. Angesichts ihrer patriarchalen ‚Mangelstellung‘ als physio-symbolisch kastriertes (Blick-)Objekt verschleiert die Dominanz dieses male gaze durchaus einen männlichen, überkompensatorischen Mechanismus: Kameraeinstellungen und Schnitt gewähren eine sadistisch-narzisstische, fetischisierende Versicherung31 des physio-symbolischen ‚Mangels‘ der Frau. Das Visuelle ermöglicht so (cis-männlichen) Kinobesuchern eine befriedigende Flucht vor ihrem „Gefühl von Verlust, durch den Terror potenziellen Mangels in der Phantasie“.32

Kameratechnik, -bewegung und Schnitt operieren obendrein als Instrumente, die die Grenzen von innerfilmischem und realem Raum der Filmvorführung verflüssigen, was zur Kinosaalarchitektur führt: Ebendiese potenziert mit ihren „Bedingungen der Vorführung“33 die herausgestellten hegemonieversichernden, subordinierenden und phalluszentrisch organisierten filmischen Politiken des Blicks. Zunächst der „geheimen Welt verstohlener Beobachtung eines ahnungslosen und unfreiwilligen Opfers“34 gegenüber distanziert, offenbaren sich Kino und Filme des ‚traditionellen Kinos‘ schnell als „hermetisch abgeschlossene Welt[en]“.35 Sie zeigen sich unabhängig vom anwesenden Publikum, dessen Trennung vom Gezeigten die voyeuristische Schaulust des male gaze verstärkt. Kontrastreiche Wechselspiele zwischen anonymisierender Dunkelheit des Kinosaals und der „Brillanz der wechselnden Muster von Licht und Schatten auf der Leinwand“36 steigern den kinematographischen Voyeurismus abermals. Schließlich ist der Coup komplett: 

„[Die] Lust am Schauen [ist] in aktiv/männlich[/Subjekt] und passiv/weiblich[/Objekt] gespalten […] In ihrer traditionellen exhibitionistischen Rolle werden Frauen zugleich angeschaut und zur Schau gestellt, ihre Erscheinung ist auf eine starke visuelle und erotische Ausstrahlung hin codiert, wir könnten sagen, sie bedeuten Zum-Anschauen-Sein“.37

Die dieser Schlussfolgerung implizite Ohn[Macht] der Frau kann sich jedoch zu ihrer [Ohn]Macht wandeln, denn: 

„Sobald die fetischistische Repräsentation des weiblichen Bildes den Bann der Illusion zu brechen droht und das erotische Bild direkt (ohne Vermittlung) für den Zuschauer auf der Leinwand zu Vorschein kommt, bringt das Faktum der Fetischisierung, hinter der sich zweifellos Kastrationsangst verbirgt, den Blick zum Stillstand, fixiert den Zuschauer und hindert ihn daran, Abstand von dem Bild vor ihm zu gewinnen.“38

Valie Exports Tapp und Tastkino lässt sich angesichts dieser Subversionsstrategie als Paradebeispiel bezeichnen.

Vorhang auf: Valie Exports Tapp und Tastkino

Der Frauenkörpers als ‚Anderes‘ nicht ‚Eigenes‘, als ein konstruiertes gleichsam wandelbares Bild patriarchal-phalluszentrischer Ordnungsprinzipien kennzeichnet sowohl Valie Exports kunstpraktisches als auch theoretisches Wirken.39 Vor diesem Hintergrund stellen Frauen und ihre Körper für die österreichische Künstlerin mediale Anagramme40 in einer patriarchal organisierten, sozialen Grammatik dar.41 Das ‚traditionelle Kino‘ erweist sich angesichts dessen als räumlicher Kontext der Formulierung dieses, so Export, „social grammar of masculine desire“:42 Denn in den dort etablierten Politiken des Blicks wird der Frauenkörper ohn[mächtig]. Er wird anagrammatisch in einzelne (erogene) Körperelemente ‚zersplittert‘, um – adäquat des male gaze – zum sexualisierten (Blick-)Objekt rekonstruiert zu werden. Es handelt sich um einen Prozess, in dem das Patriarchat den Frauenkörper stetig visuell okkupiert, um die Geschlechterdisparität zwischen Mann/aktiv/Subjekt und Frau/passiv/Objekt zu perpetuieren.43  Um sich aus dieser Ohn[Macht] medialer Miss/Repräsentation zu befreien, schlägt Export einen trilateralen Lösungsansatz vor: 

„The rejection of the representation of the body through the image, the hiding of the body (or the excessive exposing of the body) and the denial of the image therefore belonged to the emancipating art forms of the feminist aesthetic.“44

Inwieweit verhandelt Tapp und Tastkino diesen Ansatz?

Nur anfassen, nicht anschauen. Ein ‚Ertapp und Tatkino‘

Abb. 2: Valie Export und Peter Weibel: Tapp und Tastkino (metallene Kastenapparatur späterer re-enactments), 1968, Metall, Schaumstoff, Gummi und Gurt, Wien, Avantgardefilmfestival Underground Explosion (1969), in: Ausst.-Kat. Out of actions. Zwischen Performance und Objekt 1949–1979, hrsg. V. Paul Schimmel und Paul, Los Angeles (The Museum of Contemporary Art) 1998 und Wien (Museum für Angewandte Kunst) 1998, Stuttgart 1998, S. 169.

Im Rahmen des ersten europäischen Treffens unabhängiger Filmemacher in München reinszeniert Export zusammen mit Peter Weibel Tapp und Tastkino am 14. November 1968 auf dem Münchner Karlsplatz (Stachus). Export transferiert ihr Werk somit vom architektonisch geschlossenen Festsaal seiner Erstaufführung in die Öffentlichkeit eines Knotenpunkts des Münchner Stadtlebens:45 Megaphon-Ausrufe Peter Weibels fordern die fremden, über den Stachus Flanierenden auf, an einer 12-sekündigen ‚Kinovorführung‘ teilzunehmen (Abb. 3). Warum es genau 12 Sekunden sind, ist zweitrangig. Vielmehr ist die Tatsache einer zeitlichen ‚Kastration‘ zentral. Nebst Aufforderung zum ‚Kinobesuch‘ vermittelt Weibel theoretische Hintergründe zu Tapp und Tastkino, das die „Rehabilitierung des Tastsinns“46  beabsichtigt:

„im staatskino wird zum voyeurismus degradiert, was lust am sehen sein könnte. um jener deprivation zu entgehen, um den busen als warenfetisch zu entdinglichen, wird ein unterdrückter partialtrieb, der tastsinn, rehabilitiert, wird an stelle der visuellen die taktile rezeption eingesetzt, weil sie gegen den betrug feit [Kleinschreibung im Original; Anm. PPW].“47  

Abb. 3: Valie Export und Peter Weibel: Tapp und Tastkino (Fotografie der Partizipierenden aus der breiten Öffentlichkeit), 1968, mixed media, München (Karlsplatz), Erstes Europäisches Treffen unabhängiger Filmemacher am 14. November 1968, in: Ausst.-Kat. Out of actions. Zwischen Performance und Objekt 1949–1979, hrsg. V. Paul Schimmel und Paul, Los Angeles (The Museum of Contemporary Art) 1998 und Wien (Museum für Angewandte Kunst) 1998, Stuttgart 1998, ohne Seitenangabe.

Zwar immer noch im Dunkeln stattfindend, handelt es sich beim ‚Besuch‘ von Tapp und Tastkino um einen miniaturisierten Kinosaal in Form des um den nackten Oberkörper geschnallten Styroporkastens mit textilen Vorhängen. Auch die Rezeptionsgrundlage und der Rezeptionskontext erscheinen gewandelt: Die ‚Filmvorführung‘ kann lediglich über das Einführen beider Hände der Kinobesucher:innen ‚geschaut‘ werden und die Leinwand ist nicht mehr plan, textil und distanziert, sondern in Form von Exports Busen uneben, organisch und nah. Sich zwar den Blicken entziehend, „präsentierte [er] sich aber den ‚Besucher/innen‘ als haptisch erfahrbarer, wobei diese selbst den Blicken ausgesetzt waren.“48

Das Material künstlerischen Wirkens ist folglich nicht mehr die Repräsentation von Realität, sondern die Realität per se in Form des nackten Frauenkörpers. Tapp und Tastkino entspricht hier Mulveys Überlegungen zu einer desillusionierenden, unmittelbaren Präsenz der Frau und ihres Körpers als Dekonstruktion objektifizierender Fetischisierung des male gaze: Indem Export die Öffentlichkeit mit ihrem eigenen Frauenkörper selbstbewusst konfrontiert, entzieht sie sich ihrer Fetischisierung als passiviertes Objekt des (männlichen) Blicks. Dies insofern, als dass sie eine selbstgewählte und damit aktiv-selbstbestimmbare Form der Objektifizierung demonstriert, wodurch Export als Frau und Künstlerin Handlungsmacht zukommt. Ebendiese potenziert sich beachtet man, dass Export mit der styropornen Kastenapparatur und dem urbanen ‚Aufführungskontext‘ Ort und Ausschnitt der taktilen ‚Filmvorführung‘ selbst diktiert. Die Ohn[Macht] der Frau und ihres Körpers im patriarchalen Film des ‚traditionellen Kinos‘ wandelt sich zu ihrer [Ohn]Macht, die etablierte Politiken des (männlichen) Blicks in Film und Kino herausfordert – doch nicht bloß dort.49

Tapp und Tastkino artikuliert auch eine Gesellschaftskritik, bezieht man dessen öffentlichen ‚Aufführungskontext‘ mit ein.  Diesen in Form des Stachus als Rezeptions- und Handlungsrahmen des (nun) ‚taktilen Voyeurismus‘ vergegenwärtigt, transformiert Exports Tapp und Tastkino eine maßgebliche Bedingung der von Mulvey behandelten, männlichen Lust am Schauen: „Statt des schützenden Dunkels, in dessen Anonymität sich die Lust am Betrachten des weiblichen Körpers entfaltet, befindet sich nun der Zuschauer selbst im Rampenlicht des öffentlichen Interesses“50 (Abb. 3). Dieser Transfer des Miniatur-Kinosaals in die Öffentlichkeit sowie die öffentlich zwar nicht sichtbare, jedoch erkennbare Tat des nun male grab exponieren den männlich-voyeuristischen Kinobesucher.  Jenes exponierende Moment potenziert Exports „gleichgültige[s], teils provokantes; Anm. PPW] Lächeln“51 im Zuge taktiler Erfahrung durch ihren tastenden Voyeur, dessen imaginativ erhoffte Lustreaktion der Betasteten entschieden enttäuscht wird (Abb. 4, 5). Die beschnittene Dauer des ‚Kinobesuchs‘ von 12 Sekunden evoziert gleichsam ein Gefühl der Frustration des männlichen Voyeurs. Indem Export „quasi Bildausschnitt und Länge der Sequenz vorab bestimmt“,52 ist er ein von der Erfüllung seines Verlangens ‚kastrierter Voyeur‘. Insofern, als dass eine „Berührung des Fremden [– Valie Export –; Anm. PPW] immer zugleich eine Selbstberührung“53 ist, erfährt er seinen ursprünglich heimlichen, voyeuristischen Akt. Tapp und Tastkino avanciert meines Erachtens dementsprechend zur Arena von Mulveys angestrebten ‚Kampfes gegen das Unbewusste‘ durch (potenziell selbstreflexive) Entlarvung und Diskontinuität:54 „[W]ährend andere voyeuristisch-kontrollierend zuschauen und der Blick des vormaligen ‚Objekts der Begierde‘ und nunmehr ihres Subjekts schier unausweichlich ist“,55 resultiert ein ‚ertappter Voyeur‘ (Linda Hentschel).56 Der männliche (tastende) Voyeur wird ohn[mächtig], avanciert er doch zum Objekt des Export’schen Blicks gleichwie jenem des ihn umgebenden Publikums im öffentlichen Raum.57

Abb. 4: Valie Export und Peter Weibel: Tapp und Tastkino (Fotografie eines ‚Kinobesuchers‘ im Moment visueller Begegnung beim ‚taktilen Unterfangen‘), 1968, mixed media, München (Karlsplatz), Erstes Europäisches Treffen unabhängiger Filmemacher am 14. November 1968, in: Ausst.-Kat. Out of actions. Zwischen Performance und Objekt 1949–1979, hrsg. V. Paul Schimmel und Paul, Los Angeles (The Museum of Contemporary Art) 1998 und Wien (Museum für Angewandte Kunst) 1998, Stuttgart 1998, S. 169.

Tapp und Tastkino wandelt sich zum Ertapp und Tatkino gleichwie sich ein Wandel der Frau vom ohn[mächtigen], fetischisierten Objekt des male gaze hin zum [ohn]mächtigen, selbstbestimmten Subjekt vollzieht. Exports unmittelbare (körperliche) Realpräsenz, das Taktile und der räumliche Transfer des Kinos in die Öffentlichkeit ist dafür maßgeblich. Tapp und Tastkino korreliert an dieser Stelle entschieden mit Mulveys Überlegung einer unvermittelten Präsenz der Frau als desillusionierendes Mittel ihres Bildes als fetischisiertes Objekt des male gaze im Film. Vermittels dieser entlarvt sich die patriarchale Gesellschaft beim ‚Besuch‘ von Tapp und Tastkino selbst. Sie demaskiert ihre Handlungs- und Organisationsmuster, wie sie sich im ‚traditionellen Kino‘ und in den patriarchalen, phalluszentrisch organisierten (Blick-)Strukturen des gesellschaftlichen Kollektivs manifestieren. Export hält dementsprechend treffend fest: 

„Denn solang [sic] der Bürger mit der reproduzierten Kopie sexueller Freiheit sich begnügt, erspart sich der Staat die reale sexuelle Revolution. […] Neue Organisation der filmischen Elemente bedingt auch eine neue Kommunikation, mit ihr eine neue Erfahrung. Soziologische Modelle, neue menschliche Verhaltensweisen, bzw. die Sozialisierung der Sexualität. Schluss mit der Erotik als Privatbesitz, Vergesellschaftung der Sexualität.“58

Die eingangs aufgestellte These bestätigt sich: Valie Exports Tapp und Tastkino artikuliert weibliche [Ohn]Macht in Kino und Film, indem sie den dortigen Vorrang männlich-visueller Wahrnehmung von Frauen(körpern) in materieller, sozialer und kultureller Hinsicht herausfordert. Oder mit Exports eigenen Worten gesagt: „Die Gesellschaft wird nackt – die nackte Frau dreht den Spiegel um.“59

Abb. 5: Valie Export und Peter Weibel: Tapp und Tastkino (Fotografie eines ‚Kinobesuchers‘ im Moment visueller Gleichgültigkeit der Künstlerin bei der taktilen Wahrnehmung ihrer nackten Brüste durch einen Fremden), 1968, mixed media, München (Karlsplatz), Erstes Europäisches Treffen unabhängiger Filmemacher am 14. November 1968, in: Katrin Hillgruber: „Oh Lord, Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb on Me“, in: on art Magazine, 09. März 2013, URL: https://on-art.news/2023/03/09/oh-lord-dont-let-them-drop-that-atomic-bomb-on-me/#jp-carousel-1901 (22.10.2023).

