Die Stadt Neapel, die früher als „Tor zur Hölle“ bekannt war, ist inzwischen die von verwirrten Touristen heimgesuchte „Offenen Wunde Europas“. Ferber und Hugger beklagen das Fehlen eines „transzendentalen Obdachs“, doch im Verfall der neapolitanischen Kirchen neben dem dort praktizierten charismatischen Christentum meinen sie eine Möglichkeit zur Errichtung eines neuen Obdachs erblickt zu haben. Die Erschließung aller geschlossenen Kirchen der Stadt dient einem universalistischen Projekt, dessen Ziel ein unaussprechliches ist, inmitten der kaum auszuhaltenden spirituellen Kakophonie aus Hyperpräsenz, tiefer Geschichte und grausamer Romantik – wobei bis zum heutigen Tage nicht fest steht, ob es sich hierbei um eine Halluzination handelt.
Wen das Unheil trifft, zu einer Aussage über Neapel aufgefordert zu sein, der steht einem Maß an Aussichtslosigkeit gegenüber, welchem sittlicherweise der Freitod dient. Man tappt schnell in Logorrhoe, denn jede noch so versiffte Ecke dieser Stadt ist mit Bedeutung belastet. Neapel ist eine Multiplizität, immer schon international, theatralisch, grausam und lächerlich schön. Durch den Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. ist dort Zerfall und Kulturerbe miteinander verschmolzen, und bereits Goethe merkte an, dass die Neapolitaner immer noch in Höhlen (ihren Erdgeschosswohnungen) leben.
Unsere längst durchlöcherte Vernunft sucht immer noch nach einem Prinzip, was – unter der Vulkanasche – zu Grunde liegen könnte. In Neapel könnte die Spur von etwas genau so gut das Ding an sich sein, die Wahrheit auch nur ein Stilmittel. Der Hafen hier ist eine Wunde, die vom globalen Osten aufgespreizt wird, um eine neue, kapitalistische Welle der Reliquienfälschung voranzutreiben.
So verwischt Neapel die Spuren seiner Vergangenheit, ohne sie komplett verschwinden zu lassen. Die gegenwärtige Geschichtsforschung nagt sich fest an der Denkfigur des Palimpsest, fetischisiert eine verschwundene Hochkultur, und verliert ab und an einen Freudentropfen in Anbedacht der sozialen Misslagen, welche die Stadt seit Jahrhunderten durch dauerhafte Fremdherrschaft und Naturkatastrophen verinnerlicht hat. Der Tourismus hat zugenommen: bequem überfallbare Deutsche vermengen sich mit einer intellektuell verarmten, pseudo-kosmopolitischen Elite in den Gassen des historischen Zentrums, welches nach wie vor das Potenzial birgt, zum Schauplatz des Niedersten zu werden, was der Mensch zu bieten hat. Damit ist nicht nur das Tragen eines Rucksacks auf dem Bauch gemeint, aber Neapel ist in vielerlei Hinsicht auch nicht mehr, sondern auf eine andere Art und Weise gefährlich als andere westliche Städte: die Unübersichtlichkeit der verwinkelten Gassen, die unzählbaren Sprachen und Codes, und die gleichzeitige Gleichgültigkeit der Neapolitaner gegenüber der allgegenwärtigen sensorischen Überfrachtung.
Jedwede Hoffnung auf Erlösung hat sich mittlerweile in den leeren Worthülsen von Priestern und Politikern totgelaufen. Dennoch schreibt Neapel bis heute dem Aggregatszustand, in dem sich das Blut des heiligen Januarius gerade befindet viel zu: eine ausbleibende Verflüssigung galt bereits als Omen für den zweiten Weltkrieg, das verheerende Irpina-Erdbeben und die COVID-Pandemie. Es ist ein Mysterium, welches nicht offiziell von der katholischen Kirche anerkannt wird — doch der Bischof von Neapel unterwirft sich ihm, wenn er am Morgen des relevanten Namenstages im Dom nach der Flüssigkeit des Bluts bittet.
