# 6 Editorial

Issue #6 (Ohn)Macht

Macht der Ohnmacht! 

Was bedeutet Macht? Ist sie ein singulärer Hochpunkt innerhalb einer Hierarchie, ein Prozess oder ein System? Wie drückt sie sich innerhalb von Herrschendenverhältnissen aus und ist die Existenz von Ohnmacht grundsätzlich an die der Macht geknüpft?

In einer Welt, die von Machtstrukturen durchdrungen ist, spielt das Gefühl der Ohnmacht eine ebenso zentrale Rolle wie die Macht selbst. Ohnmacht manifestiert sich auf vielfältige Weise – sei es in individuellen Erfahrungen, gesellschaftlichen Ungleichheiten oder politischen Systemen, die menschliche Existenzen prägen.

In Gemälden, Filmen oder Literatur wird sie oft auf eindrucksvolle Weise eingefangen. Es sind die Martyrien der Heiligen, die Trauer Marias um den sterbenden Gottessohn oder der schwindelerregende Effekt in Hitchcocks Vertigo, die uns dazu zwingen, die Tiefen der menschlichen Psyche zu erkunden. Werke wie Johann Heinrich Füsslis Nachtmahr oder Monica Bonvicinis Chainleather Swing widmen sich der Frage, in welcher Form sich Machträume etablieren, die meist Raum für Ohnmacht implizieren.

Auch Sinneswahrnehmungen sind Instrumente unseres Machtverständnisses: In der Kunst der Op-Art, die laut Borgzinner durch optische Täuschungen „das Auge attackiert”, erkennen wir dementsprechend eine metaphorische Darstellung der Ohnmacht gegenüber optischen Täuschungen – eine Dissonanz zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir zu verstehen glauben. Eine ähnliche Dissonanz spiegelt sich in politischen Strukturen wider, in denen Ohnmacht oft als Gegenposition zur politischen Macht fungiert.

Ohnmacht kann – in Anlehnung an Caspar David Friedrichs Werk – aber auch eine ästhetische Form annehmen, wenn der Mensch in der Natur und der Kunsterfahrung auf das Erhabene trifft. Im Sinne von Burke, Kant und Schiller ist es dann die überwältigende Erfahrung des Unerklärlichen, die über die Macht der eigenen Vorstellungskraft hinausgeht, uns mit dem Unausweichlichen konfrontiert und unser Machtverständnis herausfordert.

Die Ohnmacht in Milan Kunderas Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins erinnert uns daran, dass es Momente gibt, in denen wir uns von der Tiefe der Anziehung überwältigt fühlen. Diese Anziehung kann als Metapher für die Komplexität menschlicher Beziehungen und die fragile Bande der Macht verstanden werden.

Denn Ohnmacht ist nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich relevant. In einer Welt, in der Diskriminierung und Ungerechtigkeit existieren, dominieren vielerorts obsolete Machtgefüge, die es zu durchbrechen gilt .

Issue #6 von frame[less] widmet sich der komplexen und widersprüchlichen Natur der Ohnmacht zwischen Lähmung und Impuls, zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit, zwischen Macht und Übermacht, zwischen Individuum und Gesellschaft und lädt in vielseitigen Beiträgen dazu ein: zu überdenken, zu übermalen und gegebenenfalls zu überwinden.

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