“Schönes braunes Moor, köstliches Braun!“ -Ein multiperspektivischer Blick auf Paula Modersohn-Beckers Moorlandschaften um 1900, 2024 – Linda Alpermann & Sarah Felix

Sarah Felix und Linda Alpermann stellen in ihrem Essay verschiedene Sichtweisen auf Paula Modersohn-Beckers Ansichten des Worpsweder Teufelsmoors vor. Um 1900 setzte die Malerin sich verstärkt mit dem Moor als Bildmotiv auseinander und stilisierte es zu einem romantischen Sehnsuchtsort. In ihren Briefen und Tagebüchern äußerte sie sich ausgiebig über ihre Faszination für das Moor. Die beiden Autorinnen zeigen, wie Modersohn-Becker in ihren Werken mit Farben und Kontrasten spielt, aber auch, wie das Moor zur Projektionsfläche des menschlichen Machtanspruchs gegenüber der Natur wird. 

„Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene-Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunklen Segeln, es ist ein Wunderland, ein Götterland. Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Bewohner wissen nicht, wie schön es ist. […]“1 

 Paula Modersohn-Becker, Tagebucheintragung, Worpswede, 24. Juli 1897

Die Künstlerkolonie Worpswede & das Teufelsmoor 

Die Malerkollegen Fritz Mackensen, Hans am Ende und Otto Modersohn ließen sich 1889 im nordöstlich von Bremen gelegenen Dorf Worpswede nieder, etwa 20 Kilometer von der Hansestadt entfernt. Ihnen folgten 1893 Fritz Overbeck und 1894 Heinrich Vogeler. Die fünf Künstler hatten zuvor erfolgreich an den renommierten Kunstakademien in Düsseldorf, Karlsruhe und München studiert, standen aber der traditionellen akademischen Ausbildung zum Teil kritisch gegenüber. Sie suchten nach neuen Entwicklungsmöglichkeiten, die ihnen die strenge akademische Lehre nicht bieten konnte. Auf der Suche nach alternativen Ansätzen begeisterten sie sich für die Methoden der Freilichtmalerei, etwa für jene der Schule von Barbizon. Nach mehreren Aufenthalten in Worpswede seit 1884 beschlossen sie schließlich, eine Künstlerkolonie nach französischem Vorbild zu gründen. Worpswede befindet sich am Rand des Teufelsmoors, einer weitläufigen Moorlandschaft, die das Gebiet prägt. Mackensen, fasziniert von der einzigartigen Landschaft und der idyllischen, unberührten Natur, hatte bereits einige Jahre zuvor durch Zufall das künstlerische Inspirationspotential Worpswedes entdeckt und erkannt. Diese Entdeckung führte schließlich zur Gründung einer der berühmtesten Künstlerkolonien Deutschlands, der sich wenige Jahre später auch Paula Becker, später bekannt als Paula Modersohn-Becker, anschloss.2

Das Leben in der Künstlerkolonie veränderte das Verhältnis zur Landschaft. Sie war nicht mehr nur Studien- und Arbeitsort, sondern das gesamte Leben ihrer Bewohner:innen spielte sich dort ab. Neben der Abkehr von der akademischen Lehre hin zum Selbststudium war die Kolonie auch Ausdruck einer Stadtflucht, die durch die Verdichtung des Lebensraumes, die zunehmende Armut und die Industrialisierung in den Städten ausgelöst wurde.3 „Hinwendung zur Natur und ein Gefühl für das Unverfälschte in ihr sind zwei lebensreformerische Triebfedern ihres Handelns”4, schreibt die Kunsthistorikerin Renate Foitzik Kirchgraber über die Gründung der Künstlerkolonie. Die Popularität von Künstlerkolonien wie derjenigen in Worpswede ist auch im Kontext der Lebensreform zu verstehen, einer Reihe von sozialen Bewegungen, die im späten 19. Jahrhundert Schwung aufnahmen.5 Die Berührung mit Natur wurde aufgeladen in der Suche nach Vitalität durch Kontakt mit Sonne, Luft, Licht, Meer, Wald, Bergwelt oder Heide. Durch Praktiken wie Bergsteigen, Wandern, Zelten und Baden im Freien und häufig in Nacktheit, versuchten Lebensreformer:innen, eine Verbindung mit der Natur herzustellen.6 1898 führte Paula Beckers7 Weg nach Worpswede, wo sie sich der Künstlerkolonie anschloss, zunächst Schülerin von Fritz Mackensen wurde und 1901 Otto Modersohn heiratete. Modersohn-Becker integriert während ihrer Zeit in der Künstlerkolonie verschiedene lebensreformerische Ideen und Praktiken in ihren Alltag und in ihr künstlerisches Schaffen. Foitzik Kirchgraber schreibt, dass Paula Becker den lebensreformerischen Bewegungen der Zeit äußerst aufgeschlossen gegenübergestanden habe:8

Der folgende Text untersucht die Darstellung der Worpsweder Moorlandschaften in den Gemälden Paula Modersohn-Beckers um 1900. Die charakteristischen Moorgräben und -kanäle des Teufelsmoors waren ein häufiges Motiv der Worpsweder Künstler:innen, was deutlich macht, dass sie sich in ihrer Landschaftsmalerei keinesfalls primär mit unberührten Landschaften, sondern auch mit Spuren der menschlichen Gestaltung und Nutzung der Natur auseinandersetzten. Die einzigartigen Landschaften des Teufelsmoors sollten eine zentrale Rolle im künstlerischen Schaffen Paula Modersohn-Beckers spielen. Diese für sie faszinierende, idyllische und zugleich geheimnisvolle Umgebung bot ihr eine unerschöpfliche Quelle an Motiven und prägte ihre künstlerische Ausdrucksweise nachhaltig. Im Mittelpunkt dieses Essays steht der auffällige Kontrast zwischen Modersohn-Beckers radikalen Bildkompositionen und expressiven Farbgestaltungen und den friedlichen Beschreibungen des Moores in ihren Tagebüchern und Briefen. Diese Diskrepanz offenbart ein vielschichtiges Verhältnis zwischen der romantisierten Vorstellung von Natur und der realen, vom Menschen geprägten Landschaft. Modersohn-Beckers Darstellungen von Moorlandschaften, insbesondere von Moorgräben und Birkenwäldern, zeigen dynamische Kompositionen, die im Widerspruch zu den populären Vorstellungen vom Moor als düsteren Sehnsuchtsort stehen. Dies verdeutlicht die komplexe Beziehung zwischen menschlichem Eingriff und natürlicher Landschaft, die sie wohl unbewusst in ihrer Kunst verarbeitete.9

Abb. 1: Paula Modersohn-Becker: Moorgraben, um 1900, Öl auf Pappe auf Sperrholz, 54,5 × 42 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Albertinum, Dresden, in:
Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Hrsg.): Paula Modersohn-Becker und die Worpsweder in der Dresdner Galerie, Dresden 2012, S. 31.

Moorkanäle bei Paula Modersohn-Becker

Eines der markantesten Beispiele für ihre Mooransichten ist der Moorgraben aus der Sammlung des Dresdner Albertinum (Abb. 1). Die Künstlerin nutzt die Flussläufe der Hamme und Wümme sowie künstlich angelegte Gräben und Kanäle als Bausteine, um ihre Landschaftsstücke geometrisch aufzubauen. Im Falle des Moorgraben des Albertinum (datiert um 1900) spannt sich der Graben vom unteren rechten Bildrand bis kurz vor die obere linke Bildecke. Der Kanal durchschneidet die Landschaft und formt zwei Dreiecke, die sich in Richtung Horizont perspektivisch verjüngen. Ein schmaler grauer Streifen am oberen Bildrand bildet den Himmel der Szenerie und suggeriert wolkenverhangenes, düsteres Wetter. Er steht im starken Kontrast zur Himmelsspiegelung des Moorkanals im Vordergrund. In Bildvordergrund und Bildmitte spiegelt sich der Himmel im Kanalwasser nämlich in Türkisblau, von dem sich einige Wolken in starkem Deckweiß abheben. Diese Diskrepanz ist kaum zu erklären, wirkt aber auf Betrachter:innen besonders anziehend. Das grelle Blau des Wassers bzw. des Himmels und das Weiß der Wolken, die sich im Kanal spiegeln, leuchten förmlich aus dem Bild heraus. Unmittelbar aus ihren Erfahrungen nimmt die Künstlerin hier die prägende Farbigkeit der Landschaft auf. Vor allem die Brauntöne, aber auch das satte Grün wird in unterschiedlichen Abstufungen von den Ufern der Kanäle, der Moorerde und der Moorflora entnommen. 

