Anhand des Schlafzimmerentwurfs von Adolf Loos für seine Ehefrau wird die Rolle der Frau in der Wiener Moderne verhandelt. Das Schlafzimmer wird sexuell aufgeladen und gleichzeitig mit einem Käfig verglichen. Dabei wird eine Analogie zwischen dem Taktilen und dem Weiblichen gezogen und Loos‘ Abneigung gegenüber dem Ornament hinterfragt. Die Autorin arbeitet ein wiederkehrendes Muster in dem Zurschaustellen von Loos‘ Angebeteter heraus. Loos’ Raumgestaltungen können dabei Machtstrukturen herstellen und eine Imagination bedienen.
Der Tastsinn ist in einer Zeit, in der die COVID-19-bedingte soziale Distanzierung gefordert wird, zur neuen Grenzlinie avanciert, oder wie Paul B. Preciado feststellt: „The new frontier is your epidermis.“1 Zu Beginn der Epidemie waren wir davon abgeschreckt, jede potenziell kontaminierte Oberfläche zu berühren. Auf jeden Fall ist das Streifen von Menschen an öffentlichen Orten zu vermeiden (da das Bewegen durch letztere sich nicht vermeiden lässt) und physischer Abstand zu halten. Dies hat zur Folge, dass es zur Zeit keine freundschaftlichen oder vertrauten Umarmungen und Küsse zwischen guten Bekannten mehr gibt, keine neugierigen Berührungen einer Oberfläche, zur Erforschung eines Materials, der Haut oder der Kleidung von jemandem, mit dem man nicht verpartnert ist oder mit dem man nicht zusammenlebt. Und immerzu: Berühren Sie nicht Ihr Gesicht – oder das Ihres Gegenübers (bevor Sie nicht Ihre Hände gründlich gewaschen haben)! Plötzlich ist der körperliche Kontakt eines:einer Fremden nicht mehr eine rüde Begegnung auf der Straße und unerwartete Nähe, weder ein Moment der Kontingenz noch der Belästigung, sondern potenziell gefährlich. Berührung ist plötzlich zum Privileg der Gebundenen und derer geworden, die als Familie oder im häuslichen Verbund zusammenleben. Zu einer Zeit, in der wir immer mehr auf das subtil personalisierte, massenmediale Visuelle fixiert sind, brachte das Coronavirus nicht nur die Bedeutung von Gemeinschaft und Bewegungsfreiheit, sondern auch von physischer Nähe zum Vorschein. Wenn wir in Isolation leben, was bedeutet das für das taktile Empfinden? Wird dieser Sinn verstärkt oder eher verkrüppelt?
Das Phantasma Schlafzimmer
Als ich zu ersten Mal das schwarzweiße körnige Foto des Schlafzimmers sah, welches Adolf Loos 1903 für seine erste Ehefrau Lina entworfen hatte, war ich gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Auf der Abbildung (Abb. 1) ist der blaue Filzteppich als solcher nicht zu erkennen, nur helle amorphe Oberflächen. Ein weißer langhaariger Pelz bedeckt den Boden und kriecht das Podestbett halb hoch, weiße, in Falten fallende Vorhänge bedecken die Wände und Möbelstücke. Was bedeutet dieses Zimmer? Wie ist es zu bewerten? Es ließ mich an das Raumschiff in Roger Vadims Film Barbarella denken, an ein himmlisches Bordell-Zimmer, eine perverse Spielwiese. Faszinierend, und dabei vollkommen unhygienisch. Die Reinigung der Angorafelle, die das Bett am Boden einrahmen, konnte um 1900 nur mittels Teppichstange und Teppichklopfer erfolgen, was sadomasochistisch anmutet – ganz zu schweigen davon, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass Loos diese Aufgabe je übernommen hat. Das weiße Angorafell erinnerte mich an James-Bond-Bösewicht Blofeld, der in den ersten Filmen der Serie nie als ganze Figur gezeigt wurde, stattdessen in Close-Ups, eine weiße Perserkatze streichelnd.