Genau dieses Spannungsfeld war es, was uns ursprünglich in diese Stadt gezogen hat. Die Karte des historischen Zentrums ist mittlerweile eine Narbe in unserem Stammhirn. Als wir uns eines Abends in einer der zwei Bars in Neapel aufhielten, die ertragbare Musik spielen und erschwinglichen Alkohol verkaufen, wurde uns von der Seneszenz des historischen Zentrums berichtet. Ein Ort wie dieser, vor welchem die Gasse mit jungen Leuten gefüllt ist, war einer der Letzten seiner Art. Wir waren mittlerweile betrunken genug, um uns daraufhin vorzunehmen, dem dadurch entgegenzuwirken, dass wir einen neuen solchen Ort schaffen — in einer der vielen geschlossenen Kirchen Neapels.
Es schien uns eigentlich ganz einfach: erst machen wir alle geschlossenen Kirchen ausfindig, wir dokumentieren sie, und sortieren die Aufzeichnungen danach, welche sich für unser Vorhaben eignen. Danach würden wir einen Verantwortlichen ermitteln, und diesem eben unterbreiten, was wir vor haben. Wir sprechen von einer Art Offspace, aber was uns eigentlich treibt, ist der Wunsch nach transzendentalem Obdach. Wir hatten sicher mal eines, aber es wurde uns epistemisch entzogen; und in einer Kirche zu enden, ist bestimmt dem Kommunismus oder einer Sekte gegenüber zu bevorzugen.
Wir sprachen also mit einem Filmemacher in Posilipo, in dessen Badewanne, während wir sein letztes Kokain feinsäuberlich vernichtet haben. Nachdem dieser uns kommunizierte, dass das Projekt nicht realisierbar sei, entwendeten wir seine Analogkamera und nahmen das erste Taxi nach Hause. Es war einige Monate später, dass das Goethe-Institut unerklärlicherweise beschlossen hat, dass ehrliche deutsche Steuerzahler unser Unterfangen finanzieren sollten.
Sofort zeigte sich eine unsichtbare Allgegenwärtigkeit heidnischer Kulte in den Unterkirchen der Stadt, am eindeutigsten in San Pietro ad Aram. Obwohl die katholische Kirche 1969 ein Verbot darauf ausgehangen hat, wird dort bis heute der Kult der armen Seelen praktiziert: unbekannte Tote werden durch Anrufung der Kirche wieder lebendig, um mit den Lebenden in Kontakt zu treten und ihnen den ein oder anderen Gefallen zukommen zu lassen — ein transaktionales Verhältnis, welches beide Seiten dringend brauchen, um Neapel aushalten zu können.
Dieses Verhältnis ist auch anderweitig fundamental für Interaktionen hier. Eine E-Mail erreicht hier niemanden. Das Medium wurde zwar irgendwann eingeführt, aber es führt nirgendwo hin. Die häufigste Rückmeldung die wir bisher erhalten haben, war, dass die angegebene Adresse nicht existieren würde.
Entsprechend begannen wir stattdessen die Leute auf der Straße zu drangsalieren, uns an Klingeln abzutasten, uns stundenlang tiefer in den Abgrund zu erniedrigen. Dabei war auch die Wahrheit der Aussagen nie ausschlaggebend, vielmehr war es die Qualität der Lügen, die einen vorantrieben. Es waren die Gerüchte, an die wir uns erinnerten, die uns den Einheimischen gegenüber vertrauenswürdig erscheinen ließen. Es gibt nicht das Absolute, dass für immer Bestand hat, sobald es gefunden wurde, sondern lauter kleine, aufeinander gestapelte Schichten, anhand derer man gelesen wird (und selber lesen kann).
