Der Krampf des Atlas, 2023 – Maik Schrainer

Die 2023 entstandene Arbeit Krampf des Atlas setzt sich mit dem Gefühl der Überforderung auseinander, das oftmals bei den scheinbar unlösbaren Herausforderungen unserer Zeit emporsteigt. Der aus der Mythologie entlehnte Altas, der sonst mit aller Kraft die gesamte Erdkugel auf seinen Schultern trägt, ist unter der Schwere der Last zusammengesackt und greift sich in die noch krampfende Wade. Mark Schrainer fängt bildnerisch die Ohnmacht ein, die eine ganze Generation empfindet, die sich mit der Lösung von globalen Krisen und Klimakatastrophen konfrontiert sieht.

„Als ich dieses Jahr an einer Ausstellung zum Thema Anthropozän mitwirken und teilnehmen durfte, wurde bei den teilnehmenden Kunstschaffenden angefragt, ob diese eine künstlerische Arbeit zu diesem aktuellen wie auch enormen Themenkomplex beitragen oder erarbeiten könnten. Als ich mir daraufhin Gedanken zum Bildinhalt und zu einer malerischen Umsetzung machte, versuchte ich Kernaspekte der Klimakrise ausgehend von Gesprächen und Medien zu verdichten. Eine unmittelbare Dringlichkeit und Wichtigkeit, aufgrund von ansonsten drohenden, beinahe apokalyptischen Konsequenzen wurden dabei geäußert. Zu leichtsinnig, zu überholt, zu plakativ erschien mir ein Gemälde mit Weltuntergangsszenario, z.B. mit einer brennenden Erdkugel. Zu absolut und wohl möglich zu abschreckend wäre ein dystopischer Ansatz für mich gewesen, als dass ein Anregen zum Nachdenken bei oder eine Interaktion mit den Betrachtenden entstehen würde. Intendiert war ein Verweisen auf das Thema über den gewählten Bildinhalt, ohne mich jedoch von meiner üblichen Arbeitspraxis zu entfernen. Ich dachte auch über eine schlüssige Anknüpfung an meine vorherigen Arbeiten nach, ohne dieses Thema für dieses Bild zu instrumentalisieren. Ich wollte weniger die Tatsachen, Fakten oder Diskurse der Klimakrise aufzeigen. Vielmehr dachte ich darüber nach, wie es sich für mich oder möglicherweise andere anfühlte. Ich wollte meine innere, gefühlte Haltung und gegenwärtige Wahrnehmung noch weitläufiger, eher in einem Gesamtbild zusammenfassen und äußern. Das gefühlte Zusammenbrechen unter den Herausforderungen und Sorgen des Hier und Jetzt, die Last des Vergangenen als auch eine Ungewissheit im Hinblick auf das noch Bevorstehende.

Ich arbeite sehr gerne mit Themen aus Sagen, Mythen, Märchen und Geschichten, da sie erfahrungsgemäß unzählige Inhalts-, Interpretations- und Identifikationsebenen bieten. Angesichts der Thematik als eine wahrgenommene, unstemmbare Herausforderung suchte ich nach einer bildgestalterischen Darstellung. So verknüpfte ich die empfundene Belastung mit dem Sinnbild einer physischen Last. Die Figur des Atlas war dabei am eindeutigsten, bekannt und für mich bereits vorher als Motiv und als Symbol interessant.

In der griechischen Mythologie, in der alle übermenschlichen Figuren stets Personifizierungen darstellen, ist Atlas einer von vielen Titanen, der durch Aether (dem oberen Himmel) und Gaia (der Erde) gezeugt wurde. Von seinen drei Brüdern ist wohl Prometheus der Bekannteste. Atlas wird in Folge des Titanenkampfes gegen die olympischen Götter durch Zeus nicht wie die anderen Titanen im Tartaros, dem tiefsten Ort der griechischen Unterwelt, verbannt, sondern soll fortan am westlichsten Punkt der Erde und somit nicht allein den Himmel hochstemmen. Atlas wird zudem in den heroischen Sagen zu Herakles und Perseus erwähnt. Spannend ist hierbei zu wähnen, dass Atlas kurzzeitig seine Last an Herakles übergibt und von Perseus mithilfe des Hauptes der Medusa versteinert wird. Dem Atlas wurde somit mehrfach die „Last“ abgenommen.

