Das Projekt konzentriert sich auf die Erfahrungen der ersten Generation koreanischer Migrant:innen in Deutschland und stellt die Frage, wie diese Erinnerungen nicht nur bewahrt, sondern über Generationen hinweg interpretiert und weitergetragen werden. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem persönlichen Gedächtnis und kollektiven Erzählungen, zwischen gelebter Geschichte und ihrer medialen Übersetzung – als Spur, die sichtbar bleibt, aber auch stets im Wandel ist.
Durch HeRo: Begegnung mit der ersten Generation koreanischer Arbeitsmigrant:innen
Die koreanischen Einwanderer der ersten Generation in Deutschland setzten sich in den 1960er- und 1970er-Jahren aus Bergarbeitern und Krankenschwestern zusammen, die im Rahmen eines Abkommens zwischen der koreanischen und der deutschen Regierung nach Deutschland entsandt wurden. Und sie begannen dort ein neues Leben in einer fremden Sprache und Kultur. Die Bergarbeiter leisteten hauptsächlich schwere körperliche Arbeit in deutschen Bergwerken, und die Krankenschwestern arbeiteten unter anspruchsvollen Bedingungen in Krankenhäusern, wobei beide Gruppen auf ihre Weise zur deutschen Gesellschaft beitrugen. Anfangs standen sie als temporäre Gastarbeiter vor vielen Schwierigkeiten, doch mit der Zeit gründeten sie Familien und ließen sich in den Gemeinden nieder. Auf diese Weise schufen sie die Grundlage für eine koreanischstämmige Gemeinschaft, die sich bis in die zweite und dritte Generation fortsetzt.

HeRo-Haus, Schillerstraße 85, 10627 Berlin
HeRo ist eine kultursensible Altenhilfe, die sich vor allem an koreanische Migrant:innen richtet und Menschen unterstützt, die Pflege benötigen, sowie sie auf die letzte Lebensphase vorbereitet. HeRo organisiert ein breites Spektrum an kulturellen Aktivitäten, die auf die Bedürfnisse der koreanischen Senior:innen zugeschnitten sind. Dazu gehören Hobby-Workshops wie Armband-Basteln, Bildungsangebote wie Smartphone-Kurse für ältere Menschen, regelmäßige Sonntagsgottesdienste sowie weitere Aktivitäten in der Muttersprache, die Freizeit, Bildung und Religion verbinden. Darüber hinaus bietet HeRo umfassende Unterstützungsleistungen für ältere Menschen an, von alltäglicher Hilfe und Beratung bis hin zur Begleitung in der Hospizarbeit und Unterstützung bei Bestattungen. Besonders im HeRo-Haus wird ein Raum geschaffen, in dem Senior:innen nicht nur eine warme Mahlzeit genießen können, sondern auch Gelegenheiten haben, miteinander ins Gespräch zu kommen, Neues zu lernen und einander im Alltag zu unterstützen – ein Ort, der Gemeinschaft, Wärme und Lebensfreude vermittelt.
Neu gestartet wurde ein Spuren- und Erinnerungsprojekt, das gemeinsam mit drei jungen koreanischen Künstlerinnen realisiert wird. Drei koreanische Künstlerinnen, die in Berlin leben, suchen dabei jeweils in eigenen Workshops die Begegnung mit der ersten Generation koreanischer Migrant:innen. An dem Projekt nehmen Aro Han, Yuni Chung und Jiran Ha teil. Die drei Künstlerinnen leiten jeweils eigene Workshops, während ich, Mihyun Jo, das Projekt in der Video-Dokumentation begleite.
