Museum der blendenden Künste, 2024 – Dirk Sorge

Ausgangspunkt dieser Lecture Performance sind Drucke in der Sammlung des Museums der bildenden Künste in Leipzig, die sich mit dem Thema Blindheit oder Behinderung beschäftigen. Verknüpft werden sie mit der Biographie von Johann Sebastian Bach, der in Leipzig im Jahr 1750 an den Augen operiert wurde. Die Lecture Performance war Teil des Mikrofestivals KörperWissen im November 2020, das vom Museum der bildenden Künste und der Galerie für Zeitgenössische Kunst veranstaltet wurde.
Die bildende Kunst ist fasziniert vom Thema der Blindheit. Die Erfahrung der Blindheit ist im Bild allerdings gar nicht darstellbar. Deshalb werden die Körper von blinden Menschen genutzt, um Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten handeln oft von Hilflosigkeit, Heilung und Heldentum. Sie verraten wenig über die blinden Menschen und umso mehr über die Vorstellung der Sehenden.

Viele Menschen glauben, Blindheit ist nichts anderes als reine Dunkelheit. Sie denken: „Wenn es dunkel ist, sieht man ja nichts, also sehen blinde Menschen einfach Schwarz.“ Blindgeborene sehen aber nicht schwarz. Sie sehen nichts. Für Sehende ist das schwer zu verstehen, denn sie können sich das bildlich nicht vorstellen. Besonders für bildende Künstler:innen ist Blindheit als Thema eine große Herausforderung, denn das Nichts kann im Bild nicht dargestellt werden. Blindheit entsteht nicht nur durch fehlendes Licht. Auch wenn es zu viel Licht gibt, sieht man nichts. Man wird
geblendet.

Der Musiker Johann Sebastian Bach war im Alter von 65 Jahren hochgradig sehbehindert. Er konnte nicht mehr lesen und schreiben – auch keine Noten. Als Komponist war das praktisch das Ende seiner Karriere. Das war im Jahr 1750. Bach hatte einen Grauen Star, also eine Trübung der Linse im Auge. Diese Krankheit ist heute durch eine unkomplizierte Operation heilbar. Dabei wird die natürliche Linse entfernt und durch eine Linse aus Kunststoff ersetzt. Mehr als eine halbe Million solcher Operationen werden in Deutschland jedes Jahr durchgeführt.

Zur Lebzeit von Bach war so ein Eingriff aber nicht in dieser Form möglich. Die Operationen und Behandlungsmethoden waren abenteuerlich und nur wenige Ärzte konnten oder wollten sie durchführen. Einer dieser Ärzte war Dr. John Taylor. Taylor war bekannt für schwierige Augenoperationen und reiste durch verschiedene Länder in ganz Europa, um teils berühmten Leuten den Grauen Star zu stechen. Seine Kutsche war mit vielen Bildern von Augen bemalt. Die Operationen waren inszeniert wie feierliche Rituale oder Performances.

Diese schwarzweiße Druckgrafik – ein Kupferstich – zeigt ihn in eleganter Kleidung des 18. Jahrhunderts und langem lockigem Haar. Das längliche Gesicht schaut uns offen und selbstbewusst an. Seine linke Hand ist leicht geöffnet und schulterhoch angehoben. Die rechte Hand ist auf eine
hüfthohe Brüstung gestützt, die das Bild am unteren Rand abschließt.

Dr. Taylor kam auch nach Leipzig und operierte Johann Sebastian Bach dort im Jahr 1750. Die erste Operation im März war nicht erfolgreich, aber nach der zweiten im Juli konnte Bach wieder sehen. John Taylor war zwar Mediziner, er stand aber auch in einer langen Tradition, die aus einem
religiösen, christlichen Kontext stammt, nämlich die Heilung der Kranken als Spektakel oder Event. In der Bibel gibt es eine ganze Reihe von Erzählungen über die Heilung von blinden, gelähmten und Tauben Menschen. Ein Beispiel ist ein Kapitel in der Apostelgeschichte, in dem Petrus und Johannes zu einem Tempel in Jerusalem kommen. Sie treffen dort einen Gelähmten.

Dieser Kupferstich von Nicolas Dorigny zeigt die Szene vor dem Tempel. Zwischen prunkvoll verzierten Säulenreihen steht ungefähr ein Dutzend Menschen mit antiker Kleidung – einige davon haben Bärte. Im Vordergrund sitzt ein Mann auf dem Boden und schaut zwei Männer an, die direkt
vor ihm stehen. Rechts von ihm, durch eine Säule getrennt sind zwei nackte Jungen. Der eine hält das Gewand eines Mannes ausgebreitet mit beiden Händen fest. Der andere hat einen Stock geschultert, an dem zwei Tauben hängen.

In der Bibelgeschichte wird der Gelähmte jeden Tag zum Betteln vor den Tempel getragen. Er bittet auch Petrus und Johannes um Almosen, aber bekommt stattdessen eine Wunderheilung durch Petrus: „Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und
Knöchel fest, er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.“

Der Mensch mit Gehbehinderung wird hier benutzt, um den anderen Menschen im Tempel ein Wunder zu zeigen. Das Wunder soll sie davon überzeugen, dass Jesus Christus allmächtig ist und daher der Sohn Gottes.
In der Bibel wird das medizinische Modell von Behinderung vertreten. Anstatt die Gesellschaft an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung anzupassen, werden diese geheilt. So sollen sie normal werden, damit sie nicht mehr stören. In der Bibel werden aber nicht nur Wunderheilungen für
„bedürftige Kranke“ und Menschen mit Behinderung durchgeführt. Behinderung wird auch als Strafe eingesetzt, um Ungläubige von der Macht Gottes zu überzeugen.

