TRANSCENDENTAL / HOMELESSNESS / HEADLESSNESS, 2025 – Cornelius Ferber & Lena Hugger

Die Stadt Neapel, die früher als „Tor zur Hölle“ bekannt war, ist inzwischen die von verwirrten Touristen heimgesuchte „Offenen Wunde Europas“. Ferber und Hugger beklagen das Fehlen eines „transzendentalen Obdachs“, doch im Verfall der neapolitanischen Kirchen neben dem dort praktizierten charismatischen Christentum meinen sie eine Möglichkeit zur Errichtung eines neuen Obdachs erblickt zu haben. Die Erschließung aller geschlossenen Kirchen der Stadt dient einem universalistischen Projekt, dessen Ziel ein unaussprechliches ist, inmitten der kaum auszuhaltenden spirituellen Kakophonie aus Hyperpräsenz, tiefer Geschichte und grausamer Romantik – wobei bis zum heutigen Tage nicht fest steht, ob es sich hierbei um eine Halluzination handelt.

Wen das Unheil trifft, zu einer Aussage über Neapel aufgefordert zu sein, der steht einem Maß an Aussichtslosigkeit gegenüber, welchem sittlicherweise der Freitod dient. Man tappt schnell in Logorrhoe, denn jede noch so versiffte Ecke dieser Stadt ist mit Bedeutung belastet. Neapel ist eine Multiplizität, immer schon international, theatralisch, grausam und lächerlich schön. Durch den Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. ist dort Zerfall und Kulturerbe miteinander verschmolzen, und bereits Goethe merkte an, dass die Neapolitaner immer noch in Höhlen (ihren Erdgeschosswohnungen) leben.

Unsere längst durchlöcherte Vernunft sucht immer noch nach einem Prinzip, was – unter der Vulkanasche – zu Grunde liegen könnte. In Neapel könnte die Spur von etwas genau so gut das Ding an sich sein, die Wahrheit auch nur ein Stilmittel. Der Hafen hier ist eine Wunde, die vom globalen Osten aufgespreizt wird, um eine neue, kapitalistische Welle der Reliquienfälschung voranzutreiben. 

So verwischt Neapel die Spuren seiner Vergangenheit, ohne sie komplett verschwinden zu lassen. Die gegenwärtige Geschichtsforschung nagt sich fest an der Denkfigur des Palimpsest, fetischisiert eine verschwundene Hochkultur, und verliert ab und an einen Freudentropfen in Anbedacht der sozialen Misslagen, welche die Stadt seit Jahrhunderten durch dauerhafte Fremdherrschaft und Naturkatastrophen verinnerlicht hat. Der Tourismus hat zugenommen: bequem überfallbare Deutsche vermengen sich mit einer intellektuell verarmten, pseudo-kosmopolitischen Elite in den Gassen des historischen Zentrums, welches nach wie vor das Potenzial birgt, zum Schauplatz des Niedersten zu werden, was der Mensch zu bieten hat. Damit ist nicht nur das Tragen eines Rucksacks auf dem Bauch gemeint, aber Neapel ist in vielerlei Hinsicht auch nicht mehr, sondern auf eine andere Art und Weise gefährlich als andere westliche Städte: die Unübersichtlichkeit der verwinkelten Gassen, die unzählbaren Sprachen und Codes, und die gleichzeitige Gleichgültigkeit der Neapolitaner gegenüber der allgegenwärtigen sensorischen Überfrachtung.

Jedwede Hoffnung auf Erlösung hat sich mittlerweile in den leeren Worthülsen von Priestern und Politikern totgelaufen. Dennoch schreibt Neapel bis heute dem Aggregatszustand, in dem sich das Blut des heiligen Januarius gerade befindet viel zu: eine ausbleibende Verflüssigung galt bereits als Omen für den zweiten Weltkrieg, das verheerende Irpina-Erdbeben und die COVID-Pandemie. Es ist ein Mysterium, welches nicht offiziell von der katholischen Kirche anerkannt wird — doch der Bischof von Neapel unterwirft sich ihm, wenn er am Morgen des relevanten Namenstages im Dom nach der Flüssigkeit des Bluts bittet.

Genau dieses Spannungsfeld war es, was uns ursprünglich in diese Stadt gezogen hat. Die Karte des historischen Zentrums ist mittlerweile eine Narbe in unserem Stammhirn. Als wir uns eines Abends in einer der zwei Bars in Neapel aufhielten, die ertragbare Musik spielen und erschwinglichen Alkohol verkaufen, wurde uns von der Seneszenz des historischen Zentrums berichtet. Ein Ort wie dieser, vor welchem die Gasse mit jungen Leuten gefüllt ist, war einer der Letzten seiner Art. Wir waren mittlerweile betrunken genug, um uns daraufhin vorzunehmen, dem dadurch entgegenzuwirken, dass wir einen neuen solchen Ort schaffen — in einer der vielen geschlossenen Kirchen Neapels.

Es schien uns eigentlich ganz einfach: erst machen wir alle geschlossenen Kirchen ausfindig, wir dokumentieren sie, und sortieren die Aufzeichnungen danach, welche sich für unser Vorhaben eignen. Danach würden wir einen Verantwortlichen ermitteln, und diesem eben unterbreiten, was wir vor haben. Wir sprechen von einer Art Offspace, aber was uns eigentlich treibt, ist der Wunsch nach transzendentalem Obdach. Wir hatten sicher mal eines, aber es wurde uns epistemisch entzogen; und in einer Kirche zu enden, ist bestimmt dem Kommunismus oder einer Sekte gegenüber zu bevorzugen. 

Wir sprachen also mit einem Filmemacher in Posilipo, in dessen Badewanne, während wir sein letztes Kokain feinsäuberlich vernichtet haben. Nachdem dieser uns kommunizierte, dass das Projekt nicht realisierbar sei, entwendeten wir seine Analogkamera und nahmen das erste Taxi nach Hause. Es war einige Monate später, dass das Goethe-Institut unerklärlicherweise beschlossen hat, dass ehrliche deutsche Steuerzahler unser Unterfangen finanzieren sollten.

