Die Jagd, 2025 – Moritz Berg & Lennart Cleemann

Für die Ausstellung Die Jagd (Künstlerhaus Stuttgart, 2022) begeben sich Moritz Berg und Lennart Cleemann im Kräherwald (Stuttgart) auf die Nachsuche. Eine Annäherung zweier Künstler und ihrer Praxis mit der Natur. Nahe der Erde, dem vermeintlich Toten nahetretend. Von Frühling über Herbst. Das Tun wird jagen, bedächtig, außerhalb des üblichen Zeitempfindens. Das Ritual konstituiert den Wandel. Die Trophäe verewigt den Verfall und festigt unsere Zeit.

Zwischen Archaik und Moderne

Die Jagd ist ein Zeugnis der barbarischen Zivilisation. 

Sie ist der zweite archaische Zustand, nach dem der Sammler und Lotophagen, welche ihr Essen direkt von der Natur (konkret der Flora) entnehmen. Das Jagen von Tieren bedingt das Recht des Stärkeren und ist somit ein gewaltvoller Zustand, in dem die bewusste Entscheidung zur Beendung des Lebens des Tieres steht um das eigene Überleben zu sichern. 

„Die nächste Gestalt, zu der Odysseus verschlagen wird – verschlagen werden und verschlagen sein sind bei Homer Äquivalente –, der Kyklop Polyphem, trägt sein eines rädergroßes Auge als Spur der gleichen Vorwelt: das eine Auge mahnt an Nase und Mund, primitiver als die Symmetrie der Augen und Ohren, welche in der Einheit zweier zur Deckung gelangender Wahrnehmungen Identifikation, Tiefe, Gegenständlichkeit überhaupt erst bewirkt. Aber er repräsentiert dennoch den Lotophagen gegenüber ein späteres, das eigentlich barbarische Weltalter als eines von Jägern und Hirten. Die Bestimmung der Barbarei fällt für Homer zusammen mit der, daß kein systematischer Ackerbau betrieben werde und darum noch keine systematische, über die Zeit disponierende Organisation von Arbeit und Gesellschaft erreicht sei. Er nennt die Kyklopen ‚ungesetzliche Frevler‘, weil sie, und darin liegt etwas wie ein geheimes Schuldbekenntnis der Zivilisation selber, ‚der Macht unsterblicher Götter vertrauend, / Nirgend baun mit Händen, zu Pflanzungen oder zu Feldfrucht; / Sondern ohn‘ Anpflanzer und Ackerer steigt das Gewächs auf, / Weizen sowohl und Gerst‘, als edele Reben, belastet / Mit großtraubigem Wein, und Kronions Regen ernährt ihn.‘ Die Fülle bedarf des Gesetzes nicht, und fast klingt die zivilisatorische Anklage der Anarchie wie eine Denunziation der Fülle: ‚Dort ist weder Gesetz, noch Ratsversammlung des Volkes, / Sondern all‘ umwohnen die Felsenhöhn der Gebirge, / Rings in gewölbeten Grotten; und jeglicher richtet nach Willkür / Weiber und Kinder allein; und niemand achtet des andern.’“ 

– Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 71f

Das Jagen hat einen festen Bestandteil in unserer modernen Kultur, die Beforstung der mitteleuropäischen Wälder ist nur möglich, wenn Jäger Flora und Fauna im Gleichgewicht halten. Das Trophäensammeln als Teil dieser Kultur wird von Horkheimer und Adorno nicht erwähnt, jedoch liegt der Fokus von Berg und Cleemann auf diesem Thema. 

Die Künstler, welche beide ein Architekturstudium absolviert haben, bewegen sich im Spektrum zwischen Natur und Kultur. Moritz Bergs Arbeiten versuchen Naturspuren/-phänomene vorwiegend auf der Leinwand einzufassen. Lennart Cleemanns Arbeiten sind vielfältig, kommunizieren vorwiegend über den Raum mit intellektuellem Humor und Material-/Readymadekombinationen. 

Die Schnittmenge der beiden offenbart sich in den Arbeiten für Die Jagd, für welche sie gemeinsam wie Jäger im Kräherwald bei Stuttgart verschiedene Naturabgüsse nahmen. Zwei Abendteurer, die sich mit dem Auto aufmachten, Gips, Beton, Latex und Werkzeuge im Gepäck, um zurückzukehren mit den Trophäen der Jagd. Es ist ein Prozess, der mehr den Eindruck eines Sammelns vermittelt als den des Jagens. Die Pirsch, also das Sichten, Festlegen und Ausführen der Abdrücke bedarf einer Feinfühligkeit und Behutsamkeit wie sie beim Pilze sammeln erforderlich ist. 
Vielleicht ist es aber auch ein Jagen der Abdrücke selbst, worauf die Künstler anspielen, quasi ein Erstellen eines Kadavers, der dann präzise im (Ausstellungs-)Raum positioniert zum Kulturobjekt, zur Trophäe wird. 

