„Wie eine Fliege in Bernstein“ – Eine Stadt wird zur Ikone, 2023 – Anna D’Avino

In einer florentinischen Werkstatt voller Gips und Terracotta posiert die italienische Schauspiel- und Mode-Ikone Monica Bellucci 2020 vor der Kamera für die nicht weniger symbolträchtige Marke Dolce & Gabbana, deren Fotostrecke in der November Ausgabe der Vogue Italia abgedruckt wird. Was zunächst als bloße Werbekampagne abgetan werden kann, ist bei näherer Betrachtung vielmehr ein Sinnbild für die Ikonisierung einer ganzen Stadt, die weit über die Fotokampagne des italienischen Designer-Duos hinausgeht und bereits um 1900 ihren Höhepunkt fand, als die Stadt zum Inbegriff der Renaissance wurde.

Die Werkstatt Galleria Romanelli, die seit 1860 zum festen Bestandteil der toskanischen Hauptstadt zählt und sich unweit vom Arno, in Borgo San Frediano befindet, legt den Grundstein für die Fotokampagne. Zugleich umreißt sie das fotografische Sujet sowie das Kennzeichen des italienischen Modelabels Dolce & Gabbana: Haute-Couture trifft auf Handwerkskunst; denn 1985 in Mailand gegründet, versteht sich das Label um die Gründungsväter Domenico Dolce und Stefano Gabbana als Vermittler italienischer Werte und Traditionen anhand von Mode.1

Abb. 1: Monica’s Beauty. Monica Bellucci für Dolce & Gabbana. © Sebastian Faena. In: Vogue Italia 842 (November 2020), S. 266f.

Auf der ersten Doppelseite der gedruckten Kampagne (Abb. 1), die mit „Monica’s Beauty“ betitelt ist, offenbart sich rasch die Nähe zu Florenz. Bellucci, in einem Tüllkleid aus hellem Azur und übersäht Blumenapplikationen, hält in ihrer rechten Hand demonstrativ eine Frucht, die für die Gegend um Florenz bedeutend ist: Die Pesca Reginda di Londa, eine Pfirsichsorte, die das Gebiet von Val di Sieve bis Mugello ihre Heimat nennt. Der florale Schmuck wie auch die bewegt drapierte Masse an blauem Stoff, die Bellucci umgeben, lassen eine Verbindung zu den Gemälden Botticellis zu, der die Schaumgeborene in der Nascità di Venere (1485–1486) und der Primavera (1477–1482) auf Leinwand festgehalten hat. Über das Sichtbarmachen der Antike und deren Schönheitsideal („Monicas Beauty“) folgt Bellucci in einer weiteren Fotografie mit vorgehaltenem, bedrucktem A-Linien-Kleid (Abb. 2), daneben in einem abermals von bunten Blumen übersäumten Kleid mit Hut; dieses Mal nicht stehend, sondern auf einem Stuhl sitzend und die Füße auf einem Totenkopf aus Gips gestützt (Abb. 3). Zwei weitere Fotografien (Abb. 4 und Abb. 5) machen die Referenzen auf Florenz komplett: Zum einen die Nachstellung der Pietà (1498–1500) Michelangelos, der wie Botticelli ebenfalls als Ikone der Renaissance bis heute verehrt wird und dessen Schaffen maßgeblich von Florenz unter den Medici beeinflusst wurde; und Monica Bellucci, die mit verbundenen Augen versucht, einer ebenfalls verhüllten Marmorbüste durch einen Kuss Leben einzuhauchen – ganz im Sinne Pygmalions, des Bildhauers, der im Quattrocento als Vorbild vieler florentinischer Kunstschaffenden galt. Verweise auf Florenz, die im kunsthistorischen Zusammenhang mit dem Begriff der Renaissance in Verbindung gebracht werden, sind also nicht mehr von der Hand zu weisen.

Die toskanische Hauptstadt birgt einen kulturellen Schatz von unermesslichem Wert und lockt damit jährlich Millionen von Tourist:innen an. Was heutzutage in ausgeleuchteten und kompositorisch durchdachten Räumen bewundert werden kann, ist nicht zuletzt den zahlreichen Arbeiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu verdanken. Über eine Aufarbeitung des kulturellen Erbes hinaus formierten sich Strukturen, die offenkundig konstruiert sind. Am auffälligsten wird dies in der Zeit um 1865, als Florenz das piemontesische Turin vom Thon stieß und bis 1895 Hauptstadt Italiens sein sollte. Zu dieser Zeit erfolgte die innerstädtische Sanierung, der Risanamento di Firenze. Unter der Leitung von Giuseppe Poggi (1811–1901)2 wurde das florentinische Stadtbild erneuert und erweitert. Die Realisierung seines kontrovers aufgefassten Plans – die mittelalterlichen Stadtmauern hatten abgerissen, die Stadttore innerhalb der Hauptverkehrsadern jedoch stehen gelassen zu werden – zieht sich bis in das neue Jahrhundert; sie ist nur eines von vielen Beispielen für die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen und kulturellen Erbe der Stadt um 1900.3

Abb. 2: Monica’s Beauty. Monica Bellucci für Dolce & Gabbana. © Sebastian Faena. In: Vogue Italia 842 (November 2020), S. 268.

Um ein Gefühl für den Reiz der Stadt am Arno um die Jahrhundertwende zu bekommen, empfiehlt sich ein kurzer Exkurs zum damaligen Zeitgeschehen: Die Jahrhundertwende birgt nicht nur technischen und wirtschaftlichen Fortschritt, sondern dient auch als Moment der Reflexion. „Der verunsicherte moderne Mensch steigt hinab in die Abgründe der eigenen Seele; zugleich geht er daran, das Universum zu ermessen.“ 4Gesellschaftliche Umbrüche sind nicht mehr aufzuhalten, das Lager der wissbegierigen Intellektuellen trifft auf diejenigen, die in den Tiefen ihrer Seele nur noch eine Antwort auf die Ausweglosigkeit der Moderne zu kennen scheinen: den Freitod. Auch vor den florentinischen Stadtmauern macht er nicht Halt. Das soll der Anziehungskraft des Städtchens aber keinen Abbruch tun, ganz im Gegenteil: Arkadien – das ist das Ziel des irrenden Menschen um 1900, und kaum ein Ort des europäischen Kontinents in dieser Zeit wird so überhöht dargestellt wie die Stadt im Herzen der toskanischen Hügel. Bernd Roeck spricht von regelrechten „Pilgerfahrten“ und nennt Florenz das „Lourdes der Enthusiasten“, gar ein „ästhetisches Utopia“.5 Kunst wird zum Religionsersatz erhoben und soll den Tourist:innen – zumindest vorübergehend – aus der Ausweglosigkeit helfen: „In den Uffizien, im Bargello, in der Akademie, in den dämmrigen Kirchen mit ihrem Weihrauchdunst stehen die Altäre der Schönheit, die magischen Fetische der Kunstreligion, deren Hohepriester Jacob Burckhardt, John Ruskin oder Bernard Berenson heißen – Seelenführer auf den Reisen zur Schönheit.“6

Die bereits erwähnte Konstruktion, der sich die Stadt unterzog, wird offenkundig. Ohne Priester funktioniert ein Gottesdienst nicht und das ist es, was die Tourist:innen sich von einer Reise nach Florenz erwarten: Ein durchkomponiertes Ganzes, an dem teilgenommen werden kann – immer in der Hoffnung, dadurch zu einer besseren Wirklichkeit zu gelangen. Betrachten allein reicht nicht mehr aus; sie kommen, um sich von der Aura eines von Vergänglichkeit befreiten Raumes umschließen zu lassen.

Abb. 3: Monica’s Beauty. Monica Bellucci für Dolce & Gabbana. © Sebastian Faena. In: Vogue Italia 842 (November 2020), S. 269.

Die Praktiken, v.a. die reziproke Partizipation, von der Ikonen leben, wird immer deutlicher. Nicht nur wird der Stadt eine natürliche Sakralität zugesprochen, sie wird auch mit Mechanismen der Ikonisierung durchzogen. Aleida Assmann beschreibt diese Ikonisierung als einen Prozess des Übergangs von Eindrücken und Bildern (images) ins kollektive Gedächtnis, die durch „Stilisierung, Auswahl und Wiederholung“ die (Wieder-)Erkennbarkeit intensiviert und sie schlussendlich zu „Gedächtnisikone[n]“7 werden lässt. Die Fotokampagne von Dolce & Gabbana veranschaulicht die für Florenz stattgefundenen und immer noch anhaltenden Ikonisierungsprozesse, indem sie bereits ins kollektive Gedächtnis transportierte Motive wieder aufruft und für die Betrachtenden erkennbar und erlebbar macht. Das Setting der Fotokampagne, die Galleria Romanelli, ist als Ausganspunkt für eine etwaige Ikonisierung nicht zu vernachlässigen: Als Werkstatt und somit Ort des Produzierens (von Bildern und Bedeutung) wird sie selbst Teil des Prozesses, von dem Assmann spricht.

Strukturell vergleichbare Mechanismen einer Ikonisierung werden ebenfalls auf kulturpolitischer Ebene greifbar: Um die Jahrhundertwende wurde nicht nur der Risanamento di Firenze realisiert, es wurden auch Gesetze zum Schutz der Kunst- und Kulturgüter verabschiedet.8 Damit Giuseppe Poggis Sanierungsplan problemlos umgesetzt werden konnte, erhielt der toskanische Architekt finanzielle und rechtliche Unterstützung durch die Kommunalverwaltung. 9So mag es nicht verwundern, dass zwei Jahre nach der Jahrhundertwende, am 12. Juni 1902, das Parlament das erste umfassende Gesetz (LEGGE 12 Giugno 1902 n.185) zum Schutz und zur Erhaltung des historisch-künstlerischen Erbes Italiens verabschiedete. 10Dazu zählten Denkmäler, Gebäude sowie bewegliche Gegenstände. Obendrein wurde dem Staat das Vorkaufsrecht von Kulturgütern zugesprochen und ihre Ausfuhr geregelt. Nach einem langen Disput zwischen öffentlichen Stimmen, die zurecht ein großes Interesse an der Zugänglichkeit zu jenen Gütern hatten, und dem Schutze des persönlichen Eigentums, ist solch eine Gesetzesverabschiedung durchaus als Meilenstein im italienischen Recht zu verstehen.

 Abb. 4: Monica’s Beauty. Monica Bellucci und Emanuele de Lorenzo für Dolce & Gabbana. © Sebastian Faena. In: Vogue Italia 842 (November 2020), S. 271.

Bestehend aus 37 Artikeln vermittelt das Dekret ein Gefühl für die dezidierte Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe Italiens. 11Das zeigt sich auch heute noch, denn über 100 Jahre später ist das Gesetz durch die Verordnung Nr. 200 vom 22. Dezember 2008 bestätigt, nur teilweise umgewandelt und durch die Gesetzesänderung Nr. 9 vom 18. Februar 2009 erweitert worden.12Die überregionale Verteilung zahlreicher Ämter und Aufgaben im Bereich der Denkmalpflege und des Kulturschutzes trägt neben der Fülle der Kunstschätze maßgeblich dazu bei, dass Italien bis heute als wichtigstes Zentrum für Kunst und Kultur des globalen Nordens verstanden wird – manch einer möchte hier sogar die Geburtsstunde der westlichen Kunst verankert sehen.

Zwischen den Florenzreisenden und der staatlichen Institution steht außerdem das konkrete Kunstwerk. Ende des 19. Jahrhunderts waren über 250 offiziell vermerkte florentinische pittori und scultori in der toskanischen Hauptstadt tätig, die jedoch kaum avantgardistisch arbeiteten, sondern sich an der Tradition orientierten, die von der breiten Masse so geschätzt wurde, denn „[w]o Geschäft und Erwerb, Technik und Verkehr, die Zeichen der modernen industriellen Welt, sind, ist die Kunst nicht. Ihr Ort sind die Tempel der Kunstreligion, sind Museum, Salon oder Studio. Spiegelt sich diese Welt doch einmal in ihr, dann erscheint sie nicht in ihrer Häßlichkeit, sie wird überzogen mit dem goldenen Firnis des Schönen.“13

Was die suchenden Reisenden als Wiederaufleben der Renaissance vorfanden, war nach 1902 also ein offiziell staatlich geregelter Vorgang zur Konservierung, der mit einer Konstruktion eines Vergangenen einherging und im Dienste der Öffentlichkeit stand. Der Staat nahm sich einer Vermittlerrolle an, die sowohl Anwohnenden als auch Besuchenden ermöglichen sollte, in einen ästhetisch-sinnlichen Erfahrungsraum einzutreten und die Konstruiertheit der italienischen Stadt als gelebte Wirklichkeit wahrzunehmen. Religiöse Metaphern in der Beschreibung von Florenz sind nur eines von vielen Indizien der Wirkmacht, die durch unterschiedliche Mechanismen freigesetzt und verstetigt wurden. Wie auch die historischen Kult- und Heiligenbilder durch menschliche Einwirkung ihren Status beibehielten, so wurde auch die toskanische Stadt vor allem um 1900 auf lokaler wie nationaler Ebene auf eine Weise geprägt, die sie bis heute zum Dreh- und Angelpunkt (kunst-)wissenschaftlichen Austauschs und als Renaissance-Stadt ausstellbar macht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Ikonisierungsprozesse auf Teilhabe beruhen, das heißt ohne gemeinschaftliche Prozesse nicht die Wirkkraft entfalten, die ihnen zugeschrieben werden.

Abb. 5: Monica’s Beauty. Monica Bellucci für Dolce & Gabbana. © Sebastian Faena. In: Vogue Italia 842 (November 2020), S. 272. 

Einen großen Beitrag leisteten auch die Kunst- und Kulturwissenschaftler:innen sowie die Kunstkennerschaft14um 1900. Der kunst- und kulturwissenschaftliche Austausch zwischen Giovanni Poggi und dem Wahlflorentiner Aby Warburg ist ein Beispiel italienischer und deutscher Initiativen im Bemühen, einerseits die am Ort greifbaren Kunstschätze wissenschaftlich zu erschließen und andererseits ein international relevantes Kulturerbe für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen.15 Poggi war bis zu seinem Tod ein gern gesehener Gast am Kunsthistorischen Institut in Florenz, an dem sich auch Aby Warburg Zeit seines Lebens aufhielt. Aufgrund Poggis zahlreicher Arbeitsbereiche innerhalb des kunst- und kulturhistorischen Sektors reichten seine Verbindungen weit über die einzelnen Institutionen hinaus, was ihn für Warburg zu einem bedeutenden Kontakt machte. Die Korrespondenz zwischen beiden Kunst- und Kulturwissenschaftlern legt die enge Zusammenarbeit offen und kann als Exempel für den generellen Kunstdiskurs um 1900 fungieren.16

Warburg fokussierte sich in seinen Forschungen stets auf das Nachleben der Antike, arbeitete am Austausch mit seinen Studienkollegen dadurch aber auch an einem Nachleben der Renaissance, das bis heute noch in Florenz zu spüren ist.17 Die in Szene gesetzten Kunstwerke sind „lebende Fossilien“18, sie halten den Besuchenden der toskanischen Hauptstadt trotz ihres Todes ihre kulturelle Bedeutung vor Augen, geben Aufschluss über ein Gewesenes, ein nicht Wiederherstellbares. Die verschiedenen Akteure, von Kunstwissenschaftler:innen über Städteplaner:innen bis hin zu Politiker:innen, tragen dazu bei, dass die Artefakte der Renaissance nicht nur auf neue, umfassendere Weise betrachtet wurden, sondern förderten genau ab diesem Zeitpunkt die Symptome eines vergangenen Jahrhunderts zu Tage, die übernommen, zum Teil abgeändert, vor allem aber idealisiert wurden. Das Resultat ist heute noch ein Gefühl Warburgschen Nachlebens, das die Stadt für immer einzuhüllen, zu konstruieren scheint.

Was nun Dolce&Gabbana mit seiner Kampagne visuell auf die Spitze treibt, ist, dass die toskanische Hauptstadt in der Konstruktion von außen gleichzeitig immer auch als begehbare und in Austausch tretende Ikone zu verstehen ist.

Die Modedesigner wählen mit Monica Bellucci eine Mode- und Schauspielikone aus und fotografieren sie in einem Setting, das ebenfalls mit zu Ikonen geronnenen Bildwerken bestückt ist. Hier wird erneut sichtbar, dass das heutige Verständnis von Ikone nicht länger auf die Darstellung einer (heiligen) Person limitiert ist, sondern auch Prozesse der von Assman beschriebenen „Stilisierung, Auswahl und Wiederholung“ umfasst. Nur einige fotografische Momente, in denen sich diese verdichten, seien hier genannt: Da ist die Nachstellung der Pietà Michelangelos (Abb. 3), dessen Replik seiner monumentalen David-Skulptur heute noch den Eingang des Palazzo Vecchio ziert, und auch die Pietà Bandini (1547) ist seit 2015 in einem vor Sakralität strotzendem Ausstellungsraum im Nuovo Museo del Duomo in Florenz exponiert. Die bedeutendste Fotografie innerhalb der Kampagne von Dolce & Gabbana ist aber jene, auf der Monica Bellucci das A-Linienkleid an ihren Körper presst, während von links außerhalb des fotografischen Ausschnitts ein Gipskopf in das Setting gehalten wird, der wie das Model den Kopf nach links neigt, während sich der (verklärte) Blick der Kamera zuwendet (Abb. 2). Monica Bellucci verkörpert in dieser Fotografie mehr als nur eine Ode an die florentinische Stadt: Als Bella Italiana19 wird sie auch außerhalb Italiens als Stil-Ikone gefeiert: „[…] the actress has consciously constructed a multi-faceted image that is both highly contemporary and related to conventional perceptions of the Italian beauty.“ 20Das Zeitgenössische, also Dolce & Gabbanas neue Modekollektion von 2020, und Monica Bellucci in ihrer Rolle als Model sowie Repräsentantin ebenjener Kollektion wird als ein von Tradition und Ikonisierung getränktes Setting entlarvt. Kulturhistoriker und Filmwissenschaftler Stephen Gundle schreibt Bellucci „the perfection and iconic stillness of a Renaissance beauty“21 zu, die in diesem fotografischen Beispiel erkennbar wird: Das Model avanciert, im Kontrapost stehend, zur Renaissance-Ikone und transformiert das Kleid zur Kontaktreliquie, die den Konsumierenden ein Stück Bellucci ermöglichen soll. Sie selbst repräsentiert die Ikonisierung also auf doppelte Weise: Zum einen stellt sie eine physische Verbindung zu einer der wichtigsten Architekturikonen Italiens, der Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz, und dem italienischen Modelabel her. Zum anderen schreibt sich Monica Bellucci als lebendiger Beweis eines Ikonen-Werdens am eigenen Leibe in das Bildgeschehen ein.

Dolce & Gabbana inszeniert also auf verschiedenen Ebenen eine „Wiederverzauberung der Welt“,22  die mit ähnlichen Mitteln wie der beschriebenen Ikonisierung operiert – ihr Ziel: Die Marke von reinem Konsum in Kulturgut zu überführen. Ihre Fotostrecke ist daher ein zeitgenössischer Beweis dafür, wie das Bild (image) der italienischen Stadt als durchaus „inszenierter und inszenatorischer Raum“23 weiterhin bespielt wird. In den Fotografien geht es zudem immer um Formen der Bildwerdung, das heißt Bellucci veranschaulicht für Dolce & Gabbana durch das Zupfen am Kleid, das vermeintliche Beleben der Statue wie auch die Transformation des Kleides zur Kontaktreliquie die  Ikonisierungsprozesse. Wenn die Konsumgüter-Industrie der mediterranen Halbinsel also als eine „industry that regularly drew on the repertoire of visual culture“ charakterisiert wird, so zeigt sich, wie Assmanns Theorie der Ikonisierung sogar für ein ganzes Land und in diesem Falle vor allem für eine Stadt greift. Italien basiert darauf, eine Kultur aus (gemachten) Bildern zu sein, die für Florenz nun vor allem in Bezug auf eine geistesgeschichtliche Epoche gelten und fruchtbar gemacht werden. Die Modefotografien selbst werden durch ihre Verbreitung wie klassische Ikonen ebenfalls belebt: Von im wahrsten Sinne des Wortes trag-barer Mode bis hin zum Lifestylemagazin, gelingt es dem italienischen Label, den vermeintlichen Traditionsreichtum Italiens über Florenz als Renaissance-Ikone zu präsentieren und innerhalb der Gesellschaft zu verbreiten.

Ikonen waren nie an bestimmte Materialien gebunden: Wieso sollte eine Stadt nicht auch zu solch einer avancieren können?

Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Hüllen der zum Teil noch unerforschten Objekte von florentinischen Kunst- und Kulturwissenschaftler:innen aufgebrochen, bis aufs Innerste analysiert, präsentiert, von kommunaler Seite aus organisiert und so zu einem essenziellen Part des städtischen Kulturerbes transformiert. Dieser Prozess ist nicht ausschließlich auf einzelne Artefakte anwendbar, sondern er weitet sich auf die komplette Stadt am Arno aus: Es bildet sich eine Art von metaphorischer Zeitkapsel, die die rekonstruierte Renaissance in sich aufnimmt, bewahrt und den eintretenden Besuchenden die scheinbar verlorene Vergangenheit lebendig offenbart. So sind die kunst- und kulturwissenschaftlichen Leistungen um 1900 auch heute noch, über 100 Jahre später, in der toskanischen Hauptstadt zu spüren und erwecken bei den Tourist:innen den Anschein, immer noch auf den Pfaden eines längst vergangenen Zeitalters wandern zu können: Florenz präsentiert sich, wie eine Ikone, fernab von jeglichem Raum- und Zeitempfinden – „eingeschlossen, wie eine Fliege in Bernstein.“24


Biografie

ANNA D’AVINO hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften (B.A. und M.A.) an der Universität Konstanz studiert und ist seit September 2022 akademische Mitarbeiterin an der Universität Konstanz. Sie ist für die Projektkoordination des Graduiertenkollegs ‚Rahmenwechsel. Kunstwissenschaft und Kunsttechnologie im Austausch‘ verantwortlich, dass eine enge Verzahnung der Fächertrias Kunstwissenschaft – Kunsttechnologie – Restaurierung fördert. Im Sommersemester 2023 lehrt sie an der Uni Konstanz zur zeitgenössischen Kunst und fokussiert sich dabei auf Kernfragen zu der Bedeutung des Materials zeitgenössischer Skulptur und Plastiken.

Über die Macht der (visuellen) Symbole im Museum – Josefine Haiduck

Im Kunstmuseum begegnen uns oft Symbole, die uns dazu auffordern, eine ehrfürchtige Distanz zu Kunstwerken zu wahren (Do not touch!). Doch was passiert, wenn Symbole uns einladen, Kunstwerke mit allen Sinnen zu erforschen? Josefine Haiduck stößt mit diesen Fragen einen Diskurs über Inklusivität und Barrierefreiheit im Kunstmuseum an. Sie reflektiert, welche (visuelle) Macht Symbole im Museum haben und wie sie zu einem Neudenken in der Entwicklung von barrierefreien Museen und zum Kuratieren von Ausstellungsflächen beitragen können.

Die symbolische Aufforderung auf einem weißen Blatt Papier „Bitte nicht berühren!“, „Bitte nicht anfassen“, „Please, Do Not Touch!“, das Piepen vom Alarm beim zu nah herantreten an ein Kunstwerk sind uns Museumsbesucher:innen geläufig und universal verständlich. Die Aufforderungen verstehen sich als Symbole und vermitteln uns Besuchenden Distanz zum Ausstellungsobjekt einzunehmen. Doch was passiert, wenn uns Symbole im Ausstellungsraum nicht auf Distanz halten wollen, sondern uns vielmehr davon erzählen wollen, was man berühren, anfassen oder riechen kann und ausdrücklich darf. Sprich, uns förmlich einzuladen, unsere fünf Sinneswahrnehmungen zu verwenden?

Dieser Diskurs wird durch die Fragen nach einer barrierefreien und inklusiven Haltung im Museum neu entfacht und die Notwendigkeit von Symbolen im Ausstellungsraum wird hier relevanter denn je zuvor. Ein inklusives Museum bedeutet, einen Ort des Lernens über Kultur und ihre Güter Allen zu ermöglichen. Durch 3D-Tastmodelle, Textil- und Materialproben zum Anfassen, Audiospuren und Braille wird versucht, das oftmals auf den optischen Sehsinn beschränkte Kunstwerk mit allen Sinnen erfahrbar zu machen. So kann das Werk mit uns Besucher:innen in einen Dialog treten. Hier ist besonders spannend, wie ein bestimmter Geruch, ein Geschmack oder die Textur eines Materials eine bestimmte individuelle und persönliche Erinnerung bei uns hervorrufen kann und wir dem Kunstwerk vor uns möglicherweise interpretativ neu begegnen können. Ob ich als Besuchende ein Kunstwerk nun berühren darf oder nicht, wird durch Symbole vermittelt. Es geht also bei einem barrierefreien Kunstmuseum um das vermittelnde und kuratorische Aufbrechen der optischen Dominanz der bildenden Kunst und ihrer vermeintlichen einseitigen Erfahrbarkeit über das Sehen, sprich das was den „anderen“ Sinneswahrnehmungen einst vorenthalten blieb, soll nun neu entdeckt werden. Und dies geschieht über die Macht der Symbole – bspw. einer abgebildeten Hand als Symbol für Berührung, einem Kopfhörer als Symbol für eine Audiospur zum hören etc. – allerdings stellt sich mir hier die Frage, ob diese Symbole – was darf ich als Museumsbesucher:in und was nicht – nicht auch wieder rein auf den Sinn des Sehens und der optischen Wahrnehmung ausgelegt sind? So gehen wir doch wieder von einer (rein) optischen Erfahrbarkeit und Wissensvermittlung über das abgebildete Bild – in diesem Fall über das Symbol – aus, was uns viel über unsere eigenen kulturell verankerten Vorstellungen über Kunst und ihre Betrachtung verrät. Und zwar, dass wir eine auffallend durch den Sehsinn geprägte Kultur sind. Dies zeigt sich beispielsweise besonders in unserem Konsum von Inhalten über visuelle soziale Medien der letzten Jahren, wie Instagram und TikTok. Vielleicht braucht es eine neue Strategie, gar ein Umdenken, wie wir Symbole nicht mehr nur rein über das Optische wahrnehmen und erfahren können. Es bedarf nach einem Neudenken im Design,trotz der (stillen) gesellschaftlichen Einigung auf die verrostete Lesart von Symbolen, die uns so vorkommen, als wären sie „in Stein gemeißelt“, da diese seit jeher unverändert dominieren. Jedoch können diese Symbole neu und weiter gedacht werden und insbesondere zugänglich(er) designt werden (bspw. In Form von Tastreliefs), sodass wir nicht erst Barrieren im Museum aufbauen, sondern versuchen diese abzubauen.

Biografie

Josefine Haiduck

Josefine Haiduck ist Kunstwissenschaftlerin, sie studierte Kunstgeschichte an der Universität Leipzig und befindet sich seit Ende 2021 im Masterprogramm der Kunstwissenschaften an der Kunsthochschule BURGGiebichenstein in Halle (a.d. Saale). Momentan befasst sie sich thematisch u.a. mit Fragen aus der Kunstvermittlung nach einer gesellschaftlichen Öffnung des musealen Raums, mit besonderem Hinblick auf eine barrierefreie Gestaltung des Raumdisplays und des Vermittlungsprogramms. Josefine Haiduck lebt und arbeitet in Leipzig.

KIMSTAGRAM, 2016-2023 – Hanna Musev

Seit 2016 arbeitet Hanna Musev an ihrer 3 Meter hohen Skulptur “Kimstagram”, welche die Beziehung und den Umgang unserer Gesellschaft mit Social Media widerspiegeln soll. Während Kim Kardashian hier die Verkörperung von Social Media darstellt, nimmt das Publikum, das dazu aufgefordert wird, den Kopf in ihren Po zu stecken, die Rolle der Gesellschaft ein. In ihrem Po wird es mit einem Bildschirm konfrontiert, auf dem kurze, zusammengefügte Ausschnitte von sensationellen und viralen Inhalten abgespielt werden, die aktuell im Internet kursieren. Dadurch, dass die Künstlerin dem Publikum nicht die Möglichkeit gibt, darüber zu entscheiden, mit welchen Inhalten es in „Kimstagram“ konfrontiert wird, möchte sie einen Moment der kritischen (Selbst)Reflexion provozieren. Was gucken wir eigentlich? Welche Rolle spielt Social Media in unserem Leben? Inwiefern haben wir die Kontrolle über das, was wir schauen und wie fühlen wir uns, wenn wir Social Media nutzen?

All Credits: Hanna Musev, KIMSTAGRAM, 2023 © Hannah Musev

Biografie

HANNA MUSEV ist Künstlerin aus Berlin. In ihrer bildhauerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit ernsthaften Themen, die sie mit Hilfe von Humor zum Ausdruck bringen möchte. Ihre Inspiration schöpft sie hierfür aus der Pop-Kultur und aus den Nachrichten, ihre größten Vorbilder sind Comedians und Rapperinnen.

#3 Editorial

Issue #3 Heterotopien, 2021:

Was verbindet Flughäfen mit Laboren, Endlager mit Fundstücken aus dem Meer, Werkstätten mit Wäldern und Bildwelten mit Künstler:innenkollektiven? Alle sind Heterotopien: Räume, die aus dem Raster fallen, die nicht über die Grenzen eines Gebäudes definiert werden, sondern vielmehr über ihre inhaltliche Ebene. Der von Michel Foucault geprägte Begriff Heterotopie bedeutet wörtlich so viel wie Anders- oder Gegenraum und ist eng verbunden mit einer utopischen Zukunftsvision. Wobei Heterotopien sich im gelebten Raum verorten lassen und nicht nur hoffnungsvoll imaginiert sind. Sie zeigen Möglichkeiten auf, verbinden Bestehendes mit Wunschvorstellungen und eröffnen Platz für Wandel. Heterotopien an jeder Ecke! – Und es gibt genug Menschen, die daran arbeiten, dass immer weitere entstehen.

Wie zeigen sich signifikante Heterotopien in der Vergangenheit und der Gegenwart? Wie werden sie definiert und wie gestaltet? Welche Herausforderungen und Chancen bieten diese Räume? Wie wirken sie sich auf unsere Gesellschaft oder das Individuum aus? Und welche Möglichkeiten bietet dabei der digitale Raum?

Die aktuelle Ausgabe bietet diesen und weiteren Fragen einen Raum der Entfaltung.

Die Beiträge des Issue #3 sind theoretische, kritische Annäherungen an den Begriff, teils poetischer Natur aber auch ganz praktische Beispiele. Auf der Basis verschiedenster Individuen mit ihren Hintergründen und Spezialisierungen wird ein interdisziplinärer und aktueller Querschnitt ohne Anspruch auf Vollständigkeit vermittelt. Heterotopien wurden im Prozess dieser Ausgabe erschaffen, zerlegt, gefunden, wieder gesucht, ausgedehnt, verbunden und durchschritten. Wir danken allen Beitragenden für die Zusammenarbeit, ihre Zeit, Ideen und Vertrauen.

frame[less] wünscht allen Leser:innen viel Spaß beim Prozess, zögert nicht mit Anmerkungen oder Fragen! Jetzt Los:

Sprengt den Rahmen, sprengt den Raum!

… ein paar Worte vom Organisations-team des 98. KSK! 

DAS ERSTE MAL, 1. bis 4. Oktober 2020 #goesdigital

Was ist der Kunsthistorische Studierendenkongress, kurz KSK?

Beim KSK handelt es sich um einen studentisch organisierten Kongress sowie die Vollversammlung aller Studierenden der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaften, der jedes Semester in einer anderen Stadt in Deutschland, Österreich oder der Schweiz stattfindet. Im Rahmen dieses wissenschaftlichen Kongresses wird Studierenden die Möglichkeit geboten, sich auszutauschen und zu vernetzen, hochschulpolitische Themen zu diskutieren und zu wechselnden Schwerpunkten erste wissenschaftliche Vorträge zu halten. Dabei ist der KSK einerseits ein wichtiges politisches Forum für Studierende der Kunstgeschichte und verwandter Disziplinen, bietet andererseits aber auch ein abwechslungsreiches Vortrags-, Rahmen- sowie Abendprogramm. Obwohl der KSK sich seiner 100. Austragung nähert, hatte der Kongress zuvor noch nicht in Stuttgart stattgefunden. Und genau genommen hat er dies nun immer noch nicht! Denn auf Grund der aktuellen Situation – in Zeiten der COVID-19-Pandemie – wurde der Kongress zum Ersten Mal digital abgehalten.

Was hat es nun aber mit unserem Kongressthema auf sich?

Das erste Mal ist DER Superlativ. Wir verbinden damit einen positiv konnotierten Neuanfang. Aber wann erinnert man sich wirklich daran, dass jemand etwas zum ersten Mal getan hat? In der Kunstgeschichte und -wissenschaft bestimmt der gemeinsame Diskurs, wann ein erstes Mal relevant wird. Doch bleibt es dann auch relevant? Damit haben sich über 300 Kongressteilnehmer:innen – Bachelor- und Masterstudierende, Promovierende und Volontär:innen – während der vier Kongresstage im Rahmen von Vorträgen, Workshops, Führungen und Abendveranstaltungen aus verschiedenen Perspektiven beschäftigt.

Und welche Schlüsse haben wir für uns aus den gemeinsamen Gesprächen und Diskussionen gezogen?

Angefangen hat unsere Beschäftigung mit dem Thema mit einer ersten bewussten Erfahrung, dass wir z. B. eine Ausstellung besucht haben und das Museum sich damit gerühmt hat, dass es nun die erste Retrospektive eines Künstlers zeigt, den größten Bestand an Werken einer Künstlerin besitzt oder sich als erstes Museum einem Thema widmet. Aber warum wird dies immer als Herausstellungsmerkmal genutzt? Es scheint, als sei das erste Mal das ausschlaggebende Kriterium für die Kanonbildung innerhalb der Geisteswissenschaften. Aber: Geschichte wird geschrieben! Die Konstruktion einer ideengeschichtlichen, entwicklungshistorischen Kunstgeschichtsschreibung formt institutionalisierte Narrative, die aus heutiger Perspektive einer parallelen Dynamik entgegenstehen. Im gemeinsamen Diskurs sind wir zu dem Punkt gelangt, stringente Entwicklungslinien zu relativieren und berechtigt Kritik daran zu üben. Es gibt nicht nur die eine Geschichte, sondern mehrere Geschichten. So sind wir am letzten Tag des 98. KSK in dem Konsens auseinandergegangen, dass ein (selbst-)kritischer Dialog – dessen notwendige Multiperspektivität selbstredend weiter angestrebt werden muss – unsere Disziplin um unterschiedliche Stimmen erweitert.