Dank eines Buchs über geschlossene Kirchen des Architekten Luigi Ruggiero hatten wir so etwas wie einen Anker. Wir fanden sie: Monumentalkirchen, von denen es nur noch eine Mauer gibt, Kappellen und Bunker, jegliche Eingänge zugemauert, alles geschlossen. Ob es Juwelen des Barocks waren, die einzig neogotische Kirche der Stadt, oder frühchristliche Fundamente auf griechischen Tempelfundamenten, Neapel ließ sie verfallen und nutzte sie daraufhin auf etliche, legale und illegale Arten und Weisen. Alle sind etwa so einsturzgefährdet wie die Stadt selbst, eines Tages dem Untergang durch Ausbrechen des Megavulkans geweiht, auf dem sie erbaut wurde. Während es wenig Verständnis für Restauration gibt, herrscht der Wille zur Dekoration.
Der Neapolitaner ist ein Experte darin, etwas zerfallen zu lassen, aber wenn man ihn darauf hinweisen sollte, so wird er doch (etwas beschämt) den Weg zu einer geöffneten Kirche erklären, bevor er seinen Müll ordnungsgemäß beliebig auf der Straße verteilt.
Unser Interesse an intakten Dingen schwand stetig. Das, was wir wollten, war eben Zerfall, ohne jegliche Intention etwas zu restaurieren. Dabei haben wir täglich unseren Verstand aufs Spiel gesetzt, bis schließlich das heiligste, was uns noch einfiel das Wort ‘Fotze’ war.
In Neapel gibt es keinen Untergrund, sondern Untergründe. So vital es ist, so sehr bringt es den Tod — seit Jahrtausenden: die Fotze, in die man zum Sterben zurück kriecht. Ein einbrechender Boden bringt einen möglicherweise um Jahrtausende zurück, und ein Erdrutsch hat schon häufiger die Gegenwart unter sich begraben. Es musste sich hier eine Religion entwickeln, welche die griechisch-ägyptischen Mysterienkulte nie aufzugeben wagte: White Voodoo, zutiefst materialistisch, wenn mit Materialismus die Bereitschaft gemeint ist, einen Totenschädel vom Friedhof zu plündern und ihn nach den morgigen Lottozahlen zu befragen.
Wir waren also verloren. In Neapel braucht man solche Begriffe wie ‘Sein zum Tode’ oder ‘Simulakrum’ nicht. Es sind Wahrheiten, derer Bedeutung sich jedes Kleinkind der Stadt enorm bewusst ist. Auch zeitgenössische Kunst jeglicher Art und Qualität wirkt lächerlich vor dessen manisch zusammengewürfelter Alltags-Ornamentik. Wir schämten uns für unser neurotisch katalogisierendes Deutschtum. Doch der Steuerzahler zahlte, und die Kirchen zu finden, wurde damit zum Selbstzweck, und die Ergebnisse unserer Recherche zunehmend unaussprechlich. Kirchen wurden nicht nur neu genutzt, sie wurden umgebaut oder verschwanden. Es dauerte nicht lang, da sahen wir in jedem Gebäude eine Kirche.
Italien hatte eine Renaissance, aber nie eine Reformation. Neapel hatte nicht mal ein Mittelalter um die Antike zu beenden. Vernunft und Religion standen niemals in einem Widerspruch zueinander. Nichts geringeres als die Zukunft des gescheiterten westlichen Projekts entsteht hier: ein Leben oder ein Bewusstsein, für das die Sprache der Philosophie immer schon obsolet war.
Biografie
Der Kunsthistoriker CORNELIUS FERBER und die Künstlerin LENA HUGGER haben sich als outlaws der Kunstszene Düsseldorfs kennengelernt. Nach Jahren interdisziplinärer Zusammenarbeit als Teile von https://aphoticsignals.com stellen sie sich schließlich als beidseitig katholizistisch geschädigt wie gewachsene der Stadt Neapel heraus. Ferber und Hugger interessierten sich für die Schnittstelle zwischen künstlerischer Arbeit und Feldforschung und entwickelten daraus bereits philosophische Gedanken und einen Film.