Sofort zeigte sich eine unsichtbare Allgegenwärtigkeit heidnischer Kulte in den Unterkirchen der Stadt, am eindeutigsten in San Pietro ad Aram. Obwohl die katholische Kirche 1969 ein Verbot darauf ausgehangen hat, wird dort bis heute der Kult der armen Seelen praktiziert: unbekannte Tote werden durch Anrufung der Kirche wieder lebendig, um mit den Lebenden in Kontakt zu treten und ihnen den ein oder anderen Gefallen zukommen zu lassen — ein transaktionales Verhältnis, welches beide Seiten dringend brauchen, um Neapel aushalten zu können.

Dieses Verhältnis ist auch anderweitig fundamental für Interaktionen hier. Eine E-Mail erreicht hier niemanden. Das Medium wurde zwar irgendwann eingeführt, aber es führt nirgendwo hin. Die häufigste Rückmeldung die wir bisher erhalten haben, war, dass die angegebene Adresse nicht existieren würde.

Entsprechend begannen wir stattdessen die Leute auf der Straße zu drangsalieren, uns an Klingeln abzutasten, uns stundenlang tiefer in den Abgrund zu erniedrigen. Dabei war auch die Wahrheit der Aussagen nie ausschlaggebend, vielmehr war es die Qualität der Lügen, die einen vorantrieben. Es waren die Gerüchte, an die wir uns erinnerten, die uns den Einheimischen gegenüber vertrauenswürdig erscheinen ließen. Es gibt nicht das Absolute, dass für immer Bestand hat, sobald es gefunden wurde, sondern lauter kleine, aufeinander gestapelte Schichten, anhand derer man gelesen wird (und selber lesen kann).

Dank eines Buchs über geschlossene Kirchen des Architekten Luigi Ruggiero hatten wir so etwas wie einen Anker. Wir fanden sie: Monumentalkirchen, von denen es nur noch eine Mauer gibt, Kappellen und Bunker, jegliche Eingänge zugemauert, alles geschlossen. Ob es Juwelen des Barocks waren, die einzig neogotische Kirche der Stadt, oder frühchristliche Fundamente auf griechischen Tempelfundamenten, Neapel ließ sie verfallen und nutzte sie daraufhin auf etliche, legale und illegale Arten und Weisen. Alle sind etwa so einsturzgefährdet wie die Stadt selbst, eines Tages dem Untergang durch Ausbrechen des Megavulkans geweiht, auf dem sie erbaut wurde. Während es wenig Verständnis für Restauration gibt, herrscht der Wille zur Dekoration.

Der Neapolitaner ist ein Experte darin, etwas zerfallen zu lassen, aber wenn man ihn darauf hinweisen sollte, so wird er doch (etwas beschämt) den Weg zu einer geöffneten Kirche erklären, bevor er seinen Müll ordnungsgemäß beliebig auf der Straße verteilt. 

Unser Interesse an intakten Dingen schwand stetig. Das, was wir wollten, war eben Zerfall, ohne jegliche Intention etwas zu restaurieren. Dabei haben wir täglich unseren Verstand aufs Spiel gesetzt, bis schließlich das heiligste, was uns noch einfiel das Wort ‘Fotze’ war.

In Neapel gibt es keinen Untergrund, sondern Untergründe. So vital es ist, so sehr bringt es den Tod — seit Jahrtausenden: die Fotze, in die man zum Sterben zurück kriecht. Ein einbrechender Boden bringt einen möglicherweise um Jahrtausende zurück, und ein Erdrutsch hat schon häufiger die Gegenwart unter sich begraben. Es musste sich hier eine Religion entwickeln, welche die griechisch-ägyptischen Mysterienkulte nie aufzugeben wagte: White Voodoo, zutiefst materialistisch, wenn mit Materialismus die Bereitschaft gemeint ist, einen Totenschädel vom Friedhof zu plündern und ihn nach den morgigen Lottozahlen zu befragen.

Wir waren also verloren. In Neapel braucht man solche Begriffe wie ‘Sein zum Tode’ oder ‘Simulakrum’ nicht. Es sind Wahrheiten, derer Bedeutung sich jedes Kleinkind der Stadt enorm bewusst ist. Auch zeitgenössische Kunst jeglicher Art und Qualität wirkt lächerlich vor dessen manisch zusammengewürfelter Alltags-Ornamentik. Wir schämten uns für unser neurotisch katalogisierendes Deutschtum. Doch der Steuerzahler zahlte, und die Kirchen zu finden, wurde damit zum Selbstzweck, und die Ergebnisse unserer Recherche zunehmend unaussprechlich. Kirchen wurden nicht nur neu genutzt, sie wurden umgebaut oder verschwanden. Es dauerte nicht lang, da sahen wir in jedem Gebäude eine Kirche. 

Italien hatte eine Renaissance, aber nie eine Reformation. Neapel hatte nicht mal ein Mittelalter um die Antike zu beenden. Vernunft und Religion standen niemals in einem Widerspruch zueinander. Nichts geringeres als die Zukunft des gescheiterten westlichen Projekts entsteht hier: ein Leben oder ein Bewusstsein, für das die Sprache der Philosophie immer schon obsolet war.


Biografie

Der Kunsthistoriker CORNELIUS FERBER und die Künstlerin LENA HUGGER haben sich als outlaws der Kunstszene Düsseldorfs kennengelernt. Nach Jahren interdisziplinärer Zusammenarbeit als Teile von https://aphoticsignals.com stellen sie sich schließlich als beidseitig katholizistisch geschädigt wie gewachsene der Stadt Neapel heraus. Ferber und Hugger interessierten sich für die Schnittstelle zwischen künstlerischer Arbeit und Feldforschung und entwickelten daraus bereits philosophische Gedanken und einen Film.