Ende der Vorstellung. Ausblick

Jene These, gleichwie das Umdrehen jenes metaphorischen Spiegels künstlerischer Praxis muss jedoch im Kontext kunstpraktischer Tendenzen zum Entstehungszeitpunkt von Tapp und Tastkino verortet werden. Der unvermittelte Rückgriff auf ihren eigenen Frauenkörper als materiellen Ausgangspunkt ihres Werks entspricht Exports Interesse, soziale, sexuelle und kulturelle Grenzen zu überschreiten. Damit setzt sie einen essentiellen Aspekt der Body und Performance Art seit den 1960er Jahren um: Das (weibliche) Subjekt, dessen (nackter) Körper und Haut formulieren als authentizitätsversprechende Materialien künstlerischer Praxis eine Sozialkritik patriarchal-phalluszentrischer Macht-, Geschlechter- und Repräsentationsstrukturen.60 Export nivelliert so eine kunsthistorisch und kunsthistoriografisch etablierte Subjekt-Objekt-Dichotomie. Einhergehend damit negiert sie den passiven Objektstatus der Frau im phalluszentrisch organisierten Patriarchat,61 denn: „[B]reasts were no longer a sign on the screen, but were themselves the screen. Reality was reintroduced into art.“62

Hervorzuheben ist angesichts dessen Exports Einsatz von und Auseinandersetzung mit Fotografie, Film und Kino, die ihr Wirken erneut mit zentralen Medien der feministischen Body und Performance Art seit den 1960er Jahren parallelisieren. Zwei noch nicht im männlichen Kunstgeschichtskanon etablierte, folglich männlich dominierte Medien, durch ‚Frauenhand‘ zu okkupieren und zu kritisieren zählt dahingehend ebenso zu Exports Zielen, wie eine avancierte, medientheoretische Reflexion der Künstlerin in zweifacher Hinsicht: Zum einen über die „Möglichkeiten des Filmmediums jenseits der bloßen Projektion eines Filmstreifens auf eine Leinwand“.63 Zum anderen über die Frage danach, „wie die Realität [insbesondere von Frauen und ihren Körpern; Anm. PPW] im Film manipuliert wird“.64 Schließlich bleibt hervorzuheben, dass Exports in Tapp und Tastkino erfolgte Artikulation weiblicher [Ohn]Macht in Kino und Film aus ihrer Auseinandersetzung mit einer Bandbreite medienrhetorischer gleichwie künstlerischer Mittel und Diskurse ihrer Zeit resultiert. Ebenjene befragt und neuverhandelt die österreichische Künstlerin stetig in materieller, soziokultureller und -politischer Hinsicht. Doch es bleibt zu fragen: Erfuhr die in Tapp und Tastkinoartikulierte weibliche [Ohn]Macht ihre Anerkennung im gesellschaftlichen Kollektiv, das Export andressierte? Besaß das beim re-enactment am 14. November 1968 eingebundene bürgerliche Publikum Münchens Kenntnis von Mulveys psychoanalytischem Diskurs über die Frau und ihre Misere im Geflecht patriarchaler Politiken des Blicks im Kino und Film? Waren sie wohl davon überzeugt, dass ihre Partizipation eine feministische Kritik formulieren könnte und den Stellenwert der Frau und ihres Körpers im phalluszentrisch organisierten Patriarchat wandeln könnte? Oder motivierte sie nicht doch zuletzt die Lust am Tabubruch, am künstlerisch ermöglichten (male) grab, den das Werk eigentlich intendierte zu entlarven?65


Biografie

PHILIPP PAUL WENDT studiert seit 2016 Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Ruhr-Universität Bochum, wo er als wissenschaftliche Hilfskraft mit einem Schwerpunkt in der Kultur- und Geschlechtergeschichte arbeitet. Sein kunstgeschichtliches Interesse beschreibt er mit folgenden zwei Fragen: Welche Wechselbeziehung besteht zwischen Kunstwerken sowie der sozialen, kulturellen und politischen Organisation von Gesellschaften in einem bestimmten raumzeitlichen Kontext? Und was sagt ihre kunstpraktische Herausforderung über die Hegemonie jener Organisationsstrukturen aus? 

Gegensprechakte: Adrian Pipers Calling (Cards) 1#, #2 (1986–1990) und #3 (2012), 2023 – Lara Holenweger

In der Performance-Serie My Calling (Cards) #1, #2 (1986-1990) und #3 (2012) kontert die Künstlerin und analytische Philosophin Adrian Piper rassistische und sexistische Bemerkungen und Verhaltensweisen in alltäglichen sozialen Situationen. Lara Holenweger fokussiert in ihrem Essay das widerständige Potential der Arbeit, das sich in der direkten Adressierung der Rezipient:innen einstellt.

Inwiefern kann Kunst gesellschaftliche Machtverhältnisse verändern? Welche Strategien kommen zum Zug, um sie ins Wanken zu bringen? Wo liegen künstlerische Potenziale und ihre Grenzen? Die US-amerikanische Konzeptkünstlerin und analytische Philosophin Adrian Piper (1948*) beschäftigt sich in ihrer Praxis seit den Umbrüchen in den 1970er Jahren mit gesellschaftspolitischen Problemen wie Rassismus und Sexismus. Sie gehört zu jenen Künstler:innen, die nicht nur für den Kunstmarkt produzieren. Vielmehr sieht Piper in der Kunst eine katalytische Kraft, die soziale Veränderung anzustoßen vermag.1 Ihr künstlerisches Werk umfasst konzeptuelle Arbeiten, Zeichnungen, Malereien, Montagen, Fotografien, Videos, multimediale Installationen und Performances. Insbesondere die performativen Arbeiten der 1970er bis 1990er Jahre sind in den letzten Jahren ins institutionelle und kunsthistorische Scheinwerferlicht gerückt. Im Kontext der Proteste der 1970er Jahre gegen den Vietnamkrieg, der Bürgerrechts- und der feministischen Bewegung wendete sich Piper verstärkt der direkten Konfrontation und Kommunikation mit den Rezipient:innen zu. So auch in der Serie My Calling (Cards) #1 und #2 (1986–1990) und My Calling (Card) #3 (2012), die rassistische und sexistische Unterdrückung in zwischenmenschlichen Beziehungen unmissverständlich thematisiert. Im Hinblick auf die Fragen der Transformation bestehender Machtverhältnisse und des widerständigen Potenzials sind insbesondere die sozialen Implikationen relevant, die sich in der Beziehung mit den Adressat:innen einstellen.

Teil der Arbeit sind zwei Visitenkarten aus Karton, die beide mit einem Text beschriftet sind. My Calling (Card) #1 ist für Abendessen und Cocktailpartys konzipiert. Für Momente, in denen sich Piper in ausschließlich weißer Gesellschaft befindet, und die Anwesenden nicht wissen, dass sie Schwarz ist. Wenn Piper eine rassistische Bemerkung hört, überreicht sie der Person, die sie ausgesprochen hat, die Karte. Mit My Calling (Card) #2 interveniert die Künstlerin, wenn sie allein in einer Bar oder einem Club ist, von Männern angesprochen wird, ihre Ansprech- oder Flirtversuche ablehnt, aber sie ihr Nein nicht akzeptieren.2

Piper bezeichnet die Arbeiten als „reactive guerilla performances“.3 Auch der Titel der Arbeit ist Programm. Einerseits erinnert er an den Ausdruck «to call someone out», was so viel bedeutet, wie eine Person auf ihr Verhalten aufmerksam zu machen oder herauszufordern.4 Andererseits kann «My Calling» auch als eine Berufung verstanden werden. In den Performances erhebt Piper Einspruch gegen die rassistischen oder sexistischen Äußerungen und Verhaltensweisen. Sie weigert sich auch in den Kreis von Menschen berufen zu werden, die diskriminieren, Diffamierungen lachend zustimmen oder sie tolerieren. Toleranz stellt sich ein, wenn unangebrachte Aussagen unkommentiert bleiben, wenn der Mut fehlt, zu widersprechen. Piper geht mit den Visitenkarten dagegen vor. Das Medium ist dabei kein Zufall.

Visitenkarten finden in beruflichen Kontexten Verwendung, wenn es zu einem ersten Kontakt zwischen Geschäftspartner:innen kommt. In Bars und Clubs sowie im Rahmen von Abendessen und Cocktail Partys kommen Menschen zusammen, um ein Glas miteinander zu trinken und eine Mahlzeit zu genießen, zu tanzen, sich kennenzulernen und sich miteinander zu unterhalten. Während in Bars und Clubs eine bestimmte Anonymität gegeben ist, setzen Abendessen und Cocktail Partys soziale Interaktionen und bereits bestehende Beziehungen voraus. Bei Apéros und Abendessen handelt es sich zwar um Veranstaltungen, die im Privaten stattfinden können, aber gerade in der Academia und im Kunstfeld auch dem Knüpfen und der Pflege professioneller Kontakte dienen. Anders als Visitenkarten sind Pipers Calling (Cards) jedoch nicht mit einer Adresse oder Telefonnummer versehen, sondern mit einer kurzen persönlichen Nachricht. Wie reagieren die Empfänger:innen auf die Mitteilungen und welche Funktion nehmen die Visitenkarten ein?

#1
Abb. 1: Calling (Card) #1
Adrian Piper, My Calling (Card) #1 (Reactive Guerrilla Performance for
Dinners and Cocktail Parties), 1986-1990. Performance prop: brown
printed card. 3.5″ x 2″ (9 cm x 5,1 cm). Collection of the Adrian Piper
Research Archive (APRA) Foundation Berlin. © APRA Foundation
Berlin.

Die höfliche Formulierung der Nachricht fällt auf. Piper übergibt My Calling (Card) #1, um ihr Gegenüber auf den unbewussten Rassismus hinzuweisen. Eine Vorankündigung ihrer Schwarzen Identität – wie sie auf ihrer Karte mitteilt – wäre in der Vergangenheit nicht fruchtbar gewesen. Reaktionen wie „Ich bin doch nicht rassistisch!“ „Das war doch nicht so gemeint!“ Oder: „Darf ich denn jetzt gar nichts mehr sagen?!“ sind Phrasen, die Piper mit der höflichen Mitteilung auf der Karte zu umgehen versucht. My Calling (Card) #1 bietet ein diskretes Mittel, um rassistische Bemerkungen abzuwehren, ohne, dass die heitere Stimmung gestört würde. Anstatt das fröhliche Abendessen oder die Cocktail Party zu unterbrechen, können alle anderen Anwesenden den Abend weiterhin unbeschwert genießen.5 Für mindestens zwei ist der Spaß vorbei: Für Piper und die Person, die die Bemerkung geäußert hat, sowie alle anderen, die ihr lachend oder billigend zugestimmt haben. Piper schreibt auf der Karte zwar, dass sie davon ausgeht, dass weiße Menschen an Abendessen und Cocktail Partys keine rassistischen Bemerkungen machen. Sie ist aber mit der Karte darauf vorbereitet. Auch in der Anrede schwingt eine gewisse Ironie mit. Mit „Dear Friend“ stellt Piper trotz der rassistischen Bemerkung eine persönliche Verbindung zu den Adressat:innen her. Die Kritik kann dadurch, obwohl sie höflich formuliert ist, brüskieren oder auf Unverständnis stoßen. Bestenfalls tritt ein Moment der Scham ein. Wir empfinden Scham oder sogar Schuld, wenn wir einen Fehler begehen und dabei ertappt werden. Das Empfinden von Scham und Schuld kann dazu führen, dass sich die Leser:innen dem Rassismus stellen und ihr Verhalten kritisch reflektieren. So eröffnet Piper mit My Calling (Card) #1 den Empfänger:innen die Möglichkeit ein Gespräch unter vier Augen aufzunehmen und sich vielleicht sogar für die rassistische Bemerkung zu entschuldigen. Dafür braucht es aber die vorhergehende Einsicht, dass mit dem Verhalten eine Grenze überschritten wurde. Dies setzt wiederum voraus, dass Rassismus als Problem und als Fehler erkannt wird. Geschieht dies nicht, läuft Pipers Aktion ins Leere. My Calling (Card) #2 erzeugt eine etwas andere Reaktion.

#2
Abb. 2: Calling (Card) #2 (1986–1990)
Adrian Piper, My Calling (Card) #2 (Reactive Guerrilla Performance for
Bars and Discos), 1986-1990. Performance prop: printed card. 3.5″ x 2″ (9
cm x 5,1 cm). Collection of the Adrian Piper Research Archive (APRA)
Foundation Berlin. © APRA Foundation Berlin.

Diese Visitenkarte zielt nicht auf sexistische Beschimpfungen, beleidigende und erniedrigende Kommentare ab. Piper problematisiert in der Nachricht vor allem die Aberkennung von Unabhängigkeit und Respekt. Das Problem beginnt mit einer stereotypen Unterstellung: Wenn eine Person, die als Frau gelesen wird, allein Zeit in einer Bar oder einem Club verbringt, ist sie auf der Suche nach Gesellschaft und empfänglich für eine Anmache. Der erste Annäherungsversuch an sich ist nicht unbedingt problematisch. Ein Flirt setzt aber gegenseitige Zustimmung voraus. Wenn ein Nein nicht gehört und ernst genommen wird, nimmt das Verhalten grenzüberschreitende Züge an.

Die Nachricht auf My Calling (Card) #2 ist zwar ebenfalls freundlich, aber deutlich eindringlicher formuliert. Piper unterzeichnet My Calling (Card) #1 mit ihrem Namen in der Schlusszeile und ermöglicht ein anschließendes Gespräch. Mit My Calling (Card) #2 wehrt sie jegliche Kontaktaufnahme ab. Die Mitteilung auf dieser Visitenkarte ist eine Wiederholung dessen, was Piper zuvor bereits sagte – die letzte Option, um das Nein zu unterstreichen, ohne nochmal mit der Person sprechen zu müssen. Piper betont, dass diese Visitenkarte oft nicht den gewünschten Effekt hatte. Ihre Privatsphäre wurde auch nach der Übergabe nicht respektiert. Sie führte stattdessen zu weiteren Sprüchen und Belästigungen.6 Das lässt die Vermutung aufkommen, dass die Höflichkeit, die für My Calling (Card) #1 tragend ist, bei sexistischen Vorannahmen und Verhaltensweisen nicht funktioniert. Das wird auch an einer weiteren Visitenkarte deutlich.

#3

My Calling (Card) #3 Reactive Guerrilla Performance for Disputed Territorial Skirmishes ist eine Erweiterung von My Calling (Card) #2 aus dem Jahr 2012. Hier rückt Piper die Übertretung körperlicher Grenzen in den Blick. Diese Visitenkarte ist auf zwei Seiten, in Deutsch und in Englisch beschriftet. Anders als My Calling (Card) #1 und #2 ist sie nicht für spezifische Räume bestimmt. Die Höflichkeit ersetzte Piper durch einen ermahnenden Apell.