Umso mehr freuen wir uns, dass die Redakteur:innen von frame[less] dieses bei weitem nicht abgeschlossene Thema für ihre zweite Ausgabe gewählt haben. Konsequenterweise haben sie dabei das Erste Mal zu die Ersten Male erweitert. Nun wünschen wir allen Leser:innen eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre.

Tobias Bednarz, Luisa Danaylov, Liesel Dinkelmann, Lisa Hinderer, Julia Horvat, und Franziska Klenk

Das 98. KSK-Organisationsteam 

Du möchtest mehr über den KSK erfahren?

99. KSK zum Thema Bildproteste
Digital vom 20. bis 23. Mai 2021 
https://derksk.org
@derksk.offiziell 

#2 Editorial

Issue #2, Erste Male, 2020

Liebe Leser:innen,

die Erfahrung, wenn wir etwas zum ersten Mal erleben, brennt sich in unvergesslicher Weise in unser Gedächtnis ein. Wiederholt man etwas zum zweiten oder dritten Mal, hat es oft schon den prickelnden Reiz des ersten Males verloren.

Als 1969 der erste Mensch den Mond betrat, erweiterte er damit den menschlichen Wirkkreis auf den Weltraum. Erste Male wie diese – sei es in Verbindung mit technischen Innovationen oder auch gesellschaftlichen Umbrüchen – werden in Kunst und Medien oft zum Superlativ heroisiert und glorifiziert.

Zum ersten Mal unbekannte Landschaften erblicken, zum ersten Mal mit den Füßen auf dem Mond stehen, die Zehen ins Meer tauchen oder zum ersten Mal den Duft eines Lavendelfeldes wahrnehmen … All diese ersten Male verursachen Aufregung, das Gefühl freudiger Erwartung oder auch latenter Angst in Auseinandersetzung mit dem Unbekannten: Unser Herz fängt an zu rasen, der Atem wird schneller, wir haben das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und werden uns selbst fremd – so etwas kann geschehen, wenn wir gleichzeitig vieles zum ersten Mal wahrnehmen. Das sogenannte Stendhal-Syndrom beschreibt eine psychosomatische Störung, die von einer kulturellen Reizüberflutung hervorgerufen wird, wie beispielsweise auf Reisen.

Grundlegend stellt sich die Frage nach der Geltung des Neuen und ihrer Aktualität in der Kunst. Dieser Thematik wird sich in der aktuellen Ausgabe basierend auf der Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos und der kulturökonomischen Interpretation der Kunst von Boris Groys genähert. Muss etwas denn immer neu sein, damit wir denken, wir sehen etwas zum ersten Mal? Durch Bildmanipulationen können kleine Irritationen entstehen. Und wiederum mit jeder neuen Perspektive und infolge auch Wahrnehmung wird ein Bild oder Ort neu erfahrbar.

Unter dem Aspekt des ersten Males müssen auch die Kunstgeschichtsschreibung und der Kunstmarkt seine Wahrnehmung reflektieren. Denn wer entscheidet, welches erste Mal für die Kunstgeschichtsschreibung relevant wird? Die Kanonbildung kann auch zur Marginalisierung und Ausgrenzung verschiedener Akteur:innen führen. Ein sprechendes Beispiel hierfür: das Werk der Künstlerin Yayoi Kusama. Manche Zustände existieren schon lange im Unsichtbaren und sind erst ab dem OUTING für andere das erste Mal sichtbar, wie zum Beispiel im Falle der invisible disabilities. Durch das Outing wird eine Aufmerksamkeit geschaffen und eine Plattform zur Diskussion eröffnet. So auch bei dem Thema sexualisierter Gewalt in Gedichtform. Denn: Nicht jedes erste Mal ist schön. Nicht jedes erste Mal ist gut. Manche erste Male sind alles andere als das. 

Bei der Enthüllung des Denkmals zu Ehren Friedrich Schillers im Jahr 1839 in Stuttgart waren die Reaktionen eher ablehnend, während die Stuttgarter:innen sich heute wohl weniger an der Form des Denkmals stoßen. So sollten Denkmäler samt ihrer Entstehungsgeschichte aus unserer Gegenwart mit einem revidierenden Blick kritisch betrachtet werden. 

Seit der erste Mensch 1969 den Trabanten der Erde betrat, ist einiges passiert: Mittlerweile wandern Künstler:innen via Google Maps auf dem Mars, um als erste den höchsten Vulkan unseres Sonnensystems zu erklimmen. Was haben nun ein Schuhabdruck auf dem Mond und eine mit der Maus gezogenen Linie auf einem Vulkan gemeinsam? Sie markieren die Erstmaligkeit des Betretens, eine Aneignung des (digitalen) Raums und Erweiterung des Wirkkreises der Menschheit.

Spreng den Rahmen! Spreng die Superlative! 

(Mach doch einmal was zum zweiten Mal)

Euer frame[less]-Redaktionsteam

#4 Editorial

Issue #4 Körper, 2022

Der menschliche Körper besteht aus bis zu 100 Billionen Zellen. Nichts ist individueller als unser Körper und dennoch kommen wir nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt, denn wir sind immer Teil einer kollektiven Identität, die an Vorstellungen von Körperbildern geknüpft ist.

Wir verändern, gestalten, entwerfen unsere Körper regelmäßig, scheinbar selbstbestimmt. Aber wie frei sind wir dabei wirklich? Unsere Körper sind permanent von anderen Körpern umgeben ⎼ stählerne Körper präsentieren frisch antrainierte Muskeln auf Spiegel-Selfies im Fitnessstudio. Freizügig bekleidete, sich lasziv räkelnde Frauen bewerben auf großen Plakatwänden Elektrogeräte oder Joghurtmarken. Während dabei einige Körper als erstrebenswert präsentiert werden, erfahren andere Ablehnung und werden stigmatisiert. An Idealvorstellungen von Körpern sind in einer Leistungsgesellschaft auch immer Vorstellungen von Produktivität geknüpft ⎼ erst ein arbeitender Körper ist ein nützlicher Körper. Doktrinen wie diese sind in unseren Köpfen stark verwurzelt und bestimmen selbst vermeintlich objektive Wissenschaftskontexte. Manchen Körpern kommen dabei Privilegien zu, andere sind behaftet mit Vorurteilen. Den Vorstellungen nicht zu entsprechen, kann dabei Scham auslösen und zu Unsicherheiten führen, unsere sozialen Beziehungen beeinflussen. 

Doch in jeder Norm und jeder Reglementierung liegt auch das Potential zur Umwälzung. Denn mit unseren Körpern sind wir politisch. Wir haben Körper, die bluten, von Haaren, Falten und Malen übersät sind und es gibt keinen Grund, sich davor zu ekeln. 

Schon lange definiert sich ein Körper nicht mehr ausschließlich durch die  Zusammensetzung seiner Zellen. Die Sichtbarkeit und Bandbreite an Körperdarstellungen ist größer geworden. Das Ideal der Antike könnte längst durch Cyborgs abgehängt sein, Avatare im digitalen Raum nehmen beliebige Formen an und zeigen neue Perspektiven auf.

Und am Ende bleibt nur noch die Frage: Was passiert mit diesem Körper nach dem Tod?

Die vierte Ausgabe von frame[less] vereint vielfältige Formate wie theoretische, kritische und wissenschaftliche Annäherungen an das Thema, mit praktischen, projektbezogenen Beiträgen. Wir danken allen Beitragenden für die Zusammenarbeit, ihre Zeit, Ideen und ihr Vertrauen.

Lasst uns gemeinsam die Ideale stürzen und als politische Körper die Potenziale dieser erforschen!

EXTRA BOLD – Carmen Westermeier

In ihrer Arbeit EXTRA BOLD zeigt Carmen Westermeier, in der für sie typischen forschend-kritischen Weise, Ergebnisse einer langjährigen Auseinandersetzung mit der Hyper(un)sichtbarkeit dicker_fetter Körper. Für frame[less] führt sie mit Fotografie und Text durch die Sphären der Sicht- und Unsichtbarkeit normierter Vorstellungen von Körper und Gewicht. Dabei zeichnet sich eines deutlich ab: das Bild des dicken_fetten Körpers als widerständigem Akteur.

We are all visible and invisible at times […], but one’s situation becomes “hyper” when (in)visibility becomes socially oppressive.1

My parents were pleased that I had gotten my body under control. I went back to school, and my classmates admired my new body, offered me compliments, wanted to hang out with me. That was the first time I realized that weight loss, thinness really, was social currency.2

Doch womöglich sind die ent­scheidenden Gründe für die Stigmatisierung dicker Menschen weder allein in der Frage nach den angenommenen Ursachen des hohen Körpergewichts noch nach den individuellen Anstrengungen zur Reduktion des Körper­gewichts zu suchen, sondern in einer soziokulturell verankerten ästhetisch motivierten Ablehnung dicker Menschen. Dies jedenfalls legt eine Studie von Vartanian und Novak (2011) nahe, die den weit­ verbreiteten „Ekel“, (disgust) vor Körperfett als entscheidenden Grund für Gewichtsdiskriminierung ansieht und wesentlich relevanter einschätzt als die Frage nach den möglichen Ursachen des erhöhten Körpergewichts.3

These stereotypes assume that being fat is a choice— that a corpulent body is evidence of overeating and thus a disordered, undisciplined self. Conversely, a lean figure represents self­mastery and control. Such virtues are tied to notions of good health, beauty, and broad cultural values like efficiency, speed, mobility—all of which reflect and support the prevailing economic system of consumer capitalism.4

Fighting the fat self […] I argue that this paradox is best explained by the phenomenon of hyper(in)visibility. The constant attention that is placed on “obesity” by the media, politicians, and the medical community perpetuates the idea that fat is—or should be—a temporary state, because “responsible fat people” should always be trying to lose weight. The majority of women in this study identified with these
larger cultural values and have internalized fatphobia— they remain hidden or in the closet. As a result, their enactment of stereotypical behaviors is a reflec­tion of internalized oppression.5

[...]common sexual activity known as the ‘Rodeo’. This practice involved a group of about ten cadets, who  would gather in a hotel room. The boys would make an agreement that one of them would go out to a local pub or club, and find the most obese woman he could, pretend he was sexually interested in her, make her feel desired, and then lure  her back to the hotel room. The other nine boys would wait in the hotel  room for the couple, hiding behind couches, in the bathroom, in  wardrobes. Once the young male cadet and the “fat” girl arrived, the  boy would seduce the girl, and begin to undress her, encouraging her to  be­ lieve that he was about to have sex with her. He would then ask her  to kneel on the bed on all fours, and he would pro­ duce a scarf to  blindfold her. The “fat” girl would be lulled into thinking this was just a  kinky start to sex with the young cadet. Instead, the young boy would  call out a signal to the other boys and they would run out from their  hiding places. One by one, they would jump on the “fat” girl’s back,  kicking at the soft flesh of her hips and belly, riding her like she was  some sort of animal. They would ignore her tears and her screams, and once they had all had their turn, and the  “fat” girl was completely humiliated, they would kick her out of the  room.  6
According to blogger Virgie Tovar, it’s both a product of the larger  cultural hang­ups around body image and mas­culinity itself. “Fatphobia  in so many ways is about hating and policing women and our bodies,  but what I’ve realized recently is that in some ways, the fatphobia that  fat men experience is also a result of misogyny,” she writes. To be  overweight is, thus, to be considered simultane­ously weak and  feminine, so much so that the Grindr commandment against “fats and  femmes” is almost always a package deal. [...] These ideas are  particularly harmful for gay men, many of whom might have grown up  internal­ izing negative messages about queer people from a young age.  Homophobia itself is rooted in misogyny: It’s bad to be gay, because having sex with men is something that a woman does.  
As Simon Moritz explains in the Huffington Post, slurs like “fairy” and “sissy”have a dual meaning rooted in anti­gay and anti­woman bias: “They prize masculinity by
demonizing femininity.” […] The gay community’s toxic masculinity problem isn’t just an issue for those who are told they "need to lose a few pounds", but everyone who is told that they don’t fit an unrealistic standard of physical perfection—including those who are too skinny, too short, or not white. 7

However, the mind/body split contributes to self objectification and hyper(in)visibility when fat women see their bodies as abject or as objects of revulsion—  something separate from the real them.8

Assumption: If you’re fat, there’s a thin person inside you. New Version: And if you’re thin, perhaps one day you’ll realize your true fat potential. […] Assumption: Fat people eat all the time. New version: Thin people eat all  the time, too. (It’s a great survival skill.) In fact, studies show that fat people eat the same stuff that thin people do, from burgers to broccoli. […] In our diet­crazy culture, when a fat person eats a bit of food, everyone notices.  […] Assumption:   […] Fat people are smelly, stupid, lazy, gluttonous, sexless freaks. New version: These are the same slurs that have been applied to every stigmatized group, from people of color to the disabled. In the psychology of oppression, if you can belittle someone and deny their humanity, then it’s okay to be hateful and prejudicial to them.  9


All Credits: Carmen Westermeier, EXTRA BOLD, 2020 ©Carmen Westermeier

Biografie

Carmen Westermeier

Carmen Westermeier ist Medien- und Performance-Künstlerin und Aktivistin in Stuttgart. Sie widmet sich einer feministischen Epistemologie und verfolgt eine körper-politische, künstlerische Praxis. Als freie Referentin kooperiert sie mit verschiedenen Initiativen deutschlandweit oder unterrichtete an der Friedrich-Alexander-Universität zum Thema Gender und Kunst. An der ABK Stuttgart forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu diskriminierungskritischen Positionen in der Kunstpädagogik.


Zustimmung – Julia Scheuermann

Inhaltswarnung: Der folgende Text enthält sexualisierte Gewalt.

Nicht jedes erste Mal ist schön. Nicht jedes erste Mal ist gut. Manche erste Male sind alles andere als das. Spätestens seit #MeToo wird es nicht mehr tabuisiert über sexualisierte Gewalt und sexualisierten Missbrauch zu sprechen. Doch ist es unheimlich schwer. Schwer die richtigen Worte zu finden und schwer diese zu verdauen. Julia Scheuermann thematisiert sexualisierte Gewalt in Form von Lyrik, was zunächst sehr ungewohnt erscheint, doch sie schafft einen Spagat zwischen Subtilem und wortgewaltigen Bildern, die tief unter die Haut gehen.

Große Hände, lange Finger
Bohren sich in schmale Hüften.
Deine raue pinke Zunge
Wird im dunklen immer länger
Bewegt sich schwer in meinem Mund,
Taipan, Kobra, Natter?
Infamie erfüllt die Lunge
Er trieft vor Gift, dein Höllenschlund
von dunklem Rauch und kaltem Gin
Wend‘ mich an verlorne‘ Götter
Wimmere leise: ,,Du tust mir weh.“
Suche nach nicht vorhandnem Sinn
Die Realität ertränkt,
gesprungen vom Schiff dieser Odyssee.
Hatte ich das laut gesagt?
Laut genug
LAUT GENUG
Dein Stöhnen,
das passt nicht zu meinem
Eine irrsinnige Kombination,
Melodien sind nicht zu erschließen,
Klangvolle Lust an klagendem Weinen,
keine Sinfonie.
Doch für dich
klingt sie ideal
du scheinst sie zu genießen
Eine Koryphäe zu sein
Das ist nicht dein erstes Mal.

Du fragst nicht.
Du nimmst dir.

So tut man das im Leben nun mal.
Zumindest hat man dir das gesagt,
nicht wahr?
Für dich ist es nicht radikal,
nicht wahr?
Also nimmst du ihn dir
meinen Körper
und steckst deine Flagge in meine Haut.
Dir ist das brennen egal
Hörst nicht meine Wörter
Hast mich bis jetzt nicht mal angeschaut.
Die Tränen sind Teil des verdrehten Fetischs
Das hast du auch so in Pornos gesehen,
da heulen die Schlampen doch immer.
Das ist für dich nichts Falsches.
Also heule ich auch.
Das Gewicht deines Beckens unermesslich brutal,
erdrückt den Widerspruch im Keim
Ich schließe die Augen.
Das ist nicht dein erstes Mal.

Du fragst nicht.
Du nimmst dir.

Dann gebe ich auf, schließe sie ab.
Die Tür meiner Wahrnehmung ist zugenagelt.
Ich schweife im Nichts und lasse es zu.

Bedecke in Gedanken mit Blumen mein Grab.
Lege mich auf kalter Erde zur Ruh.
Ich habe einfach beschlossen, tot zu sein.
Nur noch ein paar Minuten
Bis du auf mir zusammenbrichst
und ich überlege
Wie ich es schaffe
Nicht zu brechen.
Du siehst nicht mich,
nur mein Material
Das hier ist nicht dein erstes Mal.
Aber meines.


Biografie

Julia Scheuermann

Julia Scheuermann studiert Politikwissenschaften und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Momentan setzt die selbsterklärte Feministin sich mit der gesellschaftlich geprägten Binarität der Geschlechter auseinander. Lyrik bildet ihren Zufluchtsort, wenn die Härte der Realität sie mal wieder mit aller Wucht trifft.

Yayoi Kusama. Überlegungen zur Anerkennung einer Künstlerin im Kunstbetrieb – Alexa Dobelmann

In der Kunstgeschichtsschreibung lässt sich die Tendenz ausmachen, Initialmomente für neue künstlerische Entwicklungen festmachen zu wollen. Das damit ebenfalls teilweise eine Marginalisierung und Ausgrenzung verschiedener Akteur:innen einhergeht zeigt sich am Werk der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama, die Plagiatsvorwürfe gegenüber männlichen Künstlerkollegen aufkommen lässt.

Ausgehend von der filmischen Dokumentation Yayoi Kusama – Infinity, die unter der Regie und dem Drehbuch von Heather Lenz entstand und 2018 Premiere feierte, wurden Plagiatvorwürfe gegen Yayoi Kusamas Künstlerkollegen, Claes Oldenburg, Andy Warhol und Lucas Samaras, laut. Man konnte von den Pop Art Ripoffs lesen.[1] Dieser umgangssprachliche Begriff kann mit Schwindel, Beschiss, aber auch Plagiat und Diebstahl übersetzt werden und ist ganz klar negativ konnotiert.

Die Informationen des Ideendiebstahls sind jedoch nicht als neu, sondern vielmehr als Popularisierung derselben aufzufassen. Durch die weltweite Veröffentlichung in Kinos konnte ein breiteres, weniger fachgebundenes Publikum erreicht werden, als es beispielsweise ein Artikel in einer Kunstzeitschrift vermocht hätte. Bereits 1998 sprach Kusama anlässlich einer Ausstellung neuer Arbeiten in der Robert Miller Gallery mit Damien Hirst und warf Warhol und Samaras vor, sie kopiert zu haben.[2] Auch in der kunsthistorischen Betrachtung wurde die visuelle Gemeinsamkeit und die damit verbundenen Fragen des Vorbildes und der Anerkennung bereits vorher erkannt und am Rande behandelt.[3] Eine detaillierte Aufarbeitung hat es bisher jedoch nicht gegeben.

Die Dokumentation fand einen erheblichen Widerhall in der internationalen Presse. In diesen Kritiken wurde hauptsächlich auf Details aus dem Film eingegangen. Die Autor:innen stellten interessante Interpretationen an, teils gaben sie aber auch Fehlinformationen weiter.[4] Auffallend ist, dass die ohnehin schon knappe Zahl von drei Beispielen in den Artikeln oft gekürzt wird. Hierfür können beispielsweise Robert Abele, Ben Kenigsberg und Chloe Schama erwähnt werden, die lediglich Warhol und Oldenburg anführen.[5] Der Leser:innenschaft der L.A. Times, New York Times und Vogue wurde möglicherweise die Kenntnis Samaras nicht zugetraut. Durch die verkürzte Darstellung werden ohnehin schon bekannte Namen noch bekannter gemacht. Dies macht auf ein Problem aufmerksam, das den Ursprung der Artikel bildet und schon bei Kusama ansetzt. Es handelt sich um eine Marginalisierung aus verschiedenen Gründen. Shoemaker fasst die Vorwürfe knapp zusammen:

„It’s a pattern that repeats, and each time, there’s a just-the-facts- approach that suits the telling. It’s not about accusations, or stolen glory. It is what happened to this woman, over and over again. We see her work, we’re told about their connection, we see his work, and we get the timeline. They become legends. She toils endlessly for a foothold.“[6]

Der Kenntnisstand rund um Kusamas Leben kann als außerordentlich detailreich bezeichnet werden. Bedingt wird das vor allem durch den gegenseitigen Input bzw. das Interesse der Künstlerin und ihrer Umwelt an ihr. Kusama verfasste eine Autobiografie, die 2002 veröffentlicht wurde.[7] Seit ihrer sogenannten Wiederentdeckung 1989 sind zahlreiche Publikationen erschienen.[8] Auffallend oft wird Kusamas psychische Erkrankung erwähnt. Die Künstlerin lebt mittlerweile in einer psychiatrischen Klinik in Tokio. Die stetige Aneignung der Rolle der psychisch Kranken und die Verknüpfung derer mit ihrem Werk spielt in der Betrachtung ihrer Kunst eine große Rolle.[9] Zwischen 1958 und 1973 war ihr Lebensmittelpunkt die Metropole New York. Dort agierte sie als aktive, durchaus bekannte Akteurin innerhalb der Kunstszene. Die Kuratorin Laura Hoptman, die sich mehrfach mit Kusama beschäftigte, meint dazu: „[S]he knew virtually all the major figures of the time.“[10] Zu diesen Hauptfiguren zählen auch Oldenburg, Warhol und Samaras.

Die Verbindung zwischen Kusama und Oldenburg wurde in der Gruppenausstellung 1962 in der Green Gallery auf die Spitze getrieben, an der auch Warhol mitwirkte. Kusama steuerte vier Collagen und zwei Soft Sculptures bei. Bei der Arbeit Accumulation No. 1 (Abb. 1), die heute den Weg in die ruhmhafte Sammlung des Museum of Modern Art in New York gefunden hat, handelt es sich um einen mit weißen Stoffauswüchsen überzogenen Sessel. Kusama nähte die von ihr befüllten Webwarenstücke in mühevoller Handarbeit auf dem ebenfalls textilen Untergrund fest. Accumulation No. 1 und eine ebenso ergänzte Couch bewegten den als Kritiker und Künstler tätigen Brian O’Doherty dazu in der New York Times seine Ehrfurcht über die beiden Arbeiten Kusamas auszudrücken.[11] Dieser Beginn der neuen Werkgruppe, der Accumulations, stellt den Ursprung des ersten Konflikts dar. Schon ein Vierteljahr später hatte Oldenburg eine Einzelschau wieder in der Green Gallery. Dort stellte er diverse Skulpturen aus; die meisten waren aus erstarrten mit Lack übermaltem Gips gefertigt. Doch es gab auch weiche, nicht ausgehärtete Arbeiten, wie Floor Cone, eine riesige Eiswaffel, und Soft Calendar for the Month August (Abb. 2), ein dreidimensionaler, weißer Wandkalender.

Abb. 1: Yayoi Kusama, Accumulation No. 1, 1962, genähter und gefüllter Stoff, Farbe, Fransen, Sessel, 94 x 99,1 x 109,2 cm, Museum of Modern Art, New York. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Love Forever. Yayoi Kusama 1958-1968, Los Angeles (County Museum of Art) 1998, Kat.-Nr. 42.
Abb. 2: Fotograf:in unbekannt, Claes Oldenburg mit Soft Calendar for the Month August in der Green Gallery, New York, 1962. Abbildungsnachweis: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 53.

Etwa ein Jahr später, am 17. Dezember 1963, öffnete Kusamas Ausstellung Aggregation: One Thousand Boats Show, in der die gleichnamige Installation (Abb. 3) zu sehen war. Die Künstlerin stellte ein akkumuliertes Ruderboot in die Mitte des Raumes und verkleidete die Raumbegrenzungen mit 999 fotografischen Replikationen in Posterform. Das Ausgangsobjekt war also in exakt tausendfacher Ausführung zu sehen. Etwas später, im April 1966, kam dann das Pendant von Warhol. Er ließ einen Raum in der renommierten Castelli Gallery mit Cow Wallpaper (Abb. 4) tapezieren. Die zweifarbigen Poster, die einen Kuhkopf zeigen, wurden im All-over-Duktus aufgehängt und dominieren den Raum.

Abb. 3: Rudolph Burckhardt, Yayoi Kusama in der Installation Aggregation: One Thousand Boats Show, Gertrude Stein Gallery, 1963. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Love Forever. Yayoi Kusama 1958-1968, Los Angeles (County Museum of Art) 1998, S. 20.
Abb. 4: Andy Warhol, Cow Wallpaper, 1966, Siebdruck auf Papier, jeweils 112 × 76 cm, Neue Galerie – Sammlung Ludwig, Aachen. Abbildungsnachweis: Klaus Honnef: Andy Warhol 1928 – 1987. Kunst als Kommerz, Köln 1989, S. 75.

Mitte der 1960er Jahre entwickelte Kusama die Werkgruppe Infinity Mirror Rooms, die bis heute fortgeführt wird. Das Environment Infinity Mirror Room – Phallis Field (Abb. 5) kann als erstes Objekt dieser Reihe gewertet werden und wurde der Öffentlichkeit Ende des Jahres 1965 in der Richard Castellane Gallery präsentiert. Der Boden ist – bis auf einen Steg, der die Arbeit begehbar macht – mit den markanten Stoffauswüchsen überzogen, die das charakteristische Polkadot-Motiv der Künstlerin tragen. Die Wände sind verspiegelt. Kurz nach der Ausstellung, im März 1966, präsentierte sie ebenfalls dort die vergleichbare Arbeit Peep Show (Abb. 6). Der vollverspiegelte Raum erschließt sich durch zwei gegenüberliegende Gucklöcher. An der Decke blinken bunte Glühbirnen. Noch im selben Jahr entstand die Arbeit Mirrored Room (Abb. 7) von Lucas Samaras. Zugänglich gemacht wurde sie erstmals von der etablierten Pace Gallery, die den Künstler noch heute vertritt. Der sowohl von außen als auch innen verspiegelte Raum ist nur über eine Überecktür begehbar.

Abb. 5: Fotograf:in unbekannt, Yayoi Kusama in der Installation Infinity Mirror Room – Phalli’s Field, Castellane Gallery, 1965. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Yayoi Kusama. Arbeiten aus den Jahren 1949 bis 2003, Braunschweig (Kunstverein Braunschweig), S. 12.
Abb. 6: Yayoi Kusama, Peep Show, 1966, Rostfreier Stahl, Spiegel und Glühbirnen, 200 x 107 x 101,9 cm, New York, Courtesy Robert Miller Gallery. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre, Liverpool (Tate) 2005, S. 24.
Abb. 7: Lucas Samaras, Mirrored Room, 1966, Spiegel auf Holz, 243,84 x 243,84 x 304,8 cm, Albright-Knox Art Gallery, Buffalo. Abbildungsnachweis: Kim Levin, Lucas Samaras, New York 1975, Abb. 157.

Eine gewisse Ähnlichkeit der Arbeiten kann nicht geleugnet werden und die Chronologie der aufgelisteten Werke zeigt, dass Kusamas Arbeiten scheinbar zuerst entstanden. Künstler:innen, die sich durch vorausgegangene Kunstwerke oder sonstige visuelle Objekte inspirieren lassen, sind nichts Ungewöhnliches. Die Wiederholung in der Kunst ist eine gängige Praxis und fand in der Postmoderne ihren Höhepunkt.[12] Doch was genau eigneten sich die Künstler an, inwieweit gibt es Vorläufer in ihren eigenen Werken, was unterscheidet sie von den Arbeiten Kusamas und welche Einflüsse sind in ihrem Œuvre zu finden?

Eine eindeutige Gemeinsamkeit zwischen Accumulation No. 1 und Soft Calendar for the Month August ist die haptische Wirkung – das Weiche – was auch zum Begriff Soft Sculptures führte. Der Ausgangspunkt der Soft Sculptures für die Einzelausstellung 1962 war, laut Achim Hochdörfer, das Happening Ray Gun Theater von Oldenburg, bei dem der Künstler bereits im März die Figuren von Sailboat and Freighter (Abb. 8) verwendet haben soll, das aus mit Schaumgummi gefülltem Musselin besteht.[13] Diese weiche Arbeit entstand folglich bereits früher im Jahr 1962. Alle sonstigen früheren Skulpturen Oldenburgs wurden mit Gips ausgehärtet. Auffallend ist, dass Hochdörfer mit keinem Wort die Soft Sculptures Kusamas erwähnt. Auch die weiße Farbgebung von Soft Calendar for the Month August scheint aus Kusamas Arbeit entlehnt zu sein. Später führte Oldenburg dies in den Ghost Versions – nicht eingefärbte, sprich weiße, Soft Sculptures – fort. Gelegentlich wurden sie als unfertig oder modellhaft gelesen. Kusamas Accumulation blieben farblos, auch wenn sie hier und da um Punkte oder Streifen ergänzt werden. Eine der gängigen Interpretationen der Stoffauswüchse ist es, sie als Phalli zu lesen. Im Ausstellungskatalog zur großen Retrospektive unter anderem im Los Angeles County Museum of Art wird der Phallus als eines der Hauptmotive Kusamas bezeichnet.[14] Dies bezieht sich ganz klar auf die Accumulations. Wenn also im Jahr 2012 Gregor Stemmrich über die Wirkung der Oldenburgschen Soft Sculptures zu dem Schluss kommt, das Objekt „erweckt zugleich die Vorstellung von etwas Phallischem“[15], so fragt man sich, warum anschließend nicht der naheliegende Verweis zu eben jener Künstlerin folgt. Auch Kusama greift eindeutig in die Debatte ein, wenn sie in ihrer Autobiografie von einer Entschuldigung ausgehend von Patty Mucha, der Ex-Frau Oldenburgs, an sie spricht.[16] Oldenburgs frühere Frau half bei der Ausarbeitung seiner Arbeiten, was zahlreiche Aufnahmen belegen. Auch in der Dokumentation von Heather Lenz sind Ausschnitte zu sehen, wie Mucha an der Nähmaschine sitzt. Die Rollenzuweisung der Frau als Nähkraft soll hier betont werden, wobei der (Ehe-)Mann die Anerkennung für die Kunstwerke erhält. In einer Mail an Midori Yamamura dementiert Mucha diese Entschuldigung. Sie könne sich an nichts Derartiges erinnern. Die Kunsthistorikerin Yamamura legt schlüssig dar, dass es Kusama in ihrer Autobiografie darum gegangen sei, einen Mythos zu generieren und dass sie damit den Einfluss ihrer Werke auf die Oldenburgs demonstrieren wollte.[17]

Abb. 8: Claes Oldenburg, Sailboat and Freighter, 1962, Musselin, gefüllt mit Schaumgummistücken, bemalt mit Spritzlack, Segelboot: 114,5 x 73,5 x 13,5 cm Frachter: 50 x 179,5 x 15 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York. Abbildungsnachweis: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 162.

Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre ist eine interessante Veränderung in der Kunst – die Grenzüberschreitung zwischen verschiedener Medien – zu beobachten, die unter anderem von Donald Judd theoretisch festgehalten wird. Der oft zitierte Anfangssatz von Specific Objects – „[h]alf or more of the best new work in the last few years has been neither painting nor sculpture“[18] – verdeutlicht diese Wandlung. Judd und Kusama waren enge Vertraute. Der Theoretiker und selbst praktizierende Künstler war einer der ersten Käufer von Kusamas Werken. Bei ihrer ersten Einzelausstellung in der Brata Gallery kaufte er zwei Gemälde und attestierte ihr: „Yayoi Kusama is an original painter.“[19] Beide waren von 1961 bis 1964 zudem unmittelbare Nachbar:innen und er half ihr beim Ausstopfen der Accumulations.[20] Panhans-Bühler vermutet, dass Kusama durch den theoretischen Hintergrund Judds beeinflusst war.[21] Dies lässt sich anhand der starken Verknüpfung beider Biografien nachvollziehen. In ihrer Autobiografie würdigt Kusama ihren langjährigen Freund als Karriereleiter: „Es ist sein Verdienst, dass ich ein Star wurde.“[22] Augenfällig ist erneut, dass in Judds Text Specific Objects die Entwicklung nur anhand von Künstlern beschrieben wird, nicht – wie man bei dieser Verbundenheit annehmen könnte – unter Erwähnung von Kusamas medialen Grenzaufhebungen.

In Warhols Œuvre geht es stärker um andere Aspekte, wie Wiederholung, Mechanisierung und Selbstdarstellung. An seinem Beispiel zeigt sich noch deutlicher: Ein genauer Blick in das Gesamtwerk des Künstlers lohnt sich für diese Problemstellung. Zwei Wochen nach der Eröffnung der Ausstellung Aggregation: One Thousand Boats Show, am 2. Januar 1964 begann Warhol mit seinen Boxskulpturen. Am 21. April zeigte er ca. 350 Boxen in der Stable Gallery. In den Brillo Boxes (Abb. 9) steigerte er seine Formvermehrung skulptural mit alltäglichen Gegenständen.[23] Yamamura geht davon aus, dass Warhol von Kusamas Ausstellung beeinflusst war.[24] Sein Konzept weist ähnliche repetitive Züge auf, doch mittels des Catalog raisonnés von Warhols Arbeiten wird deutlich, dass Wiederholung ein stetiges Element seiner Praxis ist. Beispielsweise entstanden im August und September 1962 die Serial Marilyns.[25] Neu bei Warhol ist jedoch die Präsentationsform – das Poster. Auf der inhaltlichen Ebene zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Arbeiten der Künstlerin und des Künstlers. Mit der Deutung von Kusamas Installation haben sich Briony Fer und – darauf aufbauend – Mignon Nixon beschäftigt und arbeiten heraus, wie wichtig die physische Präsenz des Objektes – des Ruderboots – ist. Fer sieht das Gezeigte in seiner Darstellung aufgehoben. Die Fotografie setze die Installation in Szene und erhöhe es durch die Vervielfältigung zum Bild. In Aggregation: One Thousand Boat Show gebe es also einen starken Bezug zwischen Bild und Objekt, ein stetiges Hin und Her.[26] Nixon konkretisiert dies: „Kusama would now expand the Accumulations from objects into tableaux, her ultimate aim being to produce a fully spatial mise en abyme, a new infinity effect.“[27] Der Raumwirkung der Installation Cow Wallpaper wird keine so bedeutende Rolle zugeschrieben. Warhol geht es vielmehr darum, den Kunstbegriff zu erweitern.[28]

Abb. 9: Andy Warhol, Brillo Boxes, 1969, (Version des Originals von 1964), Siebdruck auf Holz, je 50,8 x 50,8 x 43,2 cm, Norton Simon Museum of Art, Pasadena, CA. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Andy Warhol. Retrospektive, Berlin (Neue Nationalgalerie) 2002, S. 221.