Erinnerungen in der koreanischen Diaspora, 2025 – Jo Mihyun

Das Projekt konzentriert sich auf die Erfahrungen der ersten Generation koreanischer Migrant:innen in Deutschland und stellt die Frage, wie diese Erinnerungen nicht nur bewahrt, sondern über Generationen hinweg interpretiert und weitergetragen werden. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem persönlichen Gedächtnis und kollektiven Erzählungen, zwischen gelebter Geschichte und ihrer medialen Übersetzung – als Spur, die sichtbar bleibt, aber auch stets im Wandel ist.

Durch HeRo: Begegnung mit der ersten Generation koreanischer Arbeitsmigrant:innen

Die koreanischen Einwanderer der ersten Generation in Deutschland setzten sich in den 1960er- und 1970er-Jahren aus Bergarbeitern und Krankenschwestern zusammen, die im Rahmen eines Abkommens zwischen der koreanischen und der deutschen Regierung nach Deutschland entsandt wurden. Und sie begannen dort ein neues Leben in einer fremden Sprache und Kultur. Die Bergarbeiter leisteten hauptsächlich schwere körperliche Arbeit in deutschen Bergwerken, und die Krankenschwestern arbeiteten unter anspruchsvollen Bedingungen in Krankenhäusern, wobei beide Gruppen auf ihre Weise zur deutschen Gesellschaft beitrugen. Anfangs standen sie als temporäre Gastarbeiter vor vielen Schwierigkeiten, doch mit der Zeit gründeten sie Familien und ließen sich in den Gemeinden nieder. Auf diese Weise schufen sie die Grundlage für eine koreanischstämmige Gemeinschaft, die sich bis in die zweite und dritte Generation fortsetzt. 

HeRo-Haus, Schillerstraße 85, 10627 Berlin

 HeRo ist eine kultursensible Altenhilfe, die sich vor allem an koreanische Migrant:innen richtet und Menschen unterstützt, die Pflege benötigen, sowie sie auf die letzte Lebensphase vorbereitet. HeRo organisiert ein breites Spektrum an kulturellen Aktivitäten, die auf die Bedürfnisse der koreanischen Senior:innen zugeschnitten sind. Dazu gehören Hobby-Workshops wie Armband-Basteln, Bildungsangebote wie Smartphone-Kurse für ältere Menschen, regelmäßige Sonntagsgottesdienste sowie weitere Aktivitäten in der Muttersprache, die Freizeit, Bildung und Religion verbinden. Darüber hinaus bietet HeRo umfassende Unterstützungsleistungen für ältere Menschen an, von alltäglicher Hilfe und Beratung bis hin zur Begleitung in der Hospizarbeit und Unterstützung bei Bestattungen. Besonders im HeRo-Haus wird ein Raum geschaffen, in dem Senior:innen nicht nur eine warme Mahlzeit genießen können, sondern auch Gelegenheiten haben, miteinander ins Gespräch zu kommen, Neues zu lernen und einander im Alltag zu unterstützen – ein Ort, der Gemeinschaft, Wärme und Lebensfreude vermittelt.

 Neu gestartet wurde ein Spuren- und Erinnerungsprojekt, das gemeinsam mit drei jungen koreanischen Künstlerinnen realisiert wird. Drei koreanische Künstlerinnen, die in Berlin leben, suchen dabei jeweils in eigenen Workshops die Begegnung mit der ersten Generation koreanischer Migrant:innen. An dem Projekt nehmen Aro Han, Yuni Chung und Jiran Ha teil. Die drei Künstlerinnen leiten jeweils eigene Workshops, während ich, Mihyun Jo, das Projekt in der Video-Dokumentation begleite.

 Aro Han lebt in Berlin und arbeitet als Pflegekraft sowie Projektleiterin mit Schwerpunkt auf audiovisueller Kunst, gemeinschaftlichen Veranstaltungen und kooperativem Schreiben. In ihrer Arbeit stehen Medientranslation, interdisziplinäre Zusammenarbeit und kollektive Prozesse im Mittelpunkt. Yuni (Hoa Yun) Chung ist eine in Berlin lebende transdisziplinäre Künstlerin. Sie arbeitet mit Performance, Choreografie, Installation, Video und Text. In ihren Projekten untersucht sie, wie Körper Geschichte und Machtstrukturen tragen und wie diese neu erfahrbar gemacht werden können. Jinran Ha ist eine in Berlin lebende Künstlerin und Designerin, deren interdisziplinäre Praxis sich zwischen postmigrantischer Erinnerungspolitik, feministischer Fürsorgearbeit und ökologischen Perspektiven bewegt. Ihre künstlerische Forschung verbindet Archivarbeit mit performativen, filmischen und installativen Formaten, häufig in Kollaboration mit migrantischen Communitys, Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen. Ich, Mihyun Jo, habe zeitgenössische Kunst in Korea studiert und im Rahmen meiner Abschlussarbeit ein experimentelles Dokumentar-Projekt über meine Mutter und das bereits abgerissene Elternhaus meiner Mutter durchgeführt. Der Workshop bei HeRo weckte mein Interesse, da er ähnliche Fragestellungen aufgreift – insbesondere die Auseinandersetzung mit Erinnerung, Generationen Unterschieden im Umgang mit Vergangenem und der Art und Weise, wie persönliche Geschichten erzählt und weitergegeben werden. Für die jungen Künstlerinnen bot der Raum HeRo ein großes Gefühl der Geborgenheit. Als in Deutschland lebende Koreaner:innen asiatischer Herkunft fühlten sie sich automatisch zur Lebens- und Geschichte der ersten Migrantengeneration hingezogen. In Korea war es selbstverständlich, „Koreaner:in“ zu sein, doch in Deutschland wurde die eigene Identität als „Asiate:in“ oder „Koreaner:in“ stärker wahrgenommen. Daher bedeutete die Teilnahme an der Dokumentation der Geschichten und Erinnerungen der ersten Generation für sie eine Erfahrung von großer Bedeutung.