Das Projekt konzentriert sich auf die Erfahrungen der ersten Generation koreanischer Migrant:innen in Deutschland und stellt die Frage, wie diese Erinnerungen nicht nur bewahrt, sondern über Generationen hinweg interpretiert und weitergetragen werden. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem persönlichen Gedächtnis und kollektiven Erzählungen, zwischen gelebter Geschichte und ihrer medialen Übersetzung – als Spur, die sichtbar bleibt, aber auch stets im Wandel ist.
Durch HeRo: Begegnung mit der ersten Generation koreanischer Arbeitsmigrant:innen
Die koreanischen Einwanderer der ersten Generation in Deutschland setzten sich in den 1960er- und 1970er-Jahren aus Bergarbeitern und Krankenschwestern zusammen, die im Rahmen eines Abkommens zwischen der koreanischen und der deutschen Regierung nach Deutschland entsandt wurden. Und sie begannen dort ein neues Leben in einer fremden Sprache und Kultur. Die Bergarbeiter leisteten hauptsächlich schwere körperliche Arbeit in deutschen Bergwerken, und die Krankenschwestern arbeiteten unter anspruchsvollen Bedingungen in Krankenhäusern, wobei beide Gruppen auf ihre Weise zur deutschen Gesellschaft beitrugen. Anfangs standen sie als temporäre Gastarbeiter vor vielen Schwierigkeiten, doch mit der Zeit gründeten sie Familien und ließen sich in den Gemeinden nieder. Auf diese Weise schufen sie die Grundlage für eine koreanischstämmige Gemeinschaft, die sich bis in die zweite und dritte Generation fortsetzt.
HeRo-Haus, Schillerstraße 85, 10627 Berlin
HeRo ist eine kultursensible Altenhilfe, die sich vor allem an koreanische Migrant:innen richtet und Menschen unterstützt, die Pflege benötigen, sowie sie auf die letzte Lebensphase vorbereitet. HeRo organisiert ein breites Spektrum an kulturellen Aktivitäten, die auf die Bedürfnisse der koreanischen Senior:innen zugeschnitten sind. Dazu gehören Hobby-Workshops wie Armband-Basteln, Bildungsangebote wie Smartphone-Kurse für ältere Menschen, regelmäßige Sonntagsgottesdienste sowie weitere Aktivitäten in der Muttersprache, die Freizeit, Bildung und Religion verbinden. Darüber hinaus bietet HeRo umfassende Unterstützungsleistungen für ältere Menschen an, von alltäglicher Hilfe und Beratung bis hin zur Begleitung in der Hospizarbeit und Unterstützung bei Bestattungen. Besonders im HeRo-Haus wird ein Raum geschaffen, in dem Senior:innen nicht nur eine warme Mahlzeit genießen können, sondern auch Gelegenheiten haben, miteinander ins Gespräch zu kommen, Neues zu lernen und einander im Alltag zu unterstützen – ein Ort, der Gemeinschaft, Wärme und Lebensfreude vermittelt.
Neu gestartet wurde ein Spuren- und Erinnerungsprojekt, das gemeinsam mit drei jungen koreanischen Künstlerinnen realisiert wird. Drei koreanische Künstlerinnen, die in Berlin leben, suchen dabei jeweils in eigenen Workshops die Begegnung mit der ersten Generation koreanischer Migrant:innen. An dem Projekt nehmen Aro Han, Yuni Chung und Jiran Ha teil. Die drei Künstlerinnen leiten jeweils eigene Workshops, während ich, Mihyun Jo, das Projekt in der Video-Dokumentation begleite.