Kusamas Auseinandersetzung mit dem Raum wird in den Infinity Mirror Rooms offensichtlicher. Der Spiegel fungiert als Weiterführung der Collage.[29] Kusama spricht abfällig über ihren Konkurrenten:

„Lucas Samaras is always copying other artists’ work. His work lacks originality, I think. He made the mirrored room series inspired by my work. Therefore, my infinity room has nothing to do with his version.“[30]

Es wird nicht klar von welchem Infinity Mirror Room sie spricht. Anzunehmen ist, dass Samaras sich sowohl an Infinity Mirror Room – Phallis Field als auch an Peep Show orientiert hat, da Samaras Arbeit sowohl die räumliche Schließung als auch die Begehbarkeit vereint. Kim Levin deutet Mirrored Room als abstrakte Entwicklung von Room aus dem Jahr 1964. Auch wenn scheinbar in Samaras‘ Œuvre eine Art Vorläufer zu finden ist, ist die Spiegelkomponente neu. Levin betont die Unendlichkeitswirkung von Samaras Werk, die jedoch auch Kusamas Arbeiten immanent sind. Beachtlich ist ihr Vergleich von Mirrored Room zu Kusamas Spiegelräumen, den man bisher vergeblich gesucht hat.[31] Jo Applin bringt den Kern von Infinity Mirror Room – Phallis Field in ihrem Essay auf den Punkt:

Infinity Mirror Room – Phallis Field, incorporates Kusama’s key formal motives, from the stuffed fabric phallic tubers to the polka dots spotting every available surface and object, and her striking use of mirrors to produce the unsettling interior mise en abyme that would become her trademark.“[32]

Während das Innere von Samaras’ Arbeit wie eine futuristisch-technische Welt aus einem Science-Fiction-Film wirkt, geht es Kusama neben dem Bild im Bild-Effekt auch um eine Kombination ihrer eigenen bereits entwickelten Motive. Das Medium des Spiegels und die damit verbundene Steigerung ins Unendliche wird in der Literatur zur Künstlerin häufig als bereits in den Net Paintings angelegt und als durch die Beziehungen zu europäischen Künster:innengruppen, wie Azimuth, Nul und Zero, verstärkt verstanden. Die Verbindung zu den Neuen Tendenzen lässt sich in Kusamas Ausstellungstätigkeit in Europa ausmachen.[33] Der Einfluss des Spiegels stammt wahrscheinlich vom Künstler Christian Megert. Er steuerte für die Ausstellung Nul 1962 im Stedelijk Museum in Amsterdam einen Spiegelraum bei, der von ihm als Spiegel-Environment bezeichnet wurde.[34] Applin setzt den Anfang von Kusamas Interesse an Spiegeln mit dem Studio Besuch von Megert in der Schweiz 1965.[35] Blickt man in die andere Richtung des Zeitstrahls und befasst sich mit den neueren Ausführungen der Infinity Mirror Rooms, so fällt ins Auge, dass in den 1990ern – als Kusama diese Werkreihe wieder aufgreift – die Arbeiten deutlich mehr an den Typus Samaras’ erinnern. Bezeichnend hierfür ist Mirror Room (Pumpkin) (Abb. 10).[36] Der Raum ist ebenfalls von außen verspiegelt. Bei diesen anderen Environments wird hinter den Besucher:innen die Türe kurzzeitig geschlossen, um eine totale Spiegelung zu erreichen. Bei Catherine Taft klingt dies so: „These are introspective spaces for perceiving, listening and feeling.“[37] Herausgestellt wird die heutige Popularität der Infinity Mirror Rooms von Gloria Sutton. Das neue Konzept der Interaktivität habe seinen Teil dazu beigetragen.[38]

Abb. 10: Yayoi Kusama, Mirror Room (Pumpkin), 1991, Spiegel, Eisen, Holz, Gips, Polystyrol, Acrylfarbe, 200 x 200 x 200 cm, Hara Museum of Contemporary Art, Tokyo. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Yayoi Kusama, Venedig (Padiglione Giapponese Biennale di Venezia) 1993, o. S.

Dies verdeutlicht, dass die Problematik sich nicht aus der möglicherweise einseitigen Inspiration ergibt. Entweder reflektiert Kusama ihr eigenes Vorgehen nicht, oder es geht ihr bei diesem Aspekt nicht um die reine Wiederholung von Formen, Motiven und Elementen. Vielmehr legt sie einen Fokus auf ihre Selbstpositionierung und den Fakt, dass es einige Jahre dauerte bis sie ähnlich, gleich oder noch bekannter wurde als ihre Künstlerkollegen. Die sich durch alle Beispiele ziehende Komponente ist, das mangelnde Anerkannt-Werden von Kusama im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Yamamuras Argumentation legt schlüssig dar, dass weiße Männer in der Kunstwelt privilegiert waren und dass die Kunstszene der späten 1960er Jahre keinen Raum für die Anerkennung von Künstlerinnen bot.[39] Verena Krieger prägt in ihrer Habilitationsschrift die Ideengeschichte von Künstler:innen und liefert dezidiert keine sozialgeschichtliche Untersuchung. Neben der Herausbildung des Motivs der Geisteskrankheit in Künstler:innenbiografien, die auch auf Kusama anwendbar wäre, geht sie auf die Rolle der Künstlerin ein. Die Aufwertung des Künstlers führte, so Krieger, zur Abwertung der Künstlerin. Kreativität und Genialität wären stets an den männlichen Kunstschaffenden gekoppelt. Weibliche Kreativität sei in vermeintlich feminin konnotierte Bereiche, wie textile Medien, verbannt und aus der Kunst ausgegrenzt worden.[40] Die Soft Sculptures wurden zwar nicht ausschließlich als Handwerk angesehen, dennoch lässt sich auch an diesem Beispiel eine männliche Dominanz feststellen. Das Inkorporieren und damit Erfolg haben mit etwas dem Weiblichen zugeschriebenen stellt letztlich die männliche Übermacht dar. Diesen Fakt bestätigt Mona Jensen in ihrem Artikel zur Pop Art, bei dem sie von den Thesen der feministischen Theoretikerin Lucy Lippard ausgeht. Diese Kunstrichtung sei ein stark maskulin geprägtes Phänomen mit wenig weiblichen Ausnahmen, wie beispielsweise Kusama.[41] Yamamura erkennt in diesem Zusammenhang:

„Her desire for transformation in the mid-1960s seems to have grown out of her own shifting circumstances. Once people began seeing Pop art as increasingly unique to America soil, critics started to view Kusama’s art differently. […] Once Kusama saw herself being inexorably marginalized or typecast, she decided defiantly to emphasize the fact that she was both Japanese and a woman.“[42]

Hier wird beschrieben, wie Kusama die Rolle der ins Abseits Geschobenen annimmt und sich diese aneignet. Außerdem wird eine weitere Eigenschaft angemerkt: ihre japanische Herkunft und die damit einhergehenden Herausforderungen. Ergänzt werden kann dies durch ihre psychische Erkrankung. Welchen praktischen Einfluss dieser Faktor auf ihre Arbeit ausübte, soll hier nicht im Detail verhandelt werden und wird ansatzweise in der Monografie von Yamamura beleuchtet. Hervorzuheben ist die Stigmatisierung, was sich in der Fixierung der Kritik auf Kusamas Geisteskrankheit äußert, wie Griselda Pollock anprangert.[43] Auch Kusamas Suizidversuch, der in einen kurzzeitigen Aufenthalt in einer Klinik gipfelte, soll nicht unerwähnt bleiben. Yamamura verbindet diesen Vorfall mit dem Schock und der Paranoia über den vermeintlichen Ideendiebstahl durch Oldenburg.[44]

Dass dies nicht nur ein Nachteil sein kann, beweist die Ausarbeitung von Anja Zimmermann. Sie untersucht die Beziehung zwischen dem Kunstmarkt und der kunsthistorischen Vermittlung in Bezug auf Erfolg bzw. Misserfolg am Beispiel der zensierten Karriere Kusamas. Charakteristisch dafür ist eine Unterbrechung in der Karriere, was sie an den Kriterien der Bekanntheit und Ausstellungspräsenz festmacht. Der Aufenthalt Kusamas in einer psychiatrischen Klink biete die Notwenigkeit für Kreativität und gleichzeitig eine Möglichkeit der Neuerzählung und Wiederentdeckung.[45] Anfang der 1970er Jahre wurde es ruhig um Kusama, was ungefähr zeitgleich mit der Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes zurück nach Japan und dem anschließenden permanenten stationären Aufenthalt in einer Tokioter Klinik fällt. Bereits Anfang der 1980er Jahre versuchte Kusama erfolglos wieder in New York Fuß zu fassen, was durch Briefe ans Whitney Museum of American Art, belegt werden kann. Die Bestrebung gelang in Form der bereits erwähnten Retrospektive von Munroe am Ende des Jahrzehnts.[46] Reuben Keehan macht neue Interessen in der kunstgeschichtlichen Forschung für den darauffolgenden Kusama-Ausstellungs-Boom verantwortlich.[47] Was machte sie also davor weniger interessant für die kunstwissenschaftliche Forschung und die theoretische Auseinandersetzung, wie bereits am Beispiel Judds durchexerziert wurde? Man kann festhalten, dass Kusama sich in keine der klassischen, bisherigen Kategorien einordnen ließ.[48] Zusammengefasst klingt das bei Franck Gautherot und Seungduk Kim so:

„Like a chameleon, she had shifted from one scene to another until she found her own scene – the happenings and nude paintings performances – that brought her very high visibility in the underground press, but left her lonely in the art world that counts after the negative reception of her provocative free orgy sessions.“

Auch Michael Glasmeier greift diesen Aspekt auf und sieht die marginale Repräsentation in einem Zuviel in Kusamas Œuvre begründet. Für die Anerkennung in der feministischen Theorie habe sie die Nacktheit zu stark betont. Der Kunstwissenschaflter bindet Kusama und ihre Unbehaustheit in die Rhizomtheorie von Gilles Deleuze und Felix Guattari ein, um schließlich doch zu konstatieren, dass sie trotzendem aus der davor liegenden Kunsttheorie herausgefallen sei.[49] Dies lässt sich mit der Aussage Keehans zusammen führen.

Die Rolle der Kunstgeschichtsschreibung kann nicht ohne den Markt gedacht werden. Es gilt Allgemeinhin als anerkannt, dass die Vertretung durch eine große, einflussreiche Galerie eine positive Auswirkung haben kann. Doch diese fehlte Kusama.[50] Heute wird sie von mehreren namhaften Galerien, wie Victoria Miro, Ota Fine Arts und David Zwirner, vertreten. Diesen Rückhalt suchte sie bis in die 1990er Jahre vergeblich. Kunsthistorische Fürsprecher:innen fehlten ihr ebenfalls und es bleibt fraglich, warum Kusama immer noch selten in der Forschung zu Oldenburg, Warhol und Samaras auftaucht. Zwei Effekte in der Wissenschaft sollen als mögliche Erklärung hierfür herangezogen werden: Der Publikationsbias beschreibt eine Verzerrung der wissenschaftlichen Datenlage. Dadurch, dass negative oder weniger signifikante Forschungsergebnisse seltener verbreitet werden, rezipiert man sie auch seltener. Da in Kusamas Fall die Ergebnisse bekannt sind, hieße dies, dass die anderen Autor:innen diese Schlussfolgerungen für nicht oder weniger signifikant hielten. Der Woozle Effekt besagt, dass falsche oder irreführenden Schlussfolgerungen getroffen werden können aufgrund einer stetigen Fokussierung auf dieselbe Quelle, die bestimmte Faktoren auslässt und vernachlässigt. Übertragen auf die Problematik mit Kusamas Konkurrenten bedeutet es: Die fortwährende Bezugnahme auf die immergleichen Publikationen führt dazu, dass diese Theorien ständig reproduziert werden. Auf dem Weg hin zu einer inklusiveren und vielfältigeren Geschichte der Kunst sollte dies berücksichtigt werden. Der von Lenz in ihrer Dokumentation angestoßene und hier ausdifferenzierte Ansatz der Parallelität sollte künftig für die Betrachtung der drei angeführten männlichen Beispiele herangezogen werden. Auch wenn Kusama teilweise nicht eindeutig die Erste war, so sollte man die Entwicklung doch in einer möglichst genauen Gesamtheit betrachten.


Biografie

Alexa Dobelmann

Alexa Dobelmann studierte Kunstgeschichte und Geschichte in Stuttgart und Siena. Ihr besonderes Interesse gilt Mechanismen von Künstlerinnen wie beispielsweise der Selbstpositionierung, der Kanonisierung und dem Marktbezug. Neben ihrem Studium arbeitete sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Kunstgeschichte, als Assistentin im Kunstbüro BW und als freie Mitarbeiterin unter anderem für die Villa Merkel und die Kunststiftung Baden-Württemberg. Derzeit promoviert sie zum Thema Markenzeichen von Künstlerinnen an der Staatsgalerie Stuttgart.


[1] Loney Abrams: Pop Art Ripoffs. The 3 Yayoi Kusama Artworks That Warhol, Oldenburg, and Samaras Copied in the ‚60s, in: Artspace, 30.08.2018, URL: https://www.artspace.com/magazine/art_101/close_look/pop-art-ripoffs-the-3-yayoi-kusama-artworks-that-warhol-oldenburg-and-samaras-copied-in-the-60s-55636 (06.01.2021).

[2] Das Interview ist unter anderem im Katalog der besagten Ausstellung veröffentlicht (vgl. Yayoi Kusama; Damien Hirst: Yayoi Kusama now, New York 1998, o.S.).

[3] Beispielhaft hierfür kann der Artikel von Ursula Panhans-Bühler im bilingualen Schweizer Kunstmagazin Parkett herangezogen werden. Dieser wurde bereits 2000 veröffentlicht. (vgl. Ursula Panhans-Bühler:: «Between Heaven and Earth. This Languid Weight of Life», in: Parkett, Nr. 59, 2000, S. 77-82, hier: S. 78.

[4] Auf der einen Seite ist der Artikel von Claire Selvin zu erwähnen: Die Autorin sieht im Film die Andeutung, dass Kusamas experimentelle Arbeiten Grund für die schwierige Verkaufssituation gewesen seien. Außerdem werde in der Dokumentation die mittlerweile bedeutende Marktposition Kusamas vernachlässigt (vgl. Claire Selvin: ‘I Just Kept Trying to Make My Own World’. ‘Kusama: Infinity’ Traces the Fraught Life of a Monumental Figure, in: Artnews, 30.08.2018, URL: https://www.artnews.com/art-news/news/just-kept-trying-make-world-kusama-infinity-traces-fraught-life-monumental-figure-10858/ (29.12.2020)). Auf der anderen Seite schreibt Chloe Schama in der Vogue, Kusama habe damals keine Galerie gefunden. Dies ist übertrieben und wird durch Beispiele im Folgenden widerlegt (vgl. Chloe Schama: Kusama. Infinity Makes the Case for the Japanese Artist as a Feminist Force, in: Vogue, 07.09.2018, URL: https://www.vogue.com/article/kusama-infinity-documentary-movie-review (06.01.2021)).

[5] Vgl. Robert Abele: Review: Doc ‘Kusama — Infinity’ splashes an inspiring portrait of colorful Japanese artist, in: L.A. Times, 05.09.2018, URL: https://www.latimes.com/entertainment/movies/la-et-mn-kusama-infinity-review-20180905-story.html (06.01.2021), Ben Kenigsberg: Review: ‘Kusama – Infinity’ Gives an Artist Her Due, in: New York Times, 06.09.2018, URL: https://www.nytimes.com/2018/09/06/movies/kusama-infinity-review-yayoi-kusama.html (06.01.2021) und Schama 2018, o.S. (wie in Anm. 4). Dass es auch anders geht, beweist Loney Abrams, die näher auf alle drei Künstler eingeht (Abrams 2018, o.S. (wie in Anm. 1).

[6] Allison Shoemaker: Kusama – Infinity, in: Rober Ebert, 11.09.2018, URL: https://www.rogerebert.com/reviews/kusama-infinity-2018 (06.01.2021).

[7] Eine deutsche Übersetzung erschien 2017 (Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, Bern; Wien 2017).

[8] Eine ernstzunehmende kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung außerhalb von Ausstellungen gab es vor Kusamas erster Retrospektive nicht. Alexandra Munroe kuratierte die Werkschau im Center for International Contemporary Arts in New York.

[9] Die Kuratorin Lynn Zelevansky schreibt: „Kusama challenges the stereotype of the crazy artist, a romanticized figure whose aesthetic contribution may be simultaneously elevated through immersion in the crucible of pain and denigrated through association with the art of children and other so-called primitives.“ (Lynn Zelevansky: Driving Image. Yayoi Kusama in New York, in: Los Angeles County Museum of Art (Hrsg.): Love forever. Yayoi Kusama, 1958–1968, New York 1998, S. 11–41, hier: S. 14).

[10] Laura Hoptman: Yayoi Kusama. A Reckoning, in: Akira Tatehata; Laura Hoptman u.a.: Yayoi Kusama, London 2000, S. 34–82, hier: S.42.

[11] Vgl. Brian O’Doherty: Seasons End. Abstractions and Distractions, in: New York Times, 17.06.1962, S. 103.

[12] Die Appropriation Art ist wie die meisten Kunstströmungen temporär und lokal klar definiert. Anna Blume-Huttenlauch schreibt in ihrer Dissertation zu dieser Kunstform: „Als kunstwissenschaftlich fixierter Begriff ist Appropriatin Art […] eine spezifisch postmoderne künstlerische Praxis, die ihren Ausgang in den späten 1970er Jahren in New York nahm und die „Aneignung“ selbst zum zentralen Inhalt machte.“ (Anna Blume-Huttenlauch: Appropriation Art. Kunst an den Grenzen des Urheberrechts. Baden-Baden 2010, S. 22).

[13] Vgl. Achim Hochdörfer: Von der Street zum Store. Claes Oldenburgs Pop Expressionismus, in: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 12–63, hier S. 58.

[14] Vgl. Laura Hoptman: Down to Zero. Yayoi Kusama and the European New Tendency, in: Los Angeles County Museum of Art (Hrsg.): Love forever. Yayoi Kusama, 1958–1968, New York 1998, S. 43–59, hier: S.42, S. 55).

[15] Gregor Stemmrich: Hypertrophie, Tropfen, Tropen des Alltäglichen. Claes Oldenburgs Neudefinitionen von Skulptur, in: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 156–206, hier S. 164.

[16] Vgl. Kusama 2017, S. 63 (wie in Anm. 7).

[17] Vgl. Midori Yamamura: Review: Infinity Net. The Autobiography of Yayoi Kusama by Yayoi Kusama, University of Chicago Press, 2011, in: Woman’s Art Journal, Vol. 33, No. 2, 2012, S. 44–46, hier: S. 45.

[18] Donald Judd: Specific Objects, in: Flavin Judd; Caitlin Murray (Hrsg.): Donald Judd Writings, New York 2016, S. 134–145, hier: S. 134. Yamamura versteht dies als ein Echo auf die Äußerung Enrico Castellanis, Skulptur und Malerei seinen nicht weiter die beiden maßgeblichen Kunstgattungen. Dies weise jedoch auch auf die Kenntnis der Entwicklungen in Europa hin, was unter dem Begriff Neue Tendenzen gefasst werden kann (vgl. Midori Yamamura: Yayoi Kusama. Inventing the Singular, Cambridge 2015, S. 100).

[19] Donald Judd: Reviews and Previews. New Names This Month, in: Artnews, Vol. 58, No. 6, 1959, S. 17. Auch andere Stimmen waren sehr wohlwollend. Eine Sammlung der Kritiker:innen und deren Hauptaussagen ist zu finden bei Yamamura (vgl. Yamamura 2015, S. 61) (wie in Anm. 18).

[20] Sie lebten im selben Gebäude (vgl. Yamamura 2015, S. 99) (wie in Anm. 18). Zur Hilfe durch Judd äußerte sich Kusama beispielsweise in einem Interview mit Akira Tatehata, dem Kurator ihrer Inszenierung im japanischen Pavillon auf der Biennale di Venezia im Jahr 1993 (vgl. Yayoi Kusama im Interview mit Akira Tatehata, in: Akira Tatehata; Laura Hoptman u.a.: Yayoi Kusama, London 2000, S. 8–28, hier: S. 13).

[21] Vgl. Panhans-Bühler 2000, S. 78 (wie in Anm. 3).

[22] Kusama 2017, S. 257 (wie in Anm. 7).

[23] Vgl. Heiner Bastian: Rituale unerfüllbarer Individualität. Der Verbleib der Emotionen, in: ders. (Hrsg.): Andy Warhol Retrospektive, Köln 2001, S. 12–39, hier: S. 32.

[24] Vgl. Yamamura 2015, S. 115.

[25] Vgl. Georg Frei; Neil Printz (Hrsg.): The Andy Warhol Catalogue Raisonné, 5 Bd., hier Bd. 1: Paintings and Sculptures 1961–1963, London 2002, Kat.Nr.; 262–282.

[26] Vgl. Briony Fer: The Somnambulists Story. Installation and the Tableau, in: Oxford Art Journal, Vol. 24, No. 2, 2001, S. 77–92, hier: S. 83ff.

[27] Mignon Nixon: Infinity Politics, in: Frances Morris (Hrsg.): Yayoi Kusama, London 2012, S. 177-185, hier: S. 182.

[28] Jan von Brevern geht in seinem Artikel anlässlich der großen Warhol-Werkschau im Kölner Museum Ludwig auf die Frage ein, die bereits Arthur C. Danto beschäftigte: Was ist Kunst und wo verläuft ihre Grenze? (Vgl. Jan von Brevern: Besser, man kauft ein T-Shirt, in: Die Zeit, 23.12.2020, S. 49).

[29] Vgl. Fer 2001, S. 86 (wie in Anm. 26).

[30] Kusama 1998, o.S. (wie in Anm. 2).

[31] Vgl. Kim Levin: Lucas Samaras, New York 1975, S. 67ff.

[32] Jo Applin: Yayoi Kusama. Infinity Mirror Room Phalli’s Field, London; Cambridge 2012, S. 20 und 29.

[33] Besonders zu erwähnen ist hier die erste Ausstellung Kusamas in Europa. Udo Kultermann kuratierte 1960 Monochrome Malerei im Museum Morsbroich in Leverkusen. Laut Hoptman führte dies zu einer Allianz der Künstlerin mit den europäischen Kolleg:innen (vgl. Hoptman 1998, S. 44) (wie in Anm. 14).

[34] Vgl. Yamamura 2015 S. 78 (wie in Anm. 18).

[35] Vgl. Applin 2012, S. 19 (wie in Anm. 32). Der Studiobesuch blieb zwar unbelegt und wird auch nirgendwo sonst angeführt, die beiden dürften sich jedoch gekannt haben.

[36] Die Arbeit entstand 1991 für die Ausstellung in der Fuji Television Gallery und dem Haar Museum in Tokio. Zwei Jahre später wurde sie im japanischen Pavillon auf der Biennale di Venezia international berühmt.

[37] Catherine Taft: Dashing into the Future. Kusamas Twenty-First Century, in: Akira Tatehata; Laura Hoptman u.a.: Yayoi Kusama, London 2017, S. 171–209, hier: S. 201).

[38] Vgl. Gloria Sutton: Between Enactment and Depiction. Yayoi Kusamas Spatialized Image Structures, in: Mika Yoshitake (Hrsg.): Yayoi Kusama. Infinity Mirrors, München; London u.a. 2017, S. 138–155, hier: S. 140.

[39] Vgl. Yamamura 2015, S. 106 und 143ff (wie in Anm. 18). Diesen allgemeinen gesellschaftlichen Missstand kann man heute noch so festhalten und ihn auch auf alle Personen jenseits der Cis-Binarität ausdehnen.

[40] Vgl. Verena Krieger: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, S. 129 und 131.

[41] Vgl. Mona Jensen: The Subject Matter Isnt Popular Images, It Isnt that at All, in: Mona Jensen (Hrsg.): Pop Classics. Allan D’Arcangelo, Jim Dine, Robert Indiana, Jasper Johns, Allan Kaprow, Edward Kienholz, Yayol Kusama, Roy Lichtenstein, Marisol, Claes Oldenburg, Robert Rauschenberg, James Rosenquist, Ed Ruscha, Wayne Thiebaud, Andy Warhol, Tom Wesselmann, Aarhus 2004, S. 12–27, hier: S. 27.

[42] Yamamura 2015, S. 127 (wie in Anm. 18).

[43] Vgl. Griselda Pollock: Three Thoughts on Femininity, Creativity and Elapsed Time, in: Parkett, No. 59, 2000, S. 107–113, hier: S. 109.

[44] Vgl. Yamamura 2015, S. 113f (wie in Anm. 18).

[45] Vgl. Anja Zimmermann: Skandalöse Bilder – skandalöse Körper. Abject Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Berlin 2001, S. 191f.

[46] Diese Briefe hat Zimmermann teilweise ausgewertet (Vgl. Zimmermann 2001, S. 199) (wie in Anm. 45).

[47] Vgl. Reuben Keehan: Disalignment and Restructuring. The Late Work of Yayoi Kusama, in: Russell Storer (Hrsg.): Yayoi Kusama. Life Is the Heart of a Rainbow, Singapur 2017, S. 44–51, hier: S. 45. Zu den Themen äußert er sich folgendermaßen: „But why Kusama, and why now? Certainly the centrality of installation in recent museum practice has played a role—audience have shifted from viewers to physical participants in the work of art and variants of the problematic buzzword ”immersion“ [Eintauchen] have become a fixture of the marketing lexicon. The pronounced picturesque quality of Kusama’s work is equally noteworthy in a social media age.“ (Ebd., S. 50f).

[48] Yamamura kommt nach einer Analyse des Forschungsstands zu Kusama zu dem Schluss: „As these works illustrate, Kusama was clearly making art based on her experience that cannot easily fit existing categories of modern art.“ (Yamamura 2015, S. 5) (wie in Anm. 18). Auch Hoptman spricht davon, dass Kusama sich in keine Bewegung und keinen Kanon einordnen lassen will (Vgl. Hoptman 2000, S. 79) (wie in Anm. 10).

[49] Vgl. Michael Glasmeier: Das Ganze in Bewegung. Essays zu einer Kunstgeschichte des Gegenwärtigen, Hamburg 2008, S. 163ff.

[50] Vgl. Zelevansky 1998, S. 28f (wie in Anm. 9).

Der öffentliche (Innen)Raum und sein Potenzial. Ein Projekt darüber, wie wir leben wollen und unser Vertrauen über die Stadt – Johanna Roth


Das Gebiet der Thurgauerstrasse in Zürich wird neu gedacht als eine vielfältige Sequenz von Innenwelten. Indem die leerstehenden, halb-öffentlichen Eingangsbereiche der Bürogebäude entlang der Straße miteinander in Verbindung gesetzt werden, entsteht ein Ensemble, das einen Ausgangspunkt für zukünftige Entwicklungen setzt. Hyperrealistische Renderings zeigen die Überlagerung der isolierten Firmeninnenräume mit verschiedenen öffentlichen Aktivitäten und laden zum Nachdenken über heterotope Stadträume ein.

Der heutige Zustand der Thurgauerstrasse ist geprägt von den räumlichen Folgen der Privatisierung und marktgesteuerter Stadtentwicklung. Entlang der viel befahrenen Straße reihen sich leere, überdimensionierte Firmenzentralen und Gewerbeparks, die aufgrund schwindender Gewinne und stagnierender Geschäfte stillschweigend auf ihren Abriss warten. In diesem Meer von introvertierten, generischen, nach typischen Plänen organisierten Bürogebäuden1 liegt ein Archipel repräsentativer Innenhallen und Atrien. Als hohle Überbleibsel des unternehmerischen Größenwahns, der sie hervorbrachte, suggerieren postmoderne Fassaden mit Referenzen an die Antike städtische Öffentlichkeit, laden jedoch lediglich zum Konsum ein und ersticken dabei jede Art von Nutzungsfreiheit im Keim. Beginnt man aber, diese Vielzahl an großzügigen Innenräumen als ein Netzwerk zu lesen, könnten sie zum Rückgrat eines sich radikal transformierenden Gebiets werden. Durch die Kombination von archetypischen öffentlichen Innenräumen 2 und den ursprünglichen Gebäudenamen wird eine neue Corporate Identity des Areals geschaffen, die den heterotopen Charakter dieser Räume widerspiegelt.

Durch die Überlagerung von archetypischen Innenräumen wie the palace oder the shed mit der glatten, ahistorischen Oberfläche des Kapitals entsteht eine Assemblage unterschiedlicher Raumqualitäten und Atmosphären. Als ein Netzwerk von öffentlichen Inseln, die durch einen durchgehenden Weg verbunden sind, werden die Innenräume neu interpretiert. Sie fungieren als Schnittstelle zwischen der bestehenden städtischen Struktur, neuen Wohnsiedlungen und der sich verändernden kommerziellen Landschaft und geben diesem Stadtteil somit eine neue Identität. Durch die Entdeckung und Erfindung neuer Passagen durch das stark zerstreute und fragmentierte Gebiet um die Thurgauerstrasse setzt sich der menschliche Körper wieder mit seiner vielfältigen, heterogenen Umgebung auseinander. Als Gegenentwurf zum normativen Top-Down-Planungsansatz des aktuellen Gestaltungsplans definiert dieser städtebauliche Vorschlag einen losen Rahmen, in den neue Siedlungen hineinwachsen können — einen unvollständigen Plan, der offen für die Aneignung durch die Öffentlichkeit ist. Überbleibsel der Unternehmenswelt werden zum Ausgangspunkt für eine neue Art des Wohnens in der Stadt, in dem die Schichten der Zeit erfahrbar gemacht werden.


Biografie

Johanna Roth

Johanna Roth studierte Architektur an der Universität der Künste in Berlin, an der ETSAM Madrid und an der ETH Zürich. Nach einem Aufenthalt in Japan, wo sie für Hideyuki Nakayama arbeitete und das Handwerk der Keramik erlernte, diplomierte sie 2020 bei Adam Caruso an der ETH Zürich. Johanna interessiert sich für Architektur als Feld kultureller Kommunikation und deren Implikationen in der zeitgenössischen Gesellschaft. Derzeit arbeitet sie als Architektin im Büro von Peter Märkli in Zürich.

www.johannaroth.world

Das sind unsere Räume! Über feministische Gegenräume in der Kunst-Saskia Ackermann

Saskia Ackermann zeichnet in ihrem Aufsatz Das sind unsere Räume! die Entstehung von Gegenräumen durch feministische Kollektive aus dem Kunstfeld nach, die den Beteiligten eigene neue Handlungsräume eröffnen. So entstehen Räume, in denen sich Menschen, die von dominanten Strukturen marginalisiert, überhört und diskriminiert werden, angenommen fühlen, Erfahrungen teilen und gemeinsam Handlungsstrategien entwickeln können.

Für die erste Ausstellung feministischer Kunst nahmen sich die Frauen1 des Feminist Art Program gleich ein ganzes Haus: 1972 renovierten Judy Chicago und Miriam Schapiro zusammen mit ihren  Studentinnen ein Haus in Los Angeles, um darin ihre Arbeiten zu installieren und präsentieren.2 Das Feminist Art Program ermöglichte es Kunststudentinnen, sich der Auseinandersetzung mit Kunst von  und über Frauen zu widmen. Im Womanhouse realisierten sie ihre eigenen Formen künstlerischer Praxis, in der sie sich vorrangig gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen an Frauen annahmen. Diese inhaltliche Auseinandersetzung war insbesondere von zwei Aspekten geprägt: Zum einen wurden die persönlichen Erfahrungen der Beteiligten zum Ausgangspunkt künstlerischer Prozesse gemacht. Die gesellschaftliche Bedingtheit der individuellen Erfahrungen als Frau und als Künstlerin wurden in regelmäßigen Runden der Selbstbefragung und des Austauschs, Methoden des sogenannten consciousness-raising,3 herausgearbeitet. Zum anderen hatte die Kollaboration in der  Gruppe einen hohen Stellenwert: Von den bereits genannten consciousness-raising sessions über die handwerklich-praktischen Tätigkeiten beim Renovieren des Hauses bis hin zur Entwicklung und  Umsetzung der Installationen, Performances und Raumgestaltung ging es darum, die Tätigkeit der Einzelnen als Teil des Miteinanders zu verstehen:

“Brainstorming took place as a group, by ‚going round the circle’ to build on an idea, an image, a story. The ideas for the rooms were generated this way, as the women opened up about their experiences with domesticity. The texts for the performances were drafted as a group, and while  some students had their own rooms to ‘decorate’, others collaborated in such a way that it was not clear who had contributed what.”4

Das Womanhouse verschob und irritierte die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, indem „der öffentliche Ausstellungsraum zugleich ein häuslicher Raum [war], wo konventionelle Ansichten über adäquate künstlerische Objekte über Bord geworfen wurden“.5 Das Haus verdeutlicht hier besonders eindringlich die Notwendigkeit sowie die Potentiale des Zusammenschlusses unter Menschen, die gesellschaftlich marginalisiert und unsichtbar gemacht werden. Gemeinsam ist es möglich Gegenräume zu eröffnen, in denen die persönlichen Perspektiven gezeigt und eigene Praxisformen verwirklicht werden können. Diese Realisierung von Idealvorstellungen über künstlerische Arbeit und ihre Präsentation wird im Kreise des Kollektivs für die Einzelnen möglich. Der Transfer des Erfolgs eines Projektes wie Womanhouse auf die individuelle künstlerische Laufbahn gelingt zumeist jedoch nur für wenige der Beteiligten. So verbleibt die Eröffnung neuer Möglichkeitsräume im Rahmen der kollektiven Praxis und eine strukturelle Verbesserung der Chancen von Frauen auf eine finanziell tragende berufliche Laufbahn als Künstlerin bleibt aus.

Abb. 1: Lynne Litman: Womanhouse Is Not a Home, 1972, Filmstill. Abbildungsnachweis: URL: https://believermag.com/womanhouse revisited/ (17.08.2021).

Sowohl der Umfang des Projekts – die Vorbereitungen erforderten einen hohen zeitlichen, körperlichen und geistigen Einsatz – als auch die Aneignung eines ganzen Hauses stehen für die großen Ambitionen, die Chicago und Schapiro der bisherigen Unsichtbarkeit von Künstlerinnen entgegenstellen wollten. Das konnte nur im Kollektiv gelingen und erforderte außergewöhnliche Anstrengungen. Sie forderten von den Studentinnen bis an ihre Grenzen und darüber hinaus zu arbeiten.6 Dieser Bezug zur Notwendigkeit von Leistung und dem (Nicht-)Berücksichtigen der eigenen Kapazitäten hat sich inzwischen bei feministischen Initiativen innerhalb und außerhalb des Kunstkontexts geändert. Heute nimmt häufig gerade die Reflektion dessen, welche Arbeit geleistet werden kann und welche persönlichen Grenzen es gibt, eine große Rolle in den Formen der  Zusammenarbeit ein. 