Diese radikale Bildkomposition, die den Blick der Betrachter:innen förmlich in die Tiefe des Bildes zieht sowie die Farbwahl verleihen dem Werk eine beeindruckende Dynamik und Intensität, die die expressive Kraft und die Einzigartigkeit von Modersohn-Beckers künstlerischer Vision eindrucksvoll hervorhebt. Ulrich Bischoff, 1994 bis 2013 Direktor der Galerie Neue Meister in Dresden (heute Albertinum), geht sogar so weit, die Kühnheit und Radikalität des Moorgrabens (Abb. 1) mit Caspar David Friedrichs Das Große Gehege bei Dresden (1832) zu vergleichen.10 Er argumentiert, dass der in dem schmalen Streifen gehaltene graue Himmel am oberen Bildrand in Verbindung mit den im “unwirklich blauen Wasser des Moorkanals gespiegelten weißen Wolken”11  zum Hauptcharakter der Komposition wird. Ähnlich ist es bei Friedrich. Bei dem Romantiker spiegelt sich der Himmel in den stehenden Pfützen des Ausläufers der Elbe. Der Himmel drückt förmlich auf die untere Bildhälfte. Beim Moorgraben (Abb. 1) ist der Himmel durch die starke Spiegelung im Wasser des Moorgrabens ähnlich omnipräsent. 

Abb. 2: Paula Modersohn-Becker: Moorkanal, um 1900, Öl auf Pappe (1960 auf Leinwand übertragen), 53 × 32,5 cm, Kunsthalle Bremen, Bremen, in: Die Worpsweder in der Kunsthalle Bremen (Aus Worpswede, 17), Lilienthal 1984, Farbtafel 1.

Im Moorkanal (Abb. 2) der Kunsthalle Bremen lassen sich ähnliche kompositionelle Schlüsse ziehen. Der Moorkanal, ein schmales Hochformat, zeigt wie der Moorgraben (Abb. 1) eine Worpsweder Landschaftsszene mit einem Kanal oder Graben, der diagonal von der rechten unteren Bildecke zur linken oberen Bildecke verläuft. Die Ufer des Kanals sind in dunklem Grün und Braun gehalten. Im Hintergrund erstreckt sich eine weite, flache Landschaft, die nur vereinzelt von Bäumen unterbrochen wird. Der Himmel ist mit dichten, grauen Wolken bedeckt und nimmt am oberen Bildrand mehr Raum ein als beim Moorgraben (Abb. 1). Die Farben sind gedämpft und erdig, mit einem starken Kontrast zwischen dem hellen Wasser des Kanals und den dunklen Ufern des Moores. Die gedämpfte Farbpalette aus Grau-, Grün- und Brauntönen erzeugt eine ruhige, wenn nicht gar melancholische Stimmung. Im Gegensatz zum Moorgraben (Abb. 1) leuchtet hier kein kräftiges Blau aus dem Bild. Modersohn-Becker wählte hier „nur“ ein leichtes Hellblau, das hinter den tiefhängenden Wolken aufblitzt, sich aber im unteren Bilddrittel auch leicht im Kanal spiegelt. Der diagonale Verlauf des Kanals durch das Bild lenkt den Blick der Betrachtenden tief in die Landschaft hinein. Durch diese kompositorische Entscheidung entsteht eine dynamische Bewegung im Bild, die trotz der eigentlich ruhigen Stimmung, die durch die horizontalen Linien im Bildhintergrund unterstützt wird, eine gewisse Spannung erzeugt. Wie im Moorgraben (Abb. 1) zeigt sich auch in diesem Gemälde (Abb. 2) der Stil Paula Modersohn-Beckers in der expressiven, groben Pinselführung und der strukturierten Oberfläche, die der Moorlandschaft eine fast haptische Qualität verleiht. 

Ulrich Bischoff sieht zwischen dem Moorgraben (Abb. 1) und Caspar David Friedrichs Das Große Gehege bei Dresden die zusätzliche Parallele, dass Menschen kaum sichtbar verortet sind und dennoch ganz zentral für die Lebendigkeit der dargestellten Landschaft stehen.12 So verweisen beim Moorgraben (Abb. 1) die roten Dächer zweier Häuser auf Moorbewohner:innen, bei Das Große Gehege bei Dresden ist es ein einsamer Kaffenkahn, der die Elbe entlang segelt. Beim Bremer Moorkanal (Abb. 2) ist es ein kaum erkennbares einzelnes Haus am Horizont und am Ende des Kanals. Diese Verweise auf menschliche Zivilisation könnten aber gleichermaßen überzeugend als Hinweise der Einsamkeit gelesen werden. Beide Werke (Abb. 1 und 2) könnten diesem Gedankengang folgend auch als Ausdruck der inneren Gefühlswelt der Künstlerin interpretiert werden. 

Faszination Feuchtgebiete

Paula Modersohn-Becker war mit ihrer Faszination für das Moor nicht allein. Zahlreiche Autor:innen etwa griffen das Moor als literarisches Motiv auf, wie Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930). „It is a wonderful place, the moor“,13 bemerkt Mr. Stapleton, einer der Hauptfiguren in Doyles Roman The Hound of the Baskervilles (1902) gegenüber Dr. Watson. „You never tire of the moor. You cannot think the wonderful secrets which it contains. It is so vast, and so barren, and so mysterious.“14 Das weitläufige, öde, rätselhafte Moor, wie Mr. Stapleton das Moor im englischen Dartmoor beschreibt, wird in dem Roman zum Ort der Gefahr und Angst – aber auch der Unberechenbarkeit. So spielen sich zum Beispiel alle Gewaltakte im Roman im Moor ab. Gleichzeitig steht das Moor für Irrationalität und Primitivität. Menschen, die im Moor leben, werden in der Detektivgeschichte als vertrauensselig, leichtgläubig und abergläubisch dargestellt: Sie glauben an den Fluch der Baskervilles.15 In Emily Brontës Wuthering Heights (1847) ist das Hochmoor von North Yorkshire Schauplatz der komplizierten Liebesgeschichte zwischen den Hauptcharakteren Heathcliff und Catherine. Immer wieder wird die einsame, erbarmungslose Landschaft um die Familiensitze der Earnshaws und Lintons erwähnt.16 Brontës Moor ist bedrohlich, wenn nicht sogar gefährlich. Es scheint als menschenfeindlicher, abweisender Handlungsort Sinnbild für die zerstörerischen Züge des Hauptcharakters und den Verlauf der bitter-düsteren Erzählung zu sein. 

Die westfälische Schriftstellerin und Komponistin Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) wiederum dichtet dem Moor in der Ballade Der Knabe im Moor (1842), als Teil des Gedichtzyklus Heidebilder, einen fast dämonenhaften Charakter an. In der fünften Strophe heißt es: “Da birst das Moor, ein Seufzer geht / Hervoraus der klaffenden Höhle; / Weh, weh, da ruft die verdammte Margreth; / ,Ho, ho, meine arme Seele!’”17 Diese Passage veranschaulicht die unheimliche Natur des Moors, das durch die Stimme der verdammten Margreth und dem Seufzen aus der klaffenden Höhle eine gespenstische und übernatürliche Dimension erhält. Das Moor wird zu einem Ort, an dem die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen und das Übernatürliche greifbar wird. Wie von Droste-Hülshoff eindrücklich aufgreift und der Historiker David Blackbourn überzeugend argumentiert, gab es bis ins 19. Jahrhundert kaum Personen, die zum Vergnügen ein Moor betreten hätten.18 Wie Blackbourn ausführt, galt es nicht nur als schauriger Ort, sondern auch als gefährlich, denn von den wenigen Leuten, die sich ins Moor wagten, verschwanden viele, weil sie vom unbefestigten oder schlecht befestigten Weg abkamen .19 

Abb. 3: Vincent van Gogh: Twee vrowen in het veen (Two Women on the Peat Moor), Öl auf Leinwand, 27,8 × 36,5 cm, 1883, Van Gogh Museum, Amsterdam, in:
Susan Alyson Stein: Van Gogh. A Retrospective, New York 1986, S 37. 