Es stoßen verschiedene Themen aufeinander: Loos entwarf ein Zimmer für seine Frau, welches einerseits eine selbstbezogene Intimität, die die Welt außen vor lässt, zum zentralen Motiv erhob, andererseits sie von der Wahrnehmung der Außenwelt isolierte. Das Zimmer wirkt durch die Prominenz von Textur auf sämtlichen Oberflächen erstickend, gleichzeitig entrückt aus Zeit und Raum und fern von Status. Loos war für mich der Architekt stilprägender Bauten, die mir gefielen, und ich hatte mich mit seinem polemischen Text Ornament und Verbrechen auseinandergesetzt. Erst kürzlich befasste ich mich mit seiner Biografie, und dadurch mit dem Gerichtsverfahren gegen ihn wegen „Schändung sowie Verführung zur Unzucht“.2 Er hatte 1928 mehrere acht- bis zehnjährige Mädchen unter dem gesellschaftlichen Vorwand, sie für ein Austauschprogramm kennenlernen zu wollen, in seine Wiener Wohnung gelockt. Zuerst fragte er bei einem männlichen Modell der Akademie der Künste an, ob er ein Kind als Modell zum Aktzeichnen empfehlen könne, woraufhin dieser seine Tochter zu Loos schickte. Das Mädchen wurde wohl aufgefordert weitere Gleichaltrige mitzubringen, die Loos nackt zeichnete, ihnen Fotografien nackter Kinder zeigte, sie zu gegenseitigen Berührungen aufforderte und sie schließlich sexuell berührte, bzw. sie auffordert ihn zu berühren. Er wurde nur wegen Verführung zur Unzucht schuldig gesprochen und aufgrund von ihn bevorteilenden Charakterzeugen ohne weitere Haftstrafe entlassen – die Untersuchungshaft war hier angerechnet worden. Das Wissen über diesen Aspekt der Person Loos, über Vorkommnisse, die 25 Jahre nach der Realisierung des Schlafzimmerentwurfes stattfanden (wobei ähnliche Missbrauchssituationen sich auch schon vorher zugetragen haben könnten) lässt diese Betrachtung nicht unberührt. Ich möchte versuchen, mich mit diesem Wissen, oder trotz dieses Wissens, über diesen Raum als Vorstellungsraum auseinanderzusetzen, über das, was er für mich über Sinne, Sinnlichkeit, Sexualität, Raum und Enge, psychischer und physischer Beklemmung aussagt. So verschränkt sich in diesem Text, die im Werk selbst liegende Ambivalenz und meiner Lesart derselben mit meiner ambivalenten Haltung zu der Frage, ob man Autor und Werk getrennt voneinander betrachten kann. Der junge Loos hatte sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts durch journalistische Texte über Architektur, Kunst und Design einen Namen gemacht. 1899 wurde er mit der Innengestaltung des Café Museums in Wien beauftragt. Sofort gingen die Künstler des benachbarten Secessionsgebäudes dort ein und aus. Das revolutionär schlichte Interieur brachte ihm große Sichtbarkeit; es folgten viele Aufträge im Bereich der Innenarchitektur. Adolf Loos erarbeitete sich seine Karriere über viele Jahre ausschließlich mit der Gestaltung bürgerlicher Wohnungen und Geschäfte. „Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die Jahrhundertwende im Jugendstil. Allerdings scheint er, seiner Ideologie nach, die Vollendung des Interieurs mit sich zu bringen. Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel. Der Individualismus ist seine Theorie“,3 schreibt Walter Benjamin. Loos lehnte das modische Ornamentale, wie zum Beispiel im Werk Otto Wagners oder des gleichaltrigen Josef Hoffmanns, ab. Doch das Potenzial der Innenarchitektur zur Präsentation des wohlhabenden, ästhetisch gebildeten Bürgers – und damit als empfehlende Visitenkarte – war ihm bewusst. Die Tätigkeit als Gestalter von Wiener Wohnungen diente ihm als Entwicklungsfeld für seinen später gereiften Raumplan, den er erst als Hochbauarchitekt vollends verwirklichen konnte. Als Loos 1903 die Realisierung seines Entwurfs Schlafzimmer meiner Frau in Peter Altenbergs Zeitschrift Kunst. Halbmonatsschrift für Kunst und alles Andere vorstellte, stand er an der Spitze der architektonischen Avantgarde Wiens. Die Veröffentlichung ist eine Selbstdarstellung, denn Loos präsentierte hier einen Entwurf ganz frei von Kompromissen zugunsten eines:einer Auftraggeber:in.