In meiner eigenen Recherche zu feministischen Perspektiven auf Öffentlichkeit hat mich interessiert, wie Aktivist:innen und Künstler:innen öffentlichen Raum oder öffentliche Diskurse einnehmen, sich in dominante Strukturen der Öffentlichkeit wie zum Beispiel die parlamentarische Politik begeben oder aber eigene, dem entgegengesetzte Sphären des Verhandelns gemeinsamer Interessen herstellen, also Gegenöffentlichkeiten, wie sie beispielsweise in Protestbewegungen entstehen.7 In der Geschichte feministischer Kämpfe nehmen das Heraustreten von Frauen aus dem privaten Bereich (Haushalt, Familie) sowie das Einfordern der öffentlichen Diskussion von Themen wie  (Frauen-)Gesundheit, Schwangerschaft, Kindererziehung, Sexualität und sexuelle Gewalt ganz zentrale Rollen ein.8 In Gesprächen mit Feminist:innen, die in aktivistischen und/oder künstlerischen Gruppierungen organisiert sind, erzählten mir viele, dass der besondere Wert solcher Zusammenschlüsse für sie in der Art liege, wie Feminist:innen sich darin aufeinander beziehen. Dazu gehört an erster Stelle die Möglichkeit des Teilens und gemeinsamen Herausarbeitens bestimmter gesellschaftlich vermittelter (Diskriminierungs-)Erfahrungen wie Sexismus, Frauenfeindlichkeit oder Heteronormativität. Anne May betonte im Gespräch die Notwendigkeit dieses Teilens: 

„Es ist so wichtig irgendwann die Erfahrung zu machen, dass es nicht nur ich selbst bin, die denkt, es läuft etwas verkehrt. […] Dafür ist Vernetzung auf dieser grundlegenden Anerkennungsebene wichtig. Sodass die persönliche Erfahrung auf eine kollektive Ebene gebracht wird und wir merken, dass es ein breites gesellschaftliches Phänomen ist.“9

Aber auch die Verteilung aller Formen von Arbeit, die zusammen mit der politischen und/oder künstlerischen Arbeit anfallen, wird in den Gruppen ernstgenommen. Eine wichtige Frage dabei ist, welchen Platz Emotionen in der gemeinsamen Praxis haben und inwiefern diese durch emotionale Arbeit kollektiv verarbeitet werden. Die kollektive Arbeit erhält so einen Wert an sich. Sie wird zu einer unterstützenden Struktur der Mitglieder und dieses Innenleben, dieser Raum des Miteinanders, nimmt für die Beteiligten oft eine größere Bedeutung ein als die Produkte dieser Arbeit. Die erfolgreiche Durchführung einer Veranstaltung, die Organisation einer Demonstration oder die Präsentation einer Ausstellung sind dann vielmehr selbst Momente, in denen die Strukturen dahinter, also die Beziehungen der kollektiv Organisierten, gestärkt, gefeiert und wertgeschätzt werden – das Nach-Außen-Treten, Sich-Zeigen und Raum-Einnehmen ist zwar für Aktivist:innen und  Künstler:innen gleichermaßen wichtig. Die empowernde Rückwirkung auf die Akteuer:innen selbst hat aber eine größere persönliche Bedeutung. 

Für die Gestaltung und Entwicklung der solidarischen und persönlichen Beziehungen (nicht nur) unter Feminist:innen haben bereits viele Gruppierungen Methoden und Strategien entwickelt.10 Einige davon hat Alex Martinis Roe in ihrem Projekt To Become Two (2014–2017) gesammelt. In einer Serie von sechs Filmen beziehungsweise Filminstallationen verarbeitet sie ihre Recherchen zu verschiedenen feministischen Gruppierungen, die seit den 1960ern in Europa und Australien aktiv sind oder waren. Das gleichnamige Buch besteht aus zwei Teilen: der erste davon versammelt Essays, die  von den verschiedenen communities erzählen, der zweite ist eine Art Handbuch mit Vorschlägen für die feministische kollektive Praxis, die sie gemeinsam mit den portraitierten Gruppen und Feminist:innen jüngerer Generationen entwickelt oder festgehalten hat.11

In It was an unusual way of doing politics: there were friendships, loves, gossip, tears, flowers… (2014) bezieht sich Martinis Roe auf Materialien der Gruppe Psychoanalyse et Politique (kurz: Psych et Po), die seit 1968 in Paris aktiv war. Deren Mitglieder legten ihrer politischen Arbeit eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Differenzen zugrunde, entgegen einer häufig in der politischen Linken postulierten „Gleichheit aller“. Und auch sie gingen von den ganz persönlichen, aber miteinander geteilten Erfahrungen aus, die sie in kollektiv vollzogenen Prozessen der Psychoanalyse identifizierten und bearbeiteten. So schreibt Martinis Roe: „[Psych et Po‘s] members used it as a space to create new language and narratives for themselves, and for femininity.“12 Diese Formen des Offenlegens geteilter Erfahrungen und dem damit verbundenen Finden eigener Narrative entspricht dem, was eingangs als consciousness-raising bezeichnet wurde. 

Abb. 2: Alex Martinis Roe: Plakat aus der Reihe To Become Two, 2016, Offstedruck, 59 x 84 cm, Grafikdesign: Chiara Figone. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Abb. 3: Alex Martinis Roe: It was an unusual way of doing politics: there were friendships, loves, gossip, tears, flowers…, 2014, Filmstill. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Abb. 4: Alex Martinis Roe: Plakat aus der Reihe To Become Two, 2016, Offsetdruck, 59 x 84 cm, Grafikdesign: Chiara Figone. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Abb. 5: Alex Martinis Roe: A story from Circolo della rosa, 2014, Filmstill.
Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).

Den Film A story from Circolo della rosa (2014) widmet Martinis Roe einer anderen besonderen Form  der Soziabilität: „The political model of the Milan Women‘s Bookstore co-operative takes as its primary  concern the relations between those who participate it.“13 Dieses Konzept wird als Affidamento bezeichnet und soll ein solidarisches Handeln in difference ermöglichen. Anstatt das Kollektiv als Ganzes und als Idee zum Imperativ des Miteinanders emporzuheben gilt es bei den Beteiligten des Milan Women‘s Bookstore Collective die persönlichen Beziehungen zwischen den Einzelnen zur Grundlage der Gemeinschaft zu machen. So unterwerfen sich die Mitglieder nicht einem gemeinsamen Verständnis des Frau-Seins, sondern erkennen die Autorität jeder Einzelnen, die Vielfalt der persönlichen Beziehungen und die menschlichen Differenzen untereinander an.

Sowohl die psychoanalytische Auseinandersetzung mit den persönlichsten und den gemeinsamen Erfahrungen bei Psych et Po als auch die Anerkennung der Beziehungsgeflechte und persönlichen Souveränität beim Milan Women‘s Bookstore Collective sind anspruchsvolle Formen des Sich Aufeinander-Beziehens, die ausschließlich unter Frauen bestehen. In beiden Fällen ist die Realisierung der eigenen Ansprüche an das Miteinander nur im Rahmen eines abgegrenzten Personenkreises möglich, in dem sich Vertrauen und Verlässlichkeit entwickeln können. Außerdem ist die geteilte Erfahrung des Frau-Seins (oder als Frau gelesen zu werden) eine notwendige Voraussetzung dafür, sich auf die jeweiligen Beziehungen einzulassen, die ein hohes Maß an Verletzlichkeit mit sich bringen. Doch innerhalb dieses abgesteckten Rahmens können utopisch anmutende Formen des Gemeinschaftlichen erprobt und etabliert werden. 

Darüber hinaus wird in den Arbeiten von Martinis Roe aber auch deutlich, wie stark sich die einzelnen feministischen Gruppen aufeinander beziehen, wie sie untereinander sowie auch in andere gesellschaftspolitische Bewegungen hinein vernetzt sind. Ihr Anliegen ist es, eine Genealogie nachzuzeichnen, die feministische Theorie- und Praxisgeschichte mit all ihren Wandlungen und Kontinuitäten umfasst. Die jeweiligen Kollektive stehen nicht für sich allein, sondern sind in gemeinsame geschichtliche und soziale Kontexte eingebettet. Unabhängig von den konkreten personellen Überschneidungen, direkten Kontakten und organisatorischen Vernetzungen wird erkenntlich, dass das Bestehen feministischer Gruppen als abgeschlossene Frei- und Gegenräume eine historische und kulturelle Kontinuität hat, deren Erscheinungsformen sich jedoch selbstverständlich wandeln. Dies äußert sich auch in Formulierungen wie „feminism itself as ‚feminist  genealogy‘“14 bei Martinis Roe und „Citation is feminist memory15 bei der Schriftstellerin und  Wissenschaftlerin Sara Ahmed: Wo das Wissen und Handeln bestimmter gesellschaftlicher Gruppen historisch unsichtbar gemacht und in den hegemonialen Narrativen ausgeklammert wird, ist die Verortung des eigenen Handelns in der Geschichte feministischer Kämpfe selbst eine politische Notwendigkeit. Die bleibende Existenz feministischer Gegenentwürfe zu den bestehenden gesellschaftlichen Formationen bildet eine sozialgeschichtliche Konstante durch die jüngere Zeitgeschichte sowie über die verschiedenen Weltregionen hinweg.

Die Fantasie und Faszination feministischer kollektiver Praxis besteht als eigenständige Heterotopie, die auch für folgende Generationen Raum zur Umsetzung eigener Vorstellungen von Soziabilität und gesellschaftlichem Handeln bieten wird. Für die Beteiligten sind diese Räume notwendig, auch wenn sie separiert bleiben vom Rest der Gesellschaft. Die Verwirklichung des vermeintlich Utopischen in einem geschlossenen Kreis Gleichgesinnter bleibt der Beweis für die Möglichkeit des „Es könnte anders sein“ und gibt Grund und Mut zum Weitermachen. 

Martinis Roe möchte mit ihrer Arbeit gegenwärtige und zukünftige Feminist:innen ermutigen, sich auf diese Geschichte(n) zu berufen und die bereits erarbeiteten Formen kollektiver Praxis zu übernehmen und weiterzuentwickeln. In To Become Two macht sie den heterotopischen Wert feministischer kollektiver Praxis deutlich. Hier und in anderen Projekten verfolgt sie ebenfalls einen eigensinnigen Weg des künstlerischen Arbeitens, mit dem sie sich von konventionellen oder weiterhin dominanten Vorstellungen des Kunst-Machens und Kunst-Zeigens emanzipiert. So weicht sie die Grenzen zwischen Produktion und Präsentation im künstlerischen Prozess auf und löst den Ausstellungsraum von der Vorstellung des fertigen Kunstwerks. Die Installation von Filmen versteht sie mehr als situation design, in dem Prozesse des Austauschs angestoßen werden können.16

Abb. 6: Alex Martinis Roe: To Become Two, Ausstellungsansicht The Showroom, London, 2017. Ausstellungsdesign: Fotini Lazaridou-Hatzigoga, Abbildungsnachweis: Daniel Brooke. URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).

Auf eine ähnliche Weise entfernte sich auch die Initiative LEVEL (2010–2018) von den Normen dessen, was als Kunst gilt. Wie beim Feminist Artist Program ist die Feststellung der andauernden Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb Ausgangspunkt des Zusammenschlusses und Motivation zum kollaborativen Handeln.17 Statt auf institutionalisiertem und pädagogischem Wege verfolgten die  Künstlerinnen mit LEVEL diese Auseinandersetzung aber in selbstorganisierten Formen und legten besonderen Wert auf den Gedanken der Vernetzung und der Förderung von community-based projects. Die Ausstellung THIS IS NOT THE WORK (2014) nahm die Form eines Protestcamps mit Pavillons, Fahnen und Bannern an, das dazu einlud, sich mit Initiativen und Netzwerken auseinanderzusetzen, in denen Künstler:innen (insbesondere Frauen) kollektive und hierarchielose  Strukturen verwirklichten (Abb. 7).18 Mit dieser Art der Raumgestaltung sowie der Verbindung mit Workshops und einer acapella performance eines Frauenchors eröffnete LEVEL über die Präsentation künstlerischer Praxis hinaus einen Raum für Austausch und Vernetzung.

Abb. 7: LEVEL: THIS IS NOT THE WORK, Ausstellungsansicht The Block, Creative Industries Precinct, QUT, Brisbane, 2014. Abbildungsnachweis: URL: https://levelari.wordpress.com/2014-projects/this-is-not-the-work/ (17.08.2021).

Die Reihe We need to talk (2013 und 2014) verzichtete ganz auf das althergebrachte Format der Ausstellung und stellte den Austausch in der Gruppe und das gemeinsame Agieren in den Mittelpunkt.19 Der Gegenraum wurde hier in Form einer Picknickdecke eröffnet, die Gäste zum  gemeinsamen Essen und Sprechen einlud (Abb. 8). Anstatt vollendeter Werke stehen hier die Teilhabe am Gespräch, das gemeinsame Denken und Diskutieren, der Moment der Gemeinschaft im Vordergrund – das Verständnis künstlerischer Arbeit schließt hier auch die Auseinandersetzung mit den Bedingungen kreativer Prozesse ein. Letztere sind der öffentlichen Veranstaltung nicht vorgelagert sondern entstehen im Moment des Zusammenkommens, der soziale Momente und die kulturelle Komponente des gemeinsamen Speisens miteinschließt. Auch in der Serie Food for Thought (2014), einer Reihe von Dinner Partys mit Diskussionen zu Feminismus und Frauen in Kunst und Medien, ist der Ansatz zu erkennen, die Beteiligten gewissermaßen ganzheitlich zu betrachten: Als Menschen, die gleichermaßen hungrig nach Wissen, gesellschaftlichem Wandel und gutem Essen sind. LEVEL gestaltete so zeitlich begrenzte und überdies mobile Räume, die den Beteiligten ermöglichte in einem abgeschlossenen, geschützten Raum eigene Themen zu platzieren und zu besprechen.20 Durch die Gestaltung und die Formen gemeinsamer Essenssituationen kann außerdem eine freundliche, einladende Atmosphäre hergestellt werden, die das Inhaltliche und das Politische nicht vom Wohlfühlen und vom Sozialen trennt (Abb. 9).

Abb. 8: LEVEL: We Need To Talk: Feminism and Food, Maiwar Green, GOMA, öffentliches Eröffnungsprogramm zur Ausstellung Harvest, 2014. Abbildungsnachweis: Joe Ruckli, Copyright: Queensland Art Gallery. URL: https://levelari.wordpress.com/2014-projects/we-need-to-talk-recipe-for-revolution/ (17.08.2021).
Abb. 9: LEVEL: Food for Thought, Next Wave Festival Melbourne, 2012. Abbildungsnachweis: Pia Johnson. URL: https://levelari.wordpress.com/2012-project/ (17.08.2021).

Der Versuch, die produktiven mit den reproduktiven Tätigkeiten zu verbinden, ist eine Gemeinsamkeit feministischer Gruppierungen in künstlerischen und aktivistischen Kontexten. Es wird versucht einer Trennung dieser Bereiche entgegenzuwirken, die in der kapitalistisch und patriarchal geprägten Gesellschaft vorherrschend und unhinterfragt ist. Diese Abspaltung reproduktiver Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Sorgen umeinander und für das körperliche und emotionale Wohlbefinden aller, von der vermeintlich eigentlichen Arbeit resultiert aus der Forderung nach einem allein rational zu führenden Diskurs und geht von einem autonomen Individuum aus. Eine solche Orientierung wirkt ausschließend und führt auch bei all jenen, die eigene Befindlichkeiten und Bedürfnisse ausblenden können, auf Dauer zu Gefühlen des Ausgebranntseins oder der Bedeutungslosigkeit. Feminist:innen bilden eigene Strukturen aus, innerhalb derer sie Arbeitsformen und die Beziehungen zueinander auf  eine Art gestalten können, die den Bedürfnissen möglichst aller gerecht werden können. 

Dieses Verständnis von künstlerischer Arbeit, das emotionale und organisatorische Arbeit als unreduzierbaren Teil des kreativen Prozesses einschließt, macht auch die meisten feministischen (ob Frauen, FLINTA* oder gemischtgeschlechtlichen) künstlerischen Kollektive aus und unterscheidet sich darin von anderen Zusammenschlüssen im Kunstfeld. Seit sich die professionelle Tätigkeit der Bildenden Kunst im 19. Jahrhundert vom Handwerk und aus dessen arbeitsorganisatorischen  Kontexten gelöst hat, sind Künstler:innen in berufsspezifischen Fragen weitgehend auf sich allein  gestellt.21 Die neue künstlerische Selbstbestimmung ging daher auch mit gesteigerten  Konkurrenzverhältnissen einher. Um sich innerhalb dieser besser behaupten zu können tun sich seit der Moderne Künstler:innen zusammen. Meistens geht es dabei neben der Bündelung von Kompetenzen vor allem darum 

„kulturelle Innovationen in sozialer Organisation zu kanalisieren und durchsetzungsfähiger zu machen. Die verstreuten Innovationskräfte gewinnen mehr und mehr Bewußtsein davon, daß sie individuell schwach sind, im Kollektiv hingegen an strategischer Stärke gewinnen. […] Noch heute  sind es vor allem diese auf die Forcierung des schöpferischen Potentials hin ausgerichteten Vereinigungen, die nach Meinung des Publikums wie der Kunstschaffenden selbst das Etikett einer ‚künstlerischen‘ Gruppe, Gemeinschaft, Bewegung etc. ehestens verdienen.“22

Dagegen werden Zusammenschlüsse, die stärker berufsbezogene und wirtschaftliche Anliegen verfolgen, nicht als künstlerische Kollektive oder Künstler:innen-Gruppe verstanden. Mit der Thematisierung von kreativen Prozessen im Kontext ihrer ökonomischen Bedingungen und ihrer Einbettung in gesellschaftliche Machtstrukturen mit und durch künstlerische Mittel bestreiten feministische Kollektive selbstbewusst ihren eigenen Weg.

Wie sich neoliberale Werte und Vorstellungen von Leistung, Arbeit, Erfolg und Identität – nicht nur, aber ganz besonders – genderbezogen und – ebenfalls nicht nur, aber auf spezifische Weise – in der Kunst auswirken, thematisiert das Cake & Cash Curatorial Collective (seit 2020) als feministisches Austausch- und Rechercheprojekt an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und darüber hinaus.23 In den eigenen Arbeitstreffen, einer Veranstaltungsreihe mit Lesekreis, Inputs und  Workshops, einer Ausstellung und der Start-Up-Gründung der Grind & Shine Inc. im Kunstverein Harburger Bahnhof (2021)24 macht das Kollektiv auf die Widersprüche aufmerksam, denen junge  Künstler:innen ausgesetzt sind: Der Vorstellung der Selbstverwirklichung durch Kunst stehen prekäre Arbeitsbedingungen und ein krasser Individualismus gegenüber. Dadurch ist es nur einem ganz kleinen Kreis von Künstler:innen möglich, sich in ihrer Kunst selbst zu verwirklichen, und zwar denjenigen, die finanziell, körperlich, emotional und sozial die Bedingungen erfüllen, die es benötigt, um sich im Wettbewerb durchzusetzen und künstlerisch zu überleben. Bei Cake & Cash liegt ein Fokus auf den Erfahrungen und Arbeitsbedingungen im Kontext der Kunsthochschule, schließlich werden hier – nach der ersten großen formalen Hürde der Aufnahme als Kunststudent:in – wichtige Weichen für die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten gelegt. Dabei ist auch dem studentischen Kollektiv wichtig, sich mit ähnlich motivierten anderen Gruppierungen zu verbinden beziehungsweise verbünden, wie es insbesondere beim Pop & Squat Festival (2020) zur Vernetzung feministischer Initiativen an Kunst- und Gestaltungshochschulen unter dem Motto: „Das ist unser Raum!“,  verwirklicht wurde.25 Die an diesem Austausch beteiligten Personen und Gruppen zeigen, dass an den Ausbildungsstätten der gegenwärtigen Kunstwelt – zunächst unabhängig voneinander und dann in Bezug zueinander – die Idee der feministischen Gegenräume aktuell besonders starke Resonanz erfährt und umgesetzt wird. 

Abb. 10: Mitglieder des Cake & Cash Curatorial Collective während des Pop&Squat Festivals, Offenbach 2020. Abbildungsnachweis: Annika Grabold.

Das Herstellen der eigenen Räume und das Teilhaben an Diskursen über feministische Entwürfe eines rücksichtsvollen und solidarischen Miteinanders in kleinen und geschlossenen, räumlich und oft auch zeitlich begrenzten Gegenraum ermöglicht die Verwirklichung utopisch anmutender Ansätze und ist ein Zufluchtsort, oder: Ein safe space, in dem Erfahrungen geteilt und Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden können, die außerhalb dieser Räume gerechtfertigt werden müssen. Dafür ist die Abgeschlossenheit notwendig, doch gleichzeitig bleibt auch der Wunsch oder die Vision, über diese Heterotopien hinaus zu wirken – nicht nur das „Andere“ im „Eigentlichen“ zu sein, sondern aus den safe spaces und Gegenwelterfahrungen heraus in alle gesellschaftlichen Lebensräume hineinzuwirken. Feministische kollektive Praxis in der Kunst bleibt wichtige Quelle der Erprobung solidarischer und rücksichtsvoller Formen des Miteinanders. Sie wirkt durch ihre Radikalität aus dem Abgeschlossenen heraus zumindest punktuell als Inspiration für Veränderungen in anderen Bereichen des menschlichen Lebens. Sabeth Buchmann denkt angesichts der Auswirkungen der Covid-19- Pandemie im April 2020 an die Ausstellung Defiant Muses. Delphine Seyrig and the Feminist Video Collectives in France in the 1970s and 1980s (Reina Sofia Museum, 2019) zurück, die 

„ein in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der Frauenbewegung offenbar ausgeprägtes Bewusstsein um die Notwendigkeit nicht nur der ‚Sorge um sich selbst‘ (Foucault), sondern auch der solidarischen Etablierung lokaler und internationaler Infrastrukturen inklusive kollektiv geteilter Erfahrungen und Wissenspraktiken zur Verbesserung der oftmals katastrophalen sozialen und gesundheitlichen Situation von Frauen und Mädchen erkennen [ließ].“26

Ein solches Bewusstsein ist auch in den gegenwärtigen verschiedenen und miteinander vernetzten künstlerischen Kollektiven zu sehen.27 Diese reagieren nicht nur auf die vielerorts „katastrophalen“ Lebensbedingungen von Mädchen und Frauen sondern prangern darüber hinaus tieferliegende, grundsätzliche Paradigmen und Machtstrukturen in Kunst und Gesellschaft an. Sie kritisieren das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminerungsstrukturen und deren gemeinsame gesellschaftliche Grundlagen sowie die enge Verknüpfung von patriarchalen und kapitalistischen Mechanismen, wie sie in Debatten um Care-Arbeit thematisiert werden.

Abb. 11: In The Meantime: Working Together: Being slower than expected, How to Work Festival (online), 2020,  Screenshot der kollektiven Visulisierungen während des Workshops. Abbildungsnachweis: URL: http://in-the-meantime.net/projects/working-together-being-slower-than-expected (17.08.2021).

Das Knüpfen von Beziehungen zwischen Akteur:innen (Einzelpersonen und Gruppen) feministischer künstlerischer Kollektive ist nicht nur zur Stärkung „nach außen“ wichtig, also um sich in der bestehenden Kunstwelt vernetzt oder verbündet besser behaupten zu können. Auch die gemeinsame Reflektion persönlicher oder gruppenbezogener Entwicklungen, des Scheiterns oder von Ratlosigkeit sind von besonderer Bedeutung für das Bestehen der Gruppen. Aus meiner eigenen Erfahrung als Mitglied der Experimentellen Klasse (seit 2019)28 sowie von anderen Künstler:innen, wie es zum Beispiel Charlotte Perka von In The Meantime (seit 2020)29 bei einem meiner Gespräche über feministische kollektive Praxis erzählt,30 kann ich berichten, dass es sich beim Streben nach diesen Idealen um einen andauernden und teilweise durchaus anstrengenden Lernprozess handelt. Gerade die eigenen Ansprüche, persönliche Grenzen über einen vermeintlichen produktiven Erfolg zu stellen, können oft nicht erfüllt werden. Der Wunsch, die künstlerische Praxis besser als bisher üblich und auf eine neue, eigene Weise zu gestalten, führt selbst immer wieder dazu, dass die Motivation die eigenen Kapazitäten überrollt. Die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in Arbeitsprozessen schnell untergeht, die Aushandlungen in der Gruppe, die oft dazu führen, dass wir das Gefühl haben langsamer voran zu kommen als im individuellen Arbeiten (Abb. 11), die Spannung zwischen kollektivem Agieren und dem Voranbringen individueller Vorhaben – all dies erfordert erst einmal mehr Kraft im Vergleich zum Arbeiten als Einzelperson. Die Beteiligten feministischer Initiativen sind sich dieser Herausforderung sehr bewusst und reflektieren kritisch, inwiefern sie den eigenen Ansprüchen genügen. Wichtig ist es, das, was als Scheitern empfunden wird, als Teil des Lernprozesses zu akzeptieren, der auch das Verlernen tiefsitzender Vorstellungen wie zum Beispiel von Leistung und Erfolg beinhaltet. 

Kunst bietet wie kein anderes Feld die Möglichkeit eigene Formen des Miteinanders, des Handelns und des Gestaltens von Bildern und Erzählungen über sich selbst und die Welt zu entwickeln. Diese Potentiale sind gerade für marginalisierte Gruppen wichtig, um sich selbstbestimmt in der Gesellschaft zu bewegen und zu präsentieren. Doch wird das Wahrnehmen dieser Freiräume in der Kunst durch Individualismus und Wettbewerbsdenken, patriarchale, rassistische, klassistische, ableistische und weitere Machtverhältnisse beschränkt. Sie sind unter dem Deckmantel der „Freiheit der Kunst“ noch stärker verschleiert.31 Dagegen stellt sich feministische kollektive Praxis: Es geht darum eigene Formen künstlerischer Praxis zu erproben und das der Kunst inneliegende Potential für alle zugänglich zu machen.


Biografie

Saskia Ackermann

Saskia Ackermann hat ihren Master in Bildender Kunst an der Hochschule der bildenden Künste in Hamburg gemacht und studiert seit 2016 an der FernUniverstität Hagen Bildungswissenschaften im Bachelor. Einer der Schwerpunkte ihrer Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit feministischen Formen kollektiver Praxis. Eine ähnliche Intention verfolgt sie gemeinsam mit dem künstlerischen Kollektiv Experimentelle Klasse, die sich queeren, feministischen und intersektionalen Fragestellungen und Arbeitsweisen widmen.


Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst – Lea Lenk und Vesna Hetzel

Die geplante Strecke der A49 führt mitten durch den Dannenröder-Forst. Umweltaktivist:innen protestierten für eine klimagerechte Verkehrspolitik und Rettung des 300 Jahre alten Mischwald aus Buchen und Eichen während die hessische Landesregierung auf den Bau der Autobahn und der damit verbundenen Teilrodung beharrt. Um den Raumkonflikt zu lösen entwickelt das Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst verschiedene hybride Szenarien zum Umzug des Waldes. Doch welcher Ort bietet dem Wald seine ungehindertere Entfaltung? Welche Strategien sollten eingeleitet werden um eine Kooperation von Mensch, Wald und anderen Akteur:innen zu ermöglichen? Einen Versuch, den das Umzugsbüro verfolgt: den Umzug in die Cloud.

Willkommen im Pop-Up-Umzugsbüro Dannenröder Forst. Hier werden Strategien und Prototypen zum Umzug eines Waldes erforscht. Gerade sind wohl alle unsere Mitarbeitenden in einen Video-Call verwickelt. Schauen Sie sich um, tragen Sie sich in die Umzugshelfer:innen-Liste ein.

Flipchart steht im Eck. Gemappte Schlagwörter, Notes, Karten und Schematas sind an die Wand geclustert. Charmant-konzentrierte Stimmung im Umzugsbüro. “Terrestrisches Verfahren wäre hier…” “möchte Ihnen noch das Airborn Laserscanning vorstellen…”. Es geht momentan um die Erfassung und Vermessung des Waldstückes, das an einen anderen Ort umgezogen werden soll. Gearbeitet wird an der Umsetzung von hybriden Konzepten: Physischer Umzug und Umzug in den virtuellen Raum.

“Wir möchten momentan in strategischen Schritten verschiedene Szenarien entwickeln, um einen Prototypen zu entwickeln, wie das Waldstück als Ökosystem im Kompletten an einen anderen Ort umgezogen werden kann. Dazu bringt uns der demokratisch beschlossene Bau der A49 und die Vision, einen neuen Raum zu finden, wo der Wal weiter für immer expandieren und florieren kann. Dazu muss er vor allen dingen auf ganz vielen verschiedenen Ebenen flexibilisiert werden.”

CEO, Pop Up Umzugsbüro

Dieses Gebiet löst sich wie eine Erdplattenverschiebung. Eine dicke Kruste bildet sich und führt oval unter die Erde. Dann löst sich der Wald langsam aus seinen Angeln und beginnt zu schweben. Die Autobahn bleibt zurück inmitten einer dunklen Kluft von Leere.

Unsere Strategie-Entwicklung wird zunehmend komplexer. Nicht nur aus dem offensichtlichen Grund, dass monetäre Mittel in unserem Projektbereich eher für die Rodung und den Bau der Autobahn zur Verfügung stehen. Oder den Problemen, auf welche man aus forstwissenschaftlicher Sicht stößt. Die Entwicklung unterschiedlicher Umzugsszenarien wird vor allem komplexer, da wir uns mit einem Territorium beschäftigen, welches mit verschiedenen Ebenen über-und durchzogen ist. Es reicht in verschiedene, wir nennen es in diesem Artikel ‘Plattformen’ hinein und findet auf diesen unterschiedlichen Plattformen einen Platz und Raum.

JURISTISCHE EBENE

Das betreffende Teritorium hat einen bestimmten Nomos. Ein Gitter an Gesetzen entsteht wie eine juristische Ebene über dem Wald. Lässt Linien, Zäune, Segmente, Markierungen entstehen, verwebt sich mit ihnen. Verschiedene Geometrien akkumulieren sich.

ÜBERLAGERUNG VON RAUMFIGURATIONEN

            Der Wald war nie frei

            Kommodifizierungphantasien in der Kolonialisierung

            Er entzieht sich, gibt den Platz wieder frei,

            Verortet sich neu, löst Raumkonflikte auf,

            Zugriff ist weiter möglich

            Ein Wald, der ewig expandieren wird

            Forever alive and has forever died

            Der Wald als Souverän

Die binäre Wahrnehmung von Territorien des Zusammenspiels aus Ortung und Ordnung kollabiert. Klare Unterscheidungen wie – dies ist der Raum der Erde, dies ist der Bereich des Wassers, dies ist die Zone der Luft – verflechten sich. Man kann das nun auch so sehen, wie Benjamin Bratton in The Strack einführt: Verschiedene Plattformen entstehen durch strategische Zusammenführung der Konturen von plastischen Territorien. Es fällt nun also schwer, in dieser Raumimagination von Territorien in einzelne Typen der Erde zu unterteilen. Wir überlegen ob das “fortfahrende Entstehen von planetary scale computation möglicherweise einen ähnlichen Bruch und Herausforderung an die politische Geographie repräsentiert.”

CHANGIEREN ZWISCHEN IMAGINÄREN UND REALEM RAUM

Wie verschiebt sich das Konzept Wald in der Umrechnung einer planetary scale computations? Oder ab welchem Punkt wird dieses Konzept sich materialisieren können, aber nicht im Sinne des Erschaffens einer neuen Repräsentation (physische Herstellung der Oberfläche eines Waldes), sondern in ihr eigenes Souverän. Auch hier ist ein großes Komplex zu finden. Das Materialisieren entzieht sich beim Umzug ins Virtuelle der Wahrnehmung der großen Öffentlichkeit. Ein Umzug in die Cloud.

WAS BEDEUTET EIN UMZUG IN DIE CLOUD?

Der Wald ist nach Umzug ins Virtuelle in der Cloud zu finden. Er ist nicht nur verschwunden oder in einen vierten Raum verpflanzt, der einfach zu Luft, Erde und Wasser – Raumdimensionen des Schmittschen Nomos – hinzugefügt wurde. Sondern ist auf verschiedene Ebenen verteilt. Die Trennung und Unterschiedungsprioritäten des Nomos, wie ihn Schmitt verstand, auf die Cloud bezogen bzw. auf das, was aus der planetary scale computation entstanden ist, also die trennung zwischen Cloud-Infrastruktur und Cloud-Interaktivität im Spektrum von greifbar bis virtuell, kann nicht lange überleben. (Vgl. Bratton 2015, S.28)

NEU-VERORTUNG, NEUE ORDNUNGEN

“Bei einem Umzug stellt sich immer die Frage des Wohin? Welcher neue Ort passt zur Neuansiedlung, welcher Raum kann den Bedürfnissen des umziehenden Territoriums Platz bieten, gerecht werden?“ Weiterführend stellt sich die Frage, welche Bedürfnisse beachtet werden müssen. In welcher Form soll der Wald in Erscheinung treten, wer darf Zugriff auf ihn haben? Wer ist Eigentümer:in, wer besitzt den Wald? Wie wird der Wald von wem wahrgenommen?

VERORTUNGEN UND TERRITORIALISIERUNG DES VIRTUELLEN RAUMS

Konkrete Utopien sind schwierig zu benennen. Eine Veränderung der Wahrnehmung der Zusammenhänge aus physischem und virtuellem Raum ist beobachtbar. Die Wechselwirkungen zwischen beiden vermeintlich getrennten Räumen wird aufgrund unseres expandierenden Umgangs und des erweiterten Bewegen sichtbarer. Beziehungsweise verlagern sich Bewegunsradien in den unterschiedlichen Räumen. Ein Bewusstwerdungsprozess des eigenen materiellen Ortes im Ökosystem.

Alles braucht einen vorhandenen Ort und nimmt Raum ein. Die Trennung dieser beiden Räume löst sich auf. Alles fließt ineinander über. Materiell und virtuell. In der Luft vereinen sich obere Waldschicht und untere Waldschicht zu einem Ganzen. Das Neue schwebt als Cloud, als ihr eigenes Souverän, als Mini-Staat.