Anders als in der mythologischen „Vorlage“, hält Atlas in unserem heutigen, allgemeinen Bildgedächtnis zumeist die gesamte Erd-/Himmelskugel bzw. einen Globus und nicht „nur“ die Himmelscheibe oder Säulen, auf denen der Himmel lastet. Kunsthistorische Rezeptions- und Adaptionensprodukte formten dieses nun allgemein verinnerlichte Bild, welches ich hier wieder aufgreife, hinterfrage und zu aktualisieren versuche. So finden wir heute noch architektonische, stützende Bau- und Schmuckelemente, die Atlanten genannt werden.

Maik Schrainer: Der Krampf des Atlas, 2023.

Zu sehen ist ein zu Boden gegangener Atlas, der sich schmerzvoll an seine krampfende Wade fasst. Ein statisches Verharren, nach einem raschen Sturz. Der Blick geht zu seiner Linken, weg von der (Erd-)Kugel, wobei ein Schaden an dieser noch unklar scheint; sie ist auch durch den gewählten Bildausschnitt für den Betrachtenden verdeckt. Atlas schaut auf den unmittelbaren Schmerz, doch hält er mit der anderen (rechten) Hand noch immer an der Kugel fest. Es ist ein Griff zur Sicherung der Kugel, aber auch zum eigenen Schutz. Droht die Kugel weg zu rollen oder doch ihn zu überrollen? Das weitere Handeln von Atlas bleibt dem Betrachtenden unklar. Klar ist, dass Atlas unter seiner vorherigen Last zusammenbrach und seine „Aufgabe“ oder auch „Verpflichtung“ nicht „schaffen“ konnte. Auch nach seinem Scheitern verschwindet die Last noch immer nicht. Was ist nun, wenn nicht mal mehr Atlas die Weltkugel tragen kann?

Eine weitere mythologische Figur, Sisyphus, weißt aus meiner Sicht, viele Parallelen zu der des Atlas auf: Beide sind mit einer Tätigkeit bestraft worden, welche ewig fortwährend und nicht „abschließbar“ ist. Diese beinhaltet bei beiden Figuren eine Kugel im weiteren Sinne. Atlas hält die Weltkugel wohingegen Sisyphus einen immer wieder zurückrollenden Stein auf einen Berg hoch drücken muss. Die körperliche Belastung steht zwar bei erster Betrachtung zentral im Vordergrund, doch ist es auch eine psychologische. Die Sinnlosigkeit der eigenen Tätigkeit, ein zwangsläufiges Scheitern und die auferlegte Unfreiheit sind Grundmotive, die ich darin sehe. Der Titel der Arbeit Der Krampf des Atlas erscheint somit als ausschlaggebendes Element für die inhaltliche Verortung des Bildgegenstandes. Es hätte auch Sisyphus daliegen können. Doch durch die Benennung der Figur als Atlas wird klar, dass es sich bei der blauen Kugel um unsere Erde handelt. Der durch den Titel implizierte inhaltliche Gegenstand bietet dabei eine breite Identifikationsebene. In Zweigesprächen mit Betrachtenden wurden mir so individuelle und oft sehr intime, persönliche Deutungen des Bildes mitgeteilt. Ziellosigkeit, Selbstzweifel, Machtlosigkeit und nicht immer klar geäußerte aber vermeintlich allgegenwärtige, zu erfüllende Erwartungen wurden dabei thematisiert. Eine Person sprach über eigene Versagensängste, Leistungsdruck und mentalen Stress, welche sich dann wieder in Form von physischen Schmerzen äußern können. Eine andere Person sah in Atlas als ein Symbol für ein auf ihm lastendes Rollenbild.

Am Ende des Prozesses erschloss sich mir die Erkenntnis, dass auf jeden Sturz auch wieder ein Aufstehen folgt. Oder so hoffe ich.“


Biografie

MAIK SCHRAINER studiert seit 2018 Kunst, Geschichte und Erziehungswissenschaften am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald. Künstlerisch agiert er in den Bereichen Malerei, Zeichnung, Bildhauerei und Druckgrafik. Malerisch arbeitet er bevorzugt figurativ, mit variierend breitem und lebhaftem Duktus. Ausgehend von eigenen Gedanken- und Wortspielen, Mythen & Sagen und durch das Hinterfragen tradierter Bildformeln aktualisiert und entwickelt er diese weiter. Sein besonderes Interesse gilt dabei dem Körper, und der malerischen Wiedergabe von dessen Fleischlichkeit sowie seiner ihn umgebenden Haut

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