Loos macht das Intime unverhohlen öffentlich, er inszeniert es. Die Betitelung im Magazin verleiht den Anschein von Authentizität, während die spärlich erklärenden, in Versalien gesetzten Unterzeilen eine selbstbewusste Nonchalance vermitteln: „WEISSE TÜNCHE / WEISSE VORHÄNGE / WEISSE ANGORAFELLE“4. Die weißen Vorhänge, günstig und wirkungsvoll, sind an einfachen umlaufenden Kupferrohren angebracht und umfangen den Raum. Der Stoff verbirgt nicht nur Praktisches wie Schränke, sondern auf Augenhöhe auch Wände und Fensteröffnungen. So ist dieses Schlafzimmer nicht mehr ein Raum in einer Wohnung, der Menschen und Gebrauchsgegenstände beherbergt, sondern er wird in einen Vorstellungsraum verwandelt, bei dem die Realität und das Tageslicht nur wage von außen durchschimmern. Der gesamte Raum wird zum Himmelbett.
Irene Nierhaus liest den Raum als imaginäre Braut, in dem die Absenz und Präsenz der weiblichen Sexualität erst durch den Mann konstituiert wird. Die Beziehung von Loos zu seiner Frau sei von einem Frauenbild bestimmt, welches von einer aus Lust und Askese konkurrierenden Ambiguität bestimmt wird, die als letztendlich unvereinbarer Gegensatz gedacht wurde.5 Das Zimmer wird zur Manifestation unergründlicher Sehnsüchte: Eine ätherische Höhle mit einem altarhaften Podestbett. All das, was Loos auf das Ornament projizierte – Degeneration, Amoral, Kleinbürgerlichkeit, Verschwendung – wollte er unterbinden, er schrieb dagegen an;6 doch das Sinnliche, besonders in seiner fetischistischen Facette, kriecht aus seinen Entwürfen hervor. „Die transluzide Zartheit des weissen Stoffes verweist auf Schleier und der auf das Hymen. […] Die Felle hingegen deuten auf ‚natürlich‘ Wucherndes, das – ins Weiss verharmloste – Triebhafte und das endlos Uterine.“7
Das Taktile als das Weibliche
So ist das Haar, der Pelz, die Haut und vor allem die Vorstellung davon, etwas, wo Perverses, Raffiniertes und Archaisches zusammentreffen. Inge Stephan schreibt über Erinnerungen, die im Haar schlummern: Sie „reichen in eine mythische Zeit zurück, in der die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier noch fließend und der Geruchssinn der Leitsinn war.“8 Das weibliche Haupthaar eröffnet kulturhistorisch ein weites Assoziationsspektrum. Wenn ich an die Bilderwelt um 1900 denke, den Höhepunkt des Symbolismus, kommen mir sofort Gustav Klimts Wasserschlangen I und II sowie Goldfische in den Sinn: Gemälde, die schöne, im Wasser treibende Frauen abbilden, nackt, aber von ihren tentakelgleichen Haaren umgeben – oder gleich Franz von Stucks Die Sünde, in dem die bläulich-weiße Schönheit von Haaren und einer riesigen Schlange eingerahmt wird. Christina von Braun erläutert, wie die Frau in der Kunst des fin de siècle als Projektionsfläche und Verkörperung männlicher Sexualität dient, ihr aber keine eigene selbstbestimmte Sexualität zugesprochen wird.9 Die einwickelnden, in die Tiefe herabziehenden Haare der Nixen und Undinen verweisen auf das Überthema der femme fatale. „Zu den am häufigsten ein fetischistisches Fluidum ausstrahlenden Teilen des Kopfes gehört das Haar“10, konstatiert der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Das Haar bei Loos ist jedoch nicht lang und ornamental, und als weißer Angorapelz in seiner Symbolik weniger eindeutig. Nichtfigürlich und amorph, steht hier nicht der optische Reiz im Vordergrund, sondern der taktile.