Aro Han lebt in Berlin und arbeitet als Pflegekraft sowie Projektleiterin mit Schwerpunkt auf audiovisueller Kunst, gemeinschaftlichen Veranstaltungen und kooperativem Schreiben. In ihrer Arbeit stehen Medientranslation, interdisziplinäre Zusammenarbeit und kollektive Prozesse im Mittelpunkt. Yuni (Hoa Yun) Chung ist eine in Berlin lebende transdisziplinäre Künstlerin. Sie arbeitet mit Performance, Choreografie, Installation, Video und Text. In ihren Projekten untersucht sie, wie Körper Geschichte und Machtstrukturen tragen und wie diese neu erfahrbar gemacht werden können. Jinran Ha ist eine in Berlin lebende Künstlerin und Designerin, deren interdisziplinäre Praxis sich zwischen postmigrantischer Erinnerungspolitik, feministischer Fürsorgearbeit und ökologischen Perspektiven bewegt. Ihre künstlerische Forschung verbindet Archivarbeit mit performativen, filmischen und installativen Formaten, häufig in Kollaboration mit migrantischen Communitys, Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen. Ich, Mihyun Jo, habe zeitgenössische Kunst in Korea studiert und im Rahmen meiner Abschlussarbeit ein experimentelles Dokumentar-Projekt über meine Mutter und das bereits abgerissene Elternhaus meiner Mutter durchgeführt. Der Workshop bei HeRo weckte mein Interesse, da er ähnliche Fragestellungen aufgreift – insbesondere die Auseinandersetzung mit Erinnerung, Generationen Unterschieden im Umgang mit Vergangenem und der Art und Weise, wie persönliche Geschichten erzählt und weitergegeben werden. Für die jungen Künstlerinnen bot der Raum HeRo ein großes Gefühl der Geborgenheit. Als in Deutschland lebende Koreaner:innen asiatischer Herkunft fühlten sie sich automatisch zur Lebens- und Geschichte der ersten Migrantengeneration hingezogen. In Korea war es selbstverständlich, „Koreaner:in“ zu sein, doch in Deutschland wurde die eigene Identität als „Asiate:in“ oder „Koreaner:in“ stärker wahrgenommen. Daher bedeutete die Teilnahme an der Dokumentation der Geschichten und Erinnerungen der ersten Generation für sie eine Erfahrung von großer Bedeutung.
식구(Sikgu) – Gemeinsam essen, Gemeinschaft erleben
Die Teilnehmer:innen des ersten Workshops am 30. September waren Seniorinnen, die Lunchbox-Lieferungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität organisiert hatten. Für diesen Workshop wurde diese Teilnehmergruppe bewusst ausgewählt, da ihre Kenntnisse und Geschichten den Austausch über Essen, dem zentralen Thema des Workshops, besonders bereichern würden. In der warmen Atmosphäre löste sich die anfängliche Anspannung schnell, und die Gespräche entwickelten sich von selbst. Besonders auffällig war, dass einige das Wort „Bento“ verwendeten, das aus dem Japanischen stammt, statt das koreanische „Dosirak“ – eine Art Lunchbox, traditionell gefüllt mit Reis, Beilagen und Gemüse. Dies machte deutlich, wie historische und kulturelle Einflüsse in der Sprache Spuren hinterlassen: Auch nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft lebten Wörter aus dem Japanischen im Koreanischen fort, was zeigt, wie Sprache und Kultur über Generationen hinweg miteinander verwoben sind. Solche scheinbar kleinen Unterschiede in der Wortwahl machten die Gespräche auf natürliche Weise lebendig und neugierig, wodurch eine vertraute und offene Atmosphäre entstand. Generationsunterschiede waren zwar spürbar, wirkten aber eher als Gelegenheit, einander zu verstehen und Gespräche fortzuführen, als Barriere.

Im Rahmen des Themas Essen stand im ersten Workshop das Gericht vietnamesische Sommerrollen im Mittelpunkt. Dieses Gericht wird in Deutschland oft als typisches „asiatisches Essen“ wahrgenommen, für die koreanischen Migrant:innen war es jedoch zugleich fremd und vertraut. Fremd erschien es, weil es in Korea nicht als typisches Hausessen gilt, sondern als ausländisches Gericht wahrgenommen wird und normalerweise in vietnamesischen Restaurants statt auf traditionellen koreanischen Esstischen serviert wird; vertraut wiederum, weil die Idee, Zutaten gemeinsam einzuwickeln und auf einmal zu essen, an die koreanische Esskultur erinnert – auch wenn dort statt Reispapier Blätter von Gemüse verwendet werden. Vor dem Workshop wurden die Teilnehmenden gebeten, Zutaten mitzubringen, die sie gerne in die Sommerrollen einfügen würden. Auf dem Tisch lagen anschließend all diese bunten Zutaten, und jede durfte eine auswählen und die dazugehörige Erinnerung oder Geschichte erzählen. Danach wurden alle Zutaten gemeinsam geschnitten, vorbereitet und zu Sommerrollen zusammengerollt. Beim gemeinsamen Zubereiten und Essen entstand ein lebendiger Austausch, bei dem Erfahrungen, Erinnerungen und kleine Geschichten auf natürliche Weise geteilt wurden.