Aro Han lebt in Berlin und arbeitet als Pflegekraft sowie Projektleiterin mit Schwerpunkt auf audiovisueller Kunst, gemeinschaftlichen Veranstaltungen und kooperativem Schreiben. In ihrer Arbeit stehen Medientranslation, interdisziplinäre Zusammenarbeit und kollektive Prozesse im Mittelpunkt. Yuni (Hoa Yun) Chung ist eine in Berlin lebende transdisziplinäre Künstlerin. Sie arbeitet mit Performance, Choreografie, Installation, Video und Text. In ihren Projekten untersucht sie, wie Körper Geschichte und Machtstrukturen tragen und wie diese neu erfahrbar gemacht werden können. Jinran Ha ist eine in Berlin lebende Künstlerin und Designerin, deren interdisziplinäre Praxis sich zwischen postmigrantischer Erinnerungspolitik, feministischer Fürsorgearbeit und ökologischen Perspektiven bewegt. Ihre künstlerische Forschung verbindet Archivarbeit mit performativen, filmischen und installativen Formaten, häufig in Kollaboration mit migrantischen Communitys, Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen. Ich, Mihyun Jo, habe zeitgenössische Kunst in Korea studiert und im Rahmen meiner Abschlussarbeit ein experimentelles Dokumentar-Projekt über meine Mutter und das bereits abgerissene Elternhaus meiner Mutter durchgeführt. Der Workshop bei HeRo weckte mein Interesse, da er ähnliche Fragestellungen aufgreift – insbesondere die Auseinandersetzung mit Erinnerung, Generationen Unterschieden im Umgang mit Vergangenem und der Art und Weise, wie persönliche Geschichten erzählt und weitergegeben werden. Für die jungen Künstlerinnen bot der Raum HeRo ein großes Gefühl der Geborgenheit. Als in Deutschland lebende Koreaner:innen asiatischer Herkunft fühlten sie sich automatisch zur Lebens- und Geschichte der ersten Migrantengeneration hingezogen. In Korea war es selbstverständlich, „Koreaner:in“ zu sein, doch in Deutschland wurde die eigene Identität als „Asiate:in“ oder „Koreaner:in“ stärker wahrgenommen. Daher bedeutete die Teilnahme an der Dokumentation der Geschichten und Erinnerungen der ersten Generation für sie eine Erfahrung von großer Bedeutung.
식구(Sikgu) – Gemeinsam essen, Gemeinschaft erleben
Die Teilnehmer:innen des ersten Workshops am 30. September waren Seniorinnen, die Lunchbox-Lieferungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität organisiert hatten. Für diesen Workshop wurde diese Teilnehmergruppe bewusst ausgewählt, da ihre Kenntnisse und Geschichten den Austausch über Essen, dem zentralen Thema des Workshops, besonders bereichern würden. In der warmen Atmosphäre löste sich die anfängliche Anspannung schnell, und die Gespräche entwickelten sich von selbst. Besonders auffällig war, dass einige das Wort „Bento“ verwendeten, das aus dem Japanischen stammt, statt das koreanische „Dosirak“ – eine Art Lunchbox, traditionell gefüllt mit Reis, Beilagen und Gemüse. Dies machte deutlich, wie historische und kulturelle Einflüsse in der Sprache Spuren hinterlassen: Auch nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft lebten Wörter aus dem Japanischen im Koreanischen fort, was zeigt, wie Sprache und Kultur über Generationen hinweg miteinander verwoben sind. Solche scheinbar kleinen Unterschiede in der Wortwahl machten die Gespräche auf natürliche Weise lebendig und neugierig, wodurch eine vertraute und offene Atmosphäre entstand. Generationsunterschiede waren zwar spürbar, wirkten aber eher als Gelegenheit, einander zu verstehen und Gespräche fortzuführen, als Barriere.