Der Pelz und der Vorhang im Faltenwurf sind beides Materialien, welche die Oberfläche, die sie bedecken, indem sie nach außen, in den Raum gestülpt wird, stark vergrößern – und damit das Potential für Berührung. Derrida führt (sich auf Jean-Luc Nancy beziehend) aus, dass „berühren“ immer die Berührung einer Grenze darstellt. Grenze bedeutet hier nicht nur die Oberfläche; selbst wenn man das Innere von irgendetwas berührt, tut man es, indem man dem Punkt, der Linie oder der Fläche, der Begrenzung eines nach außen exponierten Körpers folgt, die zum Kontakt angeboten wird.11 Karen Barad zufolge ist die Berührung dieser Grenzen niemals rein und unschuldig, denn sie ist nicht von einem Spannungsfeld der Differenzbeziehungen zu trennen.12 Als Berührung einer Begrenzung, ist sie unweigerlich ein Übertritt – der willkommen sein kann oder nicht.
Den Ton-in-Ton-Effekt der hellen Oberflächen, das Verbergen von Form und Funktion der Möbelstücke und der Verzicht auf eine Strukturierung ziehen Objekte und Raum optisch zusammen, was einen Effekt der Unschärfe ergibt. Das Schlafzimmer wird zu einer textilen Höhle. Bei der Gestaltung von Interieurs war Loos bestrebt, dass die Funktion von Gegenständen offenbar ist, indem Möbel tradierte und lesbare Formen besitzen. Die Gestaltung dieses Zimmers steht im klaren Gegensatz zu den übrigen Räumen seiner Wohnung, deren Einrichtung funktional und klar ist. Das Amorphe und Texturierte des Schlafzimmers ist einzigartig in Loos’ Werk, und erstaunlich angesichts seiner Kampagnen gegen eine – in seinen Augen – verschwenderische, ornamentalen Feminisierung der zeitgenössischen Kultur.13 In einem kurzen Text erläutert Georges Bataille, wie das Formlose in einer Welt, die immerzu nach einer Form verlange, als Begriff abwertend verwendet werde: Was es bezeichne, habe keinerlei Rechte und werde zerquetscht wie eine Spinne oder ein Regenwurm. Weiterhin, dass Akademiker („hommes académiques“) erst glücklich seien, wenn das Universum eine Gestalt annehmen würde; denn zu sagen, dass das Universum nichts ähnle und nur formlos sei, komme der Aussage gleich, dass es so etwas wie eine Spinne oder ein Auswurf sei.14
Trotz aller Ästhetisierung verweist die Verortung des Weiblich-Konnotierten im Formlosen auf das Erhabene, welches potentiell immer ins Abjekte, ins Abstoßende abkippt. Welche Grenzen werden dabei überschritten (die des „guten Geschmacks“, die vom Mädchenhaften zum Animalischen oder von einem Frauenbild zu einem anderen), aber vor allem: Wessen Grenzen werden übertreten?