GEDANKEN-SYNAPSEN IM GEHIRN … DATEIEN/PROTOKOLLE/…

EINEN PLATZ AUF EINEM SERVER. 27 Hektar auf zwei Zentimetern der Serverfarm im Pazifik. So klein wie möglich, aber trotzdem noch auffindbar.

Durch den Prozess des Umzugs wird es möglich, die verschiedenen Plattformen aufzudecken und dem nachzugehen.

Der Umzug in die Cloud fungiert wie ein Mikrokolonialisierung: DieCloud als eine Art Kontinent der neu besiedelt werden kann. Und gleichzeitig findet durch die planetary scale computation auf unterschiedlichen Plattformen schon eine Kolonialisierung statt, beziehungsweise hat dadurch an stattgefundene Kolonialisierungen angeknüpft. Das Feld sinnlichen Erlebens, eingebettet in die Materie, ist längst einem visuellen Feld gewichen, das uns auf den Wald als Bild schauen lässt und uns somit erlaubt, es zu Clustern zu kategorisieren, berechnen, vermessen und seinen Wert zu kalkulieren.

Der Wald ist durch eine neue Verortung im virtuellen Raum nun nicht verschwunden oder wurde in einen vierten Raum verpflanzt, sondern wird sich dann auf verschiedenen Ebenen verteilen. In unterschiedlichen Plattformen wird der Wald physisch sein. Visuell, taktil, auditorisch, vielleicht sogar bald olfaktorisch, in ferner Zukunft gustatorisch, kann der sich in der Cloud eingefundene Wald, durch technische Lösungen wahrgenommen werden. Der Wald als Kulturgut bleibt bestehen. Wird archiviert. Durch künstliche Intelligenz als Simulation erweiterbar. Durch auf der Erde verankerte Maschinen, die örtlich ungebundener und flexibler sind als ein Ökosystem, werden die Funktionen des Ökosystems, wie z.B. die CO2-Filterfunktionen im physischen Raum übernommen. Es existieren quasi die Informationen über das Ökosystem, allerdings aufgeteilt auf verschiedene Plattformen des Stacks. Der Wald aber ist tot. Umgezogen wird nicht ein Ökosystem, sondern das Ökosystem als Medium kultureller Prozesse, als Kulturgut. Wir wollen diesen Wald, weil wir ihn brauchen. Wir wollen diese Autobahn, weil unser System sie braucht. Der Körper des Waldes und unser Körper sind existenziell verwoben, aber nicht nur auf stoffliche, sondern auch auf ideelle, konzeptuelle, ethische und kulturelle Weise.

DAS PROBLEM MIT DEM KULTURGUT

Der Wald ist längst kein unbelasteter, ursprünglicher Raum mehr, sondern wird wie eine Ware, wie Geld ungeordnet strukturiert und verwertet. Dem entgegen steht eine Vorstellung vom Wert eines Ökosystems, das Grundlage jedes Lebens auf dem Planeten bildet und als solches unbedingt schützenswert ist.

Eine solche Vorstellung betrachtet den Wald innerhalb einer bestimmten Wertvorstellung als Kulturgut. Einem Wald aber überhaupt Wert im Sommer eines ‘Gutes’ zu zuschreiben, ist bereits ein kultureller und kulturalisierender Prozess und somit ein virtuelles Konzept, eine Aneignung. Wie kann in einer solchen Konzeptualisierung der Wald als Wert an sich außerhalb eines Wertesystems gedacht werden? Die Grenzen unserer eigenen Imagination konfrontieren unser Unvermögen, außerhalb dieser Prozesse eine Sprache zu finden, die diese kulturelle Aneignung des Ökosystems beschreibt, denkt, aufbricht. Vielleicht sollten wir den Wald einfach lassen, als was er ist – außerhalb unseres Systems und gleichzeitig zutiefst verwoben mit unserem System. Den Wald vielleicht sogar betrachten als existenzielle Grundlage des Fortbestehens menschlicher Kultur.

POINT: WIE TERRAFORMING UND TECHNISCHE MITTEL NUTZEN: Utopie:

Neue Möglichkeiten des Terraforming würden sich ergeben. Warum der Wald im Reellen erhalten werden sollte, hat mit subjektiven Empfindungen und auch mit seinen Funktionen innerhalb des Ökosystems der Erde zu tun. Sobald wir die technische Möglichkeiten haben, der Funktionen nachzubauen, besteht die Möglichkeit, darüber nachzudenken, die haptische Natur getrennt von ihrer Funktion zu digitalisieren und über ihre Funktionen in Form von Maschinen zu verfügen.

Stellt es eine Utopie dar, dass die Souveränität über den Wald als Menschen so aussieht, dass wir in der Lage sind, eventuell die für uns relevanten Funktionen von der realen Existenz des Dinges / Territoriums an sich zu trennen? Zu bestimmten, wo und wann etas entsteht und etwas sich formt? In dieser Heterotopie ist der Wald ein Territorium, ein System, das ewig expandieren wird, aber nicht sein eigenes Souverän besitzt.

Zwei schwarze, glänzende zylindrische Kästen ragen in die Höhe. Legt man den Kopf in den Nacken, kann man die Kante des Endes sehen. Auf der einen Seite spürt man den Luftzug und muss an der Absperrung anhalten, damit man nicht mit full of CO2 und Methan enthaltener Luft eingesaugt wird. Atmet man auf der anderen Seite ein, verspürt man die fresheste O2-Luft, die einem die Haare ins Gesicht wehen lässt.

Was im Physischen bleibt, ist Masse. Lebendige, moorige, wuchernde, gewaltige Erdmasse, Baummasse, Gehölz, Lebewesen, unvereinbar mit den Konstruktionen und Projektionen einer Gesellschaft, einer Autobahn, jeglicher Wertvorstellungen oder virtuellen Konstruktion. Alleine die Information und der Nutzen sind auf die Cloud übertragen. Der Boden wird zurück gefordert, der Wald war nie frei. Das Subaltern kann in der Konstruktion des Mächtigen nicht sprechen, sondern nur verwertet werden. Im schlimmsten Fall wird es abgelöst durch eine Verbildlichung, wird Oberfläche, degradiert zum Kulturgut und ins Archiv der Museen überführt.

In der Konfrontation mit der schieren Masse, dieser schieren Gewaltigkeit der Materie müssen all unsere gedanklichen, virtuellen Lösungen scheitern. Einen Wald umzuziehen ist lediglich ein Prozess imaginärer Umformung, in der der Wald wieder nur Objekt beziehungsweise Bild unserer Sehnsucht und Projektionen, ein Spiegel der Kultur und was sie mit der agency und Souveränität eines Ökosystems tut.

Diese Imaginationen öffnen aber auch Räume im Virtuellen, die selbst materialisierte Orte, Heterotopien werden können und ihrerseits die Formierung neuer Prozesse anstoßen, verhindern oder pervertieren können. Werden wir es schaffen?

Wir schlagen nicht nur eine neues Bild vor, das eine bereits existierende Repräsentation (Der Wald) mit einer anderen Repräsentation (der umgezogene Wald) ersetzen soll. Der naive, größenwahnsinnige, real-politische und existenziell verzweifelte Versuch ist es, Imaginationen eines von konzeptuellen und kulturellen Praktiken dekolonialisierten Waldes anzustoßen, eines Waldes ewigen Werdens und Expandierens, eines Souverän. Werden wir es schaffen?


Biografie

Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst

Das Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst wurde im Jahr 2021 von Lea Lenk und Vesna Hetzel gegründet und forscht interdisziplinär an Strategien zum Umzug eines Waldes. Sie entwickeln verschiedene analoge wie hybride Szenarien und Imaginationen zur Flexibilisierung bestimmter Ökosysteme, insbesondere des Terraforming. Fragen von Raumkonflikten und spekulativen Zukünften spielen dabei ebenso eine Rolle wie konkret-realpolitische Handlungsmöglichkeiten.

Reflexionen über eine offene Werkstatt an den Außengrenzen Europas – Mimi Hapig, Franziska Wirtensohn und Michael Wittmann für Habibi.Works

Im Beitrag stellt sich das praktische Projekt Habibi.Works vor und reflektiert die eigenen Strategien und Strukturen auf theoretischer Ebene. Das Projekt selbst begreift sich als Heterotopie und als border[less]: Ein grenzenloser Raum, welcher den Versuch wagt, vermeintliche Zugehörigkeiten zu Nationalitäten, Religionen, Ethnien oder Geschlechtern und daraus resultierende Grenzziehungen zu überwinden. Verfasst von Mimi Hapig, Franziska Wirtensohn und Michael Wittmann.

Begonnen Ende des Jahres 2015 als zivilgesellschaftliches Engagement zur Unterstützung von Menschen, die nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen ankommen, wurde die offene Werkstatt Habibi.Works1 im Jahr 2016 bald zu  einem Raum, zu einem „in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichneten“2, konkreten Ort.  Sie versteht sich als „Gegenplatzierung oder Widerlager, [versuchte] tatsächlich realisierte Utopie“3 – um dem momentanen Umgang Europas mit Menschen nach ihrer Flucht und der zunehmenden Entmenschlichung und Militarisierung von Grenzen etwas entgegenzusetzen und um Begriffsbildungen wie „Flüchtlingskrise“ zu dekonstruieren.

Dieser Beitrag stellt Motive, Intentionen und Arbeitsweisen des Werkstattprojekts Habibi.Works vor und beleuchtet anhand zentraler Fragestellungen, inwiefern eine kritische Praxis gelingen kann, die Machtdynamiken und Ungleichheiten reflektiert.

Entstanden aus einem zivilgesellschaftlichen Kontext, verbindet das Werkstattprojekt  unterschiedlichste Disziplinen sowie verschiedenste Perspektiven und Ansätze. Die offene Werkstatt  verortet sich als gestalterische Praxis. Sie ist eine sich solidarisierende Initiative, die (informelle) Bildung, Austausch und gesellschaftliche Teilhabe zugänglich machen will. Daraus können sich einerseits Konflikte und problematische Projektionen ergeben, wie  gegenteilige Auswirkungen vom Intendierten4, ungewollte Stigmatisierungen5 oder eigentlich gut gemeinte, aber dennoch bevormundende Projekte.6 Andererseits erwies sich ebenjene Mulitperspektivität – also die Öffnung für Einflüsse aus unterschiedlichstes Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen sowie für eine Vielzahl an Ideen interessierter Menschen – als zentrales und konstruktives Motiv über Jahre des bisherigen Bestehens.

Dieses Verständnis soll weder eine zu vereinfachende Gleichsetzung  von Kunst und Politischem  bedeuten, noch eine (scheinbar heilsbringende) Sonderrolle von Kunst betonen.7 Vielmehr sucht es nach Formen des Ineinanderwirkens. Dieser Beitrag diskutiert, inwiefern kritische und nicht ausschließlich affirmative Formen und Strategien einer sich solidarisierenden Gestaltung möglich sind.8 Kritisch meint in diesem Sinne, dass bestehende Ungleichheiten benannt werden, gleichsam die eigenen Intentionen und auch nicht intendierte, widersprüchliche Auswirkungen hinterfragt sowie Hierarchien und die eigene Situiertheit reflektiert werden.9

Intentionen – drei wesentliche Perspektiven

Habibi.Works wurde von dem kurz zuvor gegründeten gemeinnützigen Verein Soup and Socks e. V. ins Leben gerufen, mit der Überzeugung, dass nationale Grenzen keine Grenzen für die Suche der Menschen nach Freiheit und Sicherheit oder für ihr Recht auf selbstbestimmte und würdige Lebensbedingungen sein dürfen.10 In diesem Sinne sind die wichtigsten Prinzipien von Habibi.Works: Menschen, die nach Europa kommen, können unsere Gesellschaften bereichern, wenn soziale, wirtschaftliche und politische Strukturen zugänglich sind und dies ermöglichen. Solange diese Strukturen nicht zur Verfügung stehen, versucht das Werkstattprojekt eine Rahmen zu setzten, in dem zumindest im Wirkungsbereich dieses Ortes die Menschen selbst Ideen, Perspektiven und Lösungsansätze generieren, anstatt bevormundet und ihrer Handlungsfähigkeit beraubt zu werden.

Habibi.Works vereint folgende drei Perspektiven: Erstens durch alltägliche Unterstützung vor Ort ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen; zweitens einen Raum zur Verfügung zu stellen, der Ort für Austausch und Begegnung ist; drittens durch kritische Berichterstattung Bewusstsein über die desolate und ausweglose Situation für Menschen nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen zu generieren.

Abb. 1: Eindrücke aus der offenen Werkstatt Habibi.Works. Foto oben links Florian Horsch; Foto oben mittig Margot Buff; Foto oben rechts und unten rechts Mimi Hapig; Foto unten links (Zeitraffer) Franziska Wirtenson und Michael Wittmann.

Konkret findet die alltägliche Unterstützung vor Ort in Katsikas, bei Ioannina im Nordwesten Griechenlands in Form einer offenen Werkstatt statt: Mit Ateliers für Holz-, Metallbearbeitung, für digitale Fabrikation, Nähen und Kreatives, mit Bibliothek, Küche und Sportbereich ist Habibi.Works offen für Menschen nach ihrer Flucht, genauso wie für die lokale griechische Bevölkerung und Interessierte oder Expert:innen aus der ganzen Welt. Die alltägliche Arbeit vor Ort ist getragen von dem Gedanken, dass jede Person die/der Expert:in ihres eigenen Lebens ist. Menschen wissen selbst am besten, woran es ihnen fehlt und wie adäquate Problemlösungen aussehen können. Was ihnen die Umsetzungen ihrer Ideen erschwert, ist der fehlende Zugang zu Räumen, Materialien, Ausrüstung und Unterstützung. Hier setzt Habibi.Works an. Die elf verschiedenen Werkstättenbereiche zielen darauf ab, dass Menschen wieder Gestaltungsfreiheit und Selbstbestimmung in ihrem Alltag generieren können. Insofern wollen sie gelebtes Beispiel vor Ort sein und vermeintliche Grenzen im Alltäglichen und in vielen kleinen Situationen überwinden.

Durch freie Zugänglichkeit, durch gegenseitige Wertschätzung aller Beteiligter und durch den Versuch, selbstbestimmte Gestaltung zu ermöglichen, wollen die offenen Werkstätten zudem ein Ort für Austausch und Zusammenarbeit sein, in dem nicht nur zahlreiche Objekte, sondern auch Gemeinschaft, Vertrauen und Selbstbewusstsein entstehen. Vorurteile sollen abgebaut und die eigenen Annahmen und Intentionen im konstruktiven Sinne hinterfragt werden.

Und drittens soll dieser Raum eine gesellschaftspolitische Bedeutung entwickeln, indem ein (öffentliches) Bewusstsein geschaffen und verstärkt wird – gegen die desolate Situation an Europas Außengrenzen und gegen eine Kriminalisierung und Prekarisierung von Menschen auf der Flucht. Mit regelmäßiger Berichterstattung und Kampagnenarbeit werden  Kontrapunkte gegen rechtspopulistische Narrative gesetzt.

Abb. 2: Blogbeitrag mit einem Bericht über die drohenden Obdachlosigkeit für viele Asylsuchende in Griechenland. Foto Mimi Hapig, entnommen: Soup and Socks e.V., Blogeintrag, URL: https://soupandsocks.eu/2020/06/10/from-camps-to-homelessness-new-regulation-in-greek-asylum-regulations/

Zentrale Arbeitsweisen – exemplarische Beispiele

Zugänglichkeiten als Gegenmodell zu der gezwungenen Untätigkeit und dem Warten in Ungewissheit

Als offene Werkstatt versucht Habibi.Works einen Rahmen zu schaffen, in dem die Menschen  Selbstbestimmung, sowie Zugang zu (informeller) Bildung und zu gesellschaftlicher Teilhabe selbst generieren können. Den Menschen, die sich in einer politisch bedingten Situation des Wartens mit sehr wenig Informationen über die eigene Zukunft befinden, soll ermöglicht werden, eine Perspektive der Selbstwirksamkeit in ihrem täglichen Leben zu schaffen. Dieser Ansatz soll spürbare Auswirkung haben – auf die aktuelle Lebenssituation der Menschen (z.B. Vorhänge, die Privatsphäre in den Containern schaffen, sodass Frauen ihr Kopftuch abnehmen oder sich in Ruhe umziehen können), auf die Motivation, die eigene Bildung fortzusetzen oder zu nutzen (z.B.  Expert:innen, die ihre Fähigkeiten weitergeben, Student:innen, die ihre Ausbildung online fortsetzen, Jugendliche, die nie Zugang zur Schule hatten, werden ermutigt, sich Fähigkeiten anzueignen) und auf die Zuversicht, ein unabhängiges Leben innerhalb der europäischen Gesellschaften aufzubauen.

Offene Formen der Zusammenarbeit

In dem Versuch, diese aktive, selbstbestimmte Perspektive aller Beteiligten zu fördern, erkundet Habibi.Works nicht-kompetitive, selbst-ermächtigende Wege der Zusammenarbeit. Alle Menschen werden eingeladen, ihre eigenen Ideen einzubringen, sich an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, Verantwortung zu übernehmen und Eigenverantwortung zu generieren, zum Beispiel indem sie eine angeleitete Aktivität in einem der Habibi.Works-Workshops anbieten, sich an größeren Projekten beteiligen oder in den monatlichen Community-Treffen Feedback und Ratschläge geben.

Erzeugen von Bewusstsein und Dekonstruktion diskriminierender Begrifflichkeiten

Die Situation an den europäischen Grenzen ist geprägt von Ungleichheiten und Unsicherheiten für in Europa nach ihrer Flucht neu ankommende Menschen. Habibi.Works und dessen Trägerverein informieren regelmäßig europaweit über diese Zustände und setzen rechten Narrativen auf kreative, engagierte und zugleich deutlich kritisierende Weise etwas entgegen. Die Kanäle reichen von monatlichen Newslettern über Social-Media-Kampagnen bis hin zu Reden im Europäischen Parlament und auf Demonstrationen, der Teilnahme am akademischen Diskurs und öffentlichen Vorträgen in verschiedenen europäischen Ländern.11

Abb. 3: Die Menschen demonstrieren gegen ihre Unterbringung unter widrigsten Bedingungen in einem sogenannten Camp in Katsikas (Griechenland) und Solidaritätskundgebung in München. Abbildung oben Soup and Socks e. V., E-Mail-Newsletter: Viel Licht und Regen über Katsikas, Nr. 15 (11.09.2016); Foto unten Michael Wittmann.

Inhaltliches Motiv ist unter anderem die Entlarvung des Begriffs „Flüchtlingskrise“ als verkürzte und rassistische Zuschreibung der Verantwortung für einen Zustand auf die am stärksten davon betroffenen Menschen. Die Ursachen liegen tiefer: Die Symptome an den europäischen Grenzen werden nicht allein durch Menschen verursacht, die aus ihren Ländern fliehen müssen. Sie sind die Folgen globaler Verflechtungen und Konflikte, die zu Ausbeutung, Krieg, Verfolgung und Armut führen. Diese Konflikte sind zumindest teilweise die Folge von kolonialem Erbe, von Rassismus und von Ausbeutung von menschlichen und natürlichen Ressourcen.12 Die offensichtlichsten Symptome dieser humanitären und politischen Krise – krisenhafte Zustände in den Flüchtlingslagern und punktuelle Ereignisse wie die Katastrophe auf Lesbos – sind auf einen politischen Unwillen zurückzuführen, menschenwürdige und nachhaltige Lösungen zu finden.

Raum zu Verfügung zu stellen

Habibi.Works will Raum zur Verfügung stellen – zur Umdeutung bestehender Ungleichheiten, zur Reflexion sowie zur offenen Nutzung und daraus resultierender Bedeutungsperspektiven. Gemeint sind damit sowohl die konkreten Räumlichkeiten, sprich physischen Räume als auch inhaltliche und symbolische Dimensionen der Räumlichkeiten von Habibi.Works.

Das Teilprojekt Habibi Dome, entstanden 2016/17, kann hierfür als Beispiel gesehen werden.13 Es ist kollektives Bauprojekt und Plattform zugleich: Im Bauprozess wurde die mittlerweile im Internet frei zugängliche Geodesic-Dome-Konstruktion nach Richard Buckminster Fuller als bestehendes Wissen verwendet, um sie adaptieren, weiterentwickeln und weitergeben zu können. Die Kuppelkonstruktion und die Entscheidung, diese als selbstbestimmten Raum zu bauen, war ein Vorhaben, das alle am Projekt Beteiligten zusammen trafen. Wichtiges Grundprinzip war, auf möglichst allen Ebenen offene und zugängliche Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse ablaufen zu lassen und sich dabei gleichwohl bewusst zu sein, dass eine absolute Hierarchielosigkeit nicht möglich ist. Ein Modell im Maßstab 1:10 als essentielle Stütze bei der Verständigung ohne eine gemeinsame Sprache machte Planung und gestalterische Entscheidungen für alle Beteiligten zugänglich. Darüber hinaus wurde der ursprünglich angedachte Plan einer Überdachung aus Zeltstoff hin zu einer Abdeckung mit Holz und damit zu einem festen Raum abgeändert, da dies für viele Beteiligte ein Statement gegen die Unterbringung in Camps war.

Abb. 4: Bau der Kuppelkonstruktion. Abbildungsnachweis: Lucas Bertoldo.

Mittlerweile entstand neben dem in Griechenland gebauten, nach wie vor genutzten Raum eine mobile Version, die an verschiedenen Orten europaweit auftauchte. Derzeit ist sie in Stuttgart zusammen mit der Hans Sauer Stiftung und weiteren lokalen Projektbeteiligten.14 Als offene Plattform will der mobile Raum gesellschaftliche Fragen aufwerfen und einen Austausch darüber und untereinander ermöglichen: Das Projekt stellt Fragen, wie wir in unserer Gesellschaft zusammenleben wollen – ohne Vorurteile über vermeintliche Grenzen hinweg, und wie echte Solidarität aussehen kann und muss.

Langzeit-Perspektive

Durch den temporären Einsatz einer mobilen Küche stand zunächst ein Lindern der katastrophalen humanitären Situation Ende 2015 an Europas Außengrenzen und auf der sogenannten Balkan-Route im Vordergrund. Während der darauffolgenden Reflexion wurde klar, dass ein langfristig verfolgtes Vorhaben unbedingte Voraussetzung ist, um eine nachhaltige Perspektive entwickeln zu können und um in die Situation vor Ort involviert sein zu können.15 Daraus entstand der Werkstattgedanke mit dem Fokus, sich zu solidarisieren und auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.

Gegenseitiges Lernen

Selbstverständnis der offenen Werkstatt ist es, Lern- und Austauschprozesse nie in ausschließlich eine Richtung, sondern immer gegenseitig in beide Richtungen und auf Augenhöhe zu verstehen. Selbst wenn eine Person in einem Bereich Expertise besitzt und einen Workshop anleitet, lernen immer alle beteiligten Personen auf vielschichtigen Ebenen voneinander. Um gegenseitiges und selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen, werden die Menschen vor Ort, die nach ihrer Flucht nun in Europa angekommen sind, von Beginn an eingebunden, zu entscheiden, welche Werkstattbereiche eingerichtet werden und eingebunden, dort auch Workshops durchzuführen.

Offenheit und eigene Annahmen hinterfragen

Um ausschließlich bevormundende Strukturen zu vermeiden, werden im Denken und Arbeiten von Habibi.Works all diese konkreten Zielsetzungen zur Diskussion gestellt – hinsichtlich möglicher unerwünschten Auswirkungen sowie paternalistischer Zusammenhänge. Habibi.Works will offen bleiben für die Ideen wirklich aller Menschen, welche die Räumlichkeiten betreten und sich daran beteiligen. Die eigenen Annahmen und Vorstellungen sollen stets spielerisch und dadurch konstruktiv hinterfragt werden. Dieser Ansatz beruht auch auf dem Bewusstsein, dass jede Zielsetzung und Gestaltung stets mit einer eigenen Machtposition verbunden ist.16

Das Wagnis eines vielschichtigen und kritischen Ortes – einer Heterotopie

Das Werkstattprojekt Habibi.Works versteht sich als konkreten Ort, als Raum, welcher kritisch über die Zustände an Europas Außengrenze berichtet und die Einhaltung von Menschenrechten einfordert. Darüber hinaus wird an diesem Ort der utopische – oder besser heterotopische – Versuch gewagt, Formen von Solidarität als Gegen-Narrative sowohl im Mikrokontext als auch auf struktureller Ebene zu entwickeln und Ungleichheiten zumindest im kleinen Kontext zu verschieben, auszusetzen oder umzudeuten.

Und insofern begreift sich Habibi.Works als Heterotopie, da es einen Raum mit gesellschaftlicher Relevanz und Bedeutungsperspektive zu verbindet.17 Das Projekt will dem Zustand des Wartens in Ungewissheit, in dem die Menschen nach ihrer Flucht gebracht werden, heterochronistisch gegenüberstehen.18

Es vereint scheinbar Widersprüchliches und sich diametral Gegenüberstehendes:19 Das Projekt Habibi.Works will ein Raum sein, der das Postulat erhebt und auch umsetzt, dass  alle, ausnahmslos alle Menschen gleichberechtigt sind, dass gleiche (Persönlichkeits-)Rechte und Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe für ausnahmslos alle gelten muss – in einem Kontext, in dem die Frage nach einem europäischen Pass – oder eben nicht – einen alles entscheidenden Unterschied macht. Es ist ein Ort, der sich gegen diese Ungleichheiten sperrt und gleichzeitig versucht Menschen zusammenzubringen.

Diesen Vorhaben wagt in einem physisch begrenzten Raum grenzenlos zu denken und zu handeln: Es will grenzenloser Raum sein, in dem der Versuch gewagt wird, vermeintliche Zugehörigkeiten zu Nationalitäten, Religionen, Ethnien oder Geschlechtern und daraus resultierende Grenzziehungen zu überwinden. Habibi.Works ist konkreter Raum, welcher in Katsikas als offene Werkstatt fungiert, und zugleich offener Raum für Konzepte, die  physische und normative Grenzen sprengen – und ist gleichzeitig kollektives Handeln als auch gesellschaftspolitisches Postulat. Dort, wo sich Grenzen physisch manifestieren, dort, wo Grenzen die Leben von Menschen riskieren oder blockieren und Menschen in Jahre des untätigen, als fremdbestimmt wahrgenommenen Wartens zwingen, versucht Habibi.Works einen Raum zu eröffnen, in dem sich Menschen Zugang zu Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit schaffen können und Entscheidungen hinsichtlich ihres Lebens selbst treffen können.

Reflexionen

Wesentlicher Bestandteil der Arbeit der offenen Werkstatt Habibi.Works ist ein fortlaufendes kritisches Hinterfragen der eigenen Praxis, um konstruktive  Impulse für das eigene weitere Vorgehen daraus zu folgern.  Die einzelnen Aspekte der Reflexion generieren sich aus den beiden zentralen Fragestellungen: Inwiefern ist eine kritische Abgrenzung gegenüber einer Kunst möglich, welche die Welt retten will und „dann […] lediglich den zeitgenössischen Krisen und Prekariaten mit zeitgemäßen ästhetischen Formen und Materialien begegnet, also eher affirmativ als sich kritisch positioniert?“20 Und inwiefern können strukturelle Ungleichheiten zwischen Initiator:innen gegenüber Beteiligten in einer kollektiven Praxis reflektiert werden?

Solidarität und Machtdynamiken

In einem Kontext, in dem grundlegende Menschenrechte nicht gewährt werden und Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe von Faktoren wie Nationalität abhängen, erzeugt die Initiierung eines offenen Workshops Machtdynamiken zwischen Initiatoren und Teilnehmenden, zwischen Personen mit oder ohne EU-Pass und zwischen konkurrierenden Initiativen und Disziplinen. Unabhängig von auch noch so guten Intentionen ist eine Unterstützung, welche Strukturen zur Partizipation und Beteiligung aufbauen will, immer auch von unvermeidbaren Hierarchien und Machtgefällen bestimmt.21 Ein Projekt kann leicht Gefahr laufen, Vorurteile, Ungleichheiten und Machtstrukturen zu verstärken, wenn ein kritisches Bewusstsein dafür fehlt. Im Wissen um diese Umstände will Habibi.Works durch Reflexionen über Hierarchien in der Entscheidungsfindung und über verwendete Sprache im Projekt bevormundenden Strukturen entgegenwirken:22 Das Team der offenen Werkstatt ist bestrebt, Machtdynamiken sichtbar zu machen und wo immer möglich zu dekonstruieren, zum Beispiel durch transparente Gesprächsstrukturen, die Feedback stärken und durch Anpassungsfähigkeit, die dennoch keine Tyrannei der Strukturlosigkeit provoziert.23

Beteiligung und Selbst-Ermächtigung

Die bloße Tatsache, dass ein Projekt auf Partizipation abzielt, ist kein Garant dafür, dass für Beteiligte die Möglichkeit besteht, Formen von Mitbestimmung oder Selbstermächtigung generieren zu können.24 Mitmachen bedeutetet nicht notwendigerweise Mitbestimmung, wenn Strukturen dafür fehlen. So versucht Habibi.Works eine ausschließlich „symbolische Partizipation“ zu vermeiden, in der Beteiligte nur aus einer Projektlogik heraus oder für eine positive Außenwirkung eines Projekts involviert werde würden.25

Involviertheit und kompensatorische Effekte

In das eben skizzierte Spannungsfeld fällt der Mechanismus, unterdrückende und diskriminierende Zusammenhänge, die eigentlich kritisiert werden sollten, als gegeben und unveränderbar zu sehen und diese somit indirekt zu verstärken:26 Habibi.Works wurde als politisches Statement gegen die aktuelle EU-Asylpolitik und als soziale Initiative zur Unterstützung der davon betroffenen Menschen ins Leben gerufen. Die praktische, tägliche Unterstützung ist gewissermaßen auch eine Kompensation für ein strukturelles Versagen auf gesamteuropäischer Ebene. Solche Effekte entlasten Behörden und Entscheidungsträger und können im schlimmsten Fall Anreize für diese schaffen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Werkstattprojekte, oder allgemeiner gesellschaftliche Initiativen verbunden mit Kunstprojekten oder Projekten aus dem Social Design können also in die Rolle fallen, Aufgaben und Verantwortung der sich zurückziehenden Politik und staatlichen Institutionen zu kompensieren.27 Das Team von Habibi.Works ist sich dieses Risikos bewusst. Darum ist Intention, ein Bewusstsein für die Situation an den europäischen Grenzen zu schaffen und eine kritische Stimme innerhalb der europäischen Gesellschaft zu sein.

(Kritische) Benennung und  Stigmatisierungen

Partizipative, kollektive Projekte arbeiten meist mit einer Personengruppe – oft „Community“ genannt – in einer ganz bestimmten Situation, an einem ausgewählten Ort und zu einem bestimmten Thema. „Wer sich unreflektiert auf bestimmte Menschen als Community bezieht – eine Vokabel, die mittlerweile auch ins Deutsche übernommen wurde – der läuft zudem Gefahr, sie überhaupt erst als Gruppe mit bestimmten Charakteristiken hervorzubringen.“28 Selbst wenn die Interessen dieser Gruppe, auch selbstbestimmt durch die Gruppe, vertreten werden, kann durch das Festlegen als Gruppe eine Stigmatisierung ungewollt verstärkt werden. Deswegen versucht die offene Werkstatt Habibibi.Works Konstruktionen von ‚Wir‘ und ‚Die Anderen‘ aufzulösen und versteht als Solidarität sich „über das Unrecht, das anderen zustößt, genauso zu empören, als würde es uns selbst betreffen.“29

Repräsentation und eigene Situiertheit

Habibi.Works wurde initiiert von Menschen mit vielen Privilegien und Sicherheiten aufgrund ihres Geburtslandes und aufgrund ihrer erhaltenen Bildung – mit der Zielsetzung zusammen mit Menschen, für die diese Privilegien leider nicht gelten, an deren Situation mit Ihnen gemeinsam auf alltäglicher wie auf struktureller Ebene etwas zu ändern.30 Natürlich muss dabei auch die eigene Situiertheit selbstkritisch thematisiert und hinterfragt werden: Wer spricht für wen? Wer kann für sich selbst sprechen?31 Findet auch migrantisch situiertes Wissen32 Niederschlag, was sich in wichtigen Prinzipien, wie gegenseitigem Lernen und Solidarität auf Augenhöhe in der Arbeit der offenen Werkstatt zeigen soll?

Um einen zu einseitigen, bevormundenden Wissenstransfer entgegenzuwirken, ist es Selbstverständnis, nicht nur projekt- oder disziplinimmanenten Logiken zu folgen33, sondern möglichst nah an den Interessen der Menschen, die Habibi.Works vor Ort nutzen, zu sein. Habibi.Works versucht von den Erzählungen und Stimmen der Menschen vor Ort getragen zu sein. Auch der eigene Name „Habibi.Works“ (habibi, aus dem Arabisch für Freund) entstand mit den Menschen, die die Werkstätten nutzen. Gleichzeitig muss die Verwendung dieses Namens auch kulturelle Aneignungen reflektieren und sich davon distanzieren.

Fazit

Habibi.Works will sich vor Ort in eine konkrete Situation involvieren und gleichzeitig gesellschaftspolitische und strukturelle Zusammenhänge thematisieren und sich dazu kritisch in Bezug setzen. Die offene Werkstatt betrachtet ein Bewusstsein über existierende, diskriminierende Strukturen und Hierarchien (und nicht eine naive Vorstellung nicht existierender Hierarchien) als Voraussetzung, um Ungleichheiten kritisch zu reflektieren und um ihnen auf diese Weise entgegenwirken zu können.

Unterstützung bedeutet in diesem Zusammenhang einen Raum zu eröffnen, in dem alle Menschen mit einer persönlichen Geschichte und eigenem Wissen als Expert:innen ihres eigenen Lebens anerkannt werden, sowie auch strukturell einzufordern, dass wirklich ausnahmslos alle Menschen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und Persönlichkeitsrechten haben. Insofern versucht Habibi.Works, mit kritischen anstatt affirmativen Formen und Strategien zu arbeiten um Ungleichheiten und deren Ursachen nicht weitet zu perpetuieren.34


Biografie

Habibi.Works

Habibi.Works ist eine offene Werkstatt an den Außengrenzen Europas. Mit Ateliers für Holz-, Metallbearbeitung, für digitale Fabrikation, Nähen und Kreatives, mit Bibliothek, Küche und Sportbereich unterstützt die offene Werkstatt in Katsikas bei Ioannina in Griechenland Menschen, die nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen ankommen. Die Werkstatt ist zugleich offener Raum für Konzepte, die physische und normative Grenzen sprengen als auch kollektives Handeln und gesellschaftspolitisches Postulat.