Im Rahmen des Themas Essen stand im ersten Workshop das Gericht vietnamesische Sommerrollen im Mittelpunkt. Dieses Gericht wird in Deutschland oft als typisches „asiatisches Essen“ wahrgenommen, für die koreanischen Migrant:innen war es jedoch zugleich fremd und vertraut. Fremd erschien es, weil es in Korea nicht als typisches Hausessen gilt, sondern als ausländisches Gericht wahrgenommen wird und normalerweise in vietnamesischen Restaurants statt auf traditionellen koreanischen Esstischen serviert wird; vertraut wiederum, weil die Idee, Zutaten gemeinsam einzuwickeln und auf einmal zu essen, an die koreanische Esskultur erinnert – auch wenn dort statt Reispapier Blätter von Gemüse verwendet werden. Vor dem Workshop wurden die Teilnehmenden gebeten, Zutaten mitzubringen, die sie gerne in die Sommerrollen einfügen würden. Auf dem Tisch lagen anschließend all diese bunten Zutaten, und jede durfte eine auswählen und die dazugehörige Erinnerung oder Geschichte erzählen. Danach wurden alle Zutaten gemeinsam geschnitten, vorbereitet und zu Sommerrollen zusammengerollt. Beim gemeinsamen Zubereiten und Essen entstand ein lebendiger Austausch, bei dem Erfahrungen, Erinnerungen und kleine Geschichten auf natürliche Weise geteilt wurden.
Die Perilla-Blätter waren dabei eine besonders beliebte Zutat. Für die koreanischstämmigen Migrant:innen gehörten sie zu den am meisten vermissten Geschmäckern, doch bei HeRo konnten sie im Hinterhof angebaut und jederzeit frisch gegessen werden. An diesem Tag begleiteten Lachen und Gespräche die Zubereitung der Speisen; die einzelnen Zutaten wirkten wie Schlüssel, die nach und nach die Erinnerungen an den Geschmack der Mutter, an Landschaften der Heimat und an Kindheitserlebnisse öffneten. Am Ende entstand keine rein vietnamesische Sommerrolle, sondern ein völlig neuer Teller, in dem koreanische Chilipaste, eingelegter Rettich und Perilla-Blätter miteinander verschmolzen.
Meer, Vater, Meeresfrüchte – diese Worte standen auf dem Surimi und waren nur kurze Stichworte, doch sie riefen bei den Zuhörenden viel längere Geschichten hervor. Diejenigen, die Surimi mitgebracht hatten, erklärten, dass es in Deutschland als Ersatz für schwer erhältliche Meeresfrüchte diente, und teilten zugleich Erinnerungen an ihre Kindheit mit dem Vater am Meer. Vor den frittierten Garnelen stand das Wort „Sohn, köstlich“, und neben der Rucola war die Notiz zu lesen: „In Europa günstig, in Korea teuer, oft gegessen.“
Das HeRo-Haus war nicht nur ein Ort für Workshops, sondern ein Raum, in dem man sich fühlt wie bei einem Familienbesuch an einem Festtag.Im Koreanischen bedeutet das Wort „식구 (食口, Sikgu)“ wörtlich „essender Mund“, wird aber tatsächlich als „Familie“ verstanden. Die einzelnen Schriftzeichen haben eigene Bedeutungen: „食“ heißt „essen“ und „口“ heißt „Mund“. Zusammengesetzt beschreibt „식구“ also wörtlich „Menschen, die zusammen essen“, was metaphorisch für Familie steht. Es geht also nicht nur um Blutsverwandtschaft, sondern der Akt des gemeinsamen Essens selbst bildet eine Gemeinschaft. Zusammen am gleichen Tisch zu sitzen und das Essen zu teilen, ist mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Es ist ein Akt, der die Teilnehmenden zu „식구“ (Sikgu) macht.
Von Händen, Worten und geteilten Momenten
Der zweite Workshop wird von der Künstlerin Jinran Ha als Workshop zur Hand- und Nagelpflege durchgeführt, wobei der Schwerpunkt auf entspannender Massage liegt. Dabei liegt der Fokus auf den Händen älterer Frauen, die ihr Leben lang als Krankenschwestern in Deutschland tätig waren und deren Hände durch die Arbeit und Chemotherapie erschöpft sind. Der Workshop bot den Frauen die Möglichkeit, ihren erschöpften Händen Fürsorge und Aufmerksamkeit durch Massage zukommen zu lassen. Die Nagelkunst soll dabei nicht nur dekorativ sein, sondern die ästhetische und sinnliche Fürsorge auf die Hände der älteren Teilnehmenden zurückbringen.