Ein Apparatus, um das Wuchernde festzuzurren
Während Loos das Schlafzimmer seiner Frau zum Fetisch machte, der die Anwesenheit dieser darin nicht benötigte, so ließ sein Freund Oskar Kokoschka einen Fetisch in Form einer Frau anfertigen, die ihn verlassen hatte. Einige Jahre nachdem die Beziehung zu Alma Mahler zu einem Ende gekommen war, gab er bei der Bildhauerin Hermine Moos eine Puppe in Auftrag. In Briefen erklärte und skizzierte Kokoschka die gewünschte Beschaffenheit der Puppe, der er Erinnerungen an Körperteile und Wunschvorstellungen des Objektes seiner Begierde zuordnete. “Liebes Frl. Moos, ich sandte Ihnen gestern durch meinen Freund Dr. Pagel eine lebensgroße Darstellung meiner Geliebten, welche ich Sie bitte recht getreu nachzuahmen und mit dem Aufgebot Ihrer ganzen Geduld und Sensualität in Realität umzuschaffen.”15 Weich wie ein Pfirsich soll die Oberfläche sein – Hermine Moos bezog die Puppe mit einem Plüsch. (Abb. 2)
Zwar forderte der Auftraggeber sie dazu auf, ihre Sinnlichkeit bei der Interpretation seiner Entwürfe einzusetzen, doch aus weiteren Umschreibungen ist herauszulesen, dass er sich eine Art von Sexpuppe gewünscht hatte. Als Kokoschka die Puppe erhielt, schriebt er ihr entsetzt: „Die äußere Hülle ist ein Eisbärenfell, das für die Nachahmung eines zottigen Bettvorlegerbären geeignet wäre, aber nie für die Geschmeidigkeit und Sanftheit einer Weiberhaut, wogegen wir doch immer die Täuschung des Taktgefühls in den Vordergrund gestellt hatten.“16 Vielleicht war es die Machart der Puppe, die ihn enttäuschte, doch möglicherweise war ihm, mit der Realisierung seines Wunsches konfrontiert, die Perversion des Unterfangens erst bewusst geworden. Die Alma-Puppe zauberte nicht die eigenwillige Alma Mahler herbei. Kokoschka malte jedoch ein Alma-Porträt mit der Puppe als Modell und ein Selbstporträt mit Puppe (dazu wohl unzählige Zeichnungen) und inszenierte sich mit ihr, indem er Besuch in Gesellschaft der Puppe empfing und öffentlichkeitswirksam mit ihr als Begleitung auftrat. Schließlich betrieb er eine Art Exorzismus von seiner Alma-Puppen-Obsession, indem er sie bei einer Party im Garten köpfte und mit Rotwein übergoss. Diese Geschichte ist bekannt, auch weil Kokoschka sich damit brüstete – die der Hermine Moos wesentlich weniger.17 Kokoschka gab die Erstellung der Puppe in Auftrag, in der Hoffnung, sich selbst von der physischen Manifestation seiner Fantasie überzeugen zu lassen. In der Anleitung, die er Moos schickte, war das Haptische äußerst wichtig, er wollte die ehemalige Geliebte wieder fühlen und halten. Es hat den Anschein, als wäre die Beauftragung selbst, das Heraufbeschwören von Erinnerung und Fantasie zur Beschreibung und schließlich die Kommunikation mit Moos erregend für ihn gewesen. Ihren vier erhaltenen Fotos nach zu urteilen, hat Moos mit der Puppe ein eigenes Kunstwerk geschaffen, welches Kokoschka das Sinnlich- Ungeheuere seines Begehrens vor Augen führte.
Loos und Kokoschka materialisierten ihre erotischen Obsessionen bezeichnenderweise nicht (nur) als pornografisches Bild, sondern dreidimensional und taktil anregend. Eine Puppe, die man nach belieben manipulieren kann; ein heimischer Raum, in den man eindringen kann. Benjamin schreibt in Das Passagen-Werk: „Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist um so dringlicher, als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar.“18 Farès el-Dahdah bedient sich des Begriffes der „Junggesellenmaschine“ als Bezeichnung für einen Apparatus der Verführung, „a machine idly waiting for some force to make it work.“19 Auf Loos und Kokoschka übertragen, ist die Kraft, die den Apparatus zum funktionieren bringt, nicht die Verführbarkeit von Lina oder Alma, sondern die durch das Begehren hervorgebrachten Phantasmen.