Abbildungen

Alle Abbildungen sind im Rahmen von Habibi.Works entstanden und wurden von den Fotograf:innen für die Verwendung durch Habibi.Works zur Verfügung gestellt.

Andere Orte oder „Das politische Wort in Taten verwandeln“ – Eine heterotopologische Untersuchung intermedialer Fotoarbeiten von Carlos Garaicoa – Hanna G. Diedrichs gen. Thormann

In der zweiteiligen Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente von Carlos Garaicoa sind Fotografien von Tragkonstruktionen leerer Plakatwände zu sehen, die vom Künstler durch Architekturmodelle und Textentwürfe erweitert wurden. Diese intermediale Arbeitsweise untersucht Hanna Diedrichs g. Th. in der heterotopologischen Analyse der Serie. Dabei legt sie offen, wie in den künstlerischen Arbeiten Möglichkeitsräume der kubanischen Gesellschaft aufscheinen, die zum Nachdenken über die gegebenen Verhältnisse einladen und mit denen Garaicoa fordert, politischen Versprechungen Taten folgen zu lassen.

„AARGHH“ (Abb. 1) – ein lautmalerischer Ausruf verstellt in stahlgewordenen Lettern formatfüllend den Blick auf eine schwarz-weiße Stadtlandschaft. Dieser dem Comic entlehnte Begriff wird zumeist verwendet, um ein Gefühl der Frustration, Wut oder Verzweiflung auszudrücken.1 Als ein „intermedialer Bezug“2 verweist der Ausruf in der unbetitelten Arbeit Nummer fünf der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (2009) des Künstlers Carlos Garaicoa, wie diese Untersuchung zeigen wird, auf die unerfüllten Versprechungen der Kubanischen Revolution.

Abb. 1: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II, 2009 (Schwarz-Weiß-Fotografie mit lasergeschnittenem Drahtmodell auf Metall und Stuck, 81 x 120 cm, Besitzverhältnisse und Ort unbekannt). Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Carlos Garaicoa: Orden Aparente, Santander (Fundación Botín) 2014, S. 149.

Aus den Tragestrukturen einstiger Propagandatafeln an kubanischen Straßen und Gebäuden konstruiert Garaicoa in der zweiteiligen Werkserie neue geometrisch-technische Architekturen, Wortzeichen und Infrastrukturanlagen. Als Basis dienen ihm Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Straßen- und Stadtlandschaften mit ebensolchen leeren Metallkonstruktionen. Die Fotografien überlagert er mit Konstruktionszeichnungen in Form von eingefrästen Modellen oder solchen aus Faden und vollzieht damit eine imaginierte bauliche Weiterführung der ursprünglichen Gerüste.3 Mit dem Ziel, den Sinn dieser scheinbar trivialen Gegenstände zu verändern, um über gesellschaftsrelevante Fragestellungen nachzudenken, schafft er Orte der Reflexion über die „Ordnung der Dinge“.4

Carlos Garaicoa, geboren 1967 in Havanna, ist seit Mitte der 1980er-Jahre zunächst als autodidaktischer Künstler tätig.5 Es folgten Studien am Institute of Fine Arts of Cuba von 1989 bis 1994. Heute lebt und arbeitet er in Havanna und Madrid. Garaicoa arbeitet in unterschiedlichen Medien und mit verschiedenen gestalterischen Techniken sowie deren vielfältigen Kombinationen an der Thematik von „[…] Architektur und Urbanismus als Spiegel politischer Realität und gesellschaftlicher Entwicklung […]“ 6 im 20. und 21. Jahrhundert. Architektur versteht und verhandelt er hierbei als „[ …] Symbol der Macht wie gescheiterter Utopien […].“7 In seinen oft multimedialen Installationen, Modellen und Skulpturen, Zeichnungen, Video- und Fotoarbeiten „[…] macht der Künstler auf die Krise und Geschichte des städtischen Raums aufmerksam.“8 Und verwirklicht dabei, wie der Philosoph und Kunstkritiker Fernando Castro Flörez feststellt, aber nicht weiterverfolgt „[…] a different conception of urban space, a heterotopia, to employ a Foucaultian term, which calls into question the space in which we live (survive).“9

Mit dem philosophischen Konzept der Heterotopie, das Michel Foucault 1966/67 entwickelt hat, eröffnet sich an der Schnittstelle zwischen dem Realen und dem Imaginären eine Art Zwischen- und Denkraum, der die Möglichkeit bietet, gegebene Verhältnisse zu problematisieren und zu reflektieren.10 Der vorliegende Text setzt sich entsprechend mit Garaicoas zweiteiliger Werkserie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I und II anhand Foucaults Begriff der Heterotopie auseinander: Infolge des Kontrasts der dokumentierten leeren Tragestrukturen einstiger Propagandatafeln auf Kuba zu den imaginierten Architekturanlagen scheinen buchstäblich Möglichkeitsräume der kubanischen Gesellschaft auf, die zur Reflexion über die gegebenen Verhältnisse einladen.

Dieser kunstwissenschaftlich-interdisziplinäre Beitrag stellt das vielschichtige Werk eines Kunstschaffenden in den Mittelpunkt, der trotz seiner Teilnahme an Biennalen und Documentas in Europa weitgehend unbekannt ist und greift in der Verknüpfung mit Foucaults Heterotopie-Konzept eine Schwachstelle bisheriger Publikationen über Garaicoas Œuvre auf: Der häufig zur Charakterisierung seines Werks genutzte Begriff der Utopie ist einseitig verzerrend und ungeeignet, die Synthese des real Existierenden und des Erhofften zu greifen. So birgt eine heterotopologische Herangehensweise an seine Arbeiten eine gewisse Notwendigkeit in sich, um die werkimmanente Kluft zwischen Verheißung alter Ideale und deren Umsetzung angemessen zu erfassen. Ziel der Betrachtung ist es, die Arbeiten zu kontextualisieren und als mediale Heterotopien respektive als Bildräume, die in sich heterotopisch sind, zu entfalten. Leitend ist dabei die Frage, wie der Künstler es bewerkstelligt, durch die Konstruktion von Heterotopien die gesellschaftspolitische Ordnung anzusprechen.

Ambivalente Bildräume

Der spanische Titel der zweiteiligen Werkserie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente (auf Englisch: To transform the political speech in facts, finally) meint auf Deutsch etwa: Um das politische Wort in Taten umzusetzen, endlich. Die Plakatwände in Havanna und Umgebung, die den Kern der Serie ausmachen, wurden in Kuba üblicherweise zur Darstellung und Verbreitung von politischen Propagandamaterialien verwendet und besitzen somit eine eindeutig politische Funktion.11 „Wurden“, weil die Mittelknappheit dazu geführt hat, dass selbst diese Tafeln immer mehr dem Verfall preisgegeben sind. Als gewissermaßen sprechende Architekturen dienen sie Garaicoa als visuelle Ressource für sein künstlerisches Schaffen – „[…] structures which, by underscoring the communicative void With their very presence, bear witness to an impossibility of telling.“12 Die Arbeiten zeigen nun diese leeren Unterkonstruktionen, die vom Künstler schöpferisch weitergeführt wurden: „The images speak of a recent though strangely distant past full of hope and desire for a rich, healthy and vigorous future – a future perfect which has been undeniably unfulfilled, a failed promise […] that now needs to be reasse[sse]d. Better late than never.“ 13

Das Kuba der 1950er-Jahre war geprägt von der Kubanischen Revolution, in der Fidel Castro, an der Spitze von Revolutionären, gegen den Diktator Fulgencio Batista kämpfte. Die an der Revolution Beteiligten erstrebten politische, wirtschaftliche und soziale Umbrüche, wie den Aufbau einer kommunistischen Regierung und einer klassenlosen Gesellschaft. Mit dem Sieg Castros im Jahr 1959 entstand ein realsozialistisch geführter Staat mit der Sowjetunion als nahem Verbündetem.14 Vom damaligen Sieg des Sozialismus zeugen heute, 60 Jahre nach der Kubanischen Revolution, die Propagandatafeln: Mit politischen Parolen wie „Vaterland oder Tod“, „Die Revolution geht weiter“ oder „Fidel verkörpert ein ganzes Land“ gehören sie, auch nach dem Zusammenbruch des weltweiten sozialistischen Verbunds und dem Ende des Castro-Regimes, zum Straßenbild und bewahren das kollektive Gedächtnis. Doch zeugen die baufälligen Tafeln und oft leeren Gerüste im Land ebenfalls von der Schattenseite der globalen, politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse und von gescheiterten oder zunehmend vergessenen Idealen.15

Die erste der beiden Werkgruppen der Serie, Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I (2003/04), besteht aus sechs quer- und drei hochformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien in der Größe von 121 x 175 cm, die mit Fadenzeichnungen überlagert sind, sowie aus 220 Briefmarken, die in Vitrinen ausgestellt und mit Vergrößerungsgläsern ausgestattet sind.16 Diese Untersuchung fokussiert vornehmlich auf die intermedialen Fotoarbeiten.17

Die Technik der Fadenbilder, die zumeist in eigenständigen, dichter gewirkten Arbeiten im Kunsthandwerk oder in der Textilkunst Anwendung findet, verwendet Garaicoa für in seine Fotografien eingreifende Interventionen. Der Künstler vergleicht die Fadenzeichnungen mit einem schwebenden Spinnennetz.18 Feingliedrig „[…] zeichnet Garaicoa mit Nähgarn, gespannt über Stecknadeln an den perspektivischen Eckpunkten, die imaginierten baulichen Vollendungen [der Werbetafeln] nach. Oder er notiert […] vollkommen neue, ideale Architekturen […].“19 Eine Technik, die er schon zuvor anwandte, um fotografierte Gebäuderuinen geisterartig wieder auferstehen zu lassen.20

Daran anschließend fertigte Carlos Garaicoa eine zweite Werkgruppe an: Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (2009). Sie besteht aus fünf auf Aluminium und Stuck gedruckten Schwarz-Weiß-Fotografien in den Maßen 81 x 120 cm, in die der Künstler AutoCad-DrahtmodeIIe21 einarbeitete, drei davon im Quer- zwei im Hochformat.22 „Die Linien w[u]rden per Laser in die Aluminium-Trägerplatte der Fotografien gefräst, [wodurch] metallisch reflektierende Architekturprospekte entstehen.“23

Die Bildmotive und Konstruktionen der tendenziell unbetitelten Arbeiten reichen von Garagenbauten, Wohn- und Bürogebäuden über industrielle Anlagen und landwirtschaftliche Silos bis zu Brückenentwürfen. In zwei der Arbeiten – wie der einleitend zitierten – hat Garaicoa Text- oder Wortversatzstücke eingebaut. Besonders entgegen den sonst leeren oder sprachlosen Tafeln, bei denen gerade die Absenz einer (Text-)Botschaft auffällig ist, vollziehen sich in diesen die Verschiebungen und Transformationsprozesse nicht nur auf der Ebene der Konstruktion, sondern auch auf der Ebene der Sprache.24 Innerhalb der gesamten Serie stellen diese Systemreferenzen und intermedialen Bezugnahmen in Textform eine Ausnahme dar, verdeutlichen jedoch in besonderem Maße die Intermedialität der hier zu untersuchenden Werke.

Garaicoas künstlerische Methodik in der Serie ist vornehmlich mit dem Terminus der Medienkombination zu greifen: der innerhalb der Serie „[…] durchgehende[n] Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, [also der Fotografie und der Konstruktionszeichnung,] die sämtlich im entst[andenen] Produkt materiell präsent sind.“25 Zudem ist der Serie ein subtiler Medienwechsel in Bezug auf die architektonische Konstruktionszeichnung zu diagnostizieren. Mit dieser intermedialen Arbeitsweise koppelt der Künstler in der Serie verschiedene Zeichenverbundsysteme und erweitert damit die Vielschichtigkeit und das transformatorische Feld in seinen Arbeiten.26

Die medienspezifischen Charakteristika von Fotografie und Konstruktionszeichnung werden in der Serie explizit vom Künstler genutzt und weitergeführt. Garaicoa setzt gezielt stilistische Merkmale der dokumentarischen Fotografie ein – er bedient sich eines dokumentarischen Gestus.27 Die nach einheitlichem Muster mit zumeist ungewöhnlich tief angelegtem Horizont angefertigten, schnappschussartigen Aufnahmen akzentuieren einerseits einen subjektiven Zugang, heben andererseits aber auch einen vermeintlich stärkeren Zugang zur „objektiven“ Wirklichkeit hervor. Auch wenn die Schärfentiefe der Fotografien generell durchgängig ist, finden sich leichte Unschärfen in den Bildern – zufälliges, mobiles Bildinventar wie Personen oder Automobile betont diese als Bewegungsunschärfe und damit den Schnappschusscharakter im Besonderen (Abb. 2). Der Künstler schafft den Eindruck, dass die Fotografien im Vorbeigehen oder aus dem fahrenden Auto aufgenommen wurden und mimt die frühere Rezeptionssituation und damit die Position der ursprünglich von den Werbe- oder Propagandabotschaften adressierten Personen in den Werken nach.

Abb. 2: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I (Valla Puerto), 2003 (Nadeln und Faden auf Schwarz-Weiß-Fotografie, 125 x 175 cm, Privatsammlung Ela Cisneros, CIFO, Miami). Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. La enmienda que hay en mi, Havanna (Museo Nacional de Bellas Artes) 2009, S. 135.

Die technisch bedingte Zentralperspektive der Fotografien wird in den Konstruktionszeichnungen weitergeführt. Sie orientieren sich jeweils an der spezifischen Form der Unterkonstruktionen der leeren Werbetafeln, die zwar an und für sich unterschiedlich sind, doch bildimmanent jeweils konsequent aufgegriffen werden. Die modellierten Bauten wirken durchweg modern bis futuristisch. Zwar unterscheidet sich die Technik der Konstruktionszeichnung im ersten und zweiten Teil der Serie, beiden Varianten wohnt jedoch etwas schemenhaftes in der materiellen Überlagerung inne. Mit beiden Macharten greift Garaicoa, das Bild transformierend, physisch in die Oberfläche der Fotografien ein: einmal mit Perforation durch Nadeln und aufgebautem Fadenmotiv, einmal durch Laserschnitt.

Die intermedialen Fotoarbeiten entstehen also in einer Medienkombination, die das Auftreten heterotopischer Räume begünstigt.28 Das fotografische Medium wird hierbei (pseudo-)dokumentarisch nutzbar gemacht, die Konstruktionszeichnung evoziert einen utopischen Impuls. Was dabei erzeugt wird, sind ambigue Bildräume, die das Dokumentarische mit dem Imaginären, besser dem Imaginativen, inszenieren, wodurch heterotopische Räume eröffnet werden (können); infolgedessen, sehen sich die Betrachtenden im Rahmen der Rezeption mit einer Reflexion über die gesellschaftspolitische Ordnung Kubas konfrontiert – durch die Kombination der beiden unterschiedlichen Medien erzeugt Garaicoa eine Art Hybrid, in dem die Grenzen zwischen Repräsentation und Konstruktion verschwimmen. 

Die schöpferische Idee hinter den Arbeiten war, laut Garaicoa, auf die alten Metallstrukturen der Werbetafeln zu „bauen“ und konstruktive Möglichkeiten zu schaffen. Weiter versucht Garaicoa, das imaginäre Bild des täglichen Lebens in den Städten Kubas in seine Werke zu übersetzen – ein imaginäres Abbild der weitergedachten Ideen der realsozialistischen Regierung. Sein Ziel sei es gewesen, damit den Sinn dieser scheinbar trivialen Objekte der Werbetafeln zu verändern, um über politische, existentielle und künstlerische Probleme zu reflektieren. Laut seiner eigenen Aussage beschäftigen sich die Arbeiten mit Erinnerung und Existenz „[…] by the creation of images and how these pieces are related to the memory of the City and their political backgrounds.“29

Die ehemaligen Propagandatafeln sind zu einem wesentlichen Fokus in der Arbeit Garaicoas geworden und offenbaren ein fruchtbares politisches Potenzial: Sie vereinen in einem physischen Objekt die Gestalt eines Textes, die Ideologie einer Botschaft und die Visualität eines Symbols, wie Corina Matamoros Tuma schreibt.30 Viele der Werbetafeln sind in den letzten Jahren „stumm“31 geworden. Leer geworden oder geblieben, aufgrund von Vernachlässigung oder konstruktiven Mängeln. Schweigend und rätselhaft manifestieren sie eine Abwesenheit und verbildlichen eine Leerstelle, die der Künstler aufgreift und an der er seine neuen Botschaften festmacht. Laut Matamoros Tuma, handelt es sich dabei nicht um Skizzen für Utopien, wie gewöhnlich betont wird, sondern um eine Art wirklichen Werbeträger gegen die Existenzen von Trugbildern, der einen konkreten Handlungsweg vorschlägt.32

Die dokumentierenden Aspekte seiner künstlerischen Arbeit und das utopische Denken sind Themenkomplexe, die häufig im Kontext von Garaicoas Œuvre in der Literatur zum Tragen kommen. Das „Dokumentarische“ und vor allem die Utopie-Begriffe, mit denen am Œuvre des Künstlers bedeutsam operiert wird, sind dabei aber nicht nur komplexitätsreduzierend, sondern halten auch einer genauen Betrachtung nicht stand. Aus dem Bezug zum tatsächliChen Ort in Vereinigung mit dem Nicht-Ort, werden in Para transformar la palabra política en hechos, finalmente andere Orte.

Raum für alte Ideale und neue Ideen, endlich

Foucault beschreibt Heterotopien als „[…] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenpla[t]zierungen [sic] oder Widerlager [sic], tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind […].“33 Seinem Begriffskonzept ist eine gewisse Unschärfe inhärent, die oft kritisiert, aber ebenso häufig – im Sinne eines flexiblen Interpretationsrahmens und eines Raums für neue Perspektiven – als Bereicherung beschrieben wird.34

Heterotopie, wie sie für diesen Beitrag relevant ist, meint eine Reihe verschiedener, sich überschneidender und eher durch Ähnlichkeiten als durch ein einheitliches Prinzip geformter räumlicher Phänomene oder Orte, für die, nach Foucault, vor allem ihr Verhältnis zum übrigen Raum von Bedeutung ist. Und die als „andere Räume“35 – gewissermaßen als räumliche Denkanstöße – die geltende Ordnung in Frage stellen. Anders als bei Foucault, der seine Beispiele primär aus der physikalischen beziehungsweise gesellschaftlichen oder außermedialen Wirklichkeit greift, wird hier die Meinung vertreten, dass die Heterotopie sich nicht auf den Realraum beschränken muss, sondern auch darüber hinaus eine wertvolle Analysekategorie darstellt, die interessante Blickwinkel eröffnen kann.36

Foucault stellt sechs idealtypische Prinzipien als Grundsätze der Heterotopie auf.37 Erstens sind für ihn Heterotopien „universal“38 und existieren in allen Gesellschaften. Zweitens unterliegen Heterotopien und ihre Bedeutungen über die Zeit Umdeutungen und Wandlungen innerhalb einer Gesellschaft.39 Das Nebeneinandertreten von räumlich (drittens) und zeitlich (viertens) heterogenen Elementen in ein und demselben (Bild-)Raum macht diesen Raum nach Foucault zu einem heterotopischen.40 Durch diese zeitlichen wie räumlichen Schichtungen,41 die sich auch in den Arbeiten Garaicoas finden, werden Zwischenräume und Wechselbeziehungen offengelegt. Sie zeigen einen alten, bereits bestehenden Ort in der außermedialen Wirklichkeit sowie in der Fotografie, den visionären Gebäuderaum in der Konstruktionszeichnung und letztlich den neuen, daraus entstandenen Gesamtort. Die Fotografie verweist (verstärkt durch das Schwarz-Weiß) auf vergangenes, dementgegen steht die zukunftsgerichtete Konstruktionszeichnung. Die Darstellung wird damit sowohl surreal als auch real. In diesem Spannungsfeld, in diesem Dazwischen, kann die Heterotopie entstehen. 

Fünftens setzen „ [d]ie Heterotopien […] ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“42 Garaicoas Werke unterliegen in ihren Zugangsbedingungen einerseits den Eingangsritualen und Reglementierungen der Ausstellungsorte, in denen sie präsentiert werden.43 In Bezug auf das Eintreten in die Bild- beziehungsweise Objekträume stehen sie einerseits als Reflexionsräume jeder Person offen, die gedanklich einsteigen möchte, doch gleichzeitig bleibt den Rezipierenden der tatsächliche Eintritt in die in den Werken geschaffenen Räume verwehrt.44

Besonders hebt Foucault den sechsten Grundsatz hervor, der als Kernpunkt seines Konzepts gilt und besagt, dass den Heterotopien eine Funktion gegenüber dem verbleibenden Raum innewohnt.45 Sebastian Dirks verdeutlicht hierzu: „[…] dass die Untersuchung einer Heterotopie nicht auf die Frage reduziert werden darf, ob sie allen sechs Grundsätzen entspricht. Er argumentiert, dass es ein Leichtes wäre, jeden Ort als Heterotopie zu identifizieren und damit noch keine Erkenntnis gewonnen wäre. Nach ihm ergibt sich erst dann eine kritische Analyse von gesellschaftlichen Räumen, wenn das Verhältnis der Heterotopie zum Restraum bestimmt wird.“46

In diesem Sinne wohnt den künstlerischen Arbeiten vor allem eine Funktion inne: ihn einerseits zu spiegeln und für Reflexion zugänglich zu machen, andererseits ihn in Frage zu stellen, zu problematisieren und sich ihm gegenüber dadurch widerständisch zu verhalten. Foucault geht es dabei um die Verbindung oder auch das Netz zwischen den realen und den surrealen Orten.47 In Garaicoas Arbeiten weiten sich die architektonischen Konstruktionen auch tatsächlich auf den „realen“ Raum aus, indem sie sich nicht mehr im Bildraum der Fotografie bewegen, sondern netzartig hervor- oder zurücktreten. Durch das Aufspannen eines Dazwischens und den Aspekt des Unfertigen der Gerüstkonstruktionen dienen sie den Betrachtenden weiter als „ImaginationsarsenaIe“48 im Sinne Foucaults.

Die Betrachtung der Werkserie im Verhältnis mit Foucaults Grundsätzen einer Heterotopie zeigt, dass die Arbeiten Bildräume eröffnen, die in sich heterotopisch sind und „[…] in der Lage, die Materialitäten des […] Raums [auf den sie sich beziehen] offen zu legen und sie mit neuen, zuvor imaginierten Eigenschaften zu besetzen.“49 Es ist also das Zusammenzutreffen des dokumentarischen Gestus in den Fotografien mit dem imaginativen Aspekt der Konstruktionszeichnungen, das die Heterotopie bedingt. Wobei die Bilder „[…] der Dokumentarfotografie […] einerseits den Mythos eines Wirklichkeitsversprechens reproduzieren, andererseits jedoch in spezifische Macht-Wissens-Quotienten eingebunden sind.“50 Hierauf verweist auch die Einbeziehung der Briefmarken in die Ausstellungspräsentationen, die als weiterer Anker zur Realität wie zum gesellschaftspolitischen Kontext dienen und den seriellen Aspekt nochmals betonen.

Als „[…] widerständische [Praxis] gegen dominierende Raumstrukturen […]“51 sind Heterotopien niemals ein reines Abkupfern von Realität, sondern stellen eine eigene Realität dar, eine Realität der Unruhe.52 Als widerständische Praxis ist dabei auch das physische Eingreifen in die Fotografien, also in den direkten Bezug zur Realität, und ihre daraus folgende Verfremdung durch die Konstruktionszeichnungen zu sehen. Als Unruhestiftende, sprechen die Einzelwerke der Serie in einem Wechselspiel von Vision und Wirklichkeit die gesellschaftspolitische Ordnung an. Der spezifische, gesellschaftspolitische Bezug geht dabei aus dem Zusammenkommen des Serientitels mit dem durchgängigen Sujet und dem Fokus auf die Plakatwände hervor. Genauer: Er ergibt sich aus der Forderung des Titels, auf politische Worthülsen Taten folgen zu lassen, in Kombination mit den Tragekonstruktionen, die ehemals einzig für den Zweck der Propaganda politischer Inhalte erbaut wurden und derzeit dem Verfall überlassen werden. Indem Garaicoa die Fotografien überarbeitet, transformiert er bereits – wie auch im Serientitel angedeutet. Der Brückenschlag erfolgt dabei nicht nur auf der Ebene der architektonischen Konstruktionen, sondern auch auf der Ebene der Sprache. Dies wird besonders deutlich in den beiden Einzelwerken, in die der Künstler Buchstaben oder Wörter eingearbeitet hat.

Die Gerüste als (ehemalige) Tragestrukturen für Propagandamaterial, als Träger politischer Ideologie, in Form der utopischen Ideale der Revolution, verweisen auf die Errichtung des sozialistischen Staates durch Fidel Castro sowie den heutigen Realsozialismus unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) als einziger Partei des Inselstaates. Die verfallenen Propagandatafeln verbildlichen ein Scheitern, Vergessen und Distanzieren von den früheren Werten und Ideen sowie der damit einhergehenden problematischen politischen wie wirtschaftlichen und städtebaulichen Lage Kubas. Dies gilt sowohl für das Land im Allgemeinen, wie auch für Havanna als Aufnahmeort der Fotografien, Landeshauptstadt und größter Stadt Kubas im Besonderen.

„In the visual arts, Carlos Garaicoa’s projections and manipulations of Havana’s buildings […] are impressive testimonies to the imagination and reconstruction of spaces in Havana.“53

Angesichts der disziplinierenden Architektur der Macht, hier in Form der Propagandatafeln, welche nach Castro Flórez die Bevölkerung, mittels einer Rhetorik über die „differenzielle Erfahrung“54, vereinheitlicht, vergegenständlicht Garaicoa einen anderen Entwurf des urbanen Raums, der den Raum des alltäglichen Lebens in Frage stellt.55

Ausgehend von den Leerstellen der nicht bespielten Werbetafelstrukturen, wie der unerfüllten politischen Versprechungen, schafft Garaicoa durch materielle, räumliche und zeitlich Schichtung Momente einer mehrdeutigen Spannung. Er macht die Abwesenheit von etwas deutlich, durch „[…] konkrete widerständische Strategien […], die in ihrer Negation des Bestehenden auf die utopische Leerstelle einer ‚besseren Zukunft‘ verweisen.“56 Im Gegensatz zu den alten Gerüsten, dienen die weitergebauten Strukturen nicht dazu, eine übliche Botschaft auf ihrer Schauseite zu tragen. Gleichzeitig unterstreichen sie gerade durch ihr Nicht-Zeigen die Absenz der früheren Botschaften und bringen die Ambivalenz von Zeigen und Nicht-Zeigen zum Ausdruck.57 Jedoch rückt der Künstler nicht nur Leerstellen ins Bewusstsein, sondern bietet mit den bruchstückhaften Konstruktionen und Zukunftsvisionen auch zu verwirklichende Lösungsansätze an. Diese bleiben aber Ansätze und sind nicht als fertige Gebäude über die alten Tafeln gebaut. Sie lassen im Rezeptionsprozess selbst als Leerstelle Raum für Reflexion, für neue Ideen und Ideale: Die Serie „[…] evokes both, the unfinished and that which has not yet been constructed.“58

Abb. 3: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (III), 2009, Schwarz-Weiß-Fotografie mit lasergeschnittenem Drahtmodell auf Metall und Stuck, 81 x 120 cm, Besitzverhältnisse und Ort unbekannt. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Carlos Garaicoa: Orden Aparente, Santander (Fundaciön Botin) 2014, S. 1 52.

Garaicoas neue Konstruktionen greifen die bestehenden Strukturen – konkret wie metaphorisch – auf, führen sie weiter, lassen sie wachsen und integrieren sie in etwas Neues, mit einer fast denkmalpflegerischen Akribie. Doch die Tafeln werden durch die Weiterbearbeitung auch unbrauchbar gemacht, so sehr in die neuen Strukturen eingebettet, dass sie darin verschwinden und kaum mehr in ihrem ursprünglichen Zweck erkennbar sind (Abb. 3). Dadurch wird die Vergangenheit teilweise verdeckt und der Fokus auf die Zukunft gelegt. Die Tafeln dienen nun als Ausgangspunkt und Grundstein für eine heterotopische Parallelwelt, die jedoch einen dauerhaften Wandel im Realraum fordert.


Biografie

Hanna G. Diedrichs genannt Thormann

Hanna G. Diedrichs genannt Thormann studierte nach einer Ausbildung zur Fotografin Kunst- und Kulturwissenschaft in Tübingen und Zürich. Ihren Masterabschluss absolvierte sie mit Schwerpunkt „Museum und Sammlungen“ am kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. Derzeit arbeitet sie im Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern als wissenschaftliche Volontärin (bis Sept. 2021). Als Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin konzipiert Diedrichs g. Th. Ausstellungen und recherchiert im Bereich der Kunst und Fotografie von der Moderne bis zur Gegenwart. Zuletzt entwickelte sie mit der Kuratorinnen-Gruppe Kollektiv Kollektiv den partizipativen Ausstellungszyklus Communitas, in dem sie sich mit gemeinschaftlichen Ausstellungs- und Vermittlungsformen beschäftigte. Ausstellungen haben für Hanna Diedrichs g. Th. das Potenzial, Themen zur Diskussion zu stellen, auf gesellschaftspolitische Zustände aufmerksam zu machen, Wissen wie Erfahrungen zu generieren und neue Formate zu erproben.

Of Shapeshifters – Noah Merzbacher

Die noch unvollendete Arbeit mit dem Titel Of Shapeshifters, bestehend aus der gleichnamigen Kurzgeschichte sowie dem Video soft trails of anywhere. In der medienübergreifenden Arbeit versucht Noah Merzbacher ein Narrativ über das Finden von immateriellen Tierfiguren mit wahrnhemungsalternierenden Eigenschaften zu entwickeln. Merzbacher bedient sich dabei den Tiermodi der Bambi-Filme, um die Konzeption von Tier und Natur zu hinterfragen und eine textuelle Heterotopie zu entwickeln, die sich der unmöglichen Gleichzeitigkeit von Mythos und Realität annimmt.

Prelude 1

I was on a usual walk strolling through the city of Zurich, continuously re-establishing and following the elastic tracks that build my net of localities. The walks on these tracks became increasingly stiff and hard-edged, loosing all the wobbly gelatinous qualities of a sudden event in time to re-evaluate my ways of going forward.

It was mostly already scratched into the many surfaces; cement, glass, city textures. And yes the scratching of city textures definitely gave me comfort, but I didn’t really want to be damned for the coming strolls re-establishing the scratches and leaving something for the network connections of tomorrow me.

I felt an increasing dullness and withered-ness growing around the fading breath of the structures around me. At first, I found a rather strange tool, it hovered above me. A tool in its most metal state. I referred to it as memory-magnet. Attached around my waist, I increased the pleasure level to some extent. We went around and extracted the slightly eroded little pieces of memories and attachments formed around those localities of city textures. Quite a tiring thing to do the buildings, cars and blank spaces of possible inhabitation weren’t all that porous. It opened up quite an absorbed, vacuum space with the sucking and pulling motion of my magnet through the little holes the structures offered.

The magnet was quite stiff and awkward bumping against the textures we extracted the memory juice from. Some “things“ happened. But I think the need for sucking and slurping them out accelerated the process of eroding, becoming fragile pressed strings, in need of care and restoration. The animation of those brittle strings was short-lived and wasn’t properly merging with the surrounding textures that were already there. Their re-inhabitation potential was insufficient for the diluted thing I was.

Besides that, I really felt the way, the memory-magnet was accessing things, as an extractive tool, rather tiring. I wanted a poetry machine, not a vacuum space of playing with isolated piles of memory dust. A poetry machine that had the utopian premise of producing sparks out of nothing. Energetic fields of newness, a net of possibilities amplifying the unevenness of textures, rather than slurping them out.

But the memory-magnet has not been completely useless! The graceless way it moved somehow made a splinter of textured otherness enter my diluted body-space with a shooting star energy. 

I didn’t even notice it was so gelatinously soft and thin, warping around the bigger more deeply settled concepts. But then it grew to the size of a fragment, a fragment of solid feeling. And yes this solid little fragment, prismatic and shiny, made my shell of perception malleable! Sounds paradoxical but it isn’t. The impact the fragment had when entering my body-space, due to the inelegant moving of my memory magnet, let the spherical dome housing my precious embedments shiver and warp in true shooting star form. 

Abb. 1: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 2

I had not checked, with the rabbit feeling for multiple days, but once I came back I noticed the twofold growing of the feeling, the shard was like a little seed in a dome. I first examined the sharp and smooth side, a polished translucent mirroring structure, emanating a force of splitting. A deep vibratory energy-sucking influx in and pushing and cutting it towards parts of differentiation.

It forced a somewhat clear distinction between what was my in-being and the one of the rabbit. A temporary split of things, holding each side with different elevated plateaus and individual territorial realms that I could both feel through the deep embedded-ness of said shard. One was the feeling of fluffy, cute  and childish curiosity, a deep need for protection, a woven intertwined sphere of soft fur hopping around in peace. The other was the feeling of “being able to protect“, of looking for shelters, of shielding without own fears. I was mesmerized by the ability of said shard and carefully handled, weighed and placed the sides of the split until I was happy with the way it let me feel…

Then a few days after said happiness occurred, I looked at the other side of the evolved parts of said shard. Upon examining it closely, this other shard part felt like a twist. A twist slowly but steadily rupturing the building blocks of my dome. A twist full of potential, full of the potential to not un-see geometries to come. The leaked. Drops quickly seeped through. They soaked other parts of my dome, diluting the semi-dense grain that shards were embedded in. An opaque memory rippled, broken and cloudy in this newly formed soup. A memory with big eyes, a cute face, shape of a bloated rabbit with the heavy, dense aesthetics of an animated character. Through using the memory like a shard of feeling, the circular portal geometry allowed me to follow a track that had established itself. Its direction pointed me towards another embedded site, a plateau where further connections would appear. It was the land, where Bambi and its rabbit character Thumper have been. It wasn’t them. Not their movie selves anyway. Big googly eye geometry it was, only a part of it them floated here in my dome. A slimmed-down version, filter or texture-like and removed from its fast and vivid movie self. A shell it was, a little bit stiff I have to say, somewhat pinned in the middle with only the fringes floating. I made regular use of my porous little memory, pushing influx through its body to connect to the lands it was linked to. 

A ghostly inhabitation it was. It wasn’t quite my own and I felt the alienating residue of previous inhabitation breath within the shell’s inner side. A few days later I had discovered why once the track had expanded. In a past time, the voice actors and animators had filled the shell before me, my game of breathability and inhabitation wasn’t unparalleled and that came with quite a surprise. I regularly started to visit the place where they had been breathing through from another side. 