Auch Vincent van Gogh (1853-1890) beschäftigte sich mit dem Moor als Motiv und malte 1883 zwei Frauen beim Torfabbau. In Twee vrowen in het veen (Abb. 3) geht es ihm offensichtlich um die Darstellung des harten bäuerlichen Arbeitsalltags. Zentral für die Bedeutung der Szene ist jedoch die dargestellte Landschaft: Die Umgebung deutet auf eine typische Moorlandschaft hin, die durch flache, weite Flächen und einen dunklen, wolkenverhangenen Himmel gekennzeichnet ist. Durch die gedämpfte Farbpalette, die einfache, aber kraftvolle Komposition und die strukturierte Malweise schafft der Künstler ein Bild, das sowohl die physische Härte als auch die würdevolle Stille der Landschaft einfängt. Die gebeugte Haltung der Frauen und die raue Umgebung, die miteinander im Dialog stehen, symbolisieren eindringlich die körperliche Anstrengung und das Leben in einer harten, unbarmherzigen Natur. Eine andere Landschaft hätte kaum dieselbe Wirkung. 

Abb. 4: Paula Modersohn-Becker: Landstraße mit Birken, um 1901, Öltempera auf Pappe,
73 × 37,2 cm, Paula Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen, in:
Günter Busch, Wolfgang Werner (Hrsg.): Paula Modersohn-Becker. 1876-1907. Werkverzeichnis der Gemälde, München 1998, Band 1, Farbtafel 19/ WV Nr. 261, S. 137. 
Abb. 5: Paula Modersohn-Becker: Worpsweder Landschaft, 1906/1910, Tempera auf Pappe,
61,5 × 68 cm, Museum Ludwig, Köln, in: Diathek des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München.

Birken als Chiffre des Aufbruchs

Neben den Moorkanälen sind Birken und Birkenalleen beliebte Motive, mit denen Paula Modersohn-Becker die Worpsweder Moorlandschaft darstellte. Im Werk Landstraße mit Birken (Abb. 4) dominieren die Bäume den Bildraum und scheinen sich im Wind zu bewegen. Die Landstraße verläuft diagonal durch das Bild, verschwindet in der Ferne und zieht den Blick der Betrachter:innen tief in die Szene hinein – ein Effekt, der schon bei Modersohn-Beckers Moorgräben zu beobachten war (Abb. 1 und 2). Bei der Landstraße mit Birken ist es nicht der Kanal, sondern die Straße und die aneinander gereihten Birken, die den Blick vom rechten unteren Bildrand in die linke obere Ecke führen und der Komposition ihre dynamische, vertikale Betonung verleihen. Die Worpsweder Landschaft (Abb. 5) zeigt im Vordergrund einen Weg, der von Birken gesäumt ist. Die Diagonalen der geneigten Baumstämme schaffen Dynamik und Bewegung im Bild, die durch die ruhigen horizontalen Linien im Bild ausgeglichen werden. Die Birken dominieren die Komposition mit ihrer markanten weißen Rinde, die sich deutlich vom Rest des Bildes abhebt. Die Künstlerin verwendet in beiden Gemälden eine besonders kräftige Farbpalette, die ihnen eine frische und lebendige Atmosphäre verleiht. 

Insbesondere im Kontext der Lebensform waren Birken, die immer wieder in den Werken der Worpsweder Künstler:innen auftauchen, Symbole des Frühlings und Chiffren für einen Neubeginn.20 Die Birken verkörpern die Frische und Klarheit der Stimmung im Moor. Auch in Modersohn-Beckers Briefen und Tagebucheinträgen tauchen die Worpsweder Birken als leichte, fröhliche Gestalten auf.21 Das helle Weiß der Birkenstämme und Wolken steht wie das Leuchten des Wassers und des Himmels in Modersohn-Beckers Gemälden im Einklang mit der lebensreformerischen Hinwendung zur Natur als Sehnsuchtsort. Die Malerin verknüpft Birken gedanklich mit dem Jungen, Neuen und Modernen. In einem Tagebucheintrag schreibt sie:

“Worpswede, Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. […] Und Deine Birken, die zarten, schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen. Mit jener schlappen, träumerischen Grazie, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei. Sie sind so einschmeichelnd, man muß sich ihnen hingeben, man kann nicht widerstehn. Einige sind auch schon ganz männlich kühn, mit starkem, geradem Stamm. Das sind meine ‘modernen Frauen’…”22 

– Paula Modersohn-Becker, Tagebucheintrag, Worpswede, 24. Juli 1897

Die Birken symbolisieren für sie moderne Weiblichkeit. In die ruhigen, melancholischen Moorlandschaften bringen die Birken dadurch eine leuchtende Vitalität und stehen somit auch für persönliche und gesellschaftliche Erneuerung. In ihrer symbolischen Bedeutung als Chiffren des Aufbruchs und der modernen Weiblichkeit verleihen sie den Moorlandschaften eine zusätzliche Tiefe und verweisen auf den Zusammenhang von Natur und menschlichem Streben nach Fortschritt und Veränderung.

Abb. 6: Paula Modersohn-Becker: Sandkuhle am Weyerberg, 1899, Öltempera auf Pappe,
55 × 74 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Pinakothek der Moderne, München, in:
Günter Busch: Paula Modersohn-Becker. Malerin. Zeichnerin. Frankfurt am Main 1981, Taf. 31.

Zur visuellen Wirkung des Moors 

Als immer wiederkehrendes Stilmittel nutzt Modersohn-Becker die Kontrastierung heller und dunkler Farbtöne, was die Wirkung der jeweiligen Szene auf die Betrachter:innen erheblich verstärkt. Durch den Kontrast etwa zum blauen, strahlenden Himmel, der sich im Moorgraben spiegelt (vgl. Abb. 1, auch 6), den gelben Rapsfeldern im Hintergrund (Abb. 2), dem Weiß der Birkenstämme (Abb. 4 und 5) oder auch dem knalligen Grün der umliegenden Landschaften (Abb. 1) wird das Moor als dunkles, „mystisches“ Bildthema gebrochen, aber gleichzeitig die dunklen Grün- und Brauntöne, die die Künstlerin auch gerne verwendet, noch intensiver zur Geltung gebracht. Diese künstlerischen Entscheidungen erzeugen eine Spannung, die den Blick der Betrachtenden magnetisch anzieht und dazu einlädt, tiefer in die Landschaft einzutauchen. 

„[…] Den Tag über bin ich weit draußen im Moor gewesen, im Sturm, bei sausenden Wolken. In diesem Lande entdeckt man immer neue Schönheiten. Diesmal kam ich zwischen ein Wirrsal von Birken, von altehrwürdigen moosbegrünten Bauernhäusern mit uralten Wachholdern vor der Tür. Hier und da stehen ein paar knorrige alte Kiefern, gewaltig und groß, fast wie aus einer anderen Kultur stammend. Dazu der tiefdunkelbraune satte Moorboden, die schimmernde Wintersaat. Ja, es war fein. […]“ 23 

 Paula Modersohn-Becker, Brief an Marie Hill, Worpswede, 15. Januar 1899 

Modersohn-Beckers bewusster Einsatz von Kontrasten und Farben verleiht ihren Darstellungen der Moorlandschaft eine tiefe emotionale Resonanz und bringt für sie die faszinierende Vielschichtigkeit des Moores zur Geltung. Dem Braun kommt in Modersohn-Beckers Werken eine besondere Bedeutung zu, denn der „tiefdunkelbraune satte Moorboden” ist vermehrt Thema in den Werken der Künstlerin. „Schönes braunes Moor, köstliches Braun!“24, schreibt sie in ihrem Tagebuch. Erdtöne verleihen ihren Werken eine warme, ruhige, vielleicht sogar bodenständige Atmosphäre. 

