“SisyphFYI: The Organ of Lust”, 2023 – Hannah Mevis


Wer hat entschieden, was als Scham in unsere Körper eingeschrieben wird? The Organ of Lust widmet sich der Geschichte, Anatomie und der politischen Bedeutung der Klitoris. In Film, Text und Lithografie legt die künstlerische Arbeit von Hannah Mevis Schichten von Körperlichkeit, medizinischen Narrativen und historischen Tabus frei. Durch die Sichtbarmachung lädt sie zum Zelebrieren des Organs ein und versteht darin sowohl den Widerstand gegen patriarchales Sozialverhalten als auch die Emanzipation des eigenen Körpers.

Wurzel der Lust

Vor langer, langer Zeit, irgendwo im verborgenen Fleisch einiger Säugetiere, entstand ein Organ, das sich genau eine Sache zum Ziel setzte. Bevor ich jedoch weiter auf die Wirkungsabsichten dieses Organs eingehe, möchte ich zunächst von seiner Geschichte berichten:

Das Organ wurde von denjenigen erkannt, die es in ihrem Körper trugen. Ebenso allerdings auch von denen, in deren Körper das Organ nicht zu Hause war. Und letztere waren es, die damit begannen, Aussagen über das ideale Erscheinungsbild und den Gebrauch des Organs zu formulieren. Erste sprachliche Debatten über die „Ab-/Normalität“ des Organs in der westlichen Welt tauchten im antiken Ägypten und Griechenland auf. Zu der Zeit wurden die Meinungen vertreten, dass:

  • der sichtbare Teil des Organs unter „seinem Schleier“ versteckt bleiben sollte,
  • alles, was zu groß und somit nach damaliger Logik nicht „normal“ war, sollte abgeschnitten werden,
  • es sollte ihm vor allem nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden, da ansonsten die Organträger*innen dazu tendieren würden, ihren zugeordneten Platz in der Gesellschaft aus den Augen zu verlieren.

Das Organ ist ein äußerst empfindliches und kommunikationsstarkes Körperteil.

Von der Medizin wurde es damals noch nicht benannt. Seine Kraft wurde allerdings mit vielerlei abwertenden Spitznamen versehen und sein „abscheuliches“ Potenzial durch die Kunst des Theaters in der Öffentlichkeit debattiert.

Ab dem 10. Jahrhundert tauchten Übersetzungen aus dem arabischen Raum auf, die die Massage des Organs empfohlen. Auch war es bis ins 12. Jahrhundert Gang und Gäbe Sheela-na-Gigs-Figuren1 und Anasyrma-Gesten2 in fast ganz Europa an Kathedralen, Schlössern und anderen Gebäuden abzubilden.

Im Mittelalter wiederum wurde das Aussehen des Organs dazu genutzt, um festzustellen, ob der Teufel in einen Körper gefahren sei und Besitz davon ergriffen hatte. Durch öffentliche Begutachtungen wurden Folter und Verbrennungen der Organbesitzer*innen legitimiert.

Mit der Zeit der Renaissance, der Wiedergeburt der klassischen Antike, kam es zur weiteren Differenzierung zwischen normal und abnormal. Für das Organ bedeutete dies einerseits, dass sein Nutzen in positiveres Licht gerückt wurde, vor allem, wenn es um die Annahme des Effekts auf die Fortpflanzung ging. Andererseits wurde die „Abnormalität“ obsessiv durch Verstümmelungen behandelt, weil das äußere Erscheinungsbild nach damaligen Glaube die Organbesitzer*innen zur falschen Begierde verführen würde. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass Eigentümer*innen des Organs mit Körpern intim werden würden, die ebenfalls solch ein Organ besaßen, anstatt sich für den „vorgesehenen“ körperlichen Gegenpart zu entscheiden.

Im 17. Jahrhundert erhielt das Organ endlich eine medizinische Bezeichnung. Ob sein Name vom lateinischen kleien = umhüllen/umschließen oder kleitys = kleiner Hügel abstammt, ist jedoch nicht sicher belegt. Auf jeden Fall tauchte das Organ zum ersten Mal 1615 mit dem (neuen) Namen Kleitoris in der Microcosmographia3 auf und wurde seitdem zumindest im medizinischen Kontext auch so benannt.

Was sich nicht eindeutig feststellen lässt, ist der Zeitpunkt, an dem die tatsächliche Größe des Organs belegt wurde. Nach heutigem Stand stammen erste anatomische Zeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Seine „Bergspitze“ wird mehr oder weniger von außen sichtbar, während sich etwa 90 % des Organs flügelartig durch das umliegende Gewebe zieht.
Die organische Struktur erinnert an Wurzeln / Blätterdächer / Wolken / Romanesco.

Ihre Aktivität kommuniziert die Klitoris über das Rückenmark ins Gehirn, wo sie als Emotion erkannt wird. Ebenso kann das Gehirn die Klitoris ansteuern.  In aktivem Zustand schwillt sie an, da mehr Blut durch sie fließt. Dies kann dazu führen, dass sie errötet. Jedoch, nur das Einverständnis der klitorisbesitzenden Person kann zum Festakt führen. Denn zur Krönung seiner Aktivität strahlt das Organ in den Körper aus, erreicht jede Faser und sorgt durch seine Existenz für das Pausieren von körperlicher Effizienz.