1974 stellt die Schweizer Künstlerin Manon Das lachsfarbene Boudoir aus, ein intimes Environment, welches vorgeblich ihr Schlafzimmer darstellte. Die Wiederauflage der Arbeit 2006 im Swiss Institute New York schildert Andrea Kirsch wie folgt: „[S]he placed the entire contents of her maximalist and erotically-charged bedroom on display[…]; a satin and fur-covered bed at its center was surrounded by mirrors and every square centimeter of the room was covered with objects to indulge touch, taste, smell, sight, and that most erogenous organ, the mind; among the stuff which crowds the space are Colette’s novels, plastic lingams, seashells displayed vertically to emphasize their distinctly vaginal apertures, jewelry and clothing strewn about, a left-over plate of oyster shells, pictures of people she admires“20. Manon kreiert die Kunstfigur Manon, deren häusliche Umgebung sie in Kunst verwandelt der Öffentlichkeit präsentiert.
Der fiktiv-private Raum erinnert in seiner textilen Struktur Lina Loos’ Schlafzimmer. Manon treibt dessen Charakteristika jedoch durch den Überfluss anspielungsreicher Requisiten auf die Spitze. Hier inszeniert sich die Künstlerin als sexuelle Person, indem sie Klischees weiblicher Erotik appropiiert und als Ausstattungsobjekte versammelt. Bereits der Titel der Arbeit nimmt eindeutig Bezug auf das Boudoir des 18. Jahrhunderts, einen eher kleinen, jedoch elegant eingerichteten Raum, bei dem es sich um „einen Ort weiblicher Selbstdarstellung und nicht um ein männlich kontrolliertes Serail21 handelt. Die Herrin des Boudoirs bestimmt, wer hier Eintritt findet. Sie ist auch für die Innenausstattung zuständig.“22 Die charmant inszenierte Unordentlichkeit der Toilette war ein beliebtes Motiv in den modischen Gemälden der Zeit; verführerische Anspielungen finden sich in den kostümgeschichtlichen Begriffen des Negligé oder Déshabillé wieder. Einerseits wird das Boudoir als Sphäre definiert, an dem sich die sexuelle Macht der Frau entfalten durfte, und gleichzeitig zum Inbegriff von moralischer Dekadenz, welche die Liebe zum Verborgenen und Privaten auf die Spitze trieb.23 So ist das Boudoir ein Raum, der weiblich konnotiert ist, und in dem Frauen Gestaltungsfreiheit, ja gar Macht, zugesprochen wird, gleichzeitig ein Ort, der aufklärerischen, moralischen und gesellschaftlich fortschrittlichen Werten entgegensteht.
In Loos’ Zimmer trifft das Klaustrophobische des Rokoko-Boudoirs auf einem avantgardistischen Minimalismus; das Ungezähmte und das Abjekte werden in der Gestaltung kontrolliert. Es gibt drei Oberflächen in Loos’ Schlafzimmer, die nicht textiler Natur sind: die horizontalen Flächen der Nachttische und der Kommode. Diese scheinen mit Glasplatten belegt zu sein. Die aufgeräumte Strenge auf diesen einzigen benutzbaren Oberflächen und die ganzheitliche Reduktion macht deutlich, dass es sich bei Loos’ Schlafzimmer nicht um ein Boudoir handelt, trotz der erotischen Aufladung, die es mit dieser Art von Raum gemein hat. Es entspricht bei näherer Betrachtung eher dem oben erwähnten Serail. Die Vorhänge erinnern plötzlich an einen Stoff, den man über einen Käfig hängt, um eingesperrte Vögel ruhig zu stellen.
Isolation des Objektes der Begierde
„Un homme cultivé ne regarde pas par la fenêtre; sa fenêtre est en verre dépoli; elle n’est là que pour donner de la lumière, non pour laisse passer le regard.“24 Beatriz Colomina führt mit diesem Wortzitat Loos’ (nach Le Corbusier in seinem Buch Urbanisme) den Gedanken ein, dass in Loos’ Entwürfen oftmals Möbel oder Spiegel die Fenster blockierten oder Vorhänge Blicke versperrten.25 Darüber hinaus veranschaulicht sie, wie Loos vor allem im Haus Moller (1927) und der Villa Müller (1930) mittels Durchgängen, Öffnungen und variierender Höhen der Stockwerke den Blick leitet. Weiterhin wird der Körper im Raum skopophilisch eingerahmt, also die Schaulust, das Vergnügen am Sehen fördernd, was durch strategisch gesetzte Durchblicke noch gesteigert wird.