In einigen ihrer Werke sind Formen und Komposition äußerst reduziert, wie etwa bei der 1899 entstandenen Sandkuhle am Weyerberg (Abb. 6): Die Komposition ist relativ einfach und konzentriert sich auf die Darstellung der Sandkuhle. Die Farbschichtung und die sichtbaren Pinselstriche verleihen der Landschaft allerdings eine körperliche Präsenz. Einige diagonale Linien führen die Betrachtenden durchs Bild, doch vor allem Farbgebung und Farbauftrag und die daraus resultierende Atmosphäre sind hier von Bedeutung. Dies ist immer wieder in Modersohn-Beckers Werken bemerkbar (vgl. Abb. 1 und 2). Neben der Bedeutung von Farbpalette und Farbaufstrich scheinen geometrische Formen – oder zumindest Linien –    weitere zentrale gestalterische Mittel für die kraftvolle Wirkung ihrer Worpsweder Landschaften zu sein. 

„[…] Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. Deine mächtigen großartigen Kiefern! Meine Männer nenne ich sie, breit, knorrig und wuchtig und groß, und doch mit den feinen Fühlfäden und Nerven drin. […]“ 25

 – Paula Modersohn-Becker, Brief an Marie Hill, Worpswede, 15. Januar 1899

Die Bäume in Modersohn-Beckers Bildern stehen symbolisch für Stärke und Beständigkeit, gleichzeitig nutzt sie überzeugend ihre beeindruckende Präsenz, um ihre Kompositionen zu gliedern. Die wuchtigen Stämme wirken wie stabile Säulen, die das Bild tragen und die Blicke der Betrachtenden führen (vgl. Abb. 4 und 5). Die bewusste Einbindung der Bäume als strukturelle Elemente zeigt, wie Modersohn-Becker die natürliche Welt nicht nur als Inspiration, sondern auch als wesentliches Gestaltungselement für ihre künstlerische Sprache verwendet. Der ehemalige Direktor der Bremer Kunsthalle, Günter Busch, schreibt hierzu: 

„Die Kühnheit und Einfachheit, mit der sie die wenigen Bildelemente zu geheimer Geometrie in das jeweilige Bildgeviert einspannt, Bildfläche und Bildraum, Plastizität eines Birkenstamms und Oberflächenstruktur zu formalem Austausch zwingt – diese gestalterische Fähigkeit findet sich so weder bei Otto Modersohn noch bei den übrigen Worpswedern.“26

Abb. 7: Otto Modersohn: Herbst im Moor, 1895, Öl auf Leinwand, 80 × 150 cm, Kunsthalle Bremen, Bremen, in:
Nils Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, München 2006, S. 346.

Otto Modersohns Gemälde Herbst im Moor (Abb. 7) zeigt eine weite Moorlandschaft in herbstlichen Farben aus deren Vordergrund sich eine markante Birke von der Umgebung abhebt. Die Szene wirkt wesentlich idyllischer als die Landschaften Modersohn-Beckers, was vor allem an der besonders ausführlichen, detaillierten und realistischen Maltechnik Modersohns liegt, die sich besonders in der Darstellung der Bäume und Blätter bemerkbar macht. Seine Pinselführung ist präziser und weniger expressiv als die seiner Frau. Genauso relevant ist aber, wie Günter Busch schreibt, die kompositionelle Radikalität: Paula Modersohn-Beckers Malweise ist von besonderer Kühnheit und Einfachheit. Mit wenigen, sorgfältig ausgewählten Bildelementen schafft sie eine harmonische, geometrisch durchdachte Komposition, die durch eine einzigartige Integration von Bildfläche, Bildraum und Strukturen gekennzeichnet ist.

Der Moorkanal als Zeichen einer anthropozänen Landschaft

In ihren Briefen und Tagebucheinträgen hält Paula Modersohn-Becker fest, wie berauschend sie das Leben im Moor empfindet:   

„[…] Mein erster Abend in Worpswede. In meinem Herzen Seligkeit und Frieden. Um mich herum die köstliche Abendstille und die vom Heu durchschwängerte Luft. Über mir der klare Sternenhimmel. Da zieht so süße Seelenruhe ins Gemüt und nimmt sanft Besitz von jeder Faser des ganzen Seins und Wesens. Und man giebt sich ihr hin, der großen Natur, voll und ganz und ohne Vorbehalt. […] Und sie nimmt uns und durchsonnt uns mit ihrem Übermaß voll Liebe, daß solch ein kleines Menschenkind ganz vergißt, daß es von Asche sei, daß es zu Asche werde. […]“ 27

 –  Paula Modersohn-Becker, Brief an Cora von Bützingslöwen, Worpswede, 7. September 1898  

Für die Künstlerin wurde die Landschaft um Worpswede zur „Seelenruhe”. In ihren Briefen beschreibt sie Worpswede als Ort ihrer inneren Einkehr und Glückseligkeit. Sich der Natur hinzugeben, erfüllt sie mit einer tiefen, alles durchdringenden Ruhe und Liebe, die sie ihre eigene Vergänglichkeit und ihr Menschsein vergessen lässt. 

Ausgehend von Modersohn-Beckers Aufzeichnungen zeichnet sich ein Bild des Teufelsmoors, als eine Mischung aus besiedelten Teilen, trockengelegten Moorflächen und intakten Mooren. Die Moorlandschaften, deren Zauber bewundert wird, haben sich durch menschliche Eingriffe allerdings massiv transformiert. Die Werke der Worpsweder Künstler:innen vermitteln zwar die große Anziehungskraft, die das Teufelsmoor entfaltet, die Präsenz der geraden, die Landschaft wie Linien durchziehenden, Kanäle sind aber auch Zeugen der menschlichen Eingriffe zum Ressourcenabbau, die das Moor um 1900 bereits gezeichnet hatten. Die Kanäle und Gräben, denen Modersohn-Becker Bildthemen widmet, dienen der Entwässerung des Moores und sind zugleich Transportwege, über die mit Torfbooten das Abbauprodukt aus den Mooren geschafft wird. 

Abb. 8: Paula Modersohn-Becker: Moorkanal mit Torfkähnen, um 1900, Pappe auf Hartfaser, 40 × 53,5 cm, Privatbesitz, in:
Diathek des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München.

Im Werk Moorkanal mit Torfkähnen (Abb. 8) zeigt Paula Modersohn-Becker eine Flusslandschaft, in der am linken Bildrand drei Boote am Ufer vertäut sind. Mit Ausnahme eines schmalen Streifens am oberen Bildrand, der den Himmel darstellt, nehmen der Fluss und seine Ufer die gesamte Bildfläche ein. Das Flusswasser bildet eine ruhige Fläche und reflektiert den, sich außerhalb der Bildgrenzen befindenden Himmel und die Umgebung. Die Ufer des Flusses sind mit grün-brauner Vegetation bedeckt. Die Farbgebung ähnelt der erdigen, gedämpften Farbpalette des Moorgrabens (Abb. 1). Der Blick der Betrachter:innen wird durch die drei Torfkähne ins Bild gelenkt, die als Verweis auf die lange Tradition des Torfabbaus gelesen werden können und gleichzeitig Zeugen des menschlichen Eingriffs in das Moor sind.      

Zur Geschichte der Moorkolonisation in Norddeutschland

Als CO2-Speicher und Hort ökologischer Vielfalt werden Moore heute als kostbare Ökosysteme geschätzt. Im 17. Jahrhundert war das noch anders. Bevor sie erschlossen wurden, galten sie als Ödland, unberechenbar und gefährlich. Die ersten Versuche, Moore zu bändigen, stellten die Fehnkolonien des 17. Jahrhunderts nach niederländischem Vorbild dar. Infolge des Dreißigjährigen Kriegs erzielte Torf hohe Preise. Systematisch wurden Moore mit Gräben durchzogen, die zunächst der Entwässerung der Moore dienten und später für den Abtransport des Torfs genutzt wurden. Ab 1750 intensivierte sich die menschliche Nutzung der Landschaften mittels Wasserbauten: Staudämme wurden errichtet, Flüsse begradigt, Moore und Sümpfe trockengelegt, um sie urbar zu machen und ihre Ressourcen zur Energiegewinnung zu nutzen.28

Etwa Mitte des 18. Jahrhunderts begannen die Worpsweder mit der Kolonisierung des Teufelsmoors.29 Der amtlich bestellte Kommissar Jürgen Christian Findorff leitete das Entwässerungsprogramm.30 Er ließ ein weitverzweigtes Entwässerungssystem anlegen, dessen Gräben in die Flüsse Hamme und Wümme münden. 