Nachdem die Größe des Organs festgestellt wurde, könnte mensch denken-glauben-hoffen, dass ihm mehr Aufmerksamkeit in Bezug auf seine Wirkungskraft geschenkt werden würde. Doch weit gefehlt. Etwa zeitgleich mit ihrer anatomischen Bestandsaufnahme kam heraus, dass die Stimulation der Klitoris nicht zur Empfängnis nötig und somit für die „Reproduktion“ von keinerlei Interesse war. Die Wortwahl mag hier irritierend erscheinen. Allerdings sind wir mittlerweile in einer Zeit angekommen, in der der Staat ein gesteigertes Interesse an Bevölkerungswachstum hatte, um den Erhalt von Arbeitskräften4zu sichern. Dies ging mit einer Art von Institutionalisierung des Konzepts der Kernfamilie und dem Verfestigen von Hierarchien einher5. Die Aufgaben von Körpern mit Klitoris und Gebärmutter waren: Kinder kriegen und die häusliche Versorgung der Familienmitglieder zu sichern. Die Emotion der Lust wurde als Störfaktor in diesem System diagnostiziert.

Das, was vorher von der Kirche als Todsünde verteufelt wurde, wurde nun durch „Fortschritte“ in der Biologie und Physiologie mit zusätzlicher Scham behaftet. 1886 wurde in dem ersten Standardwerk der frühen Sexualwissenschaft mit dem Titel Psychopathia Sexualis veröffentlicht, dass der Akt der Masturbation als Geisteskrankheit zu bewerten sei. Weiterhin wurden Klitoridektomien6 als gängige Heilmittel für Hysterie, Rückenschmerzen, Epilepsie, Unfruchtbarkeit, Paralyse, Erblindung, Wahnsinn und vieles mehr durchgeführt.

Anfang des 20. Jahrhunderts untermauerte Sigmund Freud mit den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die Unterscheidung zwischen klitoralen (= unreif / selbst herbeigeführt) und vaginalen (= voll entwickelt / heterosexueller Geschlechterverkehr) Orgasmen. Was die Notwendigkeit des „passenden“ Geschlechtsgegenparts erneut in gesellschaftlichen Ansichten verfestigen sollte.

Mit den Feminismus-Bewegungen der 70er und 80er Jahre im 20. Jahrhundert kam es langsam zur Rückeroberung des Körpers und den Forderungen nach Konsens und Selbstbestimmung. Trotzdem wird die Klitoris, die mit über 10.000 Nervenenden7 unglaubliches sensuelles Potenzial besitzt, nach wie vor auf den von außen sichtbaren Teil reduziert. Ihr anatomisches Aussehen gehört nicht zum Allgemeinwissen. 2009 fanden medizinische Untersuchungen statt, die mithilfe von 3D-Sonographie die Wirkungsabsichten der Klitoris wissenschaftlich belegen sollten. Dabei kam heraus:

  • Im aktiven Zustand schwillt sie an und drückt auf die Vaginalwand, was die Diskussion über klitorale oder vaginale Orgasmen überfällig werden lässt, da alle Formen des Höhepunkts mit diesem Organ zusammenhängen.
  • Und endlich die bereits zu Beginn angekündigte Wirkungsabsicht der Klitoris: sie dient als einziges menschliches Organ keinem anderen Zweck als dem der Lust.

Nun kann es sein, dass mensch sich fragt, was das alles noch mit Kunst zu tun hat. Dazu möchte ich sagen, dass es für mich als Künstlerin, die sich mit dem Körper auseinandersetzt, unmöglich ist, bei einer oberflächlichen/äußeren Betrachtung zu bleiben. Durch mein Aufwachsen in kleinen und großen sozialen Gefügen8 wurden gesellschaftliche Ansichten und „Verhaltensnormen“ auch in meinem Körper verankert. Stereotypen, binäre Systeme, Diskriminierung, Unterdrückung, Scham, dem Stellenwert von Genuss und dem Verlangen danach in meinem eigenen Körper zu Hause zu sein, werden durch eine solche Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart greifbarer.

Zum Abschluss möchte ich dir liebe*r Leser*in einen Auszug aus einem fiktiven erotischen Dialogue Between A Married Lady And A Maid (= Dialog zwischen einer verheirateten Dame und einem Dienstmädchen) aus dem Jahr 1740 mitgeben, der von Nicholas Chorier geschrieben wurde:
 „… gegen den oberen Teil der Vulva ist ein Ding, das sie Klitoris nennen, das ein wenig wie der Penis eines Mannes ist, denn es schwillt an und steht wie seiner; und wenn sie gerieben wird, wird sie mit übermäßigem Vergnügen eine Flüssigkeit ausstoßen, die, wenn sie weggeht, uns in Trance versetzt, als ob wir sterben würden, wobei alle unsere Sinne verloren gehen und alles an dieser einen Stelle zusammengefasst wird, und unsere Augen geschlossen sind, unser Herz an einer Körperstelle schmachtet, unsere Glieder gestreckt sind, und mit einem Wort, es folgt eine Auflösung unserer ganzen Person und ein Verschmelzen in solch unaussprechlichen Freuden, die niemand außer denen, die sie fühlen können, ausdrücken oder verstehen kann…“

© 2023
Hannah Mevis

Dank an: Chloé Op de Beeck, Kate Bohunnis, Anaïs Chabeur, Teresa Cos, Noé Duboutay, Eva Gräbeldinger, Sina Hensel, Annemarie Wadlow.