식구(Sikgu) – Gemeinsam essen, Gemeinschaft erleben

 Die Teilnehmer:innen des ersten Workshops am 30. September waren Seniorinnen, die Lunchbox-Lieferungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität organisiert hatten. Für diesen Workshop wurde diese Teilnehmergruppe bewusst ausgewählt, da ihre Kenntnisse und Geschichten den Austausch über Essen, dem zentralen Thema des Workshops, besonders bereichern würden. In der warmen Atmosphäre löste sich die anfängliche Anspannung schnell, und die Gespräche entwickelten sich von selbst. Besonders auffällig war, dass einige das Wort „Bento“ verwendeten, das aus dem Japanischen stammt, statt das koreanische „Dosirak“ – eine Art Lunchbox, traditionell gefüllt mit Reis, Beilagen und Gemüse. Dies machte deutlich, wie historische und kulturelle Einflüsse in der Sprache Spuren hinterlassen: Auch nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft lebten Wörter aus dem Japanischen im Koreanischen fort, was zeigt, wie Sprache und Kultur über Generationen hinweg miteinander verwoben sind. Solche scheinbar kleinen Unterschiede in der Wortwahl machten die Gespräche auf natürliche Weise lebendig und neugierig, wodurch eine vertraute und offene Atmosphäre entstand. Generationsunterschiede waren zwar spürbar, wirkten aber eher als Gelegenheit, einander zu verstehen und Gespräche fortzuführen, als Barriere. 

Im Rahmen des Themas Essen stand im ersten Workshop das Gericht vietnamesische Sommerrollen im Mittelpunkt. Dieses Gericht wird in Deutschland oft als typisches „asiatisches Essen“ wahrgenommen, für die koreanischen Migrant:innen war es jedoch zugleich fremd und vertraut. Fremd erschien es, weil es in Korea nicht als typisches Hausessen gilt, sondern als ausländisches Gericht wahrgenommen wird und normalerweise in vietnamesischen Restaurants statt auf traditionellen koreanischen Esstischen serviert wird; vertraut wiederum, weil die Idee, Zutaten gemeinsam einzuwickeln und auf einmal zu essen, an die koreanische Esskultur erinnert – auch wenn dort statt Reispapier Blätter von Gemüse verwendet werden. Vor dem Workshop wurden die Teilnehmenden gebeten, Zutaten mitzubringen, die sie gerne in die Sommerrollen einfügen würden. Auf dem Tisch lagen anschließend all diese bunten Zutaten, und jede durfte eine auswählen und die dazugehörige Erinnerung oder Geschichte erzählen. Danach wurden alle Zutaten gemeinsam geschnitten, vorbereitet und zu Sommerrollen zusammengerollt. Beim gemeinsamen Zubereiten und Essen entstand ein lebendiger Austausch, bei dem Erfahrungen, Erinnerungen und kleine Geschichten auf natürliche Weise geteilt wurden.

Die Perilla-Blätter waren dabei eine besonders beliebte Zutat. Für die koreanischstämmigen Migrant:innen gehörten sie zu den am meisten vermissten Geschmäckern, doch bei HeRo konnten sie im Hinterhof angebaut und jederzeit frisch gegessen werden. An diesem Tag begleiteten Lachen und Gespräche die Zubereitung der Speisen; die einzelnen Zutaten wirkten wie Schlüssel, die nach und nach die Erinnerungen an den Geschmack der Mutter, an Landschaften der Heimat und an Kindheitserlebnisse öffneten. Am Ende entstand keine rein vietnamesische Sommerrolle, sondern ein völlig neuer Teller, in dem koreanische Chilipaste, eingelegter Rettich und Perilla-Blätter miteinander verschmolzen.

Meer, Vater, Meeresfrüchte – diese Worte standen auf dem Surimi und waren nur kurze Stichworte, doch sie riefen bei den Zuhörenden viel längere Geschichten hervor. Diejenigen, die Surimi mitgebracht hatten, erklärten, dass es in Deutschland als Ersatz für schwer erhältliche Meeresfrüchte diente, und teilten zugleich Erinnerungen an ihre Kindheit mit dem Vater am Meer. Vor den frittierten Garnelen stand das Wort „Sohn, köstlich“, und neben der Rucola war die Notiz zu lesen: „In Europa günstig, in Korea teuer, oft gegessen.“

Das HeRo-Haus war nicht nur ein Ort für Workshops, sondern ein Raum, in dem man sich fühlt wie bei einem Familienbesuch an einem Festtag.Im Koreanischen bedeutet das Wort „식구 (食口, Sikgu)“ wörtlich „essender Mund“, wird aber tatsächlich als „Familie“ verstanden. Die einzelnen Schriftzeichen haben eigene Bedeutungen: „食“ heißt „essen“ und „口“ heißt „Mund“. Zusammengesetzt beschreibt „식구“ also wörtlich „Menschen, die zusammen essen“, was metaphorisch für Familie steht. Es geht also nicht nur um Blutsverwandtschaft, sondern der Akt des gemeinsamen Essens selbst bildet eine Gemeinschaft. Zusammen am gleichen Tisch zu sitzen und das Essen zu teilen, ist mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Es ist ein Akt, der die Teilnehmenden zu „식구“ (Sikgu) macht.

Von Händen, Worten und geteilten Momenten

Der zweite Workshop wird von der Künstlerin Jinran Ha als Workshop zur Hand- und Nagelpflege durchgeführt, wobei der Schwerpunkt auf entspannender Massage liegt. Dabei liegt der Fokus auf den Händen älterer Frauen, die ihr Leben lang als Krankenschwestern in Deutschland tätig waren und deren Hände durch die Arbeit und Chemotherapie erschöpft sind. Der Workshop bot den Frauen die Möglichkeit, ihren erschöpften Händen Fürsorge und Aufmerksamkeit durch Massage zukommen zu lassen. Die Nagelkunst soll dabei nicht nur dekorativ sein, sondern die ästhetische und sinnliche Fürsorge auf die Hände der älteren Teilnehmenden zurückbringen.