„Der Kanal war entscheidend für das Leben in der Fehnkolonie. Er entwässerte das Moor und war der Verkehrsweg, auf dem der Torf und die Agrarprodukte für den Markt abtransportiert und Bedarfsgüter wie Düngemittel und Baumaterial herangeschafft werden konnten. […] Die Bedeutung des Kanals ging über das Ökonomische hinaus; er war Symbol für die Verbindung mit der großen Welt“ 31

Die Moorkanäle waren die Lebensadern der Kolonien. Die Erschließung der Moore durch die Gräben stand in Verbindung mit Wohlstand, Gesundheit und Fortschritt. Dabei war die Qualität der Kanäle entscheidend für den Erfolg der Kolonien. Einige der Bewohner:innen der Fehnkolonien lebten in Armut oder gaben die Unternehmen wieder auf.32

Mit der Blüte der Fehnkolonien um 1850 nimmt die Bedeutung von Kohle als Brennstoff zu. Torf als Ressource koexistiert aber weiterhin und die Moorausbeutung bleibt bestehen. Moorkolonien können als Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Ökosysteme verstanden werden, die Moorkanäle als Symbole für die zerstörerische Ausbeutung. Die Gräben schlagen schnurgerade Schneisen durch die Landschaften, die das Wachstum der Moore hemmen und die organische Substanz der Moore zum Verbrennen abtransportieren.33

Fazit

Paula Modersohn-Beckers Mooransichten lassen nicht nur die starke emotionale Kraft, die die Landschaften auf Betrachtende ausüben, spüren, sondern zeigen auch wie sehr Menschen das Moor bereits mit ihren Linien durchzogen (vgl. Abb. 1 und 2) und für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben. In Form des Grabens selbst ist diese andauernde Geschichte der Extraktion das zentrale Bildmotiv.  Paula Modersohn-Becker unterstreicht dies, wohl unbewusst, durch das Aneinanderreihen gerader Linien und geometrischer Bausteine, die ihre Bildkompositionen bilden. 

Damit stehen die Moorkanäle als Bildmotiv der Künstler:innen des Worpsweder Kreises im Widerspruch zu ihrer heilsamen Verklärung des Moors als Ort, dem die Kraft des Ursprünglichen, des Lyrisch-Märchenhaften innewohnt, wie es aus den Tagebucheinträgen und Briefen Paula Modersohn-Beckers nachzulesen ist, wenn sie etwa von „Versunkene-Glocke-Stimmung!”34 oder dem Moor als „ein Wunderland, ein Götterland”35schreibt. Es reibt sich auch mit den in der Lebensreform, von deren Ideen Modersohn-Becker inspiriert war, verbreiteten Hinwendung zur Natur. Diese wird zum Refugium, zur Zuflucht vor den unerwünschten Nebeneffekten urbaner Gesellschaften und technischer Entwicklungen. Die Natur galt als „Gleichnis für das Unberührte, das Ewige und Unwandelbare”.36 Die Moorgräben und Kanäle sind einerseits Vermittler der Ruhe und Kraft mit der das Worpsweder Umland auf die Künstler:innen wirkte. Gleichzeitig sind sie, insbesondere aus Perspektive heutiger Betrachter:innen, Zeichen für ausbeuterische menschliche Eingriffe in das Moor. Mit dem heutigen Wissen um die Krisen des Anthropozäns betrachtet, scheint die Wahl von Moorgräben als Motiv paradox angesichts Modersohn-Beckers Begeisterung für das Moor. Die Kanäle scheinen für heutige Augen ein Symbol für die negativen Auswirkungen menschlicher Interventionen und den Verlust der ursprünglichen Unberührtheit der natürlichen Moorlandschaft. 

Biografie

SARAH FELIX und LINDA ALPERMANN sind wissenschaftliche Volontärinnen bei den staatlichen Kunstsammlungen Dresden und haben beide an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Sarah studierte Europäische Ethnologie und Linda Kunst- und Bildgeschichte sowie Geschichte. Im Rahmen eines Studienprojekts beschäftigte sich Sarah mit der Renaturierung von Köpenicker Mooren, insbesondere den Multispeziesbeziehungen des Sonnentaus, einer fleischfressenden Moorpflanze. Zu Linda Forschungsinteressen gehört die Malerei der Klassischen Moderne. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Kunst von Künstlerinnen. 

Subversive Schöpfungen. Zur Inszenierung von weiblicher Macht in Judy Chicagos „The Dinner Party“ und Carolee Schneemanns „Interior Scroll“, 2023 – Linda Alpermann

In ihrem Essay analysiert Linda Alpermann zwei ikonische, wegweisende Werke der feministischen Kunst der 1970er Jahre in den USA: Judy Chicagos The Dinner Party (1974-1979) und Carolee Schneemanns Interior Scroll (1975). Während Chicago in ihrer Installation Künstlerinnen, Literatinnen, Aktivistinnen sowie weitere weibliche historische (und fiktive) Persönlichkeiten, aber auch weiblich konnotiertes Kunsthandwerk feiert, wagt sich Schneemann für ihre Zeit in radikalerer Weise vor, indem sie den weiblichen Körper, weibliche Sexualität und die Gebärmutter als Quelle des Wissens und der Kreativität darstellt. Der Vergleich beider Werke wirft Licht auf unterschiedliche Strategien, wie Künstlerinnen der 1970er Jahre die Wahrnehmung von Frauen transformieren wollten, indem sie Weiblichkeit bzw. den weiblichen Körper als Quelle von Macht präsentierten. In der Synthese der beiden Ansätze offenbart sich eine reiche Schichtung von Bedeutungen und Interpretationen, die nicht nur die damalige Zeit reflektieren, sondern auch weiterhin relevante Fragen zur Repräsentation von Frauen in Kunst und Gesellschaft aufwerfen.

In den schillernden Kaskaden der 1970er Jahre, einer Ära der Umbrüche und des Aufbegehrens, entfaltete sich in den USA eine feministische Kunstbewegung, die nicht nur die Kunstwelt durchdrang, sondern das Wesen von Weiblichkeit als solche herausforderte. Künstler:innen dieser Bewegung brachen nicht nur mit den künstlerischen Konventionen ihrer Zeit, sondern schufen Werke von atemberaubender Emanzipation und Provokation. In diesem Essay werden zwei ikonische Kunstwerke dieser Bewegung näher beleuchtet, Judy Chicagos Installation The Dinner Party (1974-1979) und Carolee Schneemanns Performance Interior Scroll (1975), zwei Werke, die konventionelle Denkweisen eroberten und umstürzten – zwei subversive Schöpfungen. 

Feministisches Rumpeln 

Die Kunsthistorikerin Laura Meyer beschreibt den Beginn der Veränderungen innerhalb der US-amerikanischen Kunstwelt der 1970er Jahre zynisch überspitzt als „feminist rumblings“, also feministisches Rumpeln.12

Für die offenkundig sexistischen Praktiken von Museen, kommerziellen Galerien und kritischen Fachzeitschriften der Zeit waren Künstlerinnen, so Meyer, die für ihre Rechte einstanden, sich gegen Geschlechterdiskriminierung14 einsetzten und den Kanon hinterfragten, offenbar eine unliebsame Herausforderung.30 Vermeintliche Normen der männlich dominierten Kunst- und Museumswelt wurden hier radikal infrage gestellt – ein Dorn im Auge vieler (Männer). 

Ein Meilenstein stellt Linda Nochlins revolutionärer Aufsatz Why Have There Been No Great Women Artists? dar, der im Januar 1971 in ARTnews erscheint. Die Publikation führt zu einer schärferen Bewusstseinsbildung bezüglich systemischer Hindernisse, mit denen Frauen in der Kunst konfrontiert sind und trägt außerdem dazu bei, institutionelle Veränderungen herbeizuführen, angefangen durch feministische Kunstprogramme oder die Gründung von Frauengruppen und -kollektiven.34 Zum anderen führt das Essay dazu, die vergessenen oder übersehenen Beiträge von Frauen in der Kunstgeschichte hervorzuheben. Kunstgeschichtliche Erzählungen werden kritisch hinterfragt, um die Rolle von Frauen angemessen zu würdigen und die bisherige Wahrnehmung und Darstellung von Frauen in der Kunst werden zunehmend infrage gestellt.35 Dazu gehörte auch die Sichtbarmachung des Ungleichgewichts und des Machtgefälles zwischen Männern und Frauen. Die feministische Kunstbewegung der 1970er Jahre markiert hier einen entscheidenden Wendepunkt, indem sie Vorstellungen von Weiblichkeit in Bezug auf Macht und Selbstermächtigung transformiert. 