Abb. 3–4: Calling (Card) #3 (2012)
Adrian Piper, My Calling (Card) #3 (Reactive Guerrilla Performance for
Disputed Territorial Skirmishes), 2012. White business card printed on
both sides with black text. 2” x 3.5” (5 cm x 8,8 cm). Collection of the
Adrian Piper Research Archive (APRA) Foundation Berlin. © APRA
Foundation Berlin.

My Calling (Card) #3 erweitert die Perspektive auf alltäglichen Sexismus und holt zum Gegenangriff gegen sexuelle Belästigung aus. Die patriarchalen Herrschaftsstrukturen sind nach wie vor präsent, obwohl wir manchmal denken könnten, dass wir sie überwunden haben. Sie offenbaren sich in der Weigerung, ein Nein beim Flirten zu akzeptieren und in der Annahme, dass auch ohne Zustimmung jede Art von Berührung akzeptabel ist. Der Körper einer als weiblich gelesenen Person wird als Besitz gesehen und behandelt, über den frei verfügt werden darf. Es geht dabei in erster Linie darum, durch bestimmte Handlungen Macht auszuüben. Pipers Visitenkarte wirkt auf die bestehenden Machtverhältnisse ein. Sie fungiert als Medium der Selbstverteidigung und leitet zur Selbstermächtigung an. Dieser Aspekt könnte darauf schließen lassen, dass sich Piper weniger für die strukturelle Dimension rassistischer und sexistischer Unterdrückungsformen interessiert. Dass dies nicht zutrifft, zeigt nicht nur die lange Dauer der performativ-konzeptuellen Serie, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, sondern auch die Präsentation der Calling (Cards) im institutionellen Kontext.

„Join the Struggle“

Im Frühling 2018 zeigte Piper My Calling (Cards) #1, #2 und #3 in ihrer umfassenden Retrospektive im Museum of Modern Art in New York. Die Ausstellung Adrian Piper. A Synthesis of Intuitions, 1965–2016 wurde von Christophe Cherix, Connie Butler, David Platzker und Tessa Ferreyros kuratiert und entstand in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin. Das Museum of Modern Art präsentierte die Visitenkarten in einer Installation. Drei einzelne Exemplare hängen übereinander in schwarzen Objektrahmen an der Wand. Zusätzlich liegen die drei Karten auf einem Sockel in mehrfacher Auflage in Karteikästchen. Darüber befindet sich ein Schild mit roter Schrift, welches die Besucher:innen auffordert, die Calling (Cards) mitzunehmen: «JOIN THE STRUGGLE TAKE SOME FOR YOUR OWN USE».7

Abb. 5: Installation MoMA
Adrian Piper, My Calling (Card) #1, #2, #3, installation view: Adrian
Piper: A Synthesis of Intuitions 1965-2016, The Museum of Modern Art,
New York, March-July 2018.
Photo Credit: Martin Seck, Digital Image © 2018 MoMA, N.Y.

Mit Blick auf die beiden Präsentationsweisen wird deutlich, welche Rollen die Karten in unterschiedlichen Kontexten annehmen können. Die Visitenkarten sind nicht nur (Kunst-)Objekte, die im Museum aufgehängt, gelesen und betrachtet werden können, wozu die Einrahmung einlädt. Durch die Rahmung erscheinen die Karten seltsam entfremdet von ihrer ursprünglichen Funktion in den Aktionen. In diesen fungieren sie vor allem als Schutzmechanismus. Wie das Publikum sie nutzt, ob als Mittel zur Selbstverteidigung und Selbstermächtigung oder als (Kunst-)Objekte, die eingerahmt, aufgehängt oder sogar verkauft werden, bleibt dabei ihm überlassen.

Die beiden Präsentationsweisen stehen in einem starken Kontrast. Sie repräsentieren nicht nur unterschiedliche Positionen und Perspektiven, sondern auch andere Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen. Die Gegenüberstellung stellt beide Seiten gleichberechtigt dar, ohne sie zu bewerten. Dennoch scheint Piper Position zu beziehen und zu zeigen, mit welcher Seite sie sich verbunden fühlt. Von entscheidender Bedeutung ist das Schild, das die Besucher:innen dazu anhält, Karten mitzunehmen und sich dem Kampf gegen Rassismus und Sexismus anzuschließen. Die Aktionen sind nicht mehr von der Künstlerin abhängig, sondern können durch andere weitergeführt werden. So sind spätere Versionen von My Calling (Card) #1 ent-personalisiert und nicht mehr mit Pipers Namen unterzeichnet.

Soziale Transformation

Piper steht durch die Problematisierung von Sexismus und Rassismus und der Verbindung des Persönlichen mit dem Politischen in Resonanz mit der feministischen Bewegung. Vor dem Hintergrund von #MeToo lassen sich einige Aspekte herausarbeiten, die für den Zusammenhang von Kunst und sozialer Transformation von Bedeutung sind. Der Ausruf wurde 2006 erstmals von der Afroamerikanerin Tarana Burke eingesetzt, um sich mit betroffenen Schwarzen Frauen und Mädchen zu solidarisieren, die sexuelle Belästigung oder sexualisierte Gewalt erlebten. Mehr als zehn Jahre später ging das Hashtag auf Twitter viral. Alyssa Milano setzte im Jahr 2017 unter dem Hashtag einen Post ab, in dem sie Filmproduzenten Harvey Weinstein der sexuellen Belästigung anklagte. Daraufhin schlossen sich ihr zahlreiche andere betroffene Frauen an. Durch das Hashtag konnte sich die soziale Bewegung öffentlich Gehör verschaffen, ein Bewusstsein für patriarchale Strukturen stiften und zu einer breit geführten Debatte anregen. Innerhalb der feministischen Bewegung stieß #MeToo aber auf Kritik.8 Bei den Personen, die ihre Erfahrungen im Netz teilten und in den Medien aufgenommen wurden, handelte es sich um Berühmtheiten. Personen mit weniger Macht blieb die Sichtbarkeit verweht und ihre Stimmen wurden weniger oder gar nicht gehört. Die mediale Sichtbarkeit brachte auch das Problem mit sich, dass einzelne Männer in Machtpositionen in den Medien vorgeführt wurden, bevor sie die Möglichkeit hatten, sich zu den Vorfällen zu äußern. So wurde es der medialen Öffentlichkeit überlassen noch vor dem juristischen Prozess über Schuld oder Unschuld zu entscheiden. Die Opfer- und Täterrollen waren tendenziell klar verteilt: Auf der einen Seite standen die mächtigen Männer – die Täter. Auf der anderen Seite die jungen, berühmten Frauen – die Opfer. In diesem dualistischen und vereinfachenden Denken erlöschen die Grauzonen und Ambiguitäten.9 Die Täter haben die Macht und zwingen die Opfer in die Ohnmacht. In Pipers Performance ist das anders. Die Ereignisse selbst sind weder dokumentiert noch stellt Piper einzelne Personen öffentlich bloß. Die Künstlerin konfrontiert die Personen direkt, überrascht sie, indem sie in den Moment des Geschehens eingreift. Die Visitenkarten sind Medium in diesem selbstermächtigenden Akt. Sie können ein Mittel für jene sein, die sich nicht in Machtpositionen befinden und nicht dieselben Möglichkeiten haben, gesehen und gehört zu werden.

Ähnlich wie Awareness-Konzepte, die sich in einigen linksalternativen Räumen und Veranstaltungen etabliert haben, wirken Pipers Calling (Cards) gegen stereotype Vorannahmen und Diskriminierung. Awareness bedeutet, sich der eigenen Position und Privilegien bewusst zu werden und zu verstehen, dass sich gesellschaftliche Machtverhältnisse auch in sozialen Räumen und zwischenmenschlichen Beziehungen manifestieren. Awareness-Konzepte sind darauf ausgerichtet, diskriminierungssensible Räume zu schaffen, in denen die Betroffenen die Definitionsmacht haben und im Fall von Grenzüberschreitungen oder Übergriffen nicht allein gelassen werden. In diesem Punkt unterscheidet sich Pipers Herangehensweise. Die Visitenkarten ermöglichen individuelle Gegenwehr. Wir könnten Piper entgegnen, dass es nicht allein der betroffenen Person überlassen werden sollte, sich zu wehren und zu verteidigen. So müssten in Bars und Clubs die Veranstalter:innen Verantwortung übernehmen und Unterstützung bieten. Pipers Visitenkarten dienen aber einem Selbstzweck in Räumen und Situationen, in denen die kollektive Verantwortung gerade fehlt. Die Künstlerin bringt mit der performativen Serie keinen universalen Anspruch vor, sondern geht von ihren persönlichen Erfahrungen aus. Die Erfahrungen als Schwarze Frau, die als weiß gelesen wird,10 stellen den Ausgangpunkt dieser Serie dar und werden durch sie transformiert. Wie Piper schreibt: «My strategy of self-defense is to transform pain into meaning.»11. Als eine Art Gegensprechakt zeigen die Performances, dass – ganz im Sinne Michel Foucaults – Macht nicht gleich Unterdrückung ist. Im Gegenteil, Macht impliziert Widerstand.


Biografie

LARA HOLENWEGER ist Kunsthistorikerin und freie Autorin mit einem Hintergrund in der Bildenden Kunst. Sie unterrichtete als Tutorin am Kunsthistorischen Seminar an der Universität Basel und war Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Teilhabende Kritik als transformierendes und transversales Mit“ an der Zürcher Hochschule der Künste. Ihre Texte erschienen im Magazin Brand-New-Life und der Zeitschrift RosaRot.

„I Had a Dream“, 2023 – Razan Sabbagh

Razan Sabbaghs Projekt- und Textbeitrag „I Had a Dream“ gibt Einblicke in die Tiefen des Saydnaya-Gefängnisses. Die Installation basiert auf Zeugnissen von ehemals inhaftierten Personen und fokussiert sich dabei auf Aussagen über einen Ort, an dem Klang, Stille und Zuhören zu zentralen Instrumenten der Macht und Ohnmacht werden. In der Dunkelheit von Saydnaya hat das Zuhören eine ambivalente Funktion inne: Während der Hörsinn von den Aufsichten zur Überwachung und Kontrolle instrumentalisiert wird, nutzen die Gefangenen aktives Zuhören, um Informationen zu sammeln, sich zu orientieren und zu kommunizieren, wodurch sie das Sinnesorgan als entscheidendes Mittel des Widerstands einsetzen. Mit “I had a Dream” analysiert Sabbagh die feinen Nuancen und die tiefgreifenden Auswirkungen im Kontext von Machtverhältnissen, die Klang und Stille in extremen Umgebungen haben können.

Das Projekt „I Had a Dream1 das sowohl als Kunstinstallation als auch als schriftlicher Beitrag verstanden werden kann, taucht in die Tiefen des Saydnaya-Gefängnisses ein – ein Ort, an dem Klang, Stille und Zuhören zentrale Instrumente von Macht und Ohnmacht sind.2 Die Installation basiert auf 14 Zeugnissen (115 Seiten) von Überlebenden des Saydnaya-Gefängnisses, die im Juli 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison (ADMSP) in englischer und arabischer Sprache veröffentlicht wurden. Jedes dieser Zeugnisse wurde sorgfältig präsentiert, mit besonderem Augenmerk auf den Aussagen, die sich auf die Akustik beziehen. Diese Auswahl veranschaulicht, wie die Inhaftierten in einem Schwebezustand zwischen Macht und Ohnmacht verharren, gefangen in einem akustischen Raum, der sowohl Unterdrückung als auch Widerstand repräsentiert.

In der Dunkelheit von Saydnaya wird das Hören essenziell. Die Infrastruktur des Gefängnisses – die Klänge der Folter durch Luftkanäle, Wasserleitungen und durchlässige Wände transportiert – macht Gebrauch vom Klang als Mittel der Gewalt und Unterdrückung. Zuhören dient jedoch auch einem dualen Zweck: Eingesetzt von Wärtern zur Überwachung und Kontrolle, verwenden die Inhaftierten aktives Zuhören, um sich Informationen zu verschaffen, sich zu orientieren und akustisch zu kommunizieren. Dabei avanciert das Zuhören zum Schlüsselmechanismus für Widerstand und Überleben.

Das Projekt betont die Zweideutigkeit von Klang und Stille im Rahmen von Machtstrukturen. Es offenbart, wie Sinneswahrnehmungen, besonders das Hören und Zuhören, in einem dynamischen Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht existieren können. Eine Überlegung zu den subtilen Unterschieden und den weitreichenden Effekten, die Klang und Stille in extremen Umgebungen mit sich bringen können.

Abb. 1: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Hamburg, xpon-art gallery, Credits: Helge Mundt.

Das syrische Gefängnissystem ist ein zentrales Element der Durchsetzung von Macht, das geschaffen wurde, um politische Akteure zu brechen. Dieses System hat tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf die syrische Gesellschaft. Es ist nicht nur ein Instrument zur Resozialisierung von Kriminellen, sondern vielmehr ein komplexes Steuerungs- und Kontrollsystem zur Unterdrückung abweichender Meinungen und zur Aufrechterhaltung der politischen Macht.

Die komplexe chronische, nationale und bürgerliche Krise in Syrien lässt sich zum Teil auf die Politik des Gefängnissystems zurückführen. Gefängnisse dienen als grundlegende politische Institutionen, die darauf abzielen, politische Individuen zu entpolitisieren und sogar zu vernichten. Die Inhaftierung ist tief in den politischen und kulturellen Kontext des Landes eingebettet und zu einer kollektiven Erfahrung geworden3 Fast jeder in Syrien ist entweder inhaftiert gewesen oder kennt jemanden, der inhaftiert war/ist. Das Gefängnissystem liegt im Herzen des syrischen Gemeinwesens und wirkt sich nicht nur auf die Gefangenen, sondern auf die gesamte Gesellschaft aus. Diese kollektive Erfahrung hat die gesamte Nation in ständige psychische Angst versetzt. Das syrische Gefängnissystem wird oft als syrischer Gulagbezeichnet, eine Anspielung auf die Zwangsarbeitslager, die in der Sowjetunion existierten und als Instrumente der politischen Unterdrückung dienten. Dieser Vergleich wird aufgrund des Ausmaßes des Gefängnissystems in Syrien angestellt, das sowohl statistisch als auch qualitativ einen Einfluss auf die Gesellschaft hat, der weit über die Gefängnissysteme anderer Länder hinausreicht.4

Das Saydnaya-Gefängnis hat während der Herrschaft des Assad-Regimes über Syrien und insbesondere seit 2011 eine zentrale Rolle gespielt. Das Regime hat dieses Gefängnis als wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung seiner Macht eingesetzt. Insbesondere seit dem Beginn der syrischen Revolution ist es bekannt als Ort schwerer Menschenrechtsverletzungen unter Bashar al-Assad.