Der dritte Workshop wird von der Künstlerin Aro Han als gemeinsames Schreibprojekt durchgeführt. Die Teilnehmenden lesen gemeinsam Werke koreanischer Dichterinnen. In ihren Gedichten spiegeln sich komplexe Identitäten wider – als Frauen, Mütter und Töchter, Migrantinnen und Asiatinnen. Durch das Lesen und die anschließenden Gespräche setzen sich die Teilnehmenden mit ihrer eigenen Geschichte und Identität auseinander. Dabei werden Erfahrungen als in Deutschland lebende koreanische Krankenschwestern, das Leben als Migrant:innen sowie Gefühle und Sprache innerhalb der deutsch-koreanischen Gemeinschaft geteilt. Beim Schreiben von Gedichten verbinden sich Generationen und Sprachen, und Erinnerungen werden lebendig. Auf dem Tisch treffen Muttersprache, Heimat und Vergangenheit wieder auf die Gegenwart.

Nach dem Abschluss der drei Workshops werden die Geschichten, das Gefühl von Berührung und Entspannung, das Essen, die Gedichte und die gemeinsam erlebten Momente in Form von Videos, Tischdecken und einem dokumentarischen Format festgehalten. Diese Materialien sollen später in einer gemeinsamen Vorführung mit den Teilnehmenden, ihren Familien und der HeRo-Gemeinschaft präsentiert werden. Beim Ansehen dieser Aufzeichnungen können die Teilnehmenden die damaligen Gefühle wiedererleben und einander sagen: „Es war wirklich schön damals.“ Dieses Projekt beschränkt sich nicht nur auf die drei Workshops, sondern soll auch in Zukunft fortgesetzt werden. Danach arbeiten die Künstler:innen und ich daran, die Erinnerungen der Teilnehmenden in vielfältigen Objekten wie Rezeptbüchern, Gedichtbänden oder Fotobüchern sichtbar zu machen und zu bewahren.

Unser Ziel geht damit über das reine „Dokumentieren“ hinaus: Es geht darum, ein Medium zu schaffen, das Generationen, Räume und Erinnerungen miteinander verbindet und neue Erfahrungen ermöglicht. Diese gesammelten Erinnerungen verschwinden nicht in der Zeit, sondern bleiben ruhig in unseren Herzen und schaffen neue Verbindungen und Momente. Letztlich wird dieses Projekt zu einer Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zeigt, dass wir einander erinnern, füreinander sorgen und gemeinsam neue Augenblicke gestalten können.Wir hoffen, dass jemand, der diese Dokumente in der Zukunft betrachtet, nicht nur die Vergangenheit erinnert, sondern auch ein Gefühl von Verbindung und Gastfreundschaft zwischen Generationen, Individuen und Orten erleben kann.

Nach dem ersten Workshop erhielten die Künstler:innen und ich von der Leiterin und den Teilnehmenden ein herzliches Willkommensgeschenk: Schokolade, selbstgemachte Duftkerzen und ein kleines, in Form eines Mandarinenten-Paares gestaltetes Keramik-Stäbchenhalter. Die Mandarinente symbolisiert das Glück in der Familie. Ich benutze diesen Mandarinenten-Stäbchenhalter nun täglich und denke dabei an die Person, die dieses Erbstück einst benutzt hat. Dieses Erbstück ist ein generationsübergreifendes Zeugnis, das dem Ziel unseres Projekts entspricht.


Biografie

MIHYUN JO studierte Bildende Kunst mit Schwerpunkt Visual Art an der Korea National University of Arts in Seoul. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigte sie sich zunächst mit Medienkritik und feministischen Fragestellungen. Ihr Abschlussprojekt war ein experimenteller Dokumentarfilm, der Erinnerungen an das Heimathaus ihrer Mutter aufgriff und diese in einem feministischen und medienkritischen Kontext reflektierte. Seit 2022 lebt sie in Deutschland und studiert Design im Masterstudiengang MMVR an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. In ihrer künstlerischen Praxis legt sie weniger Wert auf abstrakte, hochtheoretische oder philosophische Fragestellungen, sonder sucht nach Wegen, durch ihre Arbeiten kulturelle Unterschiede zu überbrücken und Themen zugestalten, die für ein breiteres Publikum nachvollziehbar und erfahrbar werden.

Typosphere Kolkata, 2023 – Anja Bohnhof

Was in Teilen der Welt heute als bewusste Entscheidung zur qualitativen Entschleunigung verstanden wird, ist andernorts manchmal noch Alltagsrealität, wenn die Nutzung der Schreibmaschine zur täglichen Arbeit gehört. So zum Beispiel bei den sogenannten Pavement Typists in Kolkata, Indien, die ihre Schreibdienste auf Bürgersteigen im Freien vor öffentlichen Behörden und Gerichtsgebäuden anbieten. 

Die Serie Tables aus dem Projekt Typosphere zeigt Aufnahmen der Arbeitstische, der Schreibmaschine und einigen Arbeitsutensilien sowie persönliche Dinge der jeweiligen Besitzer. Für die Aufnahmen wurden die Tische und Maschinen in einem temporär errichteten Studio in der Nähe des Kolkata High Court fotografiert. 

Kolkata, Indien
© Anja Bohnhof, 2023, all rights reserved

Assistent*innen: Sumit Mitra, Koushik
Mukherjee, Lara Stubbe

32 Fotografien, fine art prints,
40 x 50 cm / 50 x 60cm / 70 x 90 cm

Projektförderung
Kulturwerk der VG Bild-Kunst GmbH,
Bonn, 2023


Biografie

ANJA BOHNHOF (*1974, Hagen) lebt und arbeitet in Dortmund. Nach einer fotografischen Ausbildung studierte sie Visuelle Kommunikation und Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2004 arbeitet sie freiberuflich als Fotografin und Bildende Künstlerin; von 2006 bis 2014 lehrte sie Fotografie an der Hochschule Köln. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit Aspekten der deutschen Geschichte und kulturellen Wahrnehmung, zuletzt mit Fokus auf Indien. Ihr Langzeitprojekt Tracking Gandhi (2019) wurde u. a. im National Gandhi Museum, New Delhi, gezeigt. Ihre Werke sind in bedeutenden Sammlungen vertreten und wurden mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Gisela-Bonn-Preis 2015. Sie wird von der Galerie m, Bochum, vertreten.