I never asked where it came from exactly or why it got stuck specifically to my being. I tried to accept it without asking questions. I tried to flow with the bumps I felt against my in-being and with that came the geometric unfolding of an invitation card, maybe carefully placed or clumsily lost.

Abb. 2: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 3

Traveling those lands was exhausting, the tracks behaved like shimmer on watery surfaces e-/re-/de-stablishing themselves quicker than you like them to. You cross quickly, with the hesitation of knowing that it could shatter any moment. But once the twist twists, simple swiping occurs and you find yourself on a land, at a place where textures aren’t quite your own and that’s worth something. I tried multiple times to pin down exactly how I got there, but the journey stayed inaccessible nonetheless. One particularly nice landing was a large plateau of “simple“ geometry. I call it meadow. It had the most “far away“ feel on my journey. 

It was beautiful walking through the silky and hollow wood biomes that unfolded, once my own presence on the plateau retextured and somewhat activated a precious geometry.  I didn’t know that I had wished to hop through the carpets of grass, silky smooth caressing blades forming pretty meadows, geometries of wholesomeness. Or bump against the hollow tree trunks and be the being that produces the cuts that made surroundings look layered, prop-like, produce the feeling of flattened swipe-ability and holistic geometries. The Dirt-less, Bruise-less biome was covered with a heavy layer of simple interconnection, carefully placed territorialized irregularity. I quite well knew the danger of such lands, which only pierce into very specific tiny holes, bloating them and letting them feel whole when they aren’t. The whole meadow was surrounded by high stiff invisible walls, mirror structures producing the feel of infinite wholesomeness. Something gave it away, I  wasn’t sure what it was but I knew that those walls were wobbly and thin and sometimes even translucent.

I could have only been infinitely happy in this land if I felt like that just for a short amount of time infinitely much was missing in others. The dangerous and seductive territorialization of this meadow made sure that it was comfortable enough to carry bruised beings and allow for easy dips into it. A place that pseudo securely holds you in loops of play and pleasure and slipping into those loops was easy.

Other beings had found and used this loop as well, it was overflowing with the presence of past inhabitation, of geometries right around the corner. I felt their trails of previous restructuring, sticking to the hollow blades of grass. I was at a right place, right meaning a dense network of connections leading to it, but it felt like it was the wrong time. A powerful force with a sunlight feel came hovering above it, pressing and splitting the facets of the biomes, grass blades and tree trumps alike, into nauseating hard-edged double-sworded worlds. I could not imagine an entity wanting to stay there for long, after-all the geometry of wholesomeness was now temporarily lost, only a fold keeping worlds together. This force stretched the space into a long trajectory, a powerful texturization, prismatically placing you either into a “seeing“ or a “being seen“ position. The meadow had become a crumbly plateau with the dense “stage-feel“ texturization pressing onto it. Any element (like movement, growth and feelings) was pinned down, only the fringes fuzzing rapidly. The crumble was only temporary a little sign of ache, but after it had adapted the meadow quickly developed a glazed and shiny surface sticking the cracks back together, while steaming particles of “deep envelopment in summery warmth“ were rising with the hiss of a machine. 

It was indeed very machinelike, feeling like a steam engine activated or fueled by the stage force producing and further elevating this plateau, pathetically trying to peel itself from its surroundings. The meadow had felt rather homogenous before, with the carefully placed irregularity of flowers, stones, grass blades and tree trumps withdrawing from immediate recognization as texture, but the glaze amplified this further visually reducing it to a shiny cluster. The stage-like force activated a geometric property of rejection and isolation that allowed for immediate recognization of something that was “other“, exposed as something less shiny. I wondered who would have wanted such a weirdly aestheticized and tasteless backdrop quality for their findings, spawning geometries of disgust on those who weren’t glazed. 

I did get something out of it though! The geometric property helped me find something which I hadn’t seen before. It was a little flat tissue, sticking to some blades of grass right where the meadow was ending, its edges were curling from the viscose shiny fluid that covered it. To examine the newly found thing I tried to come closer, a bit ashamed of my dependence on this force, even if it had become increasingly hard to move. It was a soft and furry tissue laying semi peacefully. I had the strong feeling that this wasn’t what I had learned to be a whole being. It maybe had been something bigger, something more complex but it was somehow violently detached it had cleverly slipped out of the thing that was now in front of me. I could not tell what it was but I knew that the stage force had played an active part in it.  If it was lucky it probably waited right behind the mirror structures for the stage force to diminish and if it wasn’t it probably evaporated among the particles of summery warmth. The past story of it was inaccessible those were only speculations and that was okay.

As I said the tissue was soft, furry and as I now saw extremely flexible. I call it synthetic rabbit tissue. Some of the synthetic hairs, detached from the tissue, stuck to the surrounding patches of grass. I thought of them as traces of past movement, maybe even proofs of an engagement with loops or ropes of escape. Maybe it had been hooping around the wholesome texture before or maybe it had been looking for other of its kind, even if I didn’t know yet what that kind was. 

What I saw was a vibratory pile of leftovers or residue with a flaky string of connection to somewhere other. Seeing a geometry that wasn’t constituted by a “perceived wholeness“ and that featured the ability to let loose was comforting. It had probably learned to physically de-/attach with astounding flexibility, forming invisible clouds of connections around the individual synthetic hairs. I felt that processes of shedding was an essential part of its geometric aestheticization/texturization. Amidst the meadow, this synthetic rabbit tissue emitted tranquility, a deeply embedded texture of transience. I carefully picked it up and wrapped it around my being,. It was slightly scratchy but after some adjustments, I found comfort in a soft skin geometry hugging me tightly. 

Abb. 3: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 4

The meadow had faded. It hooked my shell into a field that was full of potential. I could not tell you if it placed itself right above or right under my skin, but I felt the slightly prismatic redirection of selfhood. It wasn’t aggressively penetrating my slightly hard structures, it rather added another note or tone.

I was hooked into synthetic rabbit tissue, a pressed two-dimensional layer of tender touchings on skin and shell of perception. While being fairly flat as an entity, the tissue had strong geometric properties that retextured my plateau into an elongated deepened geometry, allowing to make room for a bigger chamber of reflection.

When Influx was flowing in, it still bounced through my own structures but then quickly came to this chamber which I will call the chamber of synthetic rabbit realness and vibrated and echoed in multiple new ways. The chamber was full of fibers vibrating with the notions of anxiety, curiosity, animality, softness, fluffiness, shedding and furriness. And there were deeper slower tones vibrating as well: Most higher notes were enveloped in a beautiful vibration inducing a geometry of “bigger-than-oneself“ forests, a feeling of huge semi-transparent set-design structure filling the field of perception almost completely. Others shared feelings with a drive to look for geometries of shelter in every corner or hole and finding them in every place where slightly different texturization and geometries of potential wholesomeness crossed each other. 

The synthetic rabbit tissue realness was puncturing my structures (that had been there before my in-wrappings) with precisely atmospheric worlds giving me ease and comfort. I felt the tension that was pumped within my semi-elastic rubber structures and I felt the way in which the porous synthetic rabbit tissue was breathable enough to carry some it away. There was this beautiful balance between hooked-in-ness and breathability. 

The chamber’s geometry was deeply connected to the architecture of what I would have previously called anthropomorphization. I felt how this geometry was touching the outside net of an anthropomorphic conception of a rabbit in a sheer all-encompassing way. It wasn’t though, the geometry was probably not transcendental anthropomorphization but an individual timbre humming from an orchestra of anthropomorphization of multiplicities.

The mere drinking from a fountain or a casual stroll activated this strange poetry machine of the synthetic rabbit and texturizing fluids and floors alike. I thoroughly enjoyed sampling through those newly gained tonalities, that was like petting myself from the outside in. An amazing way of sticking to objects.


Biografie

Noah Merzbacher

Der gebürtige Züricher Noah Merzbacher ist Künstler, sowie Schreiber, Autor und Literat. Er studiert derzeit im Bachelor Kunst an der Goldsmiths Universität in London. Sein Schwerpunkt liegt auf der künstlerischen Wissensproduktion in engem Kontakt zu philosophischen Ansätzen wie den Auseinandersetzungen mit Ontologie und Phänomenologie und ihren Möglichkeiten produktive, poetische und sensible Wege in die Welt hineinzufinden und sie zu fassen. Seine künstlerischen Arbeiten sollen psycho-poetische Tools bilden anhand derer sich spielerische und spekulative Prozesse abzeichnen, die für einen sensiblen und reflektierten Umgang mit sowohl dem Bekannten als auch Unbekannten plädiert.

Maybe There Is Hope – Veronika Christine Dräxler

Ökosysteme wachsen langsam. Es kann Jahrhunderte dauern, bis sich eine ausgewogene in-sich-greifende Umwelt entwickelt hat, von der die Menschheit leben kann. Dieses langsame Wachstum wird in kapitalistischen und industrialisierten Gesellschaften noch nicht in den wirtschaftlichen Kreislauf eingerechnet. Wird die Natur sich selbst überlassen kann sie sich erholen und zeigt immer wieder überraschende Widerstandsfähigkeit, indem sie sich die undenkbarsten Orte wirtbar macht. Die Fotoserie Maybe There Is Hope (2020) zeigt Ausschnitte von stillgelegten Fahrzeugen, symbolisch für technisierte Mobilität und organische Materie, die sich diese zum Nährboden gemacht hat. Es eröffnet sich ein Dialog zwischen Be- und Entschleunigung, Vergänglichkeit und Wiedergeburt.

Abb. 1: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfoto auf Baryt (signiert auf
Rückseite), 70x56x3cm, m.R., Galerie der Künstler München.
Abb. 2: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 3: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 4: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 5: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.

Biografie

Veronika Christine Dräxler

Veronika Christine Dräxler ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin, Autorin und Entwicklerin von Dialogräumen. Die Debütantin der GEDOK München (2019) und Gründerin von Selbstdarstellungssucht.de – einem Blog über zeitgenössische Kunst und digitale Identität, von der Bundesregierung als „Kultur- und Kreativpilot“ (2015) ausgezeichnet – sucht in ihrer künstlerischen Praxis nach Gleichgewichten organischer Systeme und hinterfragt die Auswirkungen der Digitalisierung auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, wie etwa die Aufmerksamkeit. Vorgefundene Elemente ihrer Recherchen arrangiert sie intermedial.

Next Level Heterotopie: Der digitale Raum als Landschaft – Sophie Innmann und Jennifer Krieger

Ein Gespräch zwischen Jennifer Krieger und Sophie Innmann, anlässlich ihrer aktuellen Ausstellung LANDSCAPES OF INTERNET im Kunsthaus L6 Freiburg.

Die Frage nach den Möglichkeiten, Potenzialen und Grenzen des Raumes stehen im Zentrum der Ausstellung LANDSCAPES OF INTERNET (2021).1 Ausgehend von den Beobachtungen zu derzeitigen Hypertopisierungseffekten der Digitalität, untersucht die Künstlerin Sophie Innmann virtuelle wie auch reale Räume im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten, Differenzen und deren Vereinbarkeit aus dem spezifischen Blickwinkel menschlicher Wahrnehmung. Auf vielschichtigen Ebenen hinterfragt Innmann Potenziale, aber auch Grenzen gesellschaftlich abgegrenzter Räume, insbesondere von Heterotopien wie dem musealen Ausstellungsraum. Damit knüpft sie unweigerlich an die in den 1960er Jahren von Michel Foucault geprägten Überlegungen zu Heterotopien – Gegen- oder Andersräume an, die an ein System von Öffnung und Schließung gebunden sind, was sie gleichzeitig abgrenzt und durchdringlich macht.2 Im Interview mit Jennifer Krieger, Kuratorin der Ausstellung, spricht sie über ihre Annäherung an den virtuellen Raum des Internets und den von ihr vorgeschlagenen Weg, diesen im musealen Raum erfahrbar zu machen.

Abb. 0: Sophie Innmann, Firewall, 2021, Projektion, Abdeckfolie, Installationsansicht, Foto: Marc Doradzillo.

Jennifer Krieger: In deiner aktuellen Ausstellung spielt die Auseinandersetzung mit dem Thema Raum eine bedeutende Rolle. Es geht um Fragen der Zugänglichkeit und Sichtbarmachung einer digitalen Welt, die kaum beschreibbar und schwer zu greifen ist. Wie würdest du deinen Ansatz beschreiben, dich diesem abstrakten Raum anzunähern und inwiefern setzt du dich mit dem Thema Raum in deiner künstlerischen Arbeit auseinander?

Sophie Innmann: Das Thema Raum beschäftigt mich schon seit langem, bis vor einigen Jahren waren das aber hauptsächlich analoge Räume. Seit 2018 hat der digitale Raum in meiner künstlerischen Praxis immer mehr an Bedeutung gewonnen, ich beschäftige mich viel mit den Folgen und Auswirkungen der zunehmenden Computerisierung auf unsere sozialen Strukturen, Lebensbedingungen und Umwelt. Während dieser intensiven Beschäftigung habe ich gemerkt, dass ich mir gar nichts unter dem digitalen Raum vorstellen kann. Der digitale „Raum“ ist schwer zu denken, nicht greifbar. Die Frage ist, ob man überhaupt von „dem“ einen digitalen Raum sprechen kann, oder ob man nicht eher von der Vorstellung einer digitalen Welt mit vielen verschiedenen Bedeutungsebenen und Schichten ausgehen muss. Seitdem treibt mich die Frage umher, wie diese Welt aussehen könnte. LANDSCAPES OF INTERNET ist ein Versuch, meine Vorstellung dieser abstrakten Welt mitsamt ihren weltlichen Verstrickungen darzustellen. Während Benjamin H. Bratton in The Stack – On Software and Sovereignty das Bild eines 6-stöckigen Stapels, bestehend aus Earth, Cloud, City, Address, Interface and User nutzt, um diese Verbindungen zu beschreiben, habe ich eine Planetenoberfläche mit eigener Atmosphäre gebaut, die sich über verschiedenste analoge Dinge dem Digitalen annähert.3 Aufgrund der Unvorstellbarkeit und fehlender Abbildungsrealitäten, versuchen die Menschen sich Dinge, die sie nicht verstehen über bereits Bekanntes zu erschließen. Einige dieser bekannten Elemente habe ich in meine Formensprache übersetzt und durch Licht und den „Sound of Internet“ ergänzt. Mit dem Öffnen der Tür zum Ausstellungsraum öffnet sich wirklich ein Tor zu einer anderen Welt.

So müssen die BesucherInnen z.B. erstmal die Firewall (Abb. 0) überwinden um in die Ausstellung zu gelangen. Dann passieren sie eine Schleuse aus zwei Spiegeln, die sich gegenüber stehen und dadurch alles ins Unendliche wiedergeben – eine Metapher für das 1000-fache gescannt werden, was am Ende doch zum Erhalt einer red flag führt, einer Markierung, die sagt: „Obacht, hier bitte nochmal genauer hinschauen!“. (Abb. 1)

Spiegel sind wirklich tolle Objekte, weil sie Räume öffnen, die nicht real vorhanden sind, genau wie das Internet. Foucault verortet die Spiegel als Zwischenort von Utopie und Heterotopie wenn er schreibt: „Der Spiegel ist nämlich eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich mich erblicken läßt, wo ich abwesend bin: Utopie des Spiegels. Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.“4

Abb. 1c: Sophie Innmann, verification – red flag by default, 2021, zwei Spiegel, Stoff, Kupferrohr, Installationsansicht, Foto: Marc Doradzillo.

JK: Die von dir zitierten Äußerungen von Foucault beschreiben den Spiegel als Medium des Vermittlers beziehungsweise als Erfahrung eines „Dazwischens“ sehr eindrücklich. In der Ausstellung gehst du dahingegen noch einen Schritt weiter, denn sind im Ausstellungsraum, wie du gesagt hast, zwei Spiegel gegenüber aufgestellt. Blickt man hinein, sieht man sich nicht nur selbst, sondern es entsteht ein Verdopplungseffekt, in dem das eigene Spiegelbild ins Unendliche potenziert wird. Ich denke hier verstärkst du die von Foucault beschriebene Wirkung um ein Vielfaches, denn steht man nicht nur sich selbst gegenüber – vielmehr entsteht eine unendliche Zahl an Personen, eine Menschenmenge, deren einzelne Mitglieder aus einem selbst bestehen. Fragen nach der eigenen Verortung oder eben der Ortlosigkeit muss man sich an dieser Stelle unweigerlich stellen. Die in der Installation unmittelbar in der Nähe des einen Spiegels von der Decke hängende rote Fahne schwebt dabei quasi wie ein bedrohliches Damoklesschwert über den Besuchenden.

Im digitalen Kontext sowie auch auf sozialen Plattformen wird die red flag als Warnung und Hinweis einer potenziellen Bedrohung verwendet. Innerhalb der Ausstellung überlässt du es in diesem Moment jedoch den Betrachtenden, sich freiwillig in diesen Gefahrenbereich zu begeben oder ihn wieder zu verlassen. Hier entscheidet jeder und jede für sich selbst, nicht das technische System – oder entspricht das nur einer scheinbaren Selbstbestimmtheit, die du den BesucherInnen ermöglichst? Diesen Aspekt würde ich an dieser Stelle gerne noch etwas vertiefen, denn diese vermeintliche Entscheidungsfreiheit und Zwanglosigkeit – sowohl von BesucherInnen der Ausstellung als auch von digitalen UserInnen – ist eine Perspektive mit der du dich äußerst kritisch auseinandersetzt, denn eigentlich dürfen wir oft ja nur hypothetisch entscheiden wohin es weiter geht oder ob wir Zugang zu bestimmten Räumen erhalten oder nicht.

SI: Es ist genauso, wie du es beschreibst. Die BesucherInnen der Ausstellung können selbst entscheiden, sind frei in ihrer Bewegung. Die generelle red flag ist aber eindeutig der Hinweis, dass es eben außerhalb dieses Ausstellungsraums – im realen virtuellen Raum sozusagen – anders ablaufen kann. Generell sollte man alles hinterfragen was einem online begegnet, denn „online sein“ ist mittlerweile gleichbedeutend mit „beeinflusst werden“. Noch dazu wird versucht uns glauben zu lassen, dass was wir im Internet sehen und tun selbstbestimmt sei, was aber leider nicht so ist; wir werden sozusagen festgekettet, Stichwort Meinungsblase.

Die Arbeit A users‘s life“ (Abb. 2) macht diesen Widerspruch deutlich, wir fühlen uns frei, surfen wohin wir wollen, fühlen uns gut geschützt mit unseren Aluhüten, dabei werden wir an die Wand gestellt, von oben bis unten durchleuchtet. Der content, den wir zu Gesicht bekommen, wird uns auf Basis unseres bisherigen Verhaltens serviert, feinst säuberlich ausgewählt von Algorithmen – deren Entscheidungskriterien natürlich hoch geheim sind. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Lektüre von Shoshana Zuboffs Zeitalter des Überwachungskapitalismus empfehlen.5 Sie beschreibt sehr schön die Generierung des sogenannten „Schattentextes“, also den Informationen, die jenseits unseres vordergründigen Internet-Gebrauchs extrahiert werden, z.B. aus Scrollverhalten, Verweildauern, Likes, etc.. Auch das ist ein Bereich, der sich unserer Zugänglichkeit entzieht, das exklusive Wissen, welches sich Google & Co aus unseren Verhaltensdaten zusammenstellen und welches im Zuge der Einverleibung von kleineren KonkurrentInnen auf eine unglaubliche Datenmenge angewachsen ist. Da hilft vorerst nur, selbst im Schatten zu bleiben und anonym unterwegs zu sein.

JK: Kannst du eine Veränderung beobachten, wie sich dein Verhältnis zum Thema Raum vor allem in den letzten Monaten verändert hat? Welches Potenzial bietet die Reflexion darüber? Als die Ausstellung in Planung war, hatte sich die ganze Welt in Isolation begeben, wir haben uns gefragt, was der (museale) Ausstellungsort überhaupt leisten kann und soll. Museen und Ausstellungsräume waren über einen langen Zeitraum geschlossen und ein persönlicher Besuch nicht möglich. Viele Projekte wurden in digitale Formate transferiert, also vom musealen in den privaten Raum übertragen.

SI: Eine Veränderung habe ich nicht bemerkt, aber ein intensiveres Nachdenken. Die Pandemie hat gezeigt, dass es eben nicht möglich ist, analoge Inhalte ins Digitale zu übertragen. Das erfordert schon eine ganz andere Auseinandersetzung um dort adäquate Möglichkeiten zu finden. Museale Ausstellungen daheim in den eigenen 4 Wänden erlebbar zu machen funktioniert einfach nicht, da hilft der beste Videorundgang nichts. Die mediale Filterwirkung ist zu groß. In meiner Arbeit hypertopia (Abb. 3) stelle ich genau diese bedingte Zugänglichkeit dar: Man sieht etwas und hat das Gefühl eine Erfahrung übermittelt zu bekommen. Letztendlich ist es aber doch nur das Abbild und nicht das Original, sogar die Realität wird in Frage gestellt. Das kann man sich wiederum zu Nutze machen, um in anderen Kontexten technische Möglichkeiten durch ganz simple Techniken an ihre Grenzen zu bringen: Bewegung, Licht und Schatten reichen manchmal schon aus, um Gesichtserkennung, Fokussierung und Tracking auszutricksen. Das thematisiere ich ebenso in der Arbeit camouflage (Abb.4), welche die unangekündigten Gesichtserkennungspraktiken der Videocall-Apps anprangert.

Abb. 3: Sophie Innmann, hypertopia, 2021, zwei Projektionen, Glas, Installationsansicht, Foto: Sophie Innmann.
Abb. 4: Sophie Innmann, camouflage, 2021, videocall-stills auf Aludibond, Foto: Sophie Innmann.

JK: Die technischen Mechanismen schaltest du in diesem Fall geschickt aus und kannst vor Augen führen, mit welchen einfachen Mitteln es dir gelingt, auf fast schon poetische Weise die sonst leichtfertig hinterlassenen Spuren persönlicher Identität zu verwischen. Doch gerade bei der angesprochenen Arbeit hypertopia werden nicht nur die Grenzen und Beschränkungen aufgezeigt, sondern entstehen im Gegenteil sogar neue Ebenen: Durch die doppelte Projektion an die beiden Glasscheiben der Installation erscheint von einem bestimmten Blickwinkel die optische Illusion einer dritten Projektionsfläche, die ein gewisses Staunen hervorruft, weil dieser unerwartete Effekt sich zunächst nur schwer greifen lässt. Wider Erwarten eröffnet sich ein weiterer Raum. Ist dieses plötzliche Auftauchen von unbekannten und fremden Räumen nicht auch als eine Chance und Möglichkeit zur Erweiterung von bisherigen Erfahrungsräumen zu betrachten?

SI: Auf jeden Fall! Das Entstehen dieser 3. Ebene, die nicht verortbar ist, genauso wie das Entstehen eines projektionslosen, aber transmittierenden Zwischenraums kann ganz klar als Metapher dafür angesehen werden, genauso aber als Warnung, dass vordergründig eben nicht alles ersichtlich ist. Auch toll finde ich die Verbildlichung, dass als ultima ratio immer noch der Stecker gezogen werden kann und alles ist weg. Im kleinen eine ganz hübsche Flucht, weltweit gesehen ein spannendes Experiment. Irgendwer hat mal die Frage gestellt: “Is there a trashbin big enough to delete it all?” Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, wer dieser schlaue Mensch war…

JK: Internet als Raum hat vor allem während der Pandemie ein Tor zur Welt offen gehalten – jedoch uns auch die Grenzen digitaler Formate aufgezeigt. Was ist das Besondere am digitalen Raum Internet?

SI: Ja, da stimmt, das Schlimme ist aber, wie das passiert. Der Kampf um die Monopolisierung als Endziel des Kapitalismus ist in vollem Gange und hat durch die Pandemie eine derartige Beschleunigung erfahren, dass mir ganz schlecht wird. Das Problem ist, dass die Weltbevölkerung in diesem Bereich zu wenig Bildung, Information und Wissen hat. Wir haben allerdings Rechte. Und diese Rechte müssen wir verteidigen, dazu muss man in einem ersten Schritt Bewusstsein schaffen, um erkennen zu können, wann und wie diese Rechte übergangen werden. Wenn z.B face-warp-Apps die gesammelten Gesichtserkennungsdaten ihrer NutzerInnen, die das alles als witziges Spiel betrachten, unbegrenzt an unbekannte Dritte weiterverkaufen, die dann daraus ihre Produkte entwickeln. Wüssten die NutzerInnen dieser Spaß-Apps, dass sie somit auch Regierungen helfen, indem diese mit den erkauften Daten die Gesichtserkennung ihrer militärischen Drohnen verbessern können, würden sie diese Apps sicher schnell löschen.

In einem zweiten Schritt müssen dann Strategien gegen die ausbeuterischen Taktiken von Großkonzernen entwickelt werden. Und zwar aus der Bevölkerung heraus, denn würden, um beim Beispiel der face-warp-Apps zu bleiben, diese einfach verboten werden, wäre der Aufschrei in der Bevölkerung verständlicherweise groß. Das Umdenken muss schon von den Menschen selbst kommen. Im dritten Schritt ist die Vermittlung von technischem Know-How von unwahrscheinlich wichtiger Bedeutung, damit sich die Menschen selbst Alternativen programmieren können, oder um bereits bestehende Angebote zu modifizieren.

Es kann nicht sein, dass momentan eine use-it-or-lose-it-Haltung gilt: Möchte man etwas nutzen, kann man den Nutzungsbedingungen zustimmen, oder es komplett lassen. Dann kann man eben die Dienste nicht mehr nutzen. Der Philosoph Prof. Markus Gabriel stellte sogar die Forderung, dass „die sozialen Netzwerke, auch unsere Suchmaschinen, Google und Co., uns einen Mindestlohn für die Benutzung zahlen [müssten]“, für die Gewinne die sie aus unserem Verhalten ziehen, die sie dann nicht einmal in dem Land versteuern, in dem sie generiert werden.6 Es muss ein Umdenken in der Bevölkerung stattfinden, denn solange die Praktiken der Unternehmen aus dem Silicon Valley (wahlweise auch aus der VR China) nicht als Bedrohung, sondern als angenehmes Gimmick zur Erleichterung des Lebens angesehen werden, wird sich nicht viel ändern. Es sollte aber doch zu denken geben, wenn Google Chefs es für erstrebenswert halten, dass menschliches Leben keine Privatsphäre besitzen sollte.

JK: Um daran anzuknüpfen ist es denke ich notwendig nochmals darüber zu reflektieren wie Raum definiert werden kann. Das fällt gar nicht so leicht. Im Falle des privaten Raumes geht es sicherlich darum, das individuelle Verhältnis zu den eigenen Grenzen auszuloten. Die Fragen, die sich daran anschließen lauten: Sind Räume in sich abgeschlossene Systeme? Wie kann man sich Zugang verschaffen? Wer bestimmt darüber?

SI: Genau das sind die Verhandlungen, die es jetzt gilt zu führen! Diese Grenzen müssen abgesteckt werden, z.B. dass man sagen kann: „Bis hier und nicht weiter“. Letztendlich hat das wieder etwas mit Machtstrukturen und Abhängigkeiten zu tun. Im ganzen Spektrum von völlig offenen bis hermetisch abgeriegelten Räumen geht es um die Fragen von Kosten und Nutzen, wer kann etwas aus dem im Raum Befindlichen herausziehen? Wer steckt hinter der Organisation des Raums? Wer ermöglicht wem den Zugang und wer kann neue Räume schaffen?

JK: Es ist ein spannender Ansatz, sich diesen Fragen auf künstlerische Weise in einer Ausstellung anzunähern. In LANDSCAPES OF INTERNET vermittelst du eine Vorstellung deiner eigenen Interpretation der Heterotopie des digitalen Raums und schaffst dabei eine sehr spezifische Stimmung. Die Raumerfahrung ist eine ganzheitliche, in der visuelle Eindrücke dominieren, aber es gibt auch einen atmosphärischen, einnehmenden Sound, den du eigens in Zusammenarbeit mit Vincent Wikström für die Ausstellung konzipiert hast.

SI: Ich glaube, dass wir völlig falsche Vorstellungen vom Internet (vermittelt bekommen) haben. Das Bild einer Wolke, welches gerne von großen Konzernen bemüht wird, ist einfach ein Witz! Es ist ja immer eine weiße Schäfchenwolke, federleicht, flauschig und unbedrohlich und nicht eine riesige, schreckliche Gewitterwolke, die Blitz und Donner, Unwetter und Zerstörung bringen und alles in Flammen, Schutt und Asche hinterlassen wird. Deswegen wollte ich eine Grundstimmung schaffen, die eine gewisse Unsicherheit und Alarmbereitschaft vermittelt. Wie gesagt, wir bewegen uns viel zu unachtsam und sorglos durch das menschengemachte Konstrukt Internet. Wir müssen mehr Wissen und Bewusstsein schaffen und unser eigenes Verhalten reflektieren, nicht nur im Bereich der eigenen Sicherheit, sondern vor allem auch im Hinblick auf Zusammenleben im sozialen und ökologischen Bereich.

Die Arbeit Netflix und Chill greift diese Unbedarftheit auf (Abb. 5). Wir streamen eben mal ein paar Folgen, gönnen uns was, entspannen und tragen dabei erheblich zur Zerstörung der Natur bei. Das Internet hat den Flugverkehr als Klimakiller Nummer 1 schon eingeholt und es ist kein Ende des Wachstums in Sicht. Die Verbindung von etwas Abstraktem mit etwas ganz Konkretem ist immer schwierig und die Auswirkungen von vielen kleinen Dingen in Summe auf das große Ganze sind nicht leicht zu erkennen. Beim barrierefreien, leichten und kostenfreien Zugang in die Schäfchenwolke scheint diese Verbindung für viele besonders schwer zu ziehen zu sein. Wir sehen die riesigen Serverfarmen und Unterseekabel ja nicht, wenn wir unser Smartphone in die Finger nehmen, die Infrastruktur verbirgt sich und wenn wir sie sehen, sehen wir Industrie und nicht „das Internet“!

JK: Die Betrachtenden bewegen sich durch die von dir gestaltete Landschaft. Können sie sich frei orientieren oder werden sie von dir geleitet?

SI: Generell kann sich jede Person in meiner Ausstellung natürlich frei bewegen, die Zugänglichkeit des Ausstellungsraums ermöglicht aber nur einen Laufweg. An diesem habe ich mich orientiert und im inhaltlichen Sinn der Arbeiten eine Struktur aufgebaut, die sich den verschiedenen Bereichen annimmt. Das Licht, der Sound, der Wind und der Duft der verkohlten Holzstämme sind dabei als allumfassende, raumbestimmende Atmosphäre prägend. Meine Freundin und Künstlerkollegin Lynne Kouassi hat ihren Raumeindruck ganz treffend als eine „Mischung aus Technologie und Urkräften“ beschrieben. Nimmt man noch die unterschwellig wahrgenommenen Tiefen des „Sound of Internet“ hinzu, rundet sich das Erlebte zu einer alle Sinne umfassenden Erfahrung, was wiederum nur im analogen Raum möglich ist und das Digitale (noch) nicht bieten kann.


Biografie

Sophie Innmann

Sophie Innmann schloss 2014 ihr Studium der Malerei an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe als Meisterschülerin bei Prof. Leni Hoffmann ab. Ihre Arbeiten wurden mehrfach im In- und Ausland ausgestellt, so unter anderem im Kunstmuseum Stuttgart (2020), dem Moscow Museum for Modern Art (2018), der Galerie Stadt Sindelfingen (2017) oder dem Regis Center for Art, Minneapolis (2016). Die multimedial arbeitende Künstlerin bewegt sich im öffentlichen und halböffentlichen Raum und setzt mit partizipativen und ortsspezifischen Arbeiten an Situationen an, die menschliches Handeln und dessen Spuren untersuchen oder es selbst herausfordern.

Jennifer Krieger

Jennifer Krieger studierte Literatur-, Kunst-, und Medienwissenschaften in Konstanz und Kunstgeschichte in Freiburg. Kuratorische Erfahrungen sammelte sie unter anderem an der Kunststiftung Baden-Württemberg in Stuttgart, am Pinksummer Contemporary Art in Genua, Italien und am Kunstverein Freiburg. Als freie Kuratorin arbeitete sie für das Centre Culturel, das T66 Kulturwerk und das Kunsthaus L6 in Freiburg. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg, wo sie auch promoviert. In ihrem Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit Affekten des Staunens und Wundern.

DOCUMENTA FIFTEEN ALS KOLLEKTIVE HETEROTOPIE? Zur Raumpraxis von ruangrupa zwischen Jakarta und Kassel. – Claudia König

Artist-Run-Spaces als verortete Utopien von Kunst und Gesellschaft sind keine Neuheit. Deren rasante Multiplikation kann jedoch als globales Phänomen eingeordnet werden, das seit den 1990er-Jahren einen immensen Zuwachs erfuhr. Im Besonderen spielen selbstorganisierte Kunstinitiativen in Südostasien eine tragende Rolle die abwesende staatliche Kunstinfrastruktur auszugleichen.1 Tony Godfrey beginnt 2010 seinen Beitrag zur Ausstellung Contemporaneity. Contemporary Art in Indonesia mit einer Reflektion darüber warum die indonesische Kunstszene im europäischen Kunstdiskurs kaum sichtbar ist und mit der daraus resultierenden Frage, warum der Rest der Welt mehr über indonesische Kunst wissen sollte.2 In derselben Publikation identifiziert Nuraini Juliastuti alternative Kunsträume in Indonesien als eine neue Kulturbewegung3, wohl kaum ahnend, dass ein Jahrzehnt später eines dieser zahlreichen Künstler:innenkollektive die kuratorische Leitung der documenta fifteen übernehmen wird.

Zwischen spatial und collaborative turn wird die documenta fifteen in diesem Essay als Dreh- und Angelpunkt einer (Neu)-Betrachtung von Gegenräumen mit kollektivem Handlungspotenzial betrachtet. Mit der Berufung des in Jakarta basierten Künstler:innenkollektivs ruangrupa4 die nächste documenta-Ausgabe zu kuratieren und durch ihr Bestreben mittels des experimentellen Ansatzes Lumbung & Korperasi das Biennale-Format neu zu denken, stellen sich folgende Fragen:  Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kunstbiennalen und Kunsträumen und können diese Phänomene als Heterotopien der Gegenwartskunst betrachtet werden? Und welche Rolle spielen Künstler:innenkollektive in der Entwicklung dieser Gegen-Räume und der Fabrikation neuer Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Kunstdiskursen? Ziel ist es in diesem Essay von der Gründung ruangrupas 1998 bis hin zur documenta fifteen ihren kollektiven Praktiken mittels raumtheoretischer Überlegungen  nachzuspüren. Als Seismograph wird die documenta daher zur kollektiven Heterotopie, einer Praxis des Teilens von Zeit, Raum, Wissens oder Fürsorge im globalen Kontext mit lokaler Verankerung – so die Vision (Abb. 1–3).