Abb. 2: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Es hat sich als äußerst schwierig erwiesen, zuverlässige Informationen über die Bedingungen im Saydnaya-Gefängnis zu erhalten, da Journalist:innen und Beobachter:innengruppen kein Zugang gewährt wird. Die einzigen Informationsquellen über die Vorfälle innerhalb des Gefängnisses sind die Überlieferungen von ehemaligen Häftlingen. Nach Berichten ehemaliger Gefängniswärter, Offiziere und Gefangener aus Saydnaya besteht eine der wichtigsten Regeln darin, dass die Häftlinge zu jeder Zeit absolutes Stillschweigen zu bewahren haben; es ist ihnen nicht erlaubt zu sprechen oder auch nur zu flüstern. Innerhalb des Gefängnisses sind die Häftlinge häufig einem System des Sinnes-Entzugs ausgesetzt das ihnen die Orientierung nimmt. Da ihnen die Augen verbunden werden oder sie sich mit verdeckten Augen hinknien müssen, wenn die Folterer ihre Zellen betreten, wird der Hörsinn zur primären Wahrnehmungsmöglichkeit. Das von ehemaligen Häftlingen als Echo-Kammer beschriebene Gefängnis verstärkt die Geräusche der Folter und macht sie unausweichlich, da sie durch Lüftungsschächte und Wasserrohre widerhallen. Die akustische Erfahrung der Gewalt wird von allen Gefangenen geteilt, wodurch eine einzigartige und verstörende Form des kollektiven Leidens entsteht.

Abb. 3: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Sound, Stille und aktives Zuhören

Der Hörsinn kann gezielt zum Zuhören eingesetzt werden, kann sich aber auch manchen Geräuschen nicht verschließen. Einerseits können damit Geräusche als Instrumente der Aggression in systematischen Akten der Gewalt eingesetzt werden, wie sie in Haftanstalten, in Kriegszeiten oder inmitten politischer Unruhen vorkommen, andererseits können Geräusche auch als symbolische Ressourcen erkannt werden, die als positive Werkzeuge bei der Neuformierung der persönlichen Identität helfen – insbesondere nach Zwangsvertreibungen oder extremen Gewaltakten. Töne können somit als Mechanismen des Überlebens, des Widerstands aber auch als Instrumente der Überwachung, der Quälerei und der Auslöschung der Individualität dienen. Unabhängig vom Kontext sind Klänge und Praktiken des Zuhörens nicht greifbare Elemente, die für unsere menschliche Existenz von grundlegender Bedeutung sind, was die komplexe und vielschichtige Rolle unterstreicht, die sie in unserem Leben spielen5

Sound und Stille als Waffe

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Belege für den Einsatz von Stille und Geräuschen als Folterwerkzeuge in vielen Haftanstalten weltweit. Ein entscheidender Meilenstein in der Untersuchung dieses Bereichs ist die bahnbrechende Forschung von Suzanne Cusick, die sich auf das von den USA im Rahmen ihrer Kampagne gegen den Terrorismus eingerichtete verdeckte Gefangenennetzwerk konzentrierte.6 Ähnliche Strategien wurden auch in US-Gefängnissen, vor allem in Guantanamo Bay7 und in lateinamerikanischen Gefängnissen8, in bestimmten griechischen Gefängnissen während des Bürgerkriegs und der Militärjunta von 1967-19749, in chilenischen Gefängnissen während der Pinochet-Diktatur und in portugiesischen Gefängnissen während des Estado Novo10 festgestellt.

Wie in diesen anderen Fällen wird auch im Gefängnis von Saydnaya großer Wert auf die Geräuschkulisse gelegt. Dabei wird der Akt des Zuhörens sehr wichtig, und der Sound – mit seiner Fähigkeit, eine Stimmung zu erzeugen, Sinne zu berühren und Emotionen zu wecken – wird zu einem mächtigen Werkzeug in den Händen derer, die Gefangene unterdrücken und foltern wollen. Auch Stille, die Abwesenheit von Geräuschen, wird als Methode der Kontrolle eingesetzt.

Gefängnisse werden häufig als lärmende Orte beschrieben, und zwar sowohl von Gefängnisforscher:innen als auch von Personen, die direkte Erfahrungen mit der Inhaftierung oder der Arbeit im Bereich des Gefängniswesens haben. In Saydnaya ist genau das Gegenteil der Fall. Dort ist jede Form von Geräuschen völlig verboten: jede Form von Lärm, Konversation, Flüstern, sogar die qualvollen Schreie während der Folter. Dieser tiefgreifende sensorische Entzug ist ein wesentlicher Bestandteil des Überwachungssystems.

Abu Omar, einer der ehemaligen Häftlinge, die von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison (ADMSP) interviewt wurden, erinnert sich an die Konsequenz von akustischer Kommunikation: “Even talking was prohibited. If a jailer comes and hears a whisper in the dormitory, he would beat all the prisoners. To communicate with each other we used signs.”11

Dieses syrische Gefängnis ist von einer überwältigenden Stille erfüllt. Diese extreme Stille entspricht dem, was Suzanne Cusick als „akustische Dystopie”12 bezeichnet hat. Die Stille wird so zu einem komplexen Instrument der sensorischen Manipulation.13

Ein weiterer ehemaliger Häftling, der von den Amnesty International Researchern interviewt wurde, Jamal A., beschreibt dies wie folgt: “All speaking was forbidden—even a whisper was forbidden—so we were whispering even quieter than a whisper. The guards would take off their shoes and try to surprise us, to catch us whispering or talking. They even said that if we breathed too loudly, we would be punished”.14

Abb. 4: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Das Schweigen selbst ist eine akustische Beschränkung, die „das Recht auf Schweigen und das Recht auf Sprache mit schrecklicher Kraft durchdringt“.15 Dieses Konzept findet sich in Brandon LaBelles (2010) Analyse der Gefängnisstille als Befehl und Verhaftung in seinem Werk „Acoustic Territories“.

Gleichzeitig werden die seltenen Geräusche, die diese Stille durchbrechen, vor allem die gequälten Schreie der Gefolterten, mit „akustischen Angriffen“16 gleichgesetzt. Innerhalb der räumlichen Grenzen dieser Stille kann jedes Geräusch, insbesondere die sporadischen, unkontrollierten Geräusche der Gewalt im Saydnaya-Gefängnis, zu einer Reizüberflutung führen und so zu einer weiteren Variante der „akustischen Folter“ werden.17

Inmitten der erzwungenen, totalen Stille können die Einzelzellen schnell von geschlossenen Räumen zu ineinander verschlungene Teile eines komplizierten Netzes von Echos und lauten Geräuschen werden; Geräusche von Schritten, zuschlagende Türen, sprechende Stimmen, Kabel oder Gürtel, die man benutzt, werden alle in einem Resonanzraum extremer Stille intensiviert.18

Die Besonderheit von Saydnaya verdeutlicht die Realität der Gefängnisfolter, bei der Geräusche die Atmosphäre des Gefängnisses in einen Ort des gemeinsamen Leidens transformieren können. Der menschliche Körper, insbesondere das Gehör, ist schlecht darauf gerüstet, sich gegen unerwartete Geräusche zu schützen – insbesondere gegen Geräusche aus einer unsichtbaren Quelle, die ihn unvorbereitet erreichen, seine Aufmerksamkeit erfordern und kaum Möglichkeiten zum Ausweichen bieten.19 Goodman liefert in seinem Buch Sonic Warfare eine interessante Darstellung dieses Sachverhalts:

“That sound chills your spine. You can’t close your ears; you are defenseless. You cover the ears, but your skin is still exposed. You can’t see it coming either. Stealthily, insidiously, it wriggles its way toward you, bristling with an unfathomable potential for replication. It wants you. At least, it wants to use you. And then leave. It approaches with the croaking, crackling, chittering, seething intimacy of microbial life.”20

Diese Beschreibung deckt sich mit der Aussage von Abu Anas al-Hamwi, der von seinen Erfahrungen mit der ADMSP berichtete. Er erklärte: “Listening to the voices of those being tortured was a punishment by itself. It was horrible, as if you enter an empty city and hear sounds of ghosts and storms.”21

Die gemeinsame akustische Erfahrung der Gefängnisumgebung, sowohl in Goodmans Analyse als auch in al-Hamwis Zeugnis, spricht für die verstörende Kraft von Geräuschen, wenn diese als Mittel eingesetzt werden, um Menschen Leiden hervorzurufen.

Saydnaya ist trotz seiner Stille paradoxerweise ein Ort des extremen Zuhörens, ein Zentrum intensiver akustischer Überwachung.22 Die Stille scheint strategisch darauf ausgerichtet zu sein, die Bedeutung des Zuhörens innerhalb der Mauern zu unterstreichen. In dieser Gefängnisatmosphäre wird das Gehörtwerden –  die Wahrnehmung der eigenen Geräusche durch andere – zum grundlegenden Instrument der Überwachung und Kontrolle.

Abb. 5: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Michel Foucault untersucht in seinem 1975 erschienenen Werk Discipline and Punish das Konzept des Panoptikums, einer von Jeremy Bentham entworfenen Überwachungsstruktur.23 Das Panoptikum ermöglicht es einem einzigen Wächter, alle Insassen, ohne deren Wissen zu beobachten, wodurch ein Zustand bewusster und permanenter Einsicht geschaffen wird, der das automatische Funktionieren der Macht gewährleistet. Das Panoptikum funktioniert auf der Grundlage der Sichtbarkeit; die Beobachteten können den Beobachter nicht sehen, wissen aber, dass sie jederzeit beobachtet werden könnten, und passen daher ihr Verhalten entsprechend an.

Das Saydnaya-Gefängnis führt ein ähnliches Konzept ein, allerdings mit einer Neuerung – dem Panaudicon.24. Hier tritt das allgegenwärtige Ohr an die Stelle des Auges, und das Schweigen dient als primäres Mittel der Kontrolle.25 Die Gefängnislandschaft ist so strukturiert, dass selbst das kleinste Geräusch, etwa ein Flüstern oder ein Atemzug, eine potenzielle Regelüberschreitung darstellen kann, die zu einer Bestrafung führt. Dieses akustische Überwachungssystem beruht auf der absoluten Stille der Gefangenen und erhöht die Empfindlichkeit gegenüber jedem Geräusch, das diese Stille durchbricht.

Die Praktiken in Saydnaya, einschließlich der gnadenlosen akustischen Belästigung, des erzwungenen Schweigens und der eingeschränkten, überwachten Kommunikation mit der Außenwelt, spiegeln die breitere Dynamik von Macht, Kontrolle und Angst wider, mit der das Regime das Land regiert hat. Ebenso wie die Gefangenen nicht frei sprechen oder sich ohne Erlaubnis bewegen dürfen, ist die syrische Bevölkerung insgesamt in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt.

Aktives Zuhören

“If the listening ear is expediently prioritized in the Syrian prison, it is also—rather inadvertently then—allowed to grow in full force.“ beschreibt Maria Ristani die Situation in Saydnaya.26

Unter diesen harten Bedingungen, in denen das Sehvermögen stark eingeschränkt ist, schärft sich der Hörsinn der Gefangenen erheblich. Diese Entwicklung ist ein Überlebensmechanismus, der die Fähigkeit fördert, verschiedene Geräusche zu erkennen, zu unterscheiden und zu interpretieren.

Abu Hamdan stellte fest, dass die Häftlinge ihre Ohren auf jeden akustischen Hinweis und jedes Signal einstellten, um so viele Informationen wie möglich über den Ort ihrer Inhaftierung, ihre Entführer und die Formen der Folter, denen sie ausgesetzt waren, zu erhalten.27 In diesem Zusammenhang entwickelte sich das Zuhören zu einer Form der Zeugenschaft, die Orte erreichte, die für das Auge unzugänglich waren.28 Muneeer al-Faqeer, ein ehemaliger Gefangener von Saydnaya, erwähnte dies in seiner Zeugenaussage: “The largest part of our time was dedicated to caution, attention and awareness of the sounds coming from outside the cells.”29

In einem Artikel im Guardian aus dem Jahr 2016 berichtete Oliver Wainwright über die tiefgreifende Entwicklung des Hörvermögens der Gefangenen:

„detainees developed an acute aural sensitivity, able to identify the different sounds of belts, electrical cables or broomsticks on flesh, and the difference between bodies being punched, kicked or beaten against the wall”.30

Salam Othman, ein weiterer ehemaliger Gefangener von Saydnaya, verweist auf die entscheidende Rolle des Gehörs während seiner Zeit in Gefangenschaft. Das Erkennen von Personen anhand ihrer Fußschritte, der Essenszeiten anhand des Klangs einer Schüssel, das Assoziieren von Schreien mit der Ankunft neuer Gefangener und das Verstehen von Stille als Zeichen der Anpassung an die düstere Realität von Saydnaya – all das war Teil seiner Hörerfahrung.31

Muneer al-Faqeer beschrieb, wie sie die Menge des Brotes, die sie erhalten würden, anhand des Geräusches, das der Brotsack beim Aufschlagen auf den Boden machte, vorhersagen konnten: “Gradually we could distinguish if the bread bag thrown at the door of the cell was complete (8 loaves) or missing some loaves, just from the sound it gives when falling on the ground.”32

Trotz des strikten Verbots, zu sprechen oder zu flüstern, gelang es den Gefangenen in einigen Zellen, sich in kurzen Momenten leise auszutauschen, was ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Ermutigung vermittelte. Diese Gespräche reichten vom Austausch persönlicher Geschichten, Hoffnungen und Träume bis hin zum Üben von Hymnen oder gemeinsamen Gebeten und das Diskutieren über Essenszubereitungsmethoden.

Fantasieren und gegenseitiges Zuflüstern sind zu einem wichtigen Mittel des Überlebens geworden. Ein ehemaliger Häftling, Mutasem Abdul Sater, erklärte, wie sie auf Fantasie, Kommunikation und Zuhören zurückgriffen, um ihren Hunger zu stillen: “I’ll tell you how we used to ‚cook‘. Please don’t be surprised. We did not have anything that might be used for usual cooking. Instead, we resorted to fancies. Three or four of us gather to whisper explaining the way of cooking rice, okra (ladies’ fingers), or preparing cookies!” 33

Abb. 6: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.
Die Akustik des Widerstands:

Trotz des allgegenwärtigen Horrors, der akustischen Gewalt, der erzwungenen Stille und der Atmosphäre intensiver Unterdrückung, gab es auch Momente der Hoffnung. Diese Hoffnungsschimmer wurden durch schöne Klänge und kleine Akte des Widerstands verstärkt. Ob durch bestimmte Klänge, die sie zu hören bekamen, oder durch die gemeinsame Erzeugung von Klängen, z. B. beim gemeinsamen Beten oder Singen von Hymnen, oder durch verbale Kommunikation, bei der sie den Stimmen der anderen zuhörten, wurden diese Aktivitäten zu einer Form des „akustischen Widerstands“34

Der Klang kann für Menschen, die Gewalt erlebt haben, sehr wichtig sein. Diese Erfahrungen können das Leben einer Person drastisch verändern und sie dazu bringen, Dinge zu hinterfragen, die sie einst für normal hielten.35Die Art und Weise, wie Menschen die Welt erleben, kann durch ihren Körper, Symbole und materielle Objekte beeinflusst werden. Klang kann Menschen helfen, sich selbst und ihre Erfahrungen zu verstehen.36

In seinem Artikel listen with displacement hebt Tim Western die zentrale Rolle von Sound im Kontext von Migration hervor. Er untersucht, wie sich Hörkulturen im Kontext von Vertreibung entwickeln und wie Sounds zu integralen Bestandteilen der Mechanismen der Zugehörigkeit werden, die oft unbemerkt bleiben, aber in Debatten über die Bewegungsfreiheit von Bedeutung sind. Die Untersuchung wurde in Athen, durchgeführt, einer Stadt, in der die Menschen trotz abgelehntem Asyl, rassistisch motivierter Verfolgung und der Politik der EU-Grenze, die sich im urbanen Raum abspielt, ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl durch den Klang ausdrücken. Der Artikel plädiert für ein aufmerksameres Zuhören bei Vertreibung, eine Praxis, die die kreativen Anpassungen von Menschen, die Grenzen überschreiten, hervorheben, das gängige Narrativ, durch das die Migration als Problem darstellt wird, in Frage stellen und Repräsentationspraktiken hinterfragen kann, die die Vorstellung einer Flüchtlingskrise verfestigen.