KÖRPER WISSEN WÄRE MACHT – Choreografie des Widerstands, 2025 – Sarah Maria Serve

Abb.1: Sarah Maria Serve: protest claw, 2025, Foto: Leolo Laubinger

Künstlich verlängerte Fingernägel aus Materialien wie Acryl oder Gel sind selbstverständlicher Teil zeitgenössischer Körpermodifikation und Ausdruck individueller Selbstpräsentation geworden. Im Sinne von Sara Ahmed lässt sich der Kunstnagel aber auch als feministisches Tool verstehen – als Werkzeug, das aus Erfahrung, Verletzung und Widerstand hervorgeht. Er ist Teil einer Praxis, die mit dem Körper gegen normative Ordnungen arbeitet – und neue Realitäten denkbar macht. In Sarah Maria Serves künstlerischer Auseinandersetzung KÖRPER WISSEN WÄRE MACHT setzt sie den Kunstnagel als ein solches feministisches Tool ein. Ihre überproportional geformten Nägel aus Glas, werden zu scharfen Krallen, politischen Werkzeugen der Selbstermächtigung und raumeinnehmenden Ornamenten des Widerstands. Wobei die Zerbrechlichkeit des Materials gegenübergestellt mit dessen Scharfkantigkeit auf das ambivalente Zusammenspiel aus Verletzlichkeit und Härte verweist. 


pose. (engl. Imperativ: posiere) – beschreibt einen Moment des Stillstands: der Ruhe, der Atmung, der Besinnung auf die aktuelle Haltung des Körpers – und ihre Bedeutung im emotionalen wie politischen Sinne.

Abb. 14: Sarah Maria Serve: stretch and scratch, 2025, Foto: Leolo Laubinger

© Sarah Maria Serve

Entwicklung der Glasobjekte in Kollaboration mit der Künstlerin Simone Fezer


Biografie

SARAH MARIA SERVE absolvierte ihr Architekturstudium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Dort schloss sie 2025 mit der Masterarbeit „Körper Wissen Wäre Macht“ ab, für die sie mit dem Akademiepreis ausgezeichnet wurde. Zuvor studierte sie Psychologie an der Universität von Amsterdam sowie Architektur im Bachelor an der Universität Stuttgart. Ein bedeutender Teil ihrer künstlerischen Praxis ist der performative Dialog zwischen Körper und Raum, bei dem sie ihren eigenen Körper als Werkzeug und Ausdrucksmittel politischer (Re-)Aktion einsetzt. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch einen multimedialen Ansatz aus, wobei die Zusammenarbeit mit anderen Künstler:innen eine tragende Rolle spielt.

Die Jagd, 2025 – Moritz Berg & Lennart Cleemann

Für die Ausstellung Die Jagd (Künstlerhaus Stuttgart, 2022) begeben sich Moritz Berg und Lennart Cleemann im Kräherwald (Stuttgart) auf die Nachsuche. Eine Annäherung zweier Künstler und ihrer Praxis mit der Natur. Nahe der Erde, dem vermeintlich Toten nahetretend. Von Frühling über Herbst. Das Tun wird jagen, bedächtig, außerhalb des üblichen Zeitempfindens. Das Ritual konstituiert den Wandel. Die Trophäe verewigt den Verfall und festigt unsere Zeit.

Zwischen Archaik und Moderne

Die Jagd ist ein Zeugnis der barbarischen Zivilisation. 

Sie ist der zweite archaische Zustand, nach dem der Sammler und Lotophagen, welche ihr Essen direkt von der Natur (konkret der Flora) entnehmen. Das Jagen von Tieren bedingt das Recht des Stärkeren und ist somit ein gewaltvoller Zustand, in dem die bewusste Entscheidung zur Beendung des Lebens des Tieres steht um das eigene Überleben zu sichern. 

„Die nächste Gestalt, zu der Odysseus verschlagen wird – verschlagen werden und verschlagen sein sind bei Homer Äquivalente –, der Kyklop Polyphem, trägt sein eines rädergroßes Auge als Spur der gleichen Vorwelt: das eine Auge mahnt an Nase und Mund, primitiver als die Symmetrie der Augen und Ohren, welche in der Einheit zweier zur Deckung gelangender Wahrnehmungen Identifikation, Tiefe, Gegenständlichkeit überhaupt erst bewirkt. Aber er repräsentiert dennoch den Lotophagen gegenüber ein späteres, das eigentlich barbarische Weltalter als eines von Jägern und Hirten. Die Bestimmung der Barbarei fällt für Homer zusammen mit der, daß kein systematischer Ackerbau betrieben werde und darum noch keine systematische, über die Zeit disponierende Organisation von Arbeit und Gesellschaft erreicht sei. Er nennt die Kyklopen ‚ungesetzliche Frevler‘, weil sie, und darin liegt etwas wie ein geheimes Schuldbekenntnis der Zivilisation selber, ‚der Macht unsterblicher Götter vertrauend, / Nirgend baun mit Händen, zu Pflanzungen oder zu Feldfrucht; / Sondern ohn‘ Anpflanzer und Ackerer steigt das Gewächs auf, / Weizen sowohl und Gerst‘, als edele Reben, belastet / Mit großtraubigem Wein, und Kronions Regen ernährt ihn.‘ Die Fülle bedarf des Gesetzes nicht, und fast klingt die zivilisatorische Anklage der Anarchie wie eine Denunziation der Fülle: ‚Dort ist weder Gesetz, noch Ratsversammlung des Volkes, / Sondern all‘ umwohnen die Felsenhöhn der Gebirge, / Rings in gewölbeten Grotten; und jeglicher richtet nach Willkür / Weiber und Kinder allein; und niemand achtet des andern.’“ 

– Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 71f

Das Jagen hat einen festen Bestandteil in unserer modernen Kultur, die Beforstung der mitteleuropäischen Wälder ist nur möglich, wenn Jäger Flora und Fauna im Gleichgewicht halten. Das Trophäensammeln als Teil dieser Kultur wird von Horkheimer und Adorno nicht erwähnt, jedoch liegt der Fokus von Berg und Cleemann auf diesem Thema. 