Abb. 1: ruangrupa, Space Drawing, Iswanto Hartono, 2020.
Abb. 2: ruangrupa, Lumbung Zeichnung, Iswanto Hartono, 2020.
Abb. 3: Wahrzeichen: Reisspeicher. Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt. Foto: Martin Claßen und Arno Jansen, Köln. Die oft dreiteilige Struktur eines Reisspeichers in Indonesien (Lumbung) basiert auf kosmologischen Vorstellungen, hortet im oberen Dachbereich als Sitz der Göttin Dewi Sri den Reis und bietet im mittleren schattigen Bereich Raum für soziale Interaktion.

1. Ruangrupa und indonesische Kunsträume. Der Beginn einer kollektiven Raumpraxis

Oftmals initiiert von Künstler:innenkollektiven formierten sich alternative Kunsträume über den gesamten indonesischen Archipel nach dem Fall Suhartos und dem Ende des 32-Jährigen repressiven Regimes. Die Neue Ordnung (Ordre Baru) – und damit einhergehend eine von Militarismus und Staatskontrolle geprägte Zeit, in welcher kollektive Ansammlungen untersagt waren – wurde von demokratischen Neuerungen abgelöst. Sich im Untergrund anbahnende Jugendbewegungen brachen ab 1998 lautstark hervor und studentische Kunsträume formierten sich vor allem in Jakarta, Bandung und Yogyakarta – es war Zeit für neue Räume des Denkens und Experimentierens. Diese verorteten Utopien5 oder auch Fixer6, wie Ade Darmawan7 es beschreibt, boten eine Alternative8 zur Nicht-Existenz einer institutionellen Kunstinfrastruktur.9

Auch ruangrupas Anfänge sind eng verwoben mit der Schaffung von verräumlichten Utopien als kreativer Akt und dem Bewusstsein darüber, dass der öffentliche Raum einem ständigen Bedeutungswandel unterliegt (Abb. 1). Wie bei den meisten indonesischen Künstler:innenkollektiven beginnt ruangrupas Raumpraxis mit dem gemeinsamen Mieten eines profanen Wohnhauses (Abb. 4).10 Raumumwandlungen standen an der Tagesordnung und spiegeln das Verschwimmen der Grenzen und das informelle Setting von Artist-Run-Spaces mit Open-Access Philosophie wider. So wurde beispielsweise das Schlafzimmer in ein Künstlerstudio umfunktioniert oder die Toiletten als Ausstellungsraum genutzt – der wichtigste Raum war jedoch das Wohnzimmer als Ort der Zusammengehörigkeit (Abb. 5).11 Interpersonelle Beziehungsgeflechte und netzwerkartige Zusammenschlüsse zwischen Künstler:innen und  Kulturakteur:innen führen zu vielfältigen partizipativen (Kunst-)Formaten. Dieses Verschwimmen von Sphären wie privat/öffentlich oder individuell/kollektiv ermöglicht es in unkonventioneller Weise neue Kunstformate auszuprobieren.12 Ruangrupa ist zudem im Sinne Henri Lefebvres13 untrennbar mit der multiethnischen und multireligiösen Lebensrealität Jakartas verbunden und schöpft aus dem urbanen Umfeld, in welchem das Chaos zum Katalysator wird, wie Ade Darmawan das Verhältnis zur Megastadt beschreibt: „Our artistic approach — and the artistic role we take — will only grow well relevant to the messy, sweaty and untidy space of Jakarta.“14

Abb. 4: In den frühen Jahren bewohnte ruangrupa mehrere Wohnhäuser (kontrakan), wie beispielsweise dieses Einfamilienhaus in Südjakarta. Das täglich zugängliche Wohnzimmer war zugleich Treffpunkt, Partyzone und Laboratorium für neue experimentelle Kunstpraktiken. Foto: ruangrupa, 2001.
Abb. 5: Tebet Timur. Ein Zimmer konnte in andere Räumlichkeiten umgewandelt werden, oder auch gleichzeitig mehrere Orte, wie beispielsweise Arbeitsort, Gemeinschaftsraum, Schlafplatz und/oder Studio in sich vereinen, wie dieses Foto zeigt. Im Hintergrund befindet sich eine Stadtkarte Jakartas, die auf ruangrupas enge Verbindung mit der Millionenstadt und deren urbane Identität als künstlerische DNA verweist. Foto: ruangrupa.

2. Ruangrupa. Ruruhuis. Ruruhaus. Vom Haus zu Häusern – vom Kollektiv zu Kollektiven

Auch das kuratorische Konzept Lumbung & Korperasi für die documenta fifteen basiert auf einer in Jakarta bereits umgesetzten Strategie eines gemeinschaftlichen Ökosystems der Kunst, das auf neuen Kollektivismus abzielt. In reinaart vanhoes Monographie zu indonesischen Kunstinitiativen kündigt sich der transformative Übergang von ruangrupa als studentische Graswurzelbewegung hin zu einer Einbettung in ein größer angelegtes Kunstökosystem auf regionaler und transnationaler Ebene an.15 Der Zusammenschluss mit weiteren lokalen Kollektiven und deren Gemeinschaftsinitiative der experimentellen Lernplattform GUDKSUL16 (Abb. 6) erforderte mehr Raum und mündete im Bespielen des Gudang Sarinah Lagerhauses, das mit zwei langgezogenen Flachdachhallen einen Kontrast zur vertikalen Architektur der modernen Großstadt bildet (Abb. 7).

Abb. 6: GUD # Ruangan Gudskul, Südjakarta. Die umgenutzte Industrieanlage Gudang Sarinah bietet heute ein Dach für den Zusammenschluss der Kollektive ruangrupa, Serrum und Grafis Huru Hara sowie deren aktuelle Projekte. Sitzmöglichkeiten an jeder Ecke bilden das Herzstück der Gudskul-Plattform: Kollektives Lernen. Foto: Gudskul/Jin Panji, 2019.
Abb. 7: The Kuda, Tumpah Ruah, Gudang Sarinah, Südjakarta. Musik spielt eine wesentliche Rolle für ruangrupa als Organisator:innen von Musikevents sowie ihrer Ausstellungspraxis. Während der 7. Asia Pacific Triennial (2012–2013) ließ das Künstler:innenkollektiv Fiktion und Realität verschwimmen indem sie eine Ausstellung rund um die semifiktionale Band The Kuda entwarf und deren Bandgeschichte mit der Suharto-Ära verwob und so zeitliche und räumliche Grenzen ad absurdum führte. Foto: Gudskul/Jin Panji, 2017.

Zur selben Zeit fand 2015 auch erstmals die Jakarta Biennale17 in dem im Süden der Mega-City gelegenen Gebäude18 statt. Trotz eines unabhängigen Kurator:innenteams19 spielte ruangrupas Praxis, die Stadt und lokale Communities miteinzubeziehen, eine zentrale Rolle spielte. Während ruangrupas strategische Positionierung in der lokalen Kunstszene neben Kooperationen mit weiteren Kollektiven, mittlerweile auch die Zusammenarbeit mit institutionellen Partner:innen, diverse Geschäftsmodelle miteinschließt, und darüber hinaus längst in der internationalen Kunstwelt Fuß gefasst hat, ist die Notwendigkeit für Raum bis heute Triebfeder ihrer künstlerischen Praxis. Als Hybridwesen zwischen rebellischer Gründungsidee und javanischer rukun-Philosophie harmonischer Beziehungen und Konfliktvermeidung, stellt sich die Frage, ob das Modell ruangrupas inzwischen als System kultureller Kreativindustrie20 im Sinne einer neoliberalistischen Mischökonomie zu denken ist, oder als kollektive Heterotopie das Potential hat alternative ökonomische, künstlerische und soziale Modelle zu etablieren?

Die Idee eines Kollektivs der Kollektive soll auch Kassel sowie das ruangrupa-Netzwerk über die hundert Tage der Weltkunstausstellung hinaus prägen und richtet unser Augenmerk auf weniger sichtbare Kunsträume abseits des Biennale-Booms. Anstatt eines übergeordneten kuratorischen Narrativs soll mithilfe des indonesischen Lumbung-Systems21, das heißt der Einbindung von vierzehn Kunstinitiativen weltweit22, das multiple Organisator:innenteam in Kassel eine transkulturelle Eigendynamik entfalten. Lumbung bedeutet Reisscheune, dient als kollektiver Pot der Ernte im indonesischen Kontext und symbolisiert für ruangrupa eine experimentelle Methode nachhaltige Kunstinfrastrukturen zu schaffen. Neben der metaphorischen Nutzung spiegelt der architektonische Bezug der Reisscheune als soziale Struktur für ruangrupa eine tragende Rolle. Denn Ausgangspunkt ist immer der Raum als Ort der Begegnung, des Austausches und Denkens: In Jakarta oder Kassel.

Nach etlichen Einladungen internationaler Biennalen23 Räume als Künstler:innenkollektiv zu bespielen und ihren Bezug zu Jakarta miteinzubeziehen24, agierte ruangrupa erstmals im internationalen Kontext als kuratorische Leitung im Rahmen von SONSBEEK’ 2016 – dem Ausstellungsformat für Skulptur im öffentlichen Raum in den Niederlanden, das ähnlich wie die documenta die Wunden des zweiten Weltkrieges heilen sollte. Mit dem Titel transACTION zielte ruangrupa auf in sich verwobene kulturelle, soziale und räumliche Austauschprozesse im Dazwischen ab – ob in der im Park angelegten Holzwerkstatt, der multi-kulturellen Bäckerei oder dem aus Jakarta nach Arnheim transferierten Spielplatzes. Anstatt einer Ästhetisierung des Skulpturalen wurde die Nutzung des Raumes vorangestellt. Mit dem ruruHuis (Abb. 9) in Arnheim sollte die Reise bereits ein Jahr vor Ausstellungsbeginn seinen Lauf nehmen. Als Ort der Begegnung von Künstler:innen sowie der lokalen Bevölkerung steht das ruruHuis nicht nur für die zentrale kuratorische Strategie, sondern verweist auch auf die Wurzeln des Kollektivs, als ein für alle zugängliches Wohnzimmer im Post-Suharto Jakarta der 2000er-Jahre. Inwieweit konnte das indonesisch-familiäre Haus-Modell jedoch an Arnheims sozio-kultureller Realität anknüpfen? Rakun erwähnt im Gespräch mit Charles Esche, dass mit Anwesenheit des Künstler:innenkollektivs im ruruHuis kollektive Prozesse in Gang gesetzt werden konnten, diese jedoch stockten sobald ruangrupa nicht physisch präsent war – denn zielloses Beisammensein wurde oft mit Verlust von Zeit und Kapital verknüpft, wodurch das Jakarta-Modell sich nicht vollends entfalten konnte.25

In Kassel ist bereits das ehemalige Kaufhaus Sportarena als Basisstation für die kommende documenta umfunktioniert worden (Abb. 10). Während das ruruHuis mit heimeliger Atmosphäre in Arnheim eher unbemerkt und langsam zum Treffpunkt wurde, befindet sich der mehrstöckige Nachkriegsbau zwar prominent in der Kasseler Innenstadt, der einladende rund um die Uhr zugängliche Wohnzimmercharakter scheint jedoch der Bewältigung von Massen gewichen zu sein. Ob ruruHuis oder ruruHaus– transloziert finden sich wiederkehrende Elemente wie partizipative Stadtkarten, interaktive Flipcharts, oder Sticker, die bewusst Raum für Gestaltung durch kollaborative Praxis zulassen.Denn im Mittelpunkt der ruruHäuser als Keimzelle steht die in Indonesien praktizierte nongkrong-Praxis – das unverbindliche Zusammensein und die sich daraus entwickelnde kollektive Intelligenz.26

Abb. 8: Gudang Sarinah, Südjakarta, Foto: Gudskul/Jin Panji.
Abb. 9: RuruHuis ist eine Wortkreation, die sich aus der Kurzform für ruangrupa (ruru) und der niederländischen Bezeichnung für Haus zusammensetzt und so die räumliche Komponente hervorhebt, die bereits für den eigenen Namen des Kollektivs ausschlaggebend war. Denn ruang bedeutet Raum und rupa meint das Visuelle, die Erscheinung oder Form. Foto: ruangrupa, 2016.
Abb. 10: documenta fifteen, ruruHaus, Foto: Nicolas Wefers, 2020.

3. Von Nongrkong zu Nongol. Zur Entstehung neuer Orte zwischen lokalen Kollektiven und globalen Kunstbiennalen

Nongkrong bedeutet mit Freunden in ungezwungener Art und Weise Zeit zu verbringen, sich in Gesprächen zu verlieren und ohne zeitliches Limit oder vorgegebenes Endprodukt das physische Miteinander im Hier und Jetzt in den Mittelpunkt zu rücken und ist Teil der kuratorischen Strategie ruangrupas. Denn erst durch nongkrong entsteht in Indonesien Kollektivität in Räumen.27 Angesichts der pandemischen Herausforderungen stellt sich nun die Frage wie ruangrupas kollaborative Prozesse in einer neuen Realität sozialer Distanzierung ihre eigentliche Dynamik überhaupt entfalten können?

Das Kollektiv reagierte mit hybriden Formaten, wie beispielsweise dem Bespielen der Fensterauslagen des ruruHauses in Kassel mit Medienkunst oder der Fabrikation von Masken in der Gudang Sarinah Lagerhalle in Jakarta. Darüber hinaus bilden Videokonferenzen auch für ruangrupa Alternativen zu kuratorischen Treffen mit den anderen weltweit verstreuten Kunstplattformen.28 Gespräche zur documenta sind für die Öffentlichkeit online abrufbar – die nongkrong-Praxis wurde zum virtuellen nongOl-Raum (kurz für nongkrong online) umfunktioniert. Die Taktik der Anpassung an neue Umstände ist für ruangrupa nicht neu und erinnert an flexible Raumumwandlungen zu Beginn ihrer Praxis. Zwischen Jakarta und Kassel bespielt das Künstler:innenkollektiv unzählige Kanäle, Soziale Medien, experimentiert mit den beschränkten Möglichkeiten der rechteckigen Zoom-Architektur29 und erschafft so neue Räume des Narrativen.30 Das Nebeneinander von zeitlichen, räumlichen und sozialen Räumen wird besonders dadurch deutlich, dass ruangrupa parallel zur documenta fifteen-Planung weiter Programme für Jakarta entwirft. Die Möglichkeit an mehreren Orten gleichzeitig zu sein scheint so auch die Bestrebung zu erleichtern nicht die lokalen Verpflichtungen aus den Augen zu verlieren.31

Während die Kunstmuseen mittlerweile aus dem Koma erwacht sind und mit Hybridformaten auf die Krise reagieren, steht das vom globalen Publikum abhängige Biennale-Format vor seiner Neuerfindung.  Kunsträume als zum Biennale-Boom der 1990er-Jahre parallel verlaufendes Phänomen agierten zwar im Hinblick auf Kunstmegaevents im Hintergrund – die Biennalen selbst boten den Kunsträumen allerdings Möglichkeiten der Vernetzung untereinander; vor allem auch innerhalb des südostasiatischen Kontexts. So war ruangrupa seit Beginn Teil eines transnationalen Netzwerkwerks32, ist mittlerweile erprobter Player auf globalem Terrain und gleichzeitig tief verwurzelt mit Jakartas sozialer Realität. Vor dem Hintergrund der Neuformierung der Kunstwelt sowie Kunstinfrastruktur scheint ruangrupa als Kollektiv, das gekonnt zwischen globalen und lokalen Räumen oszilliert, für die besonderen Herausforderungen der kommenden documenta gewappnet zu sein. Es wird sich zeigen, ob mit dem transkulturell ausgerichteten Vorhaben –bestehend aus multiplen Lokalitäten weltweit —die documenta selbst zur Ressource der Lumbung-Praxis wird oder ob partizipative Kunstpraktiken als Spielball des Spektakels und zur Erschließung neuer Zielgruppen33 die Intention eines kollektiven Sammelsystems überlagern.

Abb. 11: Dieses Foto zeigt kurz nach der Gründung von ruangrupa eine typische nongkrong-Situation. Das auf den ersten Blick unproduktive Zusammensein entfaltet oftmals gerade in seiner Zweckfreiheit immenses kreatives Potential, weshalb für viele indonesische Künstler:innenkollektive nongkrong auch eine künstlerische Strategie dargestellt. Foto: ruangrupa, 2001.
Abb. 12: ruangrupa, online assembly, 2020.
Abb. 13: Wie nongkrong im Indonesischen im Online-Raum als nongOl weiterpraktiziert wird, zeigt dieser Ausschnitt einer Videokonferenz mit Lifepatch, einem Künstler:innenkollektiv aus Yogyakarta. Während ruangrupa im documenta-Kontext den Blick auf kleinere Kunsträume lenkt, regt das Kollektiv innerhalb Indonesiens dazu an sich mit den zahlreichen Künstler:innenkollektiven außerhalb von Java auseinanderzusetzen. Foto: FIXER/ruangrupa, 2020.

Abb. 14, 15: Produktion von Mundschutzmasken und Schutzanzügen in Südjakarta zu Beginn der Corona-Pandemie, Gudang Sarinah, Foto: Gudskul/Jin Panji, 2020.

Alle Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung vom Künstler:innenkollektiv ruangrupa, der Presseabteilung der documenta fifteen, sowie dem Rautenstrauch-Joest-Museum zur Verfügung gestellt.


Biografie

Claudia König

Claudia König studierte Kunstgeschichte, Theater- Film und Medienwissenschaften sowie Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf transkulturelle Austauschprozesse zwischen Asien und Europa in der Kunst. Nach ihrem Masterabschluss zog es sie für ein zweijähriges Kunst- und Kulturstipendium nach Indonesien, infolge dessen sie sich auf zeitgenössische Kunst in Java und Sumatra spezialisierte. Derzeit arbeitet sie an einer Dissertation zum kuratorischen Konzept Lumbung & Koperasi des indonesischen Künstler:innenkollektivs ruangrupa für die documenta fifteen an der Universität Heidelberg. Ihr Blickfeld richtet sich dabei auf die Zirkulation von Kunstpraktiken und sich parallel heraus entwickelnder Phänomene wie der Biennalisierung und der Formierung von Künstler:innenkollektiven im südostasiatischen Raum.

Kunsttheoretische Überlegungen über das Neue in der Kunst bei Boris Groys und Theodor W. Adorno. – Luis Gruhler & Olga Syngaivska

Der Aufsatz stellt die Fortsetzung der Beschäftigung mit dem Konzept des Ersten Males des 98. Kunsthistorischen Studierendenkongresses dar und entstand aus der weiteren Zusammenarbeit der beiden Vortragenden. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die grundlegende Frage nach der Geltung des Neuen und ihrer Aktualität in der Kunst. Basierend auf der Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos und der kulturökonomischen Interpretation der Kunst von Boris Groys, nähern sich die Beitragenden der Frage interdisziplinär aus der kunsttheoretischen und der philosophischen Perspektive.

Im Folgenden werden zwei kunsttheoretische Auffassungen des Neuen vorgestellt, wie sie von Boris Groys und Theodor W. Adorno ausgeführt wurden. Der Abschnitt über Boris Groys erörtert dessen Auffassung des Neuen als Produkt eines kulturökonomischen Prinzips. Bestimmte profane Objekte können valorisiert werden, erfahren demnach eine innovative Umwertung. Das Neue bleibt indessen an die Tradition negativ gebunden und so mit der Abwertung des Alten verknüpft. Nach Groys lässt sich dieses kulturökonomische Prinzip anhand von Marcel Duchamps Ready mades aufzeigen.

Der Abschnitt über Adorno geht dessen Begriff des Neuen als Negation nach, so wie er sich in Adornos künstlerischen Utopie der musique informelle darstellt. Ausgehend von der aus der hegelschen Logik stammenden Kategorie der bestimmten Negation wird diese anhand von Adornos Ausführungen zur Tendenz des musikalischen Materials erörtert. Diese materialistische Wendung der Dialektik des Neuen verweist auf den Doppelcharakter von Kunst als ein Autonomes und doch zugleich Gesellschaftliches. Das Neue in der Musik wird möglich, weil in ihr das Alte bewusst negierend überwunden werden kann. Dies zeigt sich konkret an dem künstlerischen Verfahren der Komposition selbst, das ein Element vorgeformter technischer Planung enthält, aus dem das unbekannte Neue entspringt.

Boris Groys: Das Neue in der Kunst und die Umwertung als Quelle des Neuen

„Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. […]Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen: Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.“

– Pablo Picasso

Mit der den Künstlern der Moderne eigenen Ausrichtung auf die Zukunft sieht Picasso die Möglichkeit für Neues im Unbekannten verborgen, welches noch zu erschließen ist. Die Moderne war wesentlich vom Paradigma geprägt, dass das Neue als eine Offenbarung, als eine Entdeckung erscheint, deren Findung in der Zukunft liegt.

Boris Groys entwickelt ein anderes, jenseits sowohl der modernen als auch postmodernen Diskurse befindliches Modell der Entstehung des Neuen, das von einem bestimmten Universalismus geprägt ist und sich als kulturökonomisches Prinzip offenbart. Diesem Modell liegt die dichotomische Vorstellung über die Kultur und die Beschaffenheit ihrer Erzeugnisse zugrunde. Laut dieser gelten ausgewählte Objekte als wertvoll und relevant, deren materielle Existenz institutionell gerechtfertigt und gewährleistet wird. Diese valorisierten Objekte prägen das ideelle Gedächtnis und repräsentieren zugleich kulturelle Tradition. Der Rest der materiellen Welt gehört dem Bereich des Alltäglichen, des Üblichen, des Wertlosen an und wird unter dem Begriff profaner Raum zusammengefasst. Das Potenzial für eine Entstehung des Neuen ergibt sich aus der Veränderung bzw. Aufhebung der bestehenden kulturellen Werthierarchien, die sich infolge des Vergleichs zwischen der valorisierten Kultur und profanen Objekten ergibt. Mit anderen Worten: Der Ursprung einer Innovation1 liegt in der Bewegung auf der vorhandenen Wertskala und der darauffolgenden Veränderung dieser.

Anschaulich wird die Strategie des Neuen in Duchamps Ready mades durchgesetzt. In André Bretons Definition vom Ready made – laut welcher dieses als „ein manufakturiertes Objekt, das durch die bloße Wahl des Künstlers in den Rang eines Kunstwerkes erhoben wird“2  gilt – erfasst er zunächst intuitiv den für Groys entscheidenden Mechanismus der Überwindung der Werthierarchien, indem ein alltägliches Objekt durch das Agieren des Künstlers3 dem profanen Raum entnommen, aufgewertet und anschließend dem Bereich des Wertvollen zugeordnet wird.4 Während die in der Materialität erhaltene und von der Form her ablesbare Funktionalität des Objektes auf seine ursprüngliche Herkunft aus dem profanen Raum hinweist, werden ihm grundsätzlich neue ästhetische Qualität sowie kultureller Wert zugeteilt, die es in den Bereich der valorisierten Kultur erheben.

In diesem Sinne besteht die Vorbildlichkeit der Ready mades nicht nur in der Verdeutlichung von modus operandi des Umwertungsprinzips, sondern auch in der Demonstration der dichotomischen Spaltung eines Kunstwerkes an sich: „Jedes Kunstwerk und jedes theoretisches Werk sind in sich selbst gespalten. Immer bleiben in ihnen zwei Wertschichten erhalten, die nicht vollständig miteinander verschmelzen.“5

Da die innere, für die Innovation essenzielle Spannung des Werkes aus der Gleitung dessen zwischen den Wertebenen entsteht, ist es demnach notwendig, dass beide Schichten – die profane und die wertvolle – im Werk präsent sind. Die Veränderung des Wertes führt jedoch nicht zur Verschmelzung der Schichten. Als autonome Teile behalten diese weitgehend ihre Selbstständigkeit, ohne eine Monosubstanz/struktur zu bilden, da jeder Überschreitung der Grenzen das Vorhandensein dieser vorausgeht.

Die erforderliche Präsenz im Kunstwerk der valorisierten Kategorie, die mit Groys‘ Modell der fixierten kulturellen Tradition gleichgesetzt wird, weist darauf hin, dass “das Neue immer aus Altem besteht, aus Zitaten, Verweisen auf die Tradition, Modifikationen und Interpretationen des bereits Vorhandenen.“6 Dennoch kann das der ökonomischen Logik der Umwertung untergeordnete Alte im neuen Kunstwerk nicht unveränderlich bleiben und seinen status quo auf der Wertskala bewahren, da die Abwertung der Tradition der Entstehung des Neuen notwendigerweise vorausgeht. Je vehementer die Unangemessenheit des wertlosen profanen Objekts im Bereich der valorisierten Kultur, desto stärker ist die innovative Ausstrahlung des Kunstwerks. Daher geschieht die Wahl des Objektes aus dem profanen Raum stets mit Rückblick auf den kulturellen Kanon. In diesem Sinne ist die Absetzung von der valorisierten Kultur „eine spezifische Form der Anpassung an die museale fixierte Tradition – die aber diese Tradition nicht positiv, sondern negativ, kontrastiv durchsetzt.“7 Geprägt von innerer Dialektik, stellt das Neue einerseits die Überwindung des Alten und den vorhandenen kulturellen Werten dar, andererseits aber ist es zugleich die Überlieferung der Tradition in negativer Form. „Die Innovation ist freilich […] immer in erster Linie eine Wiederholung der Tradition.“8

Da die Umwertung eine Aktion, eine Handlung ist, wird sie von gewisser Dynamik geprägt. Die Dynamik beim Übergang eines Objektes aus dem profanen Raum in die Sphäre der valorisierten Kultur ist bilateraler Natur und drückt sich in zwei Mechanismen aus, die verhältnismäßig zueinander verlaufen. Während das Alte im Zuge der Umwertung devalviert wird, ist die Annahme des Profanen mit dessen Aufwertung gekennzeichnet: „Die Abwertung der bestehenden kulturellen Werte ist ein notwendiger Aspekt des innovativen Gestus – genauso wie die Aufwertung des Profanen.“9 Infolge dieses zweifachen Prozesses wird die vorherige Wertehierarchie selbst modifiziert. Dennoch behält sie ihre Beständigkeit. Solange in der Kultur eine Ungleichwertigkeit vorhanden ist, wird die Möglichkeit des Neuen nicht ausgeschlossen.

Das Neue als Negation in Adornos musique informelle

“The musical sense is the New – something which cannot be traced back to and subsumed under the configuration of the known, but which springs out of it, if the listener comes to its aid.”

– Adorno: On Popular Music

“Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.”10 Adornos Bestimmung der musique informelle enthält die künstlerische Utopie einer Musik als “Bild von Freiheit”11.  Freiheit indessen ist “einzig in bestimmter Negation zu fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit. Positiv wird sie zum Als ob.”12 In der Kunst aber ist jene Prätention des Als Ob keine unwahre Unterstellung mehr, sondern der Schein der Freiheit ist hineingezogen in den Schein des Kunstwerks durch dessen Integrationsprozess. In der Musik “sterben Fiktionsmomente noch in ihrer sublimierten Gestalt”13 durch den mit Bewusstsein vollzogenen Prozess der Komposition ab. Bereits bei Marx findet sich die Bemerkung: “Wirklich freie Arbeiten, z. B. Komponieren, ist grade [sic] zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung.”14 Das Neue der Freiheit tritt beim Komponieren hervor durchs Abarbeiten der Unfreiheit am Alten. Wie die Freiheit durch die bestimmte Negation der Unfreiheit an diese gebunden bleibt, so das Neue ans Alte, aus dem es entspringt und mit dem es darum doch nicht identisch ist.

Dasjenige aber, worin sich der Kompositionsprozess von Neuem aus Altem vollzieht, ist das musikalische Material. Wie Instrumente, Töne, Klänge gesetzt und organisiert werden, ist aber kein ihnen äußerlicher Prozess, sondern durch diese vermittelt. Subjekt und Objekt der Komposition sind nicht zusammengeklebt, sondern im musikalischen Material selbst sind subjektive Momente verobjektiviert:

“Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren vielmehr davon her, daß das ‘Material’ selbst sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durch Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist seine eigenen Bewegungsgesetze.”15

Im musikalischen Material steckt das Alte, ausgedrückt durch das Bild der Ablagerung im “sedimentierten Geist”. Aber weil in diesem Alten das “Bewußtsein von Menschen” sedimentiert ist, dieses Bewußtsein aber “die ganze Geschichte in sich trägt”16, ist das Alte zur Veränderung, zum Übergang ins Neue befähigt. Das scheinbar bloß Objektive des Materials erweist sich als ein durch “eigene Bewegungsgesetze” Veränderliches. Das Material ist nicht bloß an sich. Ein verminderter Septakkord kann falsch sein, wenn er als ein nur Objektiviertes ohne subjektive Notwendigkeit der Komposition “aufgeklatscht”17 wird. Gleiches gilt etwa für die Oktavverdopplungen, die in der Neuen Musik Arnold Schönbergs zum ersten Mal in der Musikgeschichte als fehlerhaft gelten konnten, wenn es ihrer nicht doch aus technischen Gründen bedurfte.18 Das Neue zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Alte nicht mehr unmittelbar möglich ist. Das Alte wird, etwa in der Verwendung von Volkslied und Choral in Richard Wagners Vorspiel zum dritten Aufzug der Meistersinger, zu einem “Zitat: durch das Wissen: dies ist Volkslied, dies Choral, und dies Wissen, die Reflexion auf die Naivetät, löst diese auf und macht sie manipuliert.”19 Im Zitat ist die Nichtidentität des Zitierten mit der Komposition, die zitiert, von Altem und Neuen ausgedrückt. Weil das Alte nicht mehr gültig ist, sondern nur noch als Zitat besteht, ist es das Neue. Adorno neigt auch zur Verallgemeinerung, dass schließlich “alle musikalischen Charaktere […] eigentlich Zitate”20 sind. Dadurch ist der notwendige Zusammenhang von Altem und Neuem im musikalischen Material ausgesprochen, zugleich aber deren Differenz. Das Neue ist die Negation des Alten: darum bestehen beide nicht indifferent nebeneinander. Adorno begreift dies in dem Begriff vom Kanon der Verbote: “In Korrespondenzen mit dem Vergangenen wird das Wiederauftretende ein qualitativ Anderes.”21 Das wiederauftretende Alte wird falsch, wenn im Kompositionsprozess nicht diese qualitative Veränderung bewahrt ist. Falsch nicht deshalb, weil von außen autoritär gesetzte, etwa akademische Regeln verletzt würden, sondern falsch, weil das Material selbst aus sich heraus eine Veränderung erfahren hat. Bachs harmonischer Kontrapunkt etwa ist darum ein ganz anderer als jener der Polyphonie vor der seconda pratica. Auch der Begriff der musique informelle enthält diese Einsicht, denn er meint

“[…] eine Musik, die alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei von heteronom Auferlegtem und ihr Fremden, doch objektiv zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten sich konstituiert.”22

Dieses Ineinandergreifen von innerer Entwicklung, “eigenen Bewegungsgesetzen”, Freiheit von “auswendigen Gesetzmäßigkeiten” mit der äußeren von Geschichte und Gesellschaft bringt Adorno mit dem “Doppelcharakter der Kunst” auf den Begriff. Ästhetische Phänomene “sind beides, ästhetisch und faits sociaux”23, autonom und heteronom zugleich. Sie entspringen der individuellen Arbeit gesellschaftlicher Produktivkräfte, ohne doch als Ware neben anderen aufzugehen. Die Kunst nimmt eine autonome Sphäre ein, Kunstwerke haben den Fetischcharakter des An-sich-Seienden. Die Kunst kann dadurch autonome, innere Gesetzmäßigkeiten ausbilden. Aber sie ist zugleich gesellschaftlich, nicht nur dem Ursprung nach durch ihre Produktion, sondern durch ihren Fetischcharakter selbst, der sich als ein An-sich gegen das gesellschaftliche Prinzip allgemeiner Vermittlung konstituiert. Gerade weil die Kunst sich von Gesellschaft absondert, ist sie gesellschaftlich. “Reine Produktivkraft wie die ästhetische, einmal vom heteronomen Diktat befreit, ist objektiv das Gegenbild der gefesselten […]”24, nämlich der gesellschaftlichen Produktivkräfte allein. Im Gegensatz zu diesen ist durch die ästhetischen Produktivkräfte in der Kunst qualitativ Neues möglich. Das Neue ist also nicht die “Forderung der Zeit”25, auch wenn es wie die Mode26 durch den Doppelcharakter der Kunst mit ihr zusammenhängt. Sondern das Neue entsteht durch den bewussten Kontakt des künstlerischen Subjekts mit dem autonomen Objekt, den Eingesetzten des künstlerischen Materials. Eindrücklich formuliert hat das der Komponist Clemens Nachtmann, der in der Beschreibung seiner kompositorischen Arbeitsweise diese Vorgänge konkret reflektiert:

“Zuallererst geht es also [im Kompositionsprozess, lg] ganz egoistisch um das, was mich interessiert: nämlich um Sachen, die ich noch nicht oder nicht so gehört habe. […]  Technische Verfahren haben für mich […] zunächst und vor allem eine negative i.S. von ‘negierender’ Qualität; in einem spezifischen Sinne negiert, in Frage gestellt, überwunden werden soll das komponierende Subjekt selbst, genauer: die eigene unvermeidliche subjektive Beschränktheit, wie sie sich in eingeübten, vertrauten und von daher naheliegenden Präferenzen, Meinungen, Vorurteilen darstellt, die in aller Regel wiederum durch bereits angeeignete technische Fertigkeiten legitimiert und rationalisiert werden. […] Mit exakten und sogar rigiden Plänen Unplanbares und Unbekanntes zu erzeugen: das ist jedesmal aufs Neue meine kompositorische Utopie.”27


Biografie

Luis Gruhler

Luis Gruhler studiert Philosophie in München. Sein Hauptinteresse gilt der Kritischen Theorie in den Formulierungen von Marx, Horkheimer, Adorno und dem Deutschen Idealismus Kants und Hegels. Neben der Philosophie beschäftigt er sich mit Neuer Musik und erhielt selbst schon Nachwuchskompositionspreise.

Olga Syngaivska

Olga Syngaivska absolvierte den Master-Abschluss in Kulturwissenschaften an der Kyjiw-Mogyla-Akademie in der Ukraine. Mit Hilfe der DAAD-Förderung begann sie ein Studium der Kunstgeschichte an der Universität zu Köln mit Fokus auf Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit und Mechanismen des Kunstmarktes.