Anmerkung: Diese Abhandlung entstand im Zusammenhang mit der lithografischen Nachzeichnung der anatomischen Abbildungen der Klitoris aus dem Buch Die männlichen und weiblichen Wollust-Organe des Menschen und einiger Säugetiere von Dr. G. L. Kobelt, aus dem Jahr 1844.

Der Erzählfokus liegt auf dem Blickwinkel der westeuropäischen Welt. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil, Themen wie Klitorishypertrophie, Geschichte der Hysterie, Intersexualität, Sexarbeit, Care-Work, die Geschichte der Hebammenkunst und deren verdrängter Einfluss auf soziales Zusammenleben, Reproduktion, Intimchirurgie, Manifestierung der binären Kategorisierung von Körpern, Legitimation der Rassifizierung durch Fetischisierung von Geschlechtsorganen, Einflüsse der Psychoanalyse von Freud, die Emotionen Lust und Scham oder auch die Feminismus-Bewegungen ab den 1970er Jahren konnten nur oberflächlich betrachtet werden und bedürfen weiterer Aufmerksamkeit an anderer Stelle.

Quellen / Inspiration:

Kate Lister: A Curious History of Sex – Looking for the Boy in the Boat von

Silvia Federici: Caliban und die Hexe – Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation & Jenseits unserer Haut – Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus

Thomas Laqueur: Making sex – Body and Gender from The Greeks to Freud

Emily Nagoski: Come as you are von

Netflix Miniserie: The Principles of Pleasure


Biografie

HANNAH MEVIS (*1989) schloss im Jahr 2017 ihr Studium der Freien Kunst mit dem Schwerpunkt Bildhauerei und Public Art an der HBK Saar mit Diplom ab. Von 2018 bis 2019 war sie Stipendiatin am Postgraduierten Programm Advanced Studies and Practice-based Research in Visual Arts am HISK in Gent, Belgien. Seit 2021 widmet sie sich ihrer künstlerischen Forschung zum Thema “Erschöpfung”, für die sie zwischen 2021 und 2023 im Rahmen der Graduiertenförderung durch die Hochschulen des Saarlandes gefördert wurde. Zusätzlich ist sie seit 2015 als Dozentin und Kunstvermittlerin tätig und seit 2023 als Mediatorin für Kunst im Bürger:innenauftrag im Saarland tätig.

In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit dem menschlichen Körper und erforscht seine Möglichkeiten, Grenzen und verkörperte Geschichte durch sinnliche Neugier und Fürsorge. Indem sie sich zwischen den Disziplinen bewegt und Multimaterialität miteinbezieht, möchte sie sowohl sich selbst als auch dem Publikum körperliche Erfahrungen ermöglichen. Ob durch Installationen, die zu körperlicher Bewegung einladen, Lecture Performances, die zum Nachdenken anregen, oder gemeinsames Essen und Storytelling – wichtig ist es ihr Räume zu schaffen, in denen Einzelne oder Gruppen neue/andere Perspektiven entdecken und durch den Körper erfahren können. Ihre Arbeit verbindet Sinnlichkeit und Kollektivität mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und zielt auf ästhetische Wirkung und die Sichtbarmachung unterrepräsentierter Erzählungen ab.

Fußnoten

  1. Sheela na gigs sind figürliche Schnitzereien von nackten Frauen, die eine übertriebene Vulva zeigen.
  2. Anasyrma bezeichnet das Entblößen des Genitals oder des Hinterns in einem kultisch-magischen Zusammenhang, insbesondere als Maßnahmen im Rahmen eines Abwehrzaubers.
  3. Enzyklopädie der menschlichen Anatomie.
  4. Im Interesse der Industrialisierung und Kapitalisierung.
  5. Frauen sollten nicht außerhalb des Hauses arbeiten und nur in der „Produktion“ tätig sein, um ihren Männern zu helfen. Es wurde sogar argumentiert, dass jede Arbeit, die Frauen zu Hause verrichteten, „Nicht-Arbeit“ war und wertlos, selbst wenn sie für den Markt verrichtet wurde. – Silvia Federic, Kaliban & die Hexe.
  6. Operative Entfernung der Klitoriseichel und/oder vollständige oder teilweise Entfernung der Schamlippen.
  7. https://news.ohsu.edu/2022/10/27/pleasure-producing-human-clitoris-has-more-than-10-000-nerve-fibers
  8. Familie, Zugang zu Bildungssystem, Stadt, Land, Kontinent…