Die Arbeiten der Ausstellung sprechen beide Sprachen, die der Sammlung / Lagerung und die der Schaustellung. Die zwei im Raum stehenden Regale weisen diese Bilingualität direkt auf, das eine (mit den Wurzelstümpfen) wirkt wie ein Herbarium oder eine Artensammlung, das andere enthält Gips- und Betonabgüsse, gefaltete Latexabdrücke und Textilien. Sie wirken wie nicht aufgehängt/-stellte Arbeiten, doch stellen die Regale durch ihre vertikale Erscheinung einen Bezug zu den anderen Objekten und dem Raum her. 

Durch ihre Vertikalität konfrontieren sie dem Betrachter als ein Gegenüber und kommunizieren mit der dritten im Raum freistehenden Arbeit, welche aus einem vertikal aufgestellten Ast und einem langen Rindenabdruck besteht. Der dicke Ast ist auf den Kopf gestellt und wird durch eine angeschraubte kurze Holzlatte zu einem auf drei Beinen stehenden Wesen, das den Abdruck stützt. Der Abdruck liegt leicht schräg, diagonal in der Ausstellung und lädt in den Raum ein. Auf Grund der vielen Rinden- und Moosrückstände, wirkt er zuerst wie ein Ausschnitt des Waldbodens, auf dem die Arbeiten entstanden. Dann bei näherer Betrachtung und dem Folgen der Richtung der Arbeit in die Vertikale stellt man fest, dass es sich um einen Rindenabdruck handelt. 

Anders erscheint jedoch der Abdruck in der Ecke, welcher ebenfalls aufgehängt ist, dieser erscheint wie ein gehäutetes Tier. Das liegt vor allem an der dominierenden Farblichkeit der Gaze und des Latex, aber auch an dem unteren Ende mit seinen zwei ausgestreckten Ecken und den hervorstehenden Mittelstück. Hier denkt man schnell an einen Tierkopf oder -schwanz bei einem ausgelegten Leder, wie man sie auch bei der typischen Kennzeichnung für echtes Leder kennt. Die Ecken erinnern an zwei kurze Beine, die Rinde und das Moos erinnern an Fellflecken.

Das mit Gaze armierte Latex der verschiedenen Abdrücke lässt bei vielen Arbeiten den Eindruck von Haut erwecken, durchaus verweisend auf die barbarische Natur des Titels der Ausstellung und die vollständige Verwendung der Tierkadaver. In der Dusche entsteht dann eine humoristische und groteske Wendung. 

Der dort aufgehängte Baumabdruck wirft die Frage auf, warum die Abdrücke nicht vollständig von den Rinden- und Moosstücken gereinigt wurden. Die Intention der Künstler wird klar. Es handelt sich hier nicht um einen Zufall oder gar Faulheit, es ist das bewusste Spiel mit Haut, Natur, Tod und Dreck. Die Abrücke der Äste hängen von der Decke, sie wölben sich nach innen und wirken wie überlange Arme oder Würste. Man kommt nicht darum herum an Schlachthäuser zu denken. Die Dusche wird wie in Alfred Hitchcocks Film Psycho zum Ort des Horrors, auch ohne Duschvorhang und Blut. 

Eindeutiger wird dieser Blick auf die Arbeiten bei dem an der Wand hängenden Rautengitter. Hierauf befindet sich ein Abdruck, der durch die dichte Stauchung der Gaze schon fast rosa wirkt. An den Rändern steht Moos von der Rückseite über, aber es ist kaum ersichtlich, ob es sich überhaupt um einen Abdruck handelt, denn das Textil, also die eigentliche Rückseite eines Abdrucks wird zu einem länglichen Knäul. Es enthält ein Loch, vermutlich die Gegenform eines Astes, durch welches ein spitzer Fleischerhaken stößt. Der Knäul wirkt somit wie ein aufgehängter Schinken. Das rechteckige Streckmetall ist Träger, Hintergrund und Rahmen für das Einzelstück. Die formale Nähe zum Fleisch eröffnet eine Reflexion über das Verhältnis von Natur und Kultur: Ist das Abdrucknehmen eine Ausbeutung der Natur? Welche Ähnlichkeiten hat es mit dem Schlachten? Ist es nicht ein wortwörtliches Ausschlachten des Waldes? Bringt man das Moos dabei um? Welche Rolle spielt unsere Gewalt über Flora und Fauna in unserem täglichen Umgang? Welche Rolle der Tod in der Natur? 

Viele Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort gibt, stattdessen erlangt man beim Betrachten der Ausstellung ein höheres Verständnis der Komplexität unserer Interaktion mit Natur. 