Judy Chicagos The Dinner Party (1974-1979) 

Abb. 1: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Installationsansicht, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. 
Abbildungsnachweis: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Installationsansicht, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. © ARS, NY, Foto: © Donald Woodman. 

Zwischen 1974 und 1979 realisiert Judy Chicago das multimediale Werk The Dinner Party (Abb. 1). Es handelt sich hierbei um eine Kunstinstallation, die zunächst im Museum of Modern Art in San Francisco gezeigt wurde.37 Die Installation besteht aus einem dreieckigen Esstisch mit 39 Plätzen, die für bemerkenswerte historische sowie fiktive Frauen reserviert sind. Das Dreieck ist ein Symbol für Weiblichkeit und repräsentiert zudem Gleichheit. Die 39 Tischgedecke sind gleichmäßig auf 13 Plätze auf jeder der drei Seiten des Tisches verteilt. Die Zahl 13 kann als Verweis auf das Letzte Abendmahl ebenfalls als bedeutend gewertet werden.38 Dies würde nahelegen, dass es in dem Werk um die Zusammenkunft der vertretenen Frauen geht und nicht um die Frauen als Individuen.39 Zu den Frauen, die am Esstisch geehrt werden, gehören Künstlerinnen, Autorinnen, Frauenrechtsaktivistinnen, aber auch Göttinnen, Heilige und Märtyrerinnen. In historischer Abfolge sind das am ersten Tischflügel beispielsweise die Pharaonin Hatschepsut, die antike griechische Dichterin Sappho sowie die hinduistische Göttin Kali. Am zweiten Flügel folgt eine der berühmtesten Frauen des Mittelalters, Eleonore von Aquitanien, aber auch die Universalgelehrte Hildegard von Bingen, außerdem etwa Petronilla de Meath, die als erste Frau in Irland als Hexe angeklagt und verbrannt wurde. Am dritten Flügel versammelt Chicago beispielweise die Künstlerin Georgia O’Keeffe, die Dichterin Emily Dickinson und Sojourner Truth, Frauenrechtlerin, Aktivistin und ehemals Versklavte, die sich für die Abschaffung von Sklaverei eingesetzt hatte – eine der leider nur wenigen PoCs am Tisch.40 Chicagos Arbeit versucht die kulturellen und intellektuellen Errungenschaften dieser Frauen, aber auch ihre Bedeutung für die Gesellschaft von heute zu vereinen und zu feiern.41 Hierzu führt sie nicht nur bestimmte weiblich gelesenen Persönlichkeiten an einer gedeckten Tafel zusammen, sondern zelebriert auch weiblich konnotiertes Kunsthandwerk: Keramik- und Textilkunst. 

Abb. 2: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Detailansicht, Gedeck der Sappho im Vordergrund, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum.
Abbildungsnachweis: Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Detailansicht, Gedeck der Sappho im Vordergrund, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. © ARS, NY, Foto: © Donald Woodman. 

Zu den Bestandteilen eines jeden Tischgedecks gehören Tischdecke, Teller, Besteck, Kelch und ein Namensschriftzug (Abb. 2, vgl. Abb. 5). Die Gestaltung jedes Platzes ist einzigartig und soll die Persönlichkeit und Leistungen der dargestellten Frau widerspiegeln. Die Teller zeigen (zweidimensional als Bild oder dreidimensional als Skulptur) bunte, aufwendig gestaltete Vulven, die in ihrer Form auch an Blumen und/ oder Schmetterlinge erinnern. Die „butterfly/cunt“-Motive42 sollen simultan die Natur, in Form von Schmetterlingen, Blumen, Muscheln, Fleisch und Wäldern, sowie weibliche Geschlechtsteile darstellen, als Quelle des Lebens.43 Chicago greift damit auf ihre bereits in den 1960er Jahren entwickelte zentralisierte Bildsprache zurück, die sich auf persönliche Körpererfahrungen beruft und diese Erfahrungen zur Anschauung bringen soll.44 Die (flache) florale Gestaltung des Tellers beim Platzgedeck der antiken Dichterin Sappho von der Insel Lesbos (Abb. 2) bezieht sich zum Beispiel auf bestimmte Blumen, die Darstellungen von Sappho häufig begleiteten.45 In Sapphos Stücken finden sich zudem viele Naturbilder und florale Metaphern. Der aufwendig gestaltete Teller von Margaret Sanger (Abb. 3) erinnert wiederum explizit an die weiblichen Fortpflanzungsorgane und Blut. Sanger war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Vorreiterin im Kampf für die reproduktiven Rechte von Frauen. Judy Chicago stellt sich den Sanger-Teller als eine Mischung zwischen der Schmetterlingsart Cymothoe sangaris, die sich durch ihre blutrote Färbung auszeichnet (vgl. Abb. 4) und einem Blutopfer vor – „all red … a sacrificial figure & herself simultaneously (or a goddess connected to blood sacrifice).“46 Die blutrote Farbe des Tellers erinnert an das Blutvergießen vieler Frauen, die bei der Geburt oder infolge illegaler und/ oder unsicherer Abtreibungen sterben. Die Dreidimensionalität des Tellers soll wiederum ausdrücken, dass Sanger zu den Frauen gehörte, die in ihren Kämpfen um die Befreiung von der Begrenztheit und der Enge des Frauseins besonders aktiv wurden und sich loslösten von den geschlechtlichen Rollenzuschreibungen, die sie erlebten: „I decided that I would like the plate images to physically rise up as a symbol of women’s struggle for freedom.“47, so Chicago. Auch die Tischläufer und Tischdecken tragen vielschichtige Bedeutungen in sich: Bei Sappho (Abb. 2) ist das S in ihrem Namen mit einer Leier verziert, ein Instrument, das den Vortrag ihrer Gedichte oft begleitete.

Abb. 3: Detailansicht, Teller der Margaret Sanger, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. 
Abbildungsnachweis: Detailansicht, Teller der Margaret Sanger, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. © ARS, NY, Foto: © Donald Woodman.
Abb. 4: Cymothoe sangaris (Godart, 1824), auch Blutroter Gleiter, Dorsalansicht, 12. November 2013. 
Abbildungsnachweis: Cymothoe sangaris (Godart, 1824), auch Blutroter Gleiter, Dorsalansicht, 12. November 2013. © Didier Descouens, CC BY-SA 4.0.

Der Läufer von Caroline Herschel (vgl. Abb. 5), Pionierin in der Astronomie und die erste Frau, die einen Kometen entdeckte, ist reich illustriert und mit Bildern aus dem Kosmos bestickt, darunter Wolken, Sterne und Darstellungen der acht Kometen, die Herschel entdeckte. So verweist Chicago auf Herschels Errungenschaften und Bedeutung als Astronomin. 

Abb. 5: Detailansicht, Gedeck der Caroline Herschel, Fokus Läufer, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum. 
Abbildungsnachweis: Detailansicht, Gedeck der Caroline Herschel, Fokus Läufer, Judy Chicago, The Dinner Party, 1974-1979, Keramik, Porzellan, Textil, 14,63 × 14,63 Meter, New York City, Brooklyn Museum, in: Schirn Kunsthalle Frankfurt u.a. (Hrsg.): Judy Chicago. The Dinner Party, Frankfurt a. M. 1987, Bildteil. 

Der mit handgefertigten Porzellanfliesen ausgelegte Boden, auf dem Chicagos dreieckige Tafel steht, trägt ebenso Bedeutung in sich. Der Heritage Floor ist mit den Namen von 999 weiteren bemerkenswerten Frauen beschriftet (vgl. Abb. 1 und 2). Die Frauen, die an der Tafel „sitzen“, erheben sich aus den Fundamenten der 999 Frauen auf dem Heritage Floor. Jede dieser Frauen, so Chicago, habe entweder einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft geleistet, ihr Leben und Werk wichtige Aspekte der Frauengeschichte beleuchtet oder sie habe als Vorbild für eine gerechtere Zukunft gedient.48

Eine weitere Ebene, die die kollektive Kraft von Frauen widerspiegelt, wenn sie sich zusammenschließen, liegt in der Produktion des Kunstwerks selbst. Tatsächlich sind mehr als 400 Personen an der Fertigstellung der Installation beteiligt gewesen. Dazu gehören nicht nur weitere Keramik-, Textil- und Stick-Künstler:innen, sondern auch Tischler:innen, Industriedesigner:innen, Verwaltungspersonal und Forscher:innen.49

Carolee Schneemanns Interior Scroll (1975)

Abb. 6: Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate.
Abbildungsnachweis: Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate. © ARS, NY und DACS, London 2020, Foto: © Tate. 