Migration ist, wie in dem Artikel beschrieben, im Grunde ein akustischer Prozess (sonic process).37 Da Sound in ständiger Bewegung ist, kann er uns neue Perspektiven eröffnen, um die Gesellschaft selbst durch die Perspektive der Bewegung zu überdenken.38

In Deborah Kapchans Werk Slow Activism: Listening to the Pain and Praise of Others, erforscht sie das Potenzial von Sound und Zuhören als Werkzeuge für die soziale Analyse und empathische Bindung, insbesondere weil Sound niemals unbeweglich bleibt.39 Sie argumentiert, dass die visuelle Beobachtung oft ein Gefühl des Individualismus und des Separatismus verstärkt, während akustische Phänomene Individuen vereinen können, indem sie Körper, Nervensysteme und emotionale Reaktionen miteinander in Einklang bringen.

Zurückkommend auf den Fall des Saydnaya-Gefängnisses können wir sehen, wie akustische Phänomene als Waffe eingesetzt wurden, ihr Sein, ihren psychischen und emotionalen Zustand zu einer unterdrückten Einheit zu verbinden und einen Raum des gemeinsamen Leidens zu schaffen. Andererseits können wir auch sehen, wie die akustischen Phänomene und das Zuhören in den Zellen die Gefangenen zu einem Körper des Widerstands vereinigt haben.

Zuletzt ist es unsere Aufgabe unsere Ohren achtsam einzustellen, darüber nachzudenken, wessen Stimmen verstärkt werden und wessen Stimmen ungehört bleiben.

Das Projekt I had a Dream wirft eine Reihe kritischer Fragen auf und fordert uns auf, darüber nachzudenken, wie wir diese Momente des Mikro-Widerstands und des aktiven Zuhörens in eine brückenbildende Kraft in unserem Leben und in unseren Gesellschaften verwandeln können. Es erinnert uns daran, dass unser Verständnis von Macht und Ohnmacht durch achtsames Zuhören neu definiert werden kann.

Abb. 7: Razan Sabbagh, Installation view, “I Had a Dream”, 2023, Saarbrücken, Ludwigstr.60, Credits: Razan Sabbagh.

Biografie

RAZAN SABBAGH beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Identität und soziopolitischen Themen und hinterfragt dabei unterdrückerische Machtstrukturen, indem sie beispielsweise die politische Infrastruktur von Gefängnissen untersucht. Sabbagh sammelt häufig mündlich überlieferte Erzählungen und Geschichten oder nimmt vorhandene Texte, Interviews und Zeugnisse als Ausgangspunkt für ihre Arbeit. Ihre minimalistischen Installationen, Videos und Performances erforschen oft die Beziehung zwischen Kunst, Aktivismus, Ästhetik und Macht. Sie hat an zahlreichen internationalen Ausstellungen teilgenommen, u. a. im Museum für Kunst und Gewerbe, Kampnagel und Thalia Theater, Hamburg (DE), im Sharjah Art Museum (AE), im Goethe-Institut, Paris (FR), und im Casino Display in Luxemburg (LU).

Macht und Ohnmacht in der Kunstpädagogik: Weiße Räume beleuchten, 2023 – Sarah John

Sarah Johns Essay Macht und Ohnmacht in der Kunstpädagogik: Weiße Räume beleuchten, behandelt das Feld der Kunstpädagogik und -Vermittlung aus der Perspektive der Critical Whiteness Theorie Toni Morrisons. Noch heute sind die Räume, in denen kulturelles Wissen vermittelt wird, geprägt von rassistischen und kolonialen Denkmustern. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, als Weiße Kunstvermittlerin die eigene Rolle im Arbeitsumfeld zu hinterfragen. Durch den Fokus auf dem Gegenstand des Weiß-Seins und seinen Ausschlussmechanismen in der Kunstpädagogik sollen Machtstrukturen und damit verbundene Privilegien und Einschränkungen erkannt werden.

Kunstvermittler:innen haben Macht. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass Kunstvermittlung und kulturelle Vermittlungsarbeit Schlüsselfaktoren in der Gestaltung kultureller Machtverhältnisse sind. Sie tragen dazu bei, welche Kunstwerke und Künstler:innen in den Fokus geraten, steuern, wie Kunst interpretiert wird, und gestalten somit kulturelle Narrative. Dies kann politische und soziale Machtstrukturen stärken oder hinterfragen, indem sie vor allen Dingen den Zugang zu kultureller Bildung beeinflussen. Kunstvermittlung hat somit die Macht, sowohl Katalysator für Veränderungen als auch Instrument der Stagnation zu sein.

Um eben diese Machtstrukturen zu hinterfragen, gibt es in der Kunstpädagogik zunehmend ein Bewusstsein dafür, diskriminierungs- und diversitätssensibel zu arbeiten. Jedoch erfolgt der Großteil vor allem rassistischer Diskriminierung eben nicht explizit und ist somit auch schwieriger zu erkennen, vor allem im eigenen Verhalten. So findet Alltagsrassismus selbstverständlich auch Einzug in die kulturelle Vermittlungsarbeit.

In diesem Text möchte ich mir selbst und anderen die Frage stellen: Wie erkenne und reflektiere ich als Weiße Kunstvermittlerin und Lehrende meine Weißen Privilegien und die Macht, die ich durch diese habe?

Einen Ansatz stellt die Forschung der „Critical Whiteness Studies“ dar. Critical Whiteness, zu Deutsch: kritisches Weißsein, bezeichnet eine Unterkategorie der Rassismusforschung, in der der Fokus, im Gegensatz zur gängigen Forschung umgedreht wird und so „Weiße Menschen“ und „Weißsein“ als Hauptgegenstand der Forschung betrachtet wird. Die Theorie hat ihre Ursprünge in den 1960er Jahren in den in den USA und in der Bewegung gegen die „Rassentrennung“. Die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison legte mit ihrer Essaysammlung die Grundlage für die „Critical Whiteness Studies“ und forderte dazu auf, die Menschen in den Blick zu nehmen, die rassistische Hierarchien erzeugen und Nicht-Weiße ausgrenzen. Zuvor beschäftigte sich bereits die Erziehungswissenschaftlerin Peggy McIntosh mit eben diesen Privilegien, die Weiße Menschen alltäglich begleiten, wie eine Art „unsichtbarer Rucksack“. Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen versuchen diesen neueren Ansatz seit circa zehn Jahren in Deutschland zu etablieren, doch bislang nimmt die kritische „Weißseinsforschung“ eine akademische Außenseiterrolle ein. Ein Grund hierfür könnte sein, dass es einfacher ist, sich mit anderen zu beschäftigen als mit sich selbst. Eigene Privilegien in Frage zu stellen ist unbequem und löst schnell Wut und Frustration aus. Es ist einfacher darüber zu sprechen, welche konkreten rassistischen Erfahrungen People of Color machen müssen, ohne einen Zusammenhang zum eigenen Verhalten als Weiße Person mit den entsprechenden Privilegien zu ziehen. Um das eigene Selbstbild zu schützen, wird vermieden darüber nachzudenken, was man selbst zu diesen Erfahrungen beiträgt. Die Whiteness-Kritik untersucht Rassismus so nicht nur als Unterdrückungsmechanismus, sondern betont eben den Mechanismus der Privilegierung, wodurch eine erweiterte Perspektive auf Rassismus als gesellschaftliches Machtverhältnis entsteht. Grundsätzlich sollten sich Weiße damit auseinandersetzen, dass auch ihre Hautfarbe nicht unsichtbar ist, auch sie eine „Race“ haben und dass diese ebenso Auswirkungen auf ihre Lebenssituation hat wie bei People of Color. Mit einigen grundlegenden Unterschieden: Die einen werden wegen ihres Aussehens oder ihrer vermeintlichen ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert, während die anderen Privilegien erfahren.1 Für die Betrachtung der Critical Whiteness in der kulturellen Vermittlungsarbeit ist es wichtig kulturelle Räume und Institutionen auch als „Weiße Räume“ zu sehen. Es handelt sich um Räume zu denen Nicht-Weiße Personen einen schwierigeren oder gar keinen Zugang haben und auch in den Institutionen selbst Diskriminierung erfahren. Es kann sich dabei um Schulen und Behörden, aber eben auch um (Kunst-)Museen und Galerien handeln. Diese Weißen Räume sind in Anlehnung an eine Metapher von Sarah Ahmed als eine Art altes Möbelstück beschreibbar, das sich an den Weißen Körper anschmiegt.2

„In other words, whiteness may function as a form of public comfort by allowing bodies to extend into spaces that have already taken their shape. Those spaces are lived as comfortable as they allow bodies to fitin; the surfaces of social space are already impressed upon by the shapeof such bodies. We can think of the chair beside the table. It mightacquire its shape by the repetition of some bodies inhabiting it: we canalmost see the shape of bodies as ‘impressions’ on the surface.“3

Die Analogie der „auf den Weißen Körper abgestimmten Passform“ verdeutlicht, wie Weiße Räume und Institutionen gestaltet sind, dass sie Weißen Menschen eine Art automatischen Komfort bieten, indem sie in Räume eintreten können, die bereits ihre Form angenommen haben. Diese Räume erscheinen bequem, da sie sich den Körpern anpassen und die sozialen Oberflächen bereits von der Form solcher Körper geprägt sind.

So stellen beispielsweise Kunstmuseen und Galerien eines der (meist) Weißen Systeme dar, in denen Kunst und Kultur vermittelt werden. Mit diesen Lehrstätten verbindet man Aufklärung – und nicht Diskriminierung. Ein Blick hinter die Fassaden offenbart aber ein anderes Bild, wie Susanne Pfeffer, Direktorin des Museum für Moderne Kunst, Frankfurt, beschreibt:

„Ich denke, dass für ein Museum der Gegenwart auch wichtig ist, dass man ein Bewusstsein darüber hat, das ist natürlich das Museum, ein Ort des Zeigens, aber auch ein Ort des Nichtzeigens ist. Und dieses Bewusstsein ist, glaube ich, sehr wichtig, um sich letztendlich der blinden Flecke, die natürlich eine Gesellschaft, auch ein Museum und natürlich ein Direktor, eine Kuratorin auch haben, bewusst zu sein.“4

Um die Vermittlungsarbeit in Kunstmuseen und Galerien als Weißen Raum genauer zu betrachten, ist es sinnvoll, zunächst Kunstinstitutionen als Ganzes als Weiße Räume zu sehen. Trotz des Anspruchs, Orte der kulturellen Vielfalt und des kritischen Diskurses zu sein, sind rassistische Machtstrukturen auch hier tief verankert, und die Umsetzung dieser Ansprüche bleibt oft mangelhaft. Es handelt sich dabei nicht nur um die Neugestaltung der Kunstgeschichte im Sinne der Rassismuskritik oder um die Repräsentation von Schwarzen Künstler:innen in Ausstellungen und Sammlungen. Die Missstände im Kunstbetrieb reichen viel tiefer. Ein Grund, weshalb Museen trotz steigender Sensibilität Weiße Räume bleiben, ist, dass der allergrößte Teil der Entscheidungsträger:innen in Museen Weiße sind und durch sowohl impliziten und expliziten Rassismus Nicht-Weiße Menschen seltener in diesen Positionen angestellt werden. Dies zeigt sich beispielsweise in den veröffentlichten „Diversity Profiles“ der Tate Galleries, bei denen in den oberen drei Beschäftigungsgruppen weniger als zehn Prozent BAME-Vertretung (Black, Asian, and minority ethnic) zu finden sind. Ebenfalls zeigen Statistiken, dass insgesamt wesentlich weniger Ausstellungen von BIPoC-Künstler:innen präsentiert werden und deren Werke weniger häufig erworben werden. Sowohl auf lokaler als auch auf bundesweiter Ebene gibt es allerdings Bemühungen, die darauf abzielen, Nicht-Weiße Perspektiven in die Praxis von Museen zu integrieren und bislang übersehene Aspekte sichtbar zu machen. Ein Beispiel hierfür ist das Historische Museum in Berlin, welches im Jahr 2016 eine Ausstellung zum deutschen Kolonialismus präsentierte. In dieser Ausstellung arbeitete erstmals die „Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland“ aktiv mit. Ebenso präsentierte das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main im Jahr 2018 in der Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“ künstlerisch-dokumentarische Werke von Migrant:innen.5 Jedoch kann diese selektive Sichtbarmachung kultureller Diversität auch dazu führen, dass die Ausgrenzung von People of Colour gegenwärtig nicht nur nicht abgebaut wird, sondern durch Begriffe wie ‚Offenheit‘, ‚Inklusion‘ und ‚Diversität‘ übertüncht wird. Diese Floskeln hören sich zwar progressiv an, hinter ihnen stehen jedoch kaum bis keine echten Veränderungen und Selbstreflexionen, womit sie ein wirkungsvolles Instrument für das Nicht-Hinterfragen eigener Weißer Privilegien darstellen. Zusätzlich wird Rassismus innerhalb von Institutionen verharmlost, indem er als Resultat individueller Gefühle definiert wird, und nicht als strukturelle Problematik. Daraus erfolgt eine Loslösung von den Weißen Privilegien, aus denen heraus Rassismus ja erst entsteht. So wird es für Institutionen unmöglich, eine rassistische Situation als solche anzuerkennen, da diese ja nicht etwas bekämpfen können, dessen Existenz sie verleugnen. Durch diese Ignoranz sind alle Voraussetzungen dafür erfüllt, systematischen Rassismus an Institutionen zu schüren und aufrechtzuerhalten.6