Der spekulative, nie realisierte Entwurf eines Hauses für den 22-jährigen Tanzstar Josephine Baker ist nicht nur äußerlich radikal (schwarze und weiße Marmorplatten sollten in horizontalen Streifen die Fassade bedecken), sondern vor allem in der Konzeption des innenliegenden Swimmingpools. Eine Galerie sollte parallel zu den beiden Längsseiten auf dem Niveau des Beckens gebaut werden; an einer der kurzen Seiten war ein Petit Salon geplant. Diese Flanierräume wurden mit Fenstern zum Inneren des Pools erdacht. Von einem Oberlicht beleuchtet, wäre die schwimmende Baker dadurch wie in einem Schaufenster – oder einer aquatischen Peepshow – ausgestellt; durch die Reflexionen auf der Innenseite der Pool-Fenster wären Außenstehende, ähnlich dem Effekt eines halbdurchlässigen Spiegels, kaum sichtbar. „The inhabitant, Josephine Baker, is now the primary object, and the visitor, the guest, is the looking subject. The most intimate space—the swimming pool, paradigm of a sensual space—occupies the center of the house, and is also the focus of the visitor‘s gaze.“26
Sowohl das Schlafzimmer von Lina Loos als das Haus „für“ Josephine Baker hat Loos zur Befriedigung seines eigenen ästhetischen wie erotischen Begehrens entworfen. Das Bild der schwimmenden Josephine Baker bereitet zwar Genuss, aber ruft nach Colomina auch die Kastrationsangst hervor, die vom „Anderen“ ausgeht: die Frau im Wasser als nicht fassbar und unkontrollierbar. Eine Strategie, diese Bedrohung zu verdrängen, ist die Fetischisierung.2727 Es zeichnet sich ein klares Bild der Frau ab, die Loos als Geliebte suchte: Tänzerisch-beweglich, selbständig-intelligent (seine drei Ehefrauen haben sich journalistisch betätigt und ihn zum Teil finanziell unterstützt), und beinahe gleichbleibenden Alters.2828 Als Objekt der Begierde wird die sehr junge, attraktive Frau verallgemeinert und exotisiert.29 Hirschfeld spricht von einer Teilanziehung oder partieller Attraktion, die bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und solche körperlicher Natur ausüben – und, Krafft-Ebbing zitierend, vom „individuelle[n] Fetischzauber“.30
Loos wurde nie von Baker mit einem Entwurf beauftragt, so kann man diesen als anzüglichen, wenn auch hochästhetischen, Fanbrief eines Verehrers lesen.31 El-Dahdah interpretiert das Bauwerk als imaginäre Verlängerung von Loos’ Tastsinn, um ihren abwesenden Körper begehren zu können.32 Ähnlich wie beim Schlafzimmer für Lina Loos ist die imaginierte Bewohnerin trotz ihrer Abwesenheit präsent: Man antizipiert als Betrachter:in des Raumes das Auftreten der Figur: Das Wunschbild einer nackten, schwimmenden Baker wird erzeugt, ebenso das einer sich räkelnden Lina Loos. Sowohl das Wasser als auch das Angorafell berühren den Körper auf imaginäre Weise.
Schlafzimmer und Verbrechen
Und dann stellt sich die Frage, welche Haltung wir zu den hinterlassenen Werken von einem verurteilten Sexualstraftäter einnehmen. Denn so sehr mich das ästhetische Universum des Schlafzimmers innerhalb des Loos’schen Gesamtwerks anregt, es als Ausgangspunkt für weitere Gedankengänge zu nehmen, so wenig ist es von der Hand zu weisen, dass dieser Raum, von eindeutig sexueller Natur, kaum vom Wissen um Loos, dem mutmaßlich Pädophilen, zu entwirren ist. Nicht nur wegen der sinnlich-erotischen Konnotation, die dieses Schlafzimmer besitzt.