Carolee Schneemann performt Interior Scroll zum ersten Mal am 29. August 1975 innerhalb der Ausstellung Women Here and Now in East Hampton, New York (Abb. 6).50 Das Publikum bestand vor allem aus Künstlerinnen, die in den Sommermonaten in East Hampton arbeiteten. Innerhalb der Performance geht sie zunächst auf einen Tisch zu, zieht sich vor dem Tisch aus, wickelt sich in Bettlaken und klettert auf den Tisch. Dann liest sie aus ihrem Buch Cézanne, She Was A Great Painter vor (Abb. 7). Sie lässt das Laken fallen und trägt, den Konturen ihres Körpers folgend, dunkle Farbe auf Gesicht und Körper auf und präsentiert eine Reihe verschiedener Modelposen („action poses“)51, während sie weiterhin aus ihrem Buch vorliest (vgl. Abb. 7). Sie bezieht sich mit den Posen auf die Geschichte von Frauen, die für den männlichen Blick posiert haben und von diesem wiederum beeinflusst wurden.52 

Abb. 7: „Modelpose“, Momentaufnahme, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Performance in der Ausstellung „Women Here and Now„, East Hampton, New York, 29. August 1975.
Abbildungsnachweis: „Modelpose“, Momentaufnahme, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Performance in der Ausstellung „Women Here and Now„, East Hampton, New York, 29. August 1975, in: Brandon Taylor: Kunst heute, Köln 1995, S. 27.

Schneemann entfernt dann das letzte Laken und zieht ein langes, schmales, aufgerolltes Stück Papier aus ihrer Vagina – sie gebärt es –, während sie dessen Inhalt laut vorliest (Abb. 6, vgl. Abb. 8). Der Text auf der Schriftrolle beruht auf verschiedenen (feministischen) Texten (vgl. Abb. 6), beispielsweise aus dem Film Kitch’s Last Meal sowie dessen Filmkritiken, den Schneemann 1973 mit einem Filmemacher begonnen hatte, der später der Meinung war, dass Frauen nur zu stereotypischen Eigenschaften, bestimmten Emotionen und Sensibilität etwa, fähig seien.53 Indem sie die Papierrolle mit diesen Texten aus ihrer Vagina zieht, möchte Schneemann ausdrücken, dass nur Frauen selbst darüber sprechen sollen, wozu diese fähig sind. Für Schneemann ist der weibliche Körper außerdem Quelle des Wissens und der Kreativität. 

“I related womb and vagina to ‘primary knowledge,’ with strokes and cuts on bone and rock by which I believed my ancestor measured her menstrual cycles, pregnancies, lunar observations, agricultural notations – the origins of time factoring, of mathematical equivalences, of abstract relations.” 54 

Carolee Schneemann, 2003 
Abb. 8: Detailansicht von Abb. 6, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate.
Abbildungsnachweis: Detailansicht von Abb. 6, Carolee Schneemann, Interior Scroll, 1975, Detailansicht, Rote Bete-Saft, Urin und Kaffee auf Siebdruck auf Papier, 90,5 x 183 Zentimeter, London, Tate. © ARS, NY und DACS, London 2020, Foto: © Tate. 

Schneemann setzt sich also nicht nur mit der „praktischen“ Bedeutung weiblicher Genitalien auseinander, insbesondere der Vagina als Geburtskanal, sondern ihrer symbolischen Gewichtigkeit als Verbindung zu den Vorfahrinnen aller Frauen und deren Wissen und Praktiken des Wissenstransfers.55

Künstlerische Huldigung vs. radikale Körperlichkeit

Ein Vergleich beider Werke bietet faszinierende Analysemöglichkeiten in Bezug auf die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Idee von „feministischer Kunst“.56 Während Chicago fiktive und nicht-fiktive Personen, wegweisende Frauen der Geschichte, wie Aktivistinnen, Autorinnen, Künstlerinnen und deren Errungenschaften sowie weibliches Kunsthandwerk zelebriert, inszeniert Schneemann sich und ihren Körper, indem sie den weiblichen Körper als solchen, weibliche Sexualität und die Gebärmutter als Quelle des Wissens feiert. In ihrer provokanten Performance bricht sie mit traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit, betont und präsentiert offensiv den weiblichen Körper – insbesondere die Gebärmutter – als potente Quelle der Identität und Schöpfung. Während Chicago die Wahrnehmung von Frauen verändert, indem sie auf die Unterschiede in der historischen Repräsentation von Männern und Frauen hinweist, tritt Schneemann mit ihrer expliziten Darstellung weiblicher Sexualität und des weiblichen Körpers provokanter auf, da sie ihr Publikum und deren Sehgewohnheiten in Bezug auf die Zurschaustellung des weiblichen Körpers (in der Kunst) herausfordert.57 Diese beiden Herangehensweisen spiegeln die Bandbreite der Möglichkeiten wider, wie Künstlerinnen der 1970er Jahre in den USA die Wahrnehmung und Repräsentation von Weiblichkeit umgestalten wollten. Während es Chicago eher um kollektive Errungenschaften und Erfahrungen von Frauen geht, die sie als Gegenstück zu männlichen Narrativen positioniert, wählt Schneemann eine persönlichere, körperliche Manifestation weiblicher Kraft und Intimität. Beide Werke vereinen jedoch in sich, dass sie Kraft und Macht aus Weiblichkeit schöpfen. 

Kitsch als weibliche Kunst? 

Chicago nähert sich Weiblichkeit und der Idee von weiblicher Macht, indem sie zum einen bestimmte Frauen und weiblich gelesene Persönlichkeiten sowie gleichzeitig der oftmals als „niedere Kunst“ wahrgenommenen Handwerkskunst Tribut zollt. Viele derjenigen, die The Dinner Party bei seiner ersten Ausstellung sahen, empfanden die dramatische Betonung der Leistungen von Frauen als eine resonierende Botschaft für die Ziele der Frauenbewegung zu dieser Zeit. Kritiker haben die Installation jedoch als eine Art „Anomalie, losgelöst von der Kunstgeschichte“ betrachtet und es als Kitsch abgetan.58 Nach Laura Meyer markiert The Dinner Party einen Einschnitt in Chicagos Selbstverständnis als Künstlerin.59 Das Werk würde die Entwicklung von Chicagos Finish Fetish in den frühen 1960er Jahren bis hin zum feministischen Kunstbildungsprogramm (Feminist Art Program, kurz: FAP) zeigen, das sie 1970 am Fresno State College etablierte.60 Hier lehrt Chicago ihren Schülerinnen zum Beispiel, dass diese ihre eigenen Erfahrungen als Frau als Grundlage ihrer Kunst(produktion) nehmen sollten.61

Finish Fetish wollte visuelle Erlebnisse beim Betrachten von Kunstwerken in den Vordergrund stellen. Kunstwerke des Finish Fetish wurden oft mit der Einfachheit und Abstraktion des Minimalismus in Verbindung gebracht, während sie auch über leuchtende Farben und Bezüge zur Popkultur eine Verbindung zur Pop-Art herstellten. In The Dinner Party kombiniert Chicago den dreieckigen, symmetrischen Tisch mit handgefertigten, knallbunten Tellern und Tischläufern, mit Bildern von weiblichen Genitalien. Daher ergibt sich Meyers Verweis auf Finish FetishThe Dinner Party ist heute noch bekannt für die opulente Gestaltung (sowohl in Bezug auf die Größe, die Materialität als auch die Farbigkeit). Damit weicht das Werk von der vermeintlich „schlichten“ Ästhetik ab, die beispielsweise Donald Judd oder Agnes Martin in den 1960ern und 1970ern im Minimalismus vertreten. Die Betitelung von Chicagos Arbeit als Kitsch liegt somit wohl irgendwo zwischen der Abkehr von den von zeitgenössischen Kritiker:innen akzeptierten künstlerischen Strömungen, aber auch der (bewussten und unbewussten) Misogynie vieler Kritiker:innen begründet, die Künstlerinnen nicht zutrauten „wertige“ Kunst zu schaffen und darüber hinaus handwerkliche Techniken wie Keramik und Stickerei nicht als bedeutend betrachteten.   