Um konkrete Überlegungen zur Vermittlung eines kritischen Weißseins in der kunstpädagogischen Praxis anzustellen, ist es notwendig zunächst eben diese Weißen Privilegien zu benennen. Als Ausdruck von Rassismus lassen sich Weiße Privilegien in allen gesellschaftlichen Bereichen finden.      
Davon ist auch die Institution Schule nicht ausgenommen, die neben Kunstmuseen und ähnlichen Institutionen einen großen Teil der kulturellen Bildung liefert. Zahllose Berichte, Studien und Beiträge geben Beispiele dafür, wie die Rassismusrealität an Schulen aussieht und in welchen Bereichen Schwarze Menschen und People of Color in der Schule tagtäglich benachteiligt werden. Dies gilt für alle schulischen Personengruppen gleichermaßen, für Schüler:innen, Lehrkräfte, Schulleitungen, anderes pädagogisches Personal, sowie Eltern. Die Weißen Privilegien existieren nur, weil Schüler:innen bzw. Lehrkräfte mit Rassismuserfahrung in diesen Zusammenhängen Benachteiligung erleben. Demnach lassen sich aus allen aufgeführten Weißen Privilegien Diskriminierungen von Schwarzen Menschen und People of Color ableiten. Die genannten Beispiele für schulische Strukturen lassen sich jedoch auch ohne größere Änderungen auch auf ähnliche Vermittlungskontexte übernehmen. Ein Privileg, das Weiße Schüler:innen erfahren, ist, dass sie mit Bildungsmaterialien lernen, die Weiße Menschen adressieren, die von und für Weiße erstellt werden. Es herrschen Wissensbestände vor, die von und für Menschen, die selbst Weiß sind, (re)produziert werden und die Weiße Menschen als Norm darstellen, zentrieren und aufwerten. Weiße Schüler:innen können so beispielsweise in Schulbüchern, Postern, Bibliotheken und Geschichten eine Auswahl an positiven, nicht-stereotypen Vorbildern und Identifikationsfiguren finden, die, wie sie, Weiß sind. Sie finden Menschen, die, wie sie, Weiß sind, nicht in der Rolle des Opfers oder Außenseiters, sondern als selbstbestimmte Akteur:innen. Durch diese Darstellungen lernen Weiße Schüler:innen in der Schule, dass sie ihr Weiß-Sein und weiße Privilegien als selbstverständlich und normal betrachten können. Außerdem können Weiße Schüler:innen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ihre Mitschüler:innen, Lehrkräfte und anderes pädagogisches Personal, wie sie, Weiß sind. Sie können also damit rechnen, dass sie nicht automatisch als fremd betrachtet werden und erfahren im Schulalltag ein gewisses unhinterfragtes Zugehörigkeitsgefühl von Vertrautheit und Sicherheit. Sie können so ebenfalls darauf vertrauen nicht mit rassistischen Fremdbezeichnungen angesprochen zu werden und sie können sicher sein, aufgrund ihres Weiß-Seins anderen nicht erklären zu müssen, wo sie herkommen bzw. sie müssen sich nicht rechtfertigen, weshalb sie in ihrem eigenen Land leben. Wenn ihre Leistungen bewertet werden oder sie niedrige Leistungsbeurteilung erfahren, müssen Weiße Schüler:innen sich bei schlechten Noten nicht fragen, ob für die Benotung ihr Weiß-Sein eine Rolle spielt. Generell ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Leistungen von Weißen Schüler:innen im Vergleich zu Nicht-Weißen, als besser eingeschätzt werden. Weiße Schüler:innen können sich insgesamt sicher sein, dass ihre schulischen Leistungen nicht aufgrund von Rassismus in der Schule beeinträchtigt werden. Darüber hinaus arbeitet ihr Weiß-Sein dafür, dass sie als Individuen betrachtet werden und nicht als Repräsentant:innen aller Weißen. Sie werden nicht dazu aufgefordert, für alle Weißen zu sprechen, beispielsweise mit der Bitte, etwas dazu zu erzählen, was Weiße Menschen zu einem Thema sagen. Sie müssen auch keine Angst haben, dass andere, falls ihre Leistungen schwach ausfallen sollten, ihre rassistischen Stereotype darin bestätigt sehen. Und nicht zuletzt: Weiße Schüler:innen können sich entscheiden, Rassismus in der Schule zu ignorieren. Weiße Schüler:innen können sich gegen Rassismus einsetzen, wenn sie Lust dazu haben, und es wieder sein lassen, wenn es sie nicht mehr interessiert. Die genannten Punkte sind selbstverständlich nicht die einzigen Privilegien die Weiße im pädagogischen Vermittlungskontext erfahren und dienen lediglich als Grundlage für ein tieferes Verständnis der Problematik in der praktischen Anwendung.7

In der kulturellen Bildung gibt es ein zunehmendes Interesse an Fragestellungen von Diversität. Diese zeigen jedoch häufig kein echtes Interesse daran, marginalisierte Personen und vor allem deren Perspektiven in die eigene Institution aufzunehmen. So befinden sich viele Institutionen in einer Art sich selbst befeuernden Teufelskreis, bestehend aus dem Verleugnen von Rassismus und Diskriminierung und dem daraus folgenden „Nicht-Erkennen“ von rassistischen Strukturen. Als ersten Schritt um diesen Teufelskreis aufzubrechen, bedarf es also an Selbstreflexion und dem Hinterfragen der eigenen Weißen Privilegien. Dies ist jedoch nicht nur in diesen großen, strukturellen Zusammenhängen sinnvoll und wichtig, sondern ebenso in der konkreten pädagogischen Vermittlungsarbeit, etwa im Unterricht, Workshops oder anderen kulturellen Angeboten. Doch welche Möglichkeiten hat eine solche Weiß-normative Vermittlungsarbeit, auf Grundlage der Critical-Whiteness-Studies?

Um eine rassismuskritische Grundlage für die Vermittlung zu schaffen ist es sinnvoll, die eigene pädagogischen Praxis zu hinterfragen:

  • Ermögliche ich im Bildungssetting und mir selbst Prozesse der Selbstreflexion? 
  • Inwiefern bin ich in Bezug auf koloniale und rassistische Machtverhältnisse und den Verschränkungen mit anderen Machtverhältnissen sensibilisiert? 
  • Verwende ich rassismuskritische Sprache und kolonial- und rassismuskritische Materialien? 
  • Wen mache ich in meiner Vermittlung wie sichtbar?
  • Habe ich mit den Teilnehmer:innen Umgangsvereinbarungen ausgehandelt?
  • Können Emotionen und eigene Erfahrungen in meiner kulturellen Bildungsarbeit Raum haben, wie binde ich diese ein?
  • Welche Personen können unter welchen Bedingungen anwesend sein?

Der Ausgangspunkt ist hier stets, Weiße Selbstreflexion anzustoßen. Wer die bisherigen Tendenzen analysieren und verändern möchte, muss auch die eigene Position klären, und so ist ein erster Schritt, Weiße Privilegien zu benennen, auszusprechen und zu erklären und sich konkret vor Augen zu führen, was diese für sich und andere, vor allem für Nicht-Weiße bedeuten. Hierzu ist es wichtig von Anfang an rassismuskritische Sprache zu verwenden und diese auch von Teilnehmer:innen im gemeinsamen Umgang einzufordern. Ebenso ist es bedeutsam die pädagogische Praxis auf kolonialkritischen Materialien zu basieren und diese auf rassistische Strukturen zu hinterfragen, um nicht unbewusst koloniale Bilder weiterzugeben und zu verbreiten. Der koloniale Diskurs bleibt von den Lehrenden jedoch oft unerkannt. Über die verwendeten Materialien können Lehrende auch kontrollieren und hinterfragen, wen sie in ihrer Arbeit sichtbar machen. So können Schüler:innen nicht-stereotype Vorbilder und Identifikationsfiguren vorgestellt werden, die eben nicht Weiß sind, etwa People of Colour, die nicht in der Rolle des Opfers oder Außenseiters, sondern als selbstbestimmte Akteur:innen funktionieren. Im Sinne der Critical Whiteness ist es jedoch ebenso wichtig, auch koloniale Perspektiven zu präsentieren und entsprechend kritisch einzuordnen und zu hinterfragen, anstatt sie schlicht zu verleugnen. Grundsätzlich sollten machtkritische Perspektiven vermittelt werden, anstatt kolonialer Voyeurismus.  Konkret Rassismus, Kolonialismus und rassistische Diskriminierung als Thema in die kulturelle Vermittlungspraxis einfließen zu lassen ist besonders wichtig, sodass sich  alle, nicht nur POCs, unweigerlich damit auseinandersetzen müssen. Dies kann etwa durch Neukontextualiserungen von künstlerischen Sammlungen erfolgen. So untersucht das Vermittlungsprojekt „The Slave at the Louvre: An Invisible Humanity (2012)“ im Musée du Louvre, Paris, Teile der musealen Sammlung auf die Auswirkungen von Sklaverei und Kolonialismus in Frankreich. Das Führungskonzept verlagert den Blick von den ehemaligen Kolonien auf die europäische Kolonial-Metropole selbst und zeigt, dass europäische Kunst zur Konstruktion einer unsichtbaren Menschheit beitrug und immer noch beiträgt. Die geführten Besichtigungen sollen die Präsenz von durch Kolonialstrukturen versklavter Personen wiederherstellen und das lebendige Vermächtnis der Versklavten bewahren. Die geführten Besichtigungen konzentrierten sich jedoch nicht auf das Leben der Versklavten (die nur in wenigen Gemälden vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt wurden), sondern zeigen auf, wie das kulturelle und soziale Leben der überwiegend Weißen Gesellschaft von den Waren und Produkten der kolonialen Sklaverei durchdrungen war. In den Worten der Initiatorin des Projektes Françoise Vergès:

“The Slave at the Louvre” was designed to show visitors that the centuries of slave trade and slavery were not about “something over there,” but were also about their own society, about how their daily lives had been deeply transformed by sugar, tobacco, coffee, and cotton and about the birth of antiblack racism.”8

Allgemein wird deutlich, dass ein Perspektivwechsel nötig ist und es unbedingt notwendig ist Schwarze Menschen und andere POCs zu Wort kommen zu lassen. Betroffene von rassistischer Diskriminierung sollten so von Anfang an als Expert:innen in die Konzeption von Bildungsangeboten eingebunden sein und nicht nur als interessante Zusatzgäste. Dies können selbstverständlich auch Teilnehmer:innen oder Schüler:innen sein, die Rassismuserfahrungen gemacht haben. Auf die Weise ist es auch möglich diesen Emotionen und Erfahrungen einen Raum und Platz zu geben und sie in die Vermittlung einzubinden. Durch diese Darstellungen lernen Weiße Schüler:innen in der Schule ihr Weiß-Sein und Weiße Privilegien nicht als selbstverständlich zu betrachten und auch, dass  ihre Hautfarbe und „Race“ eine Rolle in ihrem Leben spielen.9

Um auf meine Anfangsfrage zur Bedeutung der eigenen Reflektion als Weiße Kunstvermittlerin zurückzukommen: Die Auseinandersetzung mit den eigenen Weißen Privilegien und der damit verbundenen Macht ist von entscheidender Bedeutung für Weiße Kunstvermittler:innen und Lehrende. Die Critical-Whiteness Forschung fokussiert sich auf eben diese Privilegien und deren Einfluss auf unser (Er-)Leben. Ein notwendiger Schritt besteht darin, Weiße Räume zu identifizieren – Institutionen oder Systeme, die auf die Bedürfnisse und Vorstellungen von Weißen ausgerichtet sind – dies betrifft nicht selten kulturelle und pädagogische Einrichtungen.

Eine Grundvoraussetzung für eine auf kritischem Weißsein basierende Vermittlung ist die kritische Prüfung unserer Materialien, Sprachwahl und Prägungen kolonialkritisch zu hinterfragen, um so auch Alltagsrassismus in der eigenen Arbeit zu vermindern. Dabei ist das Ziel Weiße Selbstreflexion anzustoßen und Menschen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen als Expert:innen zu Wort kommen zu lassen, Vorbilder zu schaffen und aktiv zu versuchen, Weiße Privilegierungen abzubauen. 

Insgesamt habe ich als Weiße Kunstvermittlerin also ganz klar die Verantwortung, mich selbständig weiterzubilden und mich mit meinen Privilegien und demnach auch mit den Diskriminierungen, die mit mir als Person einhergehen, auseinanderzusetzen. In diesem Kontext habe ich die Aufgabe Räume zu schaffen, die für alle zugänglich und einladend sind, was auch Anpassungen und das Hinterfragen von Programmen und Ressourcen beinhaltet. Vor allem muss es die Möglichkeit zum ständigen und offenen Dialog mit Kolleg:innen, Teilnehmer:innen und Expert:innen geben, um kontinuierliches Feedback zu erhalten und mich ständig selbst zu reflektieren. Dies ermöglicht eine fortlaufende Anpassung der eigenen Herangehensweise. Ich muss mich mit meinem Nicht-Wissen, meinem Nicht-Wahrnehmen konfrontieren und mir über die Macht, die mit meiner Position einhergeht, bewusst sein.


Biografie

Geboren und aufgewachsen im Landkreis Dachau, studiert SARAH JOHN seit 2018 in München zunächst Kunstgeschichte an der LMU und ab 2019 Kunstpädagogik an der Akademie der Bildenden Künste bei Stephan Dillemuth und Nils Norman. Sie arbeitet sowohl als freie Künstlerin als auch als Kunstvermittlerin und Museumspädagogin an verschiedenen Institutionen, wobei sie versucht, beide Bereiche auf interdisziplinäre Weise zu verknüpfen. In ihrer künstlerischen Praxis befasse sich John mit gesellschaftlichen und persönlichen Themen, vor allem in den Medien Performance, Video und Skulptur, wobei sie wissenschaftliche Recherchen und ihren Hintergrund als Kunstpädagogin in ihre Arbeit integriert. 

Subversive Schöpfungen. Zur Inszenierung von weiblicher Macht in Judy Chicagos „The Dinner Party“ und Carolee Schneemanns „Interior Scroll“, 2023 – Linda Alpermann

In ihrem Essay analysiert Linda Alpermann zwei ikonische, wegweisende Werke der feministischen Kunst der 1970er Jahre in den USA: Judy Chicagos The Dinner Party (1974-1979) und Carolee Schneemanns Interior Scroll (1975). Während Chicago in ihrer Installation Künstlerinnen, Literatinnen, Aktivistinnen sowie weitere weibliche historische (und fiktive) Persönlichkeiten, aber auch weiblich konnotiertes Kunsthandwerk feiert, wagt sich Schneemann für ihre Zeit in radikalerer Weise vor, indem sie den weiblichen Körper, weibliche Sexualität und die Gebärmutter als Quelle des Wissens und der Kreativität darstellt. Der Vergleich beider Werke wirft Licht auf unterschiedliche Strategien, wie Künstlerinnen der 1970er Jahre die Wahrnehmung von Frauen transformieren wollten, indem sie Weiblichkeit bzw. den weiblichen Körper als Quelle von Macht präsentierten. In der Synthese der beiden Ansätze offenbart sich eine reiche Schichtung von Bedeutungen und Interpretationen, die nicht nur die damalige Zeit reflektieren, sondern auch weiterhin relevante Fragen zur Repräsentation von Frauen in Kunst und Gesellschaft aufwerfen.