Der dritte Workshop wird von der Künstlerin Aro Han als gemeinsames Schreibprojekt durchgeführt. Die Teilnehmenden lesen gemeinsam Werke koreanischer Dichterinnen. In ihren Gedichten spiegeln sich komplexe Identitäten wider – als Frauen, Mütter und Töchter, Migrantinnen und Asiatinnen. Durch das Lesen und die anschließenden Gespräche setzen sich die Teilnehmenden mit ihrer eigenen Geschichte und Identität auseinander. Dabei werden Erfahrungen als in Deutschland lebende koreanische Krankenschwestern, das Leben als Migrant:innen sowie Gefühle und Sprache innerhalb der deutsch-koreanischen Gemeinschaft geteilt. Beim Schreiben von Gedichten verbinden sich Generationen und Sprachen, und Erinnerungen werden lebendig. Auf dem Tisch treffen Muttersprache, Heimat und Vergangenheit wieder auf die Gegenwart.
Nach dem Abschluss der drei Workshops werden die Geschichten, das Gefühl von Berührung und Entspannung, das Essen, die Gedichte und die gemeinsam erlebten Momente in Form von Videos, Tischdecken und einem dokumentarischen Format festgehalten. Diese Materialien sollen später in einer gemeinsamen Vorführung mit den Teilnehmenden, ihren Familien und der HeRo-Gemeinschaft präsentiert werden. Beim Ansehen dieser Aufzeichnungen können die Teilnehmenden die damaligen Gefühle wiedererleben und einander sagen: „Es war wirklich schön damals.“ Dieses Projekt beschränkt sich nicht nur auf die drei Workshops, sondern soll auch in Zukunft fortgesetzt werden. Danach arbeiten die Künstler:innen und ich daran, die Erinnerungen der Teilnehmenden in vielfältigen Objekten wie Rezeptbüchern, Gedichtbänden oder Fotobüchern sichtbar zu machen und zu bewahren.
Unser Ziel geht damit über das reine „Dokumentieren“ hinaus: Es geht darum, ein Medium zu schaffen, das Generationen, Räume und Erinnerungen miteinander verbindet und neue Erfahrungen ermöglicht. Diese gesammelten Erinnerungen verschwinden nicht in der Zeit, sondern bleiben ruhig in unseren Herzen und schaffen neue Verbindungen und Momente. Letztlich wird dieses Projekt zu einer Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zeigt, dass wir einander erinnern, füreinander sorgen und gemeinsam neue Augenblicke gestalten können.Wir hoffen, dass jemand, der diese Dokumente in der Zukunft betrachtet, nicht nur die Vergangenheit erinnert, sondern auch ein Gefühl von Verbindung und Gastfreundschaft zwischen Generationen, Individuen und Orten erleben kann.
Nach dem ersten Workshop erhielten die Künstler:innen und ich von der Leiterin und den Teilnehmenden ein herzliches Willkommensgeschenk: Schokolade, selbstgemachte Duftkerzen und ein kleines, in Form eines Mandarinenten-Paares gestaltetes Keramik-Stäbchenhalter. Die Mandarinente symbolisiert das Glück in der Familie. Ich benutze diesen Mandarinenten-Stäbchenhalter nun täglich und denke dabei an die Person, die dieses Erbstück einst benutzt hat. Dieses Erbstück ist ein generationsübergreifendes Zeugnis, das dem Ziel unseres Projekts entspricht.