Die Perilla-Blätter waren dabei eine besonders beliebte Zutat. Für die koreanischstämmigen Migrant:innen gehörten sie zu den am meisten vermissten Geschmäckern, doch bei HeRo konnten sie im Hinterhof angebaut und jederzeit frisch gegessen werden. An diesem Tag begleiteten Lachen und Gespräche die Zubereitung der Speisen; die einzelnen Zutaten wirkten wie Schlüssel, die nach und nach die Erinnerungen an den Geschmack der Mutter, an Landschaften der Heimat und an Kindheitserlebnisse öffneten. Am Ende entstand keine rein vietnamesische Sommerrolle, sondern ein völlig neuer Teller, in dem koreanische Chilipaste, eingelegter Rettich und Perilla-Blätter miteinander verschmolzen.
Meer, Vater, Meeresfrüchte – diese Worte standen auf dem Surimi und waren nur kurze Stichworte, doch sie riefen bei den Zuhörenden viel längere Geschichten hervor. Diejenigen, die Surimi mitgebracht hatten, erklärten, dass es in Deutschland als Ersatz für schwer erhältliche Meeresfrüchte diente, und teilten zugleich Erinnerungen an ihre Kindheit mit dem Vater am Meer. Vor den frittierten Garnelen stand das Wort „Sohn, köstlich“, und neben der Rucola war die Notiz zu lesen: „In Europa günstig, in Korea teuer, oft gegessen.“

Das HeRo-Haus war nicht nur ein Ort für Workshops, sondern ein Raum, in dem man sich fühlt wie bei einem Familienbesuch an einem Festtag.Im Koreanischen bedeutet das Wort „식구 (食口, Sikgu)“ wörtlich „essender Mund“, wird aber tatsächlich als „Familie“ verstanden. Die einzelnen Schriftzeichen haben eigene Bedeutungen: „食“ heißt „essen“ und „口“ heißt „Mund“. Zusammengesetzt beschreibt „식구“ also wörtlich „Menschen, die zusammen essen“, was metaphorisch für Familie steht. Es geht also nicht nur um Blutsverwandtschaft, sondern der Akt des gemeinsamen Essens selbst bildet eine Gemeinschaft. Zusammen am gleichen Tisch zu sitzen und das Essen zu teilen, ist mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Es ist ein Akt, der die Teilnehmenden zu „식구“ (Sikgu) macht.
Von Händen, Worten und geteilten Momenten
Der zweite Workshop wird von der Künstlerin Jinran Ha als Workshop zur Hand- und Nagelpflege durchgeführt, wobei der Schwerpunkt auf entspannender Massage liegt. Dabei liegt der Fokus auf den Händen älterer Frauen, die ihr Leben lang als Krankenschwestern in Deutschland tätig waren und deren Hände durch die Arbeit und Chemotherapie erschöpft sind. Der Workshop bot den Frauen die Möglichkeit, ihren erschöpften Händen Fürsorge und Aufmerksamkeit durch Massage zukommen zu lassen. Die Nagelkunst soll dabei nicht nur dekorativ sein, sondern die ästhetische und sinnliche Fürsorge auf die Hände der älteren Teilnehmenden zurückbringen.