In den schillernden Kaskaden der 1970er Jahre, einer Ära der Umbrüche und des Aufbegehrens, entfaltete sich in den USA eine feministische Kunstbewegung, die nicht nur die Kunstwelt durchdrang, sondern das Wesen von Weiblichkeit als solche herausforderte. Künstler:innen dieser Bewegung brachen nicht nur mit den künstlerischen Konventionen ihrer Zeit, sondern schufen Werke von atemberaubender Emanzipation und Provokation. In diesem Essay werden zwei ikonische Kunstwerke dieser Bewegung näher beleuchtet, Judy Chicagos Installation The Dinner Party (1974-1979) und Carolee Schneemanns Performance Interior Scroll (1975), zwei Werke, die konventionelle Denkweisen eroberten und umstürzten – zwei subversive Schöpfungen. 

Feministisches Rumpeln 

Die Kunsthistorikerin Laura Meyer beschreibt den Beginn der Veränderungen innerhalb der US-amerikanischen Kunstwelt der 1970er Jahre zynisch überspitzt als „feminist rumblings“, also feministisches Rumpeln.1

Für die offenkundig sexistischen Praktiken von Museen, kommerziellen Galerien und kritischen Fachzeitschriften der Zeit waren Künstlerinnen, so Meyer, die für ihre Rechte einstanden, sich gegen Geschlechterdiskriminierung2 einsetzten und den Kanon hinterfragten, offenbar eine unliebsame Herausforderung.3 Vermeintliche Normen der männlich dominierten Kunst- und Museumswelt wurden hier radikal infrage gestellt – ein Dorn im Auge vieler (Männer). 

Ein Meilenstein stellt Linda Nochlins revolutionärer Aufsatz Why Have There Been No Great Women Artists? dar, der im Januar 1971 in ARTnews erscheint. Die Publikation führt zu einer schärferen Bewusstseinsbildung bezüglich systemischer Hindernisse, mit denen Frauen in der Kunst konfrontiert sind und trägt außerdem dazu bei, institutionelle Veränderungen herbeizuführen, angefangen durch feministische Kunstprogramme oder die Gründung von Frauengruppen und -kollektiven.4 Zum anderen führt das Essay dazu, die vergessenen oder übersehenen Beiträge von Frauen in der Kunstgeschichte hervorzuheben. Kunstgeschichtliche Erzählungen werden kritisch hinterfragt, um die Rolle von Frauen angemessen zu würdigen und die bisherige Wahrnehmung und Darstellung von Frauen in der Kunst werden zunehmend infrage gestellt.5 Dazu gehörte auch die Sichtbarmachung des Ungleichgewichts und des Machtgefälles zwischen Männern und Frauen. Die feministische Kunstbewegung der 1970er Jahre markiert hier einen entscheidenden Wendepunkt, indem sie Vorstellungen von Weiblichkeit in Bezug auf Macht und Selbstermächtigung transformiert. 

Judy Chicagos The Dinner Party (1974-1979) 

Abb. 1: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Installationsansicht, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. 
Abbildungsnachweis: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Installationsansicht, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. © ARS, NY, Foto: © Donald Woodman. 

Zwischen 1974 und 1979 realisiert Judy Chicago das multimediale Werk The Dinner Party (Abb. 1). Es handelt sich hierbei um eine Kunstinstallation, die zunächst im Museum of Modern Art in San Francisco gezeigt wurde.6 Die Installation besteht aus einem dreieckigen Esstisch mit 39 Plätzen, die für bemerkenswerte historische sowie fiktive Frauen reserviert sind. Das Dreieck ist ein Symbol für Weiblichkeit und repräsentiert zudem Gleichheit. Die 39 Tischgedecke sind gleichmäßig auf 13 Plätze auf jeder der drei Seiten des Tisches verteilt. Die Zahl 13 kann als Verweis auf das Letzte Abendmahl ebenfalls als bedeutend gewertet werden.7 Dies würde nahelegen, dass es in dem Werk um die Zusammenkunft der vertretenen Frauen geht und nicht um die Frauen als Individuen.8 Zu den Frauen, die am Esstisch geehrt werden, gehören Künstlerinnen, Autorinnen, Frauenrechtsaktivistinnen, aber auch Göttinnen, Heilige und Märtyrerinnen. In historischer Abfolge sind das am ersten Tischflügel beispielsweise die Pharaonin Hatschepsut, die antike griechische Dichterin Sappho sowie die hinduistische Göttin Kali. Am zweiten Flügel folgt eine der berühmtesten Frauen des Mittelalters, Eleonore von Aquitanien, aber auch die Universalgelehrte Hildegard von Bingen, außerdem etwa Petronilla de Meath, die als erste Frau in Irland als Hexe angeklagt und verbrannt wurde. Am dritten Flügel versammelt Chicago beispielweise die Künstlerin Georgia O’Keeffe, die Dichterin Emily Dickinson und Sojourner Truth, Frauenrechtlerin, Aktivistin und ehemals Versklavte, die sich für die Abschaffung von Sklaverei eingesetzt hatte – eine der leider nur wenigen PoCs am Tisch.9 Chicagos Arbeit versucht die kulturellen und intellektuellen Errungenschaften dieser Frauen, aber auch ihre Bedeutung für die Gesellschaft von heute zu vereinen und zu feiern.10 Hierzu führt sie nicht nur bestimmte weiblich gelesenen Persönlichkeiten an einer gedeckten Tafel zusammen, sondern zelebriert auch weiblich konnotiertes Kunsthandwerk: Keramik- und Textilkunst. 

Abb. 2: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Detailansicht, Gedeck der Sappho im Vordergrund, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum.
Abbildungsnachweis: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Detailansicht, Gedeck der Sappho im Vordergrund, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. © ARS, NY, Foto: © Donald Woodman. 

Zu den Bestandteilen eines jeden Tischgedecks gehören Tischdecke, Teller, Besteck, Kelch und ein Namensschriftzug (Abb. 2, vgl. Abb. 5). Die Gestaltung jedes Platzes ist einzigartig und soll die Persönlichkeit und Leistungen der dargestellten Frau widerspiegeln. Die Teller zeigen (zweidimensional als Bild oder dreidimensional als Skulptur) bunte, aufwendig gestaltete Vulven, die in ihrer Form auch an Blumen und/ oder Schmetterlinge erinnern. Die „butterfly/cunt“-Motive11 sollen simultan die Natur, in Form von Schmetterlingen, Blumen, Muscheln, Fleisch und Wäldern, sowie weibliche Geschlechtsteile darstellen, als Quelle des Lebens.12 Chicago greift damit auf ihre bereits in den 1960er Jahren entwickelte zentralisierte Bildsprache zurück, die sich auf persönliche Körpererfahrungen beruft und diese Erfahrungen zur Anschauung bringen soll.13 Die (flache) florale Gestaltung des Tellers beim Platzgedeck der antiken Dichterin Sappho von der Insel Lesbos (Abb. 2) bezieht sich zum Beispiel auf bestimmte Blumen, die Darstellungen von Sappho häufig begleiteten.14 In Sapphos Stücken finden sich zudem viele Naturbilder und florale Metaphern. Der aufwendig gestaltete Teller von Margaret Sanger (Abb. 3) erinnert wiederum explizit an die weiblichen Fortpflanzungsorgane und Blut. Sanger war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Vorreiterin im Kampf für die reproduktiven Rechte von Frauen. Judy Chicago stellt sich den Sanger-Teller als eine Mischung zwischen der Schmetterlingsart Cymothoe sangaris, die sich durch ihre blutrote Färbung auszeichnet (vgl. Abb. 4) und einem Blutopfer vor – „all red … a sacrificial figure & herself simultaneously (or a goddess connected to blood sacrifice).“15 Die blutrote Farbe des Tellers erinnert an das Blutvergießen vieler Frauen, die bei der Geburt oder infolge illegaler und/ oder unsicherer Abtreibungen sterben. Die Dreidimensionalität des Tellers soll wiederum ausdrücken, dass Sanger zu den Frauen gehörte, die in ihren Kämpfen um die Befreiung von der Begrenztheit und der Enge des Frauseins besonders aktiv wurden und sich loslösten von den geschlechtlichen Rollenzuschreibungen, die sie erlebten: „I decided that I would like the plate images to physically rise up as a symbol of women’s struggle for freedom.“16, so Chicago. Auch die Tischläufer und Tischdecken tragen vielschichtige Bedeutungen in sich: Bei Sappho (Abb. 2) ist das S in ihrem Namen mit einer Leier verziert, ein Instrument, das den Vortrag ihrer Gedichte oft begleitete.

Abb. 3: Detailansicht, Teller der Margaret Sanger, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. 
Abbildungsnachweis: Detailansicht, Teller der Margaret Sanger, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. © ARS, NY, Foto: © Donald Woodman.
Abb. 4: Cymothoe sangaris (Godart, 1824), auch Blutroter Gleiter, Dorsalansicht, 12. November 2013. 
Abbildungsnachweis: Cymothoe sangaris (Godart, 1824), auch Blutroter Gleiter, Dorsalansicht, 12. November 2013. © Didier Descouens, CC BY-SA 4.0.

Der Läufer von Caroline Herschel (vgl. Abb. 5), Pionierin in der Astronomie und die erste Frau, die einen Kometen entdeckte, ist reich illustriert und mit Bildern aus dem Kosmos bestickt, darunter Wolken, Sterne und Darstellungen der acht Kometen, die Herschel entdeckte. So verweist Chicago auf Herschels Errungenschaften und Bedeutung als Astronomin. 

Abb. 5: Detailansicht, Gedeck der Caroline Herschel, Fokus Läufer, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. 
Abbildungsnachweis: Detailansicht, Gedeck der Caroline Herschel, Fokus Läufer, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum, in: Schirn Kunsthalle Frankfurt u.a. (Hrsg.): Judy Chicago. The Dinner Party, Frankfurt a. M. 1987, Bildteil. 

Der mit handgefertigten Porzellanfliesen ausgelegte Boden, auf dem Chicagos dreieckige Tafel steht, trägt ebenso Bedeutung in sich. Der Heritage Floor ist mit den Namen von 999 weiteren bemerkenswerten Frauen beschriftet (vgl. Abb. 1 und 2). Die Frauen, die an der Tafel „sitzen“, erheben sich aus den Fundamenten der 999 Frauen auf dem Heritage Floor. Jede dieser Frauen, so Chicago, habe entweder einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft geleistet, ihr Leben und Werk wichtige Aspekte der Frauengeschichte beleuchtet oder sie habe als Vorbild für eine gerechtere Zukunft gedient.17

Eine weitere Ebene, die die kollektive Kraft von Frauen widerspiegelt, wenn sie sich zusammenschließen, liegt in der Produktion des Kunstwerks selbst. Tatsächlich sind mehr als 400 Personen an der Fertigstellung der Installation beteiligt gewesen. Dazu gehören nicht nur weitere Keramik-, Textil- und Stick-Künstler:innen, sondern auch Tischler:innen, Industriedesigner:innen, Verwaltungspersonal und Forscher:innen.18

Carolee Schneemanns Interior Scroll (1975)

Abb. 6: Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate.
Abbildungsnachweis: Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate. © ARS, NY und DACS, London 2020, Foto: © Tate. 

Carolee Schneemann performt Interior Scroll zum ersten Mal am 29. August 1975 innerhalb der Ausstellung Women Here and Now in East Hampton, New York (Abb. 6).19 Das Publikum bestand vor allem aus Künstlerinnen, die in den Sommermonaten in East Hampton arbeiteten. Innerhalb der Performance geht sie zunächst auf einen Tisch zu, zieht sich vor dem Tisch aus, wickelt sich in Bettlaken und klettert auf den Tisch. Dann liest sie aus ihrem Buch Cézanne, She Was A Great Painter vor (Abb. 7). Sie lässt das Laken fallen und trägt, den Konturen ihres Körpers folgend, dunkle Farbe auf Gesicht und Körper auf und präsentiert eine Reihe verschiedener Modelposen („action poses“)20, während sie weiterhin aus ihrem Buch vorliest (vgl. Abb. 7). Sie bezieht sich mit den Posen auf die Geschichte von Frauen, die für den männlichen Blick posiert haben und von diesem wiederum beeinflusst wurden.21 

Abb. 7: „Modelpose“, Momentaufnahme, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Performance in der Ausstellung „Women Here and Now„, East Hampton, New York, 29. August 1975.
Abbildungsnachweis: „Modelpose“, Momentaufnahme, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Performance in der Ausstellung „Women Here and Now„, East Hampton, New York, 29. August 1975, in: Brandon Taylor: Kunst heute, Köln 1995, S. 27.

Schneemann entfernt dann das letzte Laken und zieht ein langes, schmales, aufgerolltes Stück Papier aus ihrer Vagina – sie gebärt es –, während sie dessen Inhalt laut vorliest (Abb. 6, vgl. Abb. 8). Der Text auf der Schriftrolle beruht auf verschiedenen (feministischen) Texten (vgl. Abb. 6), beispielsweise aus dem Film Kitch’s Last Meal sowie dessen Filmkritiken, den Schneemann 1973 mit einem Filmemacher begonnen hatte, der später der Meinung war, dass Frauen nur zu stereotypischen Eigenschaften, bestimmten Emotionen und Sensibilität etwa, fähig seien.22 Indem sie die Papierrolle mit diesen Texten aus ihrer Vagina zieht, möchte Schneemann ausdrücken, dass nur Frauen selbst darüber sprechen sollen, wozu diese fähig sind. Für Schneemann ist der weibliche Körper außerdem Quelle des Wissens und der Kreativität. 

“I related womb and vagina to ‘primary knowledge,’ with strokes and cuts on bone and rock by which I believed my ancestor measured her menstrual cycles, pregnancies, lunar observations, agricultural notations – the origins of time factoring, of mathematical equivalences, of abstract relations.” 23 

Carolee Schneemann, 2003 
Abb. 8: Detailansicht von Abb. 6, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate.
Abbildungsnachweis: Detailansicht von Abb. 6, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Detailansicht, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate. © ARS, NY und DACS, London 2020, Foto: © Tate. 