Die beiden forschenden Künstler sind in den Wald gegangen, um Fragen über unsere Existenz zu stellen. In all unserer Komplexität sind sie mit dem Auto und Rollwägen gekommen, um Spuren der Widersprüche zwischen Natur und unserer Zivilisation zu sammeln. Die Materialien geben einen Einblick auf das Gedankenspiel, welches Berg und Cleemann vorführen. Man bedient sich der Gaze, des Betons und der vielseitigen Bewehrungen; mineralische Baustoffe halten die Natur in ihrer Form fest. Die Naturformen treten durch die Abdrücke in Erscheinung und werden somit selbst Natur als Kulturprodukt. 

„Es ist eine bereits patriarchale Sippengesellschaft, basierend auf der Unterdrückung der physisch Schwächeren, aber noch nicht organisiert nach dem Maße des festen Eigentums und seiner Hierarchie, und es ist die Unverbundenheit der in der Höhle Hausenden, die den Mangel an objektivem Gesetz und damit den homerischen Vorwurf der wechselseitigen Nichtachtung, des wilden Zustands, eigentlich begründet.“ 

– Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 72

Die Arbeiten versprühen eine Poesie der Anarchie des Archaischen und drängen zur Schaffung einer alternativen Gesellschaft. Schließlich ist jeder frei dazu, in den Wald zu gehen und Kunst zu machen. Die Welt wird in humorvollen Anekdoten dargelegt, von Anspielungen der Gewalt bis Naturfetisch präsentieren die Künstler eine Bandbreite der zeitgenössischen und vergangenen Kultur. 

Dies unterscheidet ihre Arbeiten auch von der Vorstellung Homers. Der Ton, welcher wohlbekannt die Musik macht, ist grundlegend verschieden. Die Anarchie der Künstler ist demokratisch und ein Verweis auf eine vergangene (oder kommende) Welt. Homers Vorstellung vom Waldmenschen ist die eines Barbaren, das Patriarchat hat dort Vorrecht.
 Beide Uto-/Dystopien treffen sich in der Hinterfragung der gegebenen Gesellschaftsstruktur. Hier ergibt sich die Möglichkeit zu fragen: Wie? Wie gestalten wir eine kommende Gesellschaft? Wie leben wir zusammen? Wie entwerfen und entwickeln wir unsere Arbeiten? Aus welchem Umfeld heraus? 

Es ist eine ständige Diskussion, welche sich in Form von verschiedensten Naturabdrücken äußert. Die Konstellationen gehen von Rauminstallationen und Regalsammlungen über Wandreliefe zu Stelen. 

Die Ausstellung lädt Betrachtende immer wieder zum genaueren Hinsehen ein. Viele Abdrücke, vor allem die Beton- und Gipsgüsse, erwecken eine Faszination für die Kleinteiligkeit und Schönheit der Natur. Sie sind ansprechend, teilweise sogar harmonisch, wie die Natur selbst. Wie Sonntagsspaziergänger:innen im Wald, die an manch schönem Ort die Natur in seiner Komplexität der Oberflächen erfahren, sind auch die Arbeiten wortwörtlich Abdruck derselben. 

Text: Pirmin Wollensak
Bildcredits: Ausstellungsansichten: Moritz Berg und Lennart Cleemann, Die Jagd, Künstlerhaus Stuttgart 2022, Fotograf: Kai Knörzer


Biografie
MORITZ BERG (*1994) lebt und arbeitet in Stuttgart, Deutschland. Seine künstlerische Praxis basiert auf dem Studium der Wahrnehmung und der ästhetischen Wirkung einer von der Natur geprägten Umgebung. Ausgehend von alltäglichen und zugleich vergänglichen Momenten entwickelt er ein visuelles Vokabular, das die Schnelllebigkeit des Alltags reflektiert und die verborgenen Qualitäten scheinbarer Nichtigkeiten sichtbar macht. Seine Arbeiten loten die Möglichkeiten einer Symbiose zwischen Mensch und Natur durch Abstraktion aus und verhandeln eine Verbindung, in der spezifische Qualitäten zu einem neuen Verständnis verschmelzen.

LENNART CLEEMANN (*1990) studierte Architektur in Hannover, Aarhus und Stuttgart. Vor seinem Studium an der Kunsthochschule Stuttgart absolvierte er ein Praktikum bei Buchner Bründler Architekten in Basel. Diese Zeit prägte seine Denkweise und Arbeitshaltung bezüglich des von ihm so benannten „poetischen Pragmatismus“. In der Kunstklasse Reto Bollers entdeckte er seine Affinität für den direkten Kontakt mit Material und dessen emotionale Potenz. In seiner Arbeit behandelt Cleemann Aspekte der Ein- und Zweisamkeit sowie Themen des sexuellen Begehrens und Konsums. Die Befreiung aus einer gefühlten Hilflosigkeit gegenüber gesellschaftlich und gedanklich festgefahrenen Strukturen ist dabei ein Ziel seiner Arbeit, deren Ausgangspunkt oft rohe, unbehandelte Materialien bilden. Diese werden gerne mit Fundobjekten von der Straße und Baustellen kombiniert und in Kontext miteinander gesetzt.