Performance-Kunst zwischen Kritik und Chance 

Judy Chicago äußerte Zweifel an der Qualität von rohen Performances und temporären Installationen, die sie zunächst vermehrt den Studentinnen in ihrem Kunstprogramm nahegelegt hatte.62 Mit The Dinner Party findet sie dann eine Möglichkeit die didaktische Klarheit der Experimente im FAP mit einer dauerhaften Ausdrucksform zu verbinden. Damit stellt sie die Dauerhaftigkeit einer Installation der Kürze einer Performance gegenüber, ohne aber zu erkennen, welche Stärke in Performances liegen kann. Die besondere Kraft einer Performance liegt in ihrer Körperlichkeit, der darin innewohnenden Intimität, aber auch der Herausforderung und dem Brechen der Sehgewohnheiten des jeweiligen Publikums.63

Mit Performances bot sich für Künstlerinnen wie Carolee Schneemann die Möglichkeit sich auf den Alltag und den menschlichen Körper zu konzentrieren. Kunstschaffende versuchten hier traditionelle Unterscheidungen zwischen Leben und Kunst zu überwinden. Wenn nun der (eigene) Körper zum Material für das hergestellte Kunstwerk wird, eröffnen sich neue Dimensionen: Der Körper wird zur Leinwand, was das Kunstwerk aus sich heraus viel intimer machte. Die feministische Performance-Kunst der 70er Jahre stellt aber nicht nur die Trennbarkeit von Künstler:in und Kunstwerk infrage, sondern fungiert auch als Ventil für eine offensivere Vermittlung der Botschaften der Bewegung. Weiblichkeit wird plötzlich intensiver. Schneemann will den weiblichen Körper explizit als etwas ausschließlich Positives und Machtvolles präsentieren. Er muss nicht verborgen oder verändert werden, um dem Auge der betrachtenden Person zu gefallen. Damit wendet sie sich rigoros gegen kanonische Darstellungen des weiblichen Körpers, die diesen meist als passiv, fragil und unterwürfig zeigen und/ oder stilisiert, objektifiziert sowie den Schönheitsidealen der jeweiligen Zeit entsprechend.64

Anatomie und Autonomie in Aktion 

Feministische Kunstperformances der 1970er Jahre wollen meist die Ausbeutung und Objektifizierung des weiblichen Körpers kritisieren. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als würde Schneemann hier ungewöhnlich vorgehen, indem sie so präsent ihren nackten Körper präsentiert. Sie zeigt allerdings wie stark und unabhängig der weibliche Körper ist. Mit ihrer Performance drückt Schneemann ihre Gedanken zum weiblichen Körper und dem Uterus als Quelle von Wissen und Macht aus.65 In Interior Scroll sind die weiblichen Geschlechtsorgane dementsprechend durch das „Gebären“ der Schriftrolle (vgl. Abb. 6 und 8) äußerst präsent.

Die Vulven in The Dinner Party sind dagegen Symbol für den unterschiedlichen Umgang von Frauen und Männern in der männlich dominierten Kunstszene, mit der sich Chicago seit Beginn ihrer Karriere kontinuierlich konfrontiert sieht: Hierzu ersetzt sie den Phallus, als tausende Jahre altes Symbol für Kraft und Fruchtbarkeit (bewusst und unbewusst genutzt zur Repräsentation männlicher Herrschaft, Dominanz und Autorität), durch 39 Vulven. 

Fazit

Durch die Untersuchung der beiden Werke von Judy Chicago und Carolee Schneemann in Bezug auf die Darstellung von (weiblicher) Macht in der feministischen Kunst der 1970er Jahre wird nicht nur das historische Erbe dieser Bewegung beleuchtet, sondern auch die fortwährende Relevanz dieser Themen in der zeitgenössischen Kunstwelt und heutiger gesellschaftlicher Strukturen. Die beiden Werke dienen nicht nur als künstlerische Meilensteine, sondern als Erinnerung daran, wie Kunst als kraftvolles Mittel der Selbstermächtigung dienen kann. 

Chicago präsentiert weibliche Macht, indem sie Betrachtende dazu anregt, über die großen Leistungen und Errungenschaften von Frauen nachzudenken, ihre Persönlichkeiten als solche zu würdigen und sie nicht zu vergessen und zum anderen indem sie die Gleichwertigkeit von Handwerkskunst zur vermeintlichen „Hochkunst“ präsentiert. Schneemann hingegen visualisiert ihre Interpretation weiblicher Macht, indem sie gegen traditionelle Geschlechterrollen aufbegehrt, besonders in Bezug auf die die Wahrnehmung und Darstellung des weiblichen Körpers, und einen explizit sexuellen und befreiten weiblichen Körper inszeniert. Sie möchte den weiblichen Körper aus den Einschränkungen und Begrenzungen befreien, mit denen dieser in der Gesellschaft konfrontiert wird. Sie setzte sich dafür ein, die Stimmen und die Weisheit von Frauen zurückzufordern.66 Beide Künstlerinnen beschäftigen sich somit mit weiblicher Identität, den kollektiven Erfahrungen von Frauen und den herkömmlichen Geschlechterkonstruktionen und -rollen sowie den traditionellen Kunstnormen. 

Chicago und Schneemann spiegeln allerdings auch ihr eigenes Grundverständnis ihrer Arbeit als Künstlerinnen wider. Beide bereiten mit ihren Arbeiten kraftvolle künstlerische Aussagen und repräsentieren bestimmte Ideen und Botschaften. Bei Chicago steht die Anerkennung und Würdigung weiblicher Geschichte(n), Errungenschaften und Erfahrungen im Vordergrund und bei Schneemann die Befreiung des weiblichen Körpers von gesellschaftlichen Einschränkungen und die Verankerung sexueller Autonomie. Beide Arbeiten können damit als künstlerische Manifeste gelesen werden. Sie sind aber zugleich dynamische Schlachtfelder der Neudefinition und Neupositionierung weiblicher Macht und Identität im Kontext ihrer Zeit. Denn beide Werke positionieren die Frau nicht mehr als passive Figur, sondern als aktive Gestalterin von Geschichte, Kultur und eigener Lebenswirklichkeit sowie den weiblichen Körper nicht länger als Objekt, sondern als Subjekt der Selbstbestimmung. Weibliche Macht und Identität werden hier im Kontext einer Neubewertung weiblicher Geschichte, aber auch von Sexualität und Selbstausdruck nachdrücklich neu verhandelt. 

Ausblick

Angesichts der anhaltenden Herausforderungen in Bezug auf die Repräsentation von Frauen, Weiblichkeit und dem weiblichen Körper in der Kunstwelt könnte dieser Essay auch als Ausgangspunkt für weitere Forschungen dienen. Die Analyse der beiden Künstlerinnen und ihrer Werke lässt Raum für verschiedene Erweiterungen und Blickwinkel. In einer weiterführenden Untersuchung könnten auch Fragen von queeren Positionen in der feministischen Kunst aufgegriffen werden. Interessant wäre auch die Auseinandersetzung mit der Kritik, dass der Feminismus dieser Zeit und damit auch feministische Kunst nicht ausreichend intersektional gedacht wurde, was den Blick auf diverse Dimensionen von Unterdrückung und Diskriminierung lenken würde. 


Biografie

LINDA ALPERMANN ist Kunst- und Bildhistorikerin und derzeit wissenschaftliche Volontärin bei den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Sie studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Museumsmanagement in Berlin und London. In Berlin hat sie für die Alte Nationalgalerie, das Deutsche Historische Museum und das Museum Europäischer Kulturen gearbeitet. Ihre Forschungsinteressen liegen in der musealen Provenienz- und Sammlungsforschung, besonders in kolonialen Kontexten, der Malerei der klassischen Moderne, aber auch Post-War American Art.