In einer weiteren Apostelgeschichte bestraft Paulus den jüdischen Zauberer Elymas, weil dieser einen römischen Beamten davon abhalten wollte, an den christlichen Gott zu glauben. Paulus sagte zu Elymas: „Du Sohn des Teufels, voll aller List und aller Bosheit, du Feind aller Gerechtigkeit, hörst du nicht auf, krumm zu machen die geraden Wege des Herrn? Und nun siehe, die Hand des Herrn kommt über dich, und du sollst blind sein und die Sonne eine Zeit lang nicht sehen! Auf der Stelle fiel Dunkelheit und Finsternis auf ihn, und er ging umher und suchte jemanden, der ihn an der Hand führte.“

Der römische Beamte war Zeuge dieser Blendung und glaubte dadurch an die Macht Gottes. Er wurde daraufhin zum gläubigen Christen.

Nicolas Dorigny zeigt auch diese biblische Szene in einem Kupferstich. In einem palastähnlichen Gebäude mit verzierten Pfeilern, Rundbögen und hohen Decken befindet sich ein gutes Dutzend Personen – wieder in antiken Gewändern. Ein Mann sitzt zentral auf einem Thron, der auf einem
steinernen Sockel steht. Er hat einen Kranz aus Blättern auf dem Kopf. Am rechten Bildrand steht ein Mann und zeigt mit dem linken ausgestreckten Arm auf einen anderen Mann in der linken Bildhälfte.
Dieser hat die Augen geschlossen und beide Arme nach vorne gestreckt. Die Füße stehen weit auseinander wie bei einer Gehbewegung. Was der geblendete Elymas sieht, kann das Bild nicht zeigen. Nur sein Körper und seine Gesten können abgebildet werden.

Der Künstler Nicolas Dorigny war eigentlich Jurist. Mit 30 Jahren wurde er allerdings Taub und begann daraufhin als Künstler zu arbeiten.

Menschen mit Behinderung wurden und werden in der Kunst häufig als hilflos und bedauernswert dargestellt. Oft wurden sie als Bettler:innen gezeigt, die auf Spenden und andere Unterstützung angewiesen sind. Reguläre Berufe hatten sie selten.

Ein außergewöhnlicher Fall ist der griechische Dichter Homer, der angeblich blind war. Bei ihm wird die Blindheit nicht als Schwäche angesehen, sondern als Quelle seiner Genialität und seiner schöpferischen Kraft. Er gehört zu den Menschen, bei denen die Behinderung zu einer Superkraft
stilisiert wird.

Dieser Kupferstich von Jean Baptiste Massard zeigt Homer in einer felsigen Küstenlandschaft. Im Hintergrund ist das aufgewühlte Meer zu sehen und ein Himmel mit dunklen Wolken. Homer ist in einen einfachen ärmellosen Umhang gehüllt, blickt mit geöffnetem Mund zum Himmel und hat die
linke offene Hand hoch erhoben. Seine rechte Hand ruht auf der Schulter eines Jungen, der ebenfalls schlichte, kurze Kleidung trägt. Homer hat auf dem Rücken ein u-förmiges Saiteninstrument.

Ob es Homer überhaupt gab, ist bis heute umstritten. Der Legende nach war er der Autor der Ilias und der Odyssee. Wie er diese Texte aufgeschrieben hat, wenn er tatsächlich blind war, ist ebenfalls nicht überliefert. Die Blindenschrift wie wir sie heute kennen, wurde erst im Jahr 1825 von Louis
Braille erfunden. Sie besteht aus fühlbaren Punkten, die in verschiedenen Kombinationen für die Buchstaben des Alphabets stehen. Drei Jahre später erfand Louis Braille aufbauend auf diesem System auch eine fühlbare Notenschrift. Damit können blinde Menschen Noten lesen und schreiben
– ganz ohne Wunderheilung.

Johann Sebastian Bach hat die Erfindung der Notenschrift für Blinde nicht mehr erlebt. Er starb im Jahr 1750 – zehn Tage nach der zweiten Augenoperation durch Dr. John Taylor, vermutlich an einem Schlaganfall. Durch die erste Operation, ihre gesundheitlichen Folgen und falsche medizinische Behandlung war er körperlich bereits sehr geschwächt. Auf der Kutsche von Dr. John Taylor stand der lateinische Spruch „Qui visum dat, dat vitam.“, also „wer Sehkraft gibt, gibt Leben“.

Der selbsternannte Experte für Augenheilkunde hat allerdings viele Operationen mit fatalen Ergebnissen durchgeführt. Hunderte Menschen sind durch ihn vollständig erblindet und einige sind durch Infektionen und andere Krankheiten infolge der Operation gestorben. Er war ein Scharlatan.
Ein Hochstapler. Er benutzte die Kunst der Blendung und die Angst vor der Blindheit für seine Zwecke. Er machte ein Geschäft mit der Hoffnung von hochgradig sehbehinderten Menschen, die nicht die nötigen Hilfsmittel hatten, um ein selbstständiges Leben zu führen.

John Taylor starb im Jahr 1772 im Alter von 69 Jahren – ebenfalls blind.

Biografie

DIRK SORGE arbeitet als Medien- und Konzeptkünstler zu den Themen Normierung, Ableismus und den irrationalen Aspekten von digitaler Technologie. In den letzten Jahren hat er sich kritisch mit der Idee der Heilung auseinandergesetzt. Häufig werden regelbasierte Systeme genutzt, um ästhetische Entscheidungen zu treffen. Seine Arbeiten umfassen Videos, Installationen, Performances und Computerprogramme.