Schneemann setzt sich also nicht nur mit der „praktischen“ Bedeutung weiblicher Genitalien auseinander, insbesondere der Vagina als Geburtskanal, sondern ihrer symbolischen Gewichtigkeit als Verbindung zu den Vorfahrinnen aller Frauen und deren Wissen und Praktiken des Wissenstransfers.24

Künstlerische Huldigung vs. radikale Körperlichkeit

Ein Vergleich beider Werke bietet faszinierende Analysemöglichkeiten in Bezug auf die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Idee von „feministischer Kunst“.25 Während Chicago fiktive und nicht-fiktive Personen, wegweisende Frauen der Geschichte, wie Aktivistinnen, Autorinnen, Künstlerinnen und deren Errungenschaften sowie weibliches Kunsthandwerk zelebriert, inszeniert Schneemann sich und ihren Körper, indem sie den weiblichen Körper als solchen, weibliche Sexualität und die Gebärmutter als Quelle des Wissens feiert. In ihrer provokanten Performance bricht sie mit traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit, betont und präsentiert offensiv den weiblichen Körper – insbesondere die Gebärmutter – als potente Quelle der Identität und Schöpfung. Während Chicago die Wahrnehmung von Frauen verändert, indem sie auf die Unterschiede in der historischen Repräsentation von Männern und Frauen hinweist, tritt Schneemann mit ihrer expliziten Darstellung weiblicher Sexualität und des weiblichen Körpers provokanter auf, da sie ihr Publikum und deren Sehgewohnheiten in Bezug auf die Zurschaustellung des weiblichen Körpers (in der Kunst) herausfordert.26 Diese beiden Herangehensweisen spiegeln die Bandbreite der Möglichkeiten wider, wie Künstlerinnen der 1970er Jahre in den USA die Wahrnehmung und Repräsentation von Weiblichkeit umgestalten wollten. Während es Chicago eher um kollektive Errungenschaften und Erfahrungen von Frauen geht, die sie als Gegenstück zu männlichen Narrativen positioniert, wählt Schneemann eine persönlichere, körperliche Manifestation weiblicher Kraft und Intimität. Beide Werke vereinen jedoch in sich, dass sie Kraft und Macht aus Weiblichkeit schöpfen. 

Kitsch als weibliche Kunst? 

Chicago nähert sich Weiblichkeit und der Idee von weiblicher Macht, indem sie zum einen bestimmte Frauen und weiblich gelesene Persönlichkeiten sowie gleichzeitig der oftmals als „niedere Kunst“ wahrgenommenen Handwerkskunst Tribut zollt. Viele derjenigen, die The Dinner Party bei seiner ersten Ausstellung sahen, empfanden die dramatische Betonung der Leistungen von Frauen als eine resonierende Botschaft für die Ziele der Frauenbewegung zu dieser Zeit. Kritiker haben die Installation jedoch als eine Art „Anomalie, losgelöst von der Kunstgeschichte“ betrachtet und es als Kitsch abgetan.27 Nach Laura Meyer markiert The Dinner Party einen Einschnitt in Chicagos Selbstverständnis als Künstlerin.28 Das Werk würde die Entwicklung von Chicagos Finish Fetish in den frühen 1960er Jahren bis hin zum feministischen Kunstbildungsprogramm (Feminist Art Program, kurz: FAP) zeigen, das sie 1970 am Fresno State College etablierte.29 Hier lehrt Chicago ihren Schülerinnen zum Beispiel, dass diese ihre eigenen Erfahrungen als Frau als Grundlage ihrer Kunst(produktion) nehmen sollten.30

Finish Fetish wollte visuelle Erlebnisse beim Betrachten von Kunstwerken in den Vordergrund stellen. Kunstwerke des Finish Fetish wurden oft mit der Einfachheit und Abstraktion des Minimalismus in Verbindung gebracht, während sie auch über leuchtende Farben und Bezüge zur Popkultur eine Verbindung zur Pop-Art herstellten. In The Dinner Party kombiniert Chicago den dreieckigen, symmetrischen Tisch mit handgefertigten, knallbunten Tellern und Tischläufern, mit Bildern von weiblichen Genitalien. Daher ergibt sich Meyers Verweis auf Finish FetishThe Dinner Party ist heute noch bekannt für die opulente Gestaltung (sowohl in Bezug auf die Größe, die Materialität als auch die Farbigkeit). Damit weicht das Werk von der vermeintlich „schlichten“ Ästhetik ab, die beispielsweise Donald Judd oder Agnes Martin in den 1960ern und 1970ern im Minimalismus vertreten. Die Betitelung von Chicagos Arbeit als Kitsch liegt somit wohl irgendwo zwischen der Abkehr von den von zeitgenössischen Kritiker:innen akzeptierten künstlerischen Strömungen, aber auch der (bewussten und unbewussten) Misogynie vieler Kritiker:innen begründet, die Künstlerinnen nicht zutrauten „wertige“ Kunst zu schaffen und darüber hinaus handwerkliche Techniken wie Keramik und Stickerei nicht als bedeutend betrachteten.   

Performance-Kunst zwischen Kritik und Chance 

Judy Chicago äußerte Zweifel an der Qualität von rohen Performances und temporären Installationen, die sie zunächst vermehrt den Studentinnen in ihrem Kunstprogramm nahegelegt hatte.31 Mit The Dinner Party findet sie dann eine Möglichkeit die didaktische Klarheit der Experimente im FAP mit einer dauerhaften Ausdrucksform zu verbinden. Damit stellt sie die Dauerhaftigkeit einer Installation der Kürze einer Performance gegenüber, ohne aber zu erkennen, welche Stärke in Performances liegen kann. Die besondere Kraft einer Performance liegt in ihrer Körperlichkeit, der darin innewohnenden Intimität, aber auch der Herausforderung und dem Brechen der Sehgewohnheiten des jeweiligen Publikums.32

Mit Performances bot sich für Künstlerinnen wie Carolee Schneemann die Möglichkeit sich auf den Alltag und den menschlichen Körper zu konzentrieren. Kunstschaffende versuchten hier traditionelle Unterscheidungen zwischen Leben und Kunst zu überwinden. Wenn nun der (eigene) Körper zum Material für das hergestellte Kunstwerk wird, eröffnen sich neue Dimensionen: Der Körper wird zur Leinwand, was das Kunstwerk aus sich heraus viel intimer machte. Die feministische Performance-Kunst der 70er Jahre stellt aber nicht nur die Trennbarkeit von Künstler:in und Kunstwerk infrage, sondern fungiert auch als Ventil für eine offensivere Vermittlung der Botschaften der Bewegung. Weiblichkeit wird plötzlich intensiver. Schneemann will den weiblichen Körper explizit als etwas ausschließlich Positives und Machtvolles präsentieren. Er muss nicht verborgen oder verändert werden, um dem Auge der betrachtenden Person zu gefallen. Damit wendet sie sich rigoros gegen kanonische Darstellungen des weiblichen Körpers, die diesen meist als passiv, fragil und unterwürfig zeigen und/ oder stilisiert, objektifiziert sowie den Schönheitsidealen der jeweiligen Zeit entsprechend.33

Anatomie und Autonomie in Aktion 

Feministische Kunstperformances der 1970er Jahre wollen meist die Ausbeutung und Objektifizierung des weiblichen Körpers kritisieren. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als würde Schneemann hier ungewöhnlich vorgehen, indem sie so präsent ihren nackten Körper präsentiert. Sie zeigt allerdings wie stark und unabhängig der weibliche Körper ist. Mit ihrer Performance drückt Schneemann ihre Gedanken zum weiblichen Körper und dem Uterus als Quelle von Wissen und Macht aus.34 In Interior Scroll sind die weiblichen Geschlechtsorgane dementsprechend durch das „Gebären“ der Schriftrolle (vgl. Abb. 6 und 8) äußerst präsent.

Die Vulven in The Dinner Party sind dagegen Symbol für den unterschiedlichen Umgang von Frauen und Männern in der männlich dominierten Kunstszene, mit der sich Chicago seit Beginn ihrer Karriere kontinuierlich konfrontiert sieht: Hierzu ersetzt sie den Phallus, als tausende Jahre altes Symbol für Kraft und Fruchtbarkeit (bewusst und unbewusst genutzt zur Repräsentation männlicher Herrschaft, Dominanz und Autorität), durch 39 Vulven. 

Fazit

Durch die Untersuchung der beiden Werke von Judy Chicago und Carolee Schneemann in Bezug auf die Darstellung von (weiblicher) Macht in der feministischen Kunst der 1970er Jahre wird nicht nur das historische Erbe dieser Bewegung beleuchtet, sondern auch die fortwährende Relevanz dieser Themen in der zeitgenössischen Kunstwelt und heutiger gesellschaftlicher Strukturen. Die beiden Werke dienen nicht nur als künstlerische Meilensteine, sondern als Erinnerung daran, wie Kunst als kraftvolles Mittel der Selbstermächtigung dienen kann. 

Chicago präsentiert weibliche Macht, indem sie Betrachtende dazu anregt, über die großen Leistungen und Errungenschaften von Frauen nachzudenken, ihre Persönlichkeiten als solche zu würdigen und sie nicht zu vergessen und zum anderen indem sie die Gleichwertigkeit von Handwerkskunst zur vermeintlichen „Hochkunst“ präsentiert. Schneemann hingegen visualisiert ihre Interpretation weiblicher Macht, indem sie gegen traditionelle Geschlechterrollen aufbegehrt, besonders in Bezug auf die die Wahrnehmung und Darstellung des weiblichen Körpers, und einen explizit sexuellen und befreiten weiblichen Körper inszeniert. Sie möchte den weiblichen Körper aus den Einschränkungen und Begrenzungen befreien, mit denen dieser in der Gesellschaft konfrontiert wird. Sie setzte sich dafür ein, die Stimmen und die Weisheit von Frauen zurückzufordern.35 Beide Künstlerinnen beschäftigen sich somit mit weiblicher Identität, den kollektiven Erfahrungen von Frauen und den herkömmlichen Geschlechterkonstruktionen und -rollen sowie den traditionellen Kunstnormen. 

Chicago und Schneemann spiegeln allerdings auch ihr eigenes Grundverständnis ihrer Arbeit als Künstlerinnen wider. Beide bereiten mit ihren Arbeiten kraftvolle künstlerische Aussagen und repräsentieren bestimmte Ideen und Botschaften. Bei Chicago steht die Anerkennung und Würdigung weiblicher Geschichte(n), Errungenschaften und Erfahrungen im Vordergrund und bei Schneemann die Befreiung des weiblichen Körpers von gesellschaftlichen Einschränkungen und die Verankerung sexueller Autonomie. Beide Arbeiten können damit als künstlerische Manifeste gelesen werden. Sie sind aber zugleich dynamische Schlachtfelder der Neudefinition und Neupositionierung weiblicher Macht und Identität im Kontext ihrer Zeit. Denn beide Werke positionieren die Frau nicht mehr als passive Figur, sondern als aktive Gestalterin von Geschichte, Kultur und eigener Lebenswirklichkeit sowie den weiblichen Körper nicht länger als Objekt, sondern als Subjekt der Selbstbestimmung. Weibliche Macht und Identität werden hier im Kontext einer Neubewertung weiblicher Geschichte, aber auch von Sexualität und Selbstausdruck nachdrücklich neu verhandelt. 

Ausblick

Angesichts der anhaltenden Herausforderungen in Bezug auf die Repräsentation von Frauen, Weiblichkeit und dem weiblichen Körper in der Kunstwelt könnte dieser Essay auch als Ausgangspunkt für weitere Forschungen dienen. Die Analyse der beiden Künstlerinnen und ihrer Werke lässt Raum für verschiedene Erweiterungen und Blickwinkel. In einer weiterführenden Untersuchung könnten auch Fragen von queeren Positionen in der feministischen Kunst aufgegriffen werden. Interessant wäre auch die Auseinandersetzung mit der Kritik, dass der Feminismus dieser Zeit und damit auch feministische Kunst nicht ausreichend intersektional gedacht wurde, was den Blick auf diverse Dimensionen von Unterdrückung und Diskriminierung lenken würde. 


Biografie

LINDA ALPERMANN ist Kunst- und Bildhistorikerin und derzeit wissenschaftliche Volontärin bei den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Sie studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Museumsmanagement in Berlin und London. In Berlin hat sie für die Alte Nationalgalerie, das Deutsche Historische Museum und das Museum Europäischer Kulturen gearbeitet. Ihre Forschungsinteressen liegen in der musealen Provenienz- und Sammlungsforschung, besonders in kolonialen Kontexten, der Malerei der klassischen Moderne, aber auch Post-War American Art.

# 6 Editorial

Issue #6 (Ohn)Macht

Macht der Ohnmacht! 

Was bedeutet Macht? Ist sie ein singulärer Hochpunkt innerhalb einer Hierarchie, ein Prozess oder ein System? Wie drückt sie sich innerhalb von Herrschendenverhältnissen aus und ist die Existenz von Ohnmacht grundsätzlich an die der Macht geknüpft?

In einer Welt, die von Machtstrukturen durchdrungen ist, spielt das Gefühl der Ohnmacht eine ebenso zentrale Rolle wie die Macht selbst. Ohnmacht manifestiert sich auf vielfältige Weise – sei es in individuellen Erfahrungen, gesellschaftlichen Ungleichheiten oder politischen Systemen, die menschliche Existenzen prägen.

In Gemälden, Filmen oder Literatur wird sie oft auf eindrucksvolle Weise eingefangen. Es sind die Martyrien der Heiligen, die Trauer Marias um den sterbenden Gottessohn oder der schwindelerregende Effekt in Hitchcocks Vertigo, die uns dazu zwingen, die Tiefen der menschlichen Psyche zu erkunden. Werke wie Johann Heinrich Füsslis Nachtmahr oder Monica Bonvicinis Chainleather Swing widmen sich der Frage, in welcher Form sich Machträume etablieren, die meist Raum für Ohnmacht implizieren.

Auch Sinneswahrnehmungen sind Instrumente unseres Machtverständnisses: In der Kunst der Op-Art, die laut Borgzinner durch optische Täuschungen „das Auge attackiert”, erkennen wir dementsprechend eine metaphorische Darstellung der Ohnmacht gegenüber optischen Täuschungen – eine Dissonanz zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir zu verstehen glauben. Eine ähnliche Dissonanz spiegelt sich in politischen Strukturen wider, in denen Ohnmacht oft als Gegenposition zur politischen Macht fungiert.

Ohnmacht kann – in Anlehnung an Caspar David Friedrichs Werk – aber auch eine ästhetische Form annehmen, wenn der Mensch in der Natur und der Kunsterfahrung auf das Erhabene trifft. Im Sinne von Burke, Kant und Schiller ist es dann die überwältigende Erfahrung des Unerklärlichen, die über die Macht der eigenen Vorstellungskraft hinausgeht, uns mit dem Unausweichlichen konfrontiert und unser Machtverständnis herausfordert.

Die Ohnmacht in Milan Kunderas Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins erinnert uns daran, dass es Momente gibt, in denen wir uns von der Tiefe der Anziehung überwältigt fühlen. Diese Anziehung kann als Metapher für die Komplexität menschlicher Beziehungen und die fragile Bande der Macht verstanden werden.

Denn Ohnmacht ist nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich relevant. In einer Welt, in der Diskriminierung und Ungerechtigkeit existieren, dominieren vielerorts obsolete Machtgefüge, die es zu durchbrechen gilt .

Issue #6 von frame[less] widmet sich der komplexen und widersprüchlichen Natur der Ohnmacht zwischen Lähmung und Impuls, zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit, zwischen Macht und Übermacht, zwischen Individuum und Gesellschaft und lädt in vielseitigen Beiträgen dazu ein: zu überdenken, zu übermalen und gegebenenfalls zu überwinden.