Der dritte Workshop wird von der Künstlerin Aro Han als gemeinsames Schreibprojekt durchgeführt. Die Teilnehmenden lesen gemeinsam Werke koreanischer Dichterinnen. In ihren Gedichten spiegeln sich komplexe Identitäten wider – als Frauen, Mütter und Töchter, Migrantinnen und Asiatinnen. Durch das Lesen und die anschließenden Gespräche setzen sich die Teilnehmenden mit ihrer eigenen Geschichte und Identität auseinander. Dabei werden Erfahrungen als in Deutschland lebende koreanische Krankenschwestern, das Leben als Migrant:innen sowie Gefühle und Sprache innerhalb der deutsch-koreanischen Gemeinschaft geteilt. Beim Schreiben von Gedichten verbinden sich Generationen und Sprachen, und Erinnerungen werden lebendig. Auf dem Tisch treffen Muttersprache, Heimat und Vergangenheit wieder auf die Gegenwart.
Nach dem Abschluss der drei Workshops werden die Geschichten, das Gefühl von Berührung und Entspannung, das Essen, die Gedichte und die gemeinsam erlebten Momente in Form von Videos, Tischdecken und einem dokumentarischen Format festgehalten. Diese Materialien sollen später in einer gemeinsamen Vorführung mit den Teilnehmenden, ihren Familien und der HeRo-Gemeinschaft präsentiert werden. Beim Ansehen dieser Aufzeichnungen können die Teilnehmenden die damaligen Gefühle wiedererleben und einander sagen: „Es war wirklich schön damals.“ Dieses Projekt beschränkt sich nicht nur auf die drei Workshops, sondern soll auch in Zukunft fortgesetzt werden. Danach arbeiten die Künstler:innen und ich daran, die Erinnerungen der Teilnehmenden in vielfältigen Objekten wie Rezeptbüchern, Gedichtbänden oder Fotobüchern sichtbar zu machen und zu bewahren.
Unser Ziel geht damit über das reine „Dokumentieren“ hinaus: Es geht darum, ein Medium zu schaffen, das Generationen, Räume und Erinnerungen miteinander verbindet und neue Erfahrungen ermöglicht. Diese gesammelten Erinnerungen verschwinden nicht in der Zeit, sondern bleiben ruhig in unseren Herzen und schaffen neue Verbindungen und Momente. Letztlich wird dieses Projekt zu einer Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zeigt, dass wir einander erinnern, füreinander sorgen und gemeinsam neue Augenblicke gestalten können.Wir hoffen, dass jemand, der diese Dokumente in der Zukunft betrachtet, nicht nur die Vergangenheit erinnert, sondern auch ein Gefühl von Verbindung und Gastfreundschaft zwischen Generationen, Individuen und Orten erleben kann.
Nach dem ersten Workshop erhielten die Künstler:innen und ich von der Leiterin und den Teilnehmenden ein herzliches Willkommensgeschenk: Schokolade, selbstgemachte Duftkerzen und ein kleines, in Form eines Mandarinenten-Paares gestaltetes Keramik-Stäbchenhalter. Die Mandarinente symbolisiert das Glück in der Familie. Ich benutze diesen Mandarinenten-Stäbchenhalter nun täglich und denke dabei an die Person, die dieses Erbstück einst benutzt hat. Dieses Erbstück ist ein generationsübergreifendes Zeugnis, das dem Ziel unseres Projekts entspricht.
Biografie
MIHYUN JO studierte Bildende Kunst mit Schwerpunkt Visual Art an der Korea National University of Arts in Seoul. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigte sie sich zunächst mit Medienkritik und feministischen Fragestellungen. Ihr Abschlussprojekt war ein experimenteller Dokumentarfilm, der Erinnerungen an das Heimathaus ihrer Mutter aufgriff und diese in einem feministischen und medienkritischen Kontext reflektierte. Seit 2022 lebt sie in Deutschland und studiert Design im Masterstudiengang MMVR an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. In ihrer künstlerischen Praxis legt sie weniger Wert auf abstrakte, hochtheoretische oder philosophische Fragestellungen, sonder sucht nach Wegen, durch ihre Arbeiten kulturelle Unterschiede zu überbrücken und Themen zugestalten, die für ein breiteres Publikum nachvollziehbar und erfahrbar werden.