Die Künstler, welche beide ein Architekturstudium absolviert haben, bewegen sich im Spektrum zwischen Natur und Kultur. Moritz Bergs Arbeiten versuchen Naturspuren/-phänomene vorwiegend auf der Leinwand einzufassen. Lennart Cleemanns Arbeiten sind vielfältig, kommunizieren vorwiegend über den Raum mit intellektuellem Humor und Material-/Readymadekombinationen. 

Die Schnittmenge der beiden offenbart sich in den Arbeiten für Die Jagd, für welche sie gemeinsam wie Jäger im Kräherwald bei Stuttgart verschiedene Naturabgüsse nahmen. Zwei Abendteurer, die sich mit dem Auto aufmachten, Gips, Beton, Latex und Werkzeuge im Gepäck, um zurückzukehren mit den Trophäen der Jagd. Es ist ein Prozess, der mehr den Eindruck eines Sammelns vermittelt als den des Jagens. Die Pirsch, also das Sichten, Festlegen und Ausführen der Abdrücke bedarf einer Feinfühligkeit und Behutsamkeit wie sie beim Pilze sammeln erforderlich ist. 
Vielleicht ist es aber auch ein Jagen der Abdrücke selbst, worauf die Künstler anspielen, quasi ein Erstellen eines Kadavers, der dann präzise im (Ausstellungs-)Raum positioniert zum Kulturobjekt, zur Trophäe wird. 

Die Arbeiten der Ausstellung sprechen beide Sprachen, die der Sammlung / Lagerung und die der Schaustellung. Die zwei im Raum stehenden Regale weisen diese Bilingualität direkt auf, das eine (mit den Wurzelstümpfen) wirkt wie ein Herbarium oder eine Artensammlung, das andere enthält Gips- und Betonabgüsse, gefaltete Latexabdrücke und Textilien. Sie wirken wie nicht aufgehängt/-stellte Arbeiten, doch stellen die Regale durch ihre vertikale Erscheinung einen Bezug zu den anderen Objekten und dem Raum her. 

Durch ihre Vertikalität konfrontieren sie dem Betrachter als ein Gegenüber und kommunizieren mit der dritten im Raum freistehenden Arbeit, welche aus einem vertikal aufgestellten Ast und einem langen Rindenabdruck besteht. Der dicke Ast ist auf den Kopf gestellt und wird durch eine angeschraubte kurze Holzlatte zu einem auf drei Beinen stehenden Wesen, das den Abdruck stützt. Der Abdruck liegt leicht schräg, diagonal in der Ausstellung und lädt in den Raum ein. Auf Grund der vielen Rinden- und Moosrückstände, wirkt er zuerst wie ein Ausschnitt des Waldbodens, auf dem die Arbeiten entstanden. Dann bei näherer Betrachtung und dem Folgen der Richtung der Arbeit in die Vertikale stellt man fest, dass es sich um einen Rindenabdruck handelt. 

Anders erscheint jedoch der Abdruck in der Ecke, welcher ebenfalls aufgehängt ist, dieser erscheint wie ein gehäutetes Tier. Das liegt vor allem an der dominierenden Farblichkeit der Gaze und des Latex, aber auch an dem unteren Ende mit seinen zwei ausgestreckten Ecken und den hervorstehenden Mittelstück. Hier denkt man schnell an einen Tierkopf oder -schwanz bei einem ausgelegten Leder, wie man sie auch bei der typischen Kennzeichnung für echtes Leder kennt. Die Ecken erinnern an zwei kurze Beine, die Rinde und das Moos erinnern an Fellflecken.

Das mit Gaze armierte Latex der verschiedenen Abdrücke lässt bei vielen Arbeiten den Eindruck von Haut erwecken, durchaus verweisend auf die barbarische Natur des Titels der Ausstellung und die vollständige Verwendung der Tierkadaver. In der Dusche entsteht dann eine humoristische und groteske Wendung. 

Der dort aufgehängte Baumabdruck wirft die Frage auf, warum die Abdrücke nicht vollständig von den Rinden- und Moosstücken gereinigt wurden. Die Intention der Künstler wird klar. Es handelt sich hier nicht um einen Zufall oder gar Faulheit, es ist das bewusste Spiel mit Haut, Natur, Tod und Dreck. Die Abrücke der Äste hängen von der Decke, sie wölben sich nach innen und wirken wie überlange Arme oder Würste. Man kommt nicht darum herum an Schlachthäuser zu denken. Die Dusche wird wie in Alfred Hitchcocks Film Psycho zum Ort des Horrors, auch ohne Duschvorhang und Blut. 

Eindeutiger wird dieser Blick auf die Arbeiten bei dem an der Wand hängenden Rautengitter. Hierauf befindet sich ein Abdruck, der durch die dichte Stauchung der Gaze schon fast rosa wirkt. An den Rändern steht Moos von der Rückseite über, aber es ist kaum ersichtlich, ob es sich überhaupt um einen Abdruck handelt, denn das Textil, also die eigentliche Rückseite eines Abdrucks wird zu einem länglichen Knäul. Es enthält ein Loch, vermutlich die Gegenform eines Astes, durch welches ein spitzer Fleischerhaken stößt. Der Knäul wirkt somit wie ein aufgehängter Schinken. Das rechteckige Streckmetall ist Träger, Hintergrund und Rahmen für das Einzelstück. Die formale Nähe zum Fleisch eröffnet eine Reflexion über das Verhältnis von Natur und Kultur: Ist das Abdrucknehmen eine Ausbeutung der Natur? Welche Ähnlichkeiten hat es mit dem Schlachten? Ist es nicht ein wortwörtliches Ausschlachten des Waldes? Bringt man das Moos dabei um? Welche Rolle spielt unsere Gewalt über Flora und Fauna in unserem täglichen Umgang? Welche Rolle der Tod in der Natur? 