Das Schlafzimmer im Allgemeinen ist ein mehrdeutiger Raum: Einerseits eine Stätte des Schlafes und der Ruhe, andererseits ein privater Bereich, in dem – im Gegensatz zu den öffentlichen und repräsentativen Räumen einer Wohnung – Nacktheit und Sexualität erlaubt sind und erlebt werden. Mit dem idiosynkratischen Schlafzimmer für seine erste Frau baut Adolf Loos ein Psychogramm, in dem er seine Vorstellungen von Geschlechtlichkeit Skulptur werden lässt. Die kupferne Vorhangstange umschreibt losgelöst von einem Bezug zur Architektur einen Raum im Raum. Das Haarige-Pelzige ist formal indifferent, unheimlich und dabei dem Tastsinn schmeichelnd. Das Podestbett kann als ein Altar der weiblichen Sexualität interpretiert werden, doch Anbetung ist hier nur eine Variante von Kontrolle. Die Vorhänge bedecken die Fenster nicht in voller Höhe und ermöglichen dadurch eine Blickachse von schräg oben in das Zimmer hinein. Sie lassen tagsüber ein gestreutes Licht in den Raum, aber verhindern knapp über Augenhöhe den Ausblick. Als Tageslichtraum konzipiert, steht die Frau darin, von der Zeit entrückt, in ebenmäßigem Schein gebadet, zur Verfügung.
Mit dem Wissen um Loos’ Gerichtsverfahren und die dadurch offengelegten Aussagen von Mädchen im Alter zwischen acht und zehn Jahren, sind die Vorhänge als Sichtblenden vor dem Außen zu lesen, um etwas zu verstecken. Sie dienen dazu, Geheimnisse zu bewahren, Taten, die nicht an das Licht der Öffentlichkeit dringen sollen, zu verbergen. Vielleicht wollte 1903 der noch lange nicht bestrafte und möglicherweise noch nicht tätig gewordene Loos etwas vor sich selbst verschleiern. Das Loos-Zitat „Das haus sei nach außen verschwiegen, im inneren offenbare es seinen ganzen reichtum“33 liest sich, wie auch das Schlafzimmers für Lina Loos, nach der Lektüre der Gerichtsakte, anders.
Dieser Raum, in den ich sinnlich-taktile Alternativen zu den Theorien des Blicks einziehen lassen wollte, ist ein Raum, in dem das Außen verdrängt wird, wo wahrscheinlich schon ein Vierteljahrhundert vor dem Fall Loos die Bedürfnisse anderer unterdrückt wurden – ein Schlafzimmer der Isolation. Isolation gibt die Möglichkeit zu kontrollieren, manipulieren, missbrauchen. Isolation lässt die Grenze zwischen dem eigenen und dem fremden Körper verschwinden. Isolation entzieht den Bezugsrahmen. Isolation sensibilisiert, wie eine Augenbinde, vielleicht kurzzeitig die Sinne, die auf die Nähe ausgerichtet sind, wie Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn; doch letztlich führt sie zu einer Desorientierung und einer Abstumpfung.
Biografie
Xenia Mura Fink
Xenia Mura Fink studierte an der Burg Giebichenstein in Halle, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und der Universität der Künste Berlin, wo sie 2009 ihr Studium als Meisterschülerin abschloss. Seit 2017 hat sie einen Lehrauftrag für Zeichnung an der Burg Giebichenstein. Außerdem promoviert sie an der Bauhaus Universität in Weimar. In ihrer künstlerischen Forschung bewegt sie sich im Spannungsfeld der Figuration, des Begehrens und des Blicks vor dem Hintergrund feministischer Diskurse. Die Zeichnung ist in ihrer Praxis das zentrale Medium. Xenia transformiert Zitate und Gesten aus der visuellen Kultur zu etwas Neuem, das jenseits des Formats geschieht.