Viele Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort gibt, stattdessen erlangt man beim Betrachten der Ausstellung ein höheres Verständnis der Komplexität unserer Interaktion mit Natur. 

Die beiden forschenden Künstler sind in den Wald gegangen, um Fragen über unsere Existenz zu stellen. In all unserer Komplexität sind sie mit dem Auto und Rollwägen gekommen, um Spuren der Widersprüche zwischen Natur und unserer Zivilisation zu sammeln. Die Materialien geben einen Einblick auf das Gedankenspiel, welches Berg und Cleemann vorführen. Man bedient sich der Gaze, des Betons und der vielseitigen Bewehrungen; mineralische Baustoffe halten die Natur in ihrer Form fest. Die Naturformen treten durch die Abdrücke in Erscheinung und werden somit selbst Natur als Kulturprodukt. 

„Es ist eine bereits patriarchale Sippengesellschaft, basierend auf der Unterdrückung der physisch Schwächeren, aber noch nicht organisiert nach dem Maße des festen Eigentums und seiner Hierarchie, und es ist die Unverbundenheit der in der Höhle Hausenden, die den Mangel an objektivem Gesetz und damit den homerischen Vorwurf der wechselseitigen Nichtachtung, des wilden Zustands, eigentlich begründet.“ 

– Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 72

Die Arbeiten versprühen eine Poesie der Anarchie des Archaischen und drängen zur Schaffung einer alternativen Gesellschaft. Schließlich ist jeder frei dazu, in den Wald zu gehen und Kunst zu machen. Die Welt wird in humorvollen Anekdoten dargelegt, von Anspielungen der Gewalt bis Naturfetisch präsentieren die Künstler eine Bandbreite der zeitgenössischen und vergangenen Kultur. 

Dies unterscheidet ihre Arbeiten auch von der Vorstellung Homers. Der Ton, welcher wohlbekannt die Musik macht, ist grundlegend verschieden. Die Anarchie der Künstler ist demokratisch und ein Verweis auf eine vergangene (oder kommende) Welt. Homers Vorstellung vom Waldmenschen ist die eines Barbaren, das Patriarchat hat dort Vorrecht.
 Beide Uto-/Dystopien treffen sich in der Hinterfragung der gegebenen Gesellschaftsstruktur. Hier ergibt sich die Möglichkeit zu fragen: Wie? Wie gestalten wir eine kommende Gesellschaft? Wie leben wir zusammen? Wie entwerfen und entwickeln wir unsere Arbeiten? Aus welchem Umfeld heraus? 

Es ist eine ständige Diskussion, welche sich in Form von verschiedensten Naturabdrücken äußert. Die Konstellationen gehen von Rauminstallationen und Regalsammlungen über Wandreliefe zu Stelen. 

Die Ausstellung lädt Betrachtende immer wieder zum genaueren Hinsehen ein. Viele Abdrücke, vor allem die Beton- und Gipsgüsse, erwecken eine Faszination für die Kleinteiligkeit und Schönheit der Natur. Sie sind ansprechend, teilweise sogar harmonisch, wie die Natur selbst. Wie Sonntagsspaziergänger:innen im Wald, die an manch schönem Ort die Natur in seiner Komplexität der Oberflächen erfahren, sind auch die Arbeiten wortwörtlich Abdruck derselben. 

Text: Pirmin Wollensak
Bildcredits: Ausstellungsansichten: Moritz Berg und Lennart Cleemann, Die Jagd, Künstlerhaus Stuttgart 2022, Fotograf: Kai Knörzer


Biografie
MORITZ BERG (*1994) lebt und arbeitet in Stuttgart, Deutschland. Seine künstlerische Praxis basiert auf dem Studium der Wahrnehmung und der ästhetischen Wirkung einer von der Natur geprägten Umgebung. Ausgehend von alltäglichen und zugleich vergänglichen Momenten entwickelt er ein visuelles Vokabular, das die Schnelllebigkeit des Alltags reflektiert und die verborgenen Qualitäten scheinbarer Nichtigkeiten sichtbar macht. Seine Arbeiten loten die Möglichkeiten einer Symbiose zwischen Mensch und Natur durch Abstraktion aus und verhandeln eine Verbindung, in der spezifische Qualitäten zu einem neuen Verständnis verschmelzen.

LENNART CLEEMANN (*1990) studierte Architektur in Hannover, Aarhus und Stuttgart. Vor seinem Studium an der Kunsthochschule Stuttgart absolvierte er ein Praktikum bei Buchner Bründler Architekten in Basel. Diese Zeit prägte seine Denkweise und Arbeitshaltung bezüglich des von ihm so benannten „poetischen Pragmatismus“. In der Kunstklasse Reto Bollers entdeckte er seine Affinität für den direkten Kontakt mit Material und dessen emotionale Potenz. In seiner Arbeit behandelt Cleemann Aspekte der Ein- und Zweisamkeit sowie Themen des sexuellen Begehrens und Konsums. Die Befreiung aus einer gefühlten Hilflosigkeit gegenüber gesellschaftlich und gedanklich festgefahrenen Strukturen ist dabei ein Ziel seiner Arbeit, deren Ausgangspunkt oft rohe, unbehandelte Materialien bilden. Diese werden gerne mit Fundobjekten von der Straße und Baustellen kombiniert und in Kontext miteinander gesetzt.