Biografie
MIHYUN JO studierte Bildende Kunst mit Schwerpunkt Visual Art an der Korea National University of Arts in Seoul. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigte sie sich zunächst mit Medienkritik und feministischen Fragestellungen. Ihr Abschlussprojekt war ein experimenteller Dokumentarfilm, der Erinnerungen an das Heimathaus ihrer Mutter aufgriff und diese in einem feministischen und medienkritischen Kontext reflektierte. Seit 2022 lebt sie in Deutschland und studiert Design im Masterstudiengang MMVR an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. In ihrer künstlerischen Praxis legt sie weniger Wert auf abstrakte, hochtheoretische oder philosophische Fragestellungen, sonder sucht nach Wegen, durch ihre Arbeiten kulturelle Unterschiede zu überbrücken und Themen zugestalten, die für ein breiteres Publikum nachvollziehbar und erfahrbar werden.
Was in Teilen der Welt heute als bewusste Entscheidung zur qualitativen Entschleunigung verstanden wird, ist andernorts manchmal noch Alltagsrealität, wenn die Nutzung der Schreibmaschine zur täglichen Arbeit gehört. So zum Beispiel bei den sogenanntenPavement Typists in Kolkata, Indien, die ihre Schreibdienste auf Bürgersteigen im Freien vor öffentlichen Behörden und Gerichtsgebäuden anbieten.
Die Serie Tables aus dem Projekt Typosphere zeigt Aufnahmen der Arbeitstische, der Schreibmaschine und einigen Arbeitsutensilien sowie persönliche Dinge der jeweiligen Besitzer. Für die Aufnahmen wurden die Tische und Maschinen in einem temporär errichteten Studio in der Nähe des Kolkata High Court fotografiert.
32 Fotografien, fine art prints, 40 x 50 cm / 50 x 60cm / 70 x 90 cm
Projektförderung Kulturwerk der VG Bild-Kunst GmbH, Bonn, 2023
Biografie
ANJA BOHNHOF (*1974, Hagen) lebt und arbeitet in Dortmund. Nach einer fotografischen Ausbildung studierte sie Visuelle Kommunikation und Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2004 arbeitet sie freiberuflich als Fotografin und Bildende Künstlerin; von 2006 bis 2014 lehrte sie Fotografie an der Hochschule Köln. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit Aspekten der deutschen Geschichte und kulturellen Wahrnehmung, zuletzt mit Fokus auf Indien. Ihr Langzeitprojekt Tracking Gandhi (2019) wurde u. a. im National Gandhi Museum, New Delhi, gezeigt. Ihre Werke sind in bedeutenden Sammlungen vertreten und wurden mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Gisela-Bonn-Preis 2015. Sie wird von der Galerie m, Bochum, vertreten.
Abb.1: Sarah Maria Serve: protest claw, 2025, Foto: Leolo Laubinger
Künstlich verlängerte Fingernägel aus Materialien wie Acryl oder Gel sind selbstverständlicher Teil zeitgenössischer Körpermodifikation und Ausdruck individueller Selbstpräsentation geworden. Im Sinne von Sara Ahmed lässt sich der Kunstnagel aber auch als feministisches Tool verstehen – als Werkzeug, das aus Erfahrung, Verletzung und Widerstand hervorgeht. Er ist Teil einer Praxis, die mit dem Körper gegen normative Ordnungen arbeitet – und neue Realitäten denkbar macht. In Sarah Maria Serves künstlerischer Auseinandersetzung KÖRPER WISSEN WÄRE MACHT setzt sie den Kunstnagel als ein solches feministisches Tool ein. Ihre überproportional geformten Nägel aus Glas, werden zu scharfen Krallen, politischen Werkzeugen der Selbstermächtigung und raumeinnehmenden Ornamenten des Widerstands. Wobei die Zerbrechlichkeit des Materials gegenübergestellt mit dessen Scharfkantigkeit auf das ambivalente Zusammenspiel aus Verletzlichkeit und Härte verweist.
Abb. 2 Sarah Maria Serve: everyday series, 2025, Foto: Theresa Kolb
Abb. 3 Sarah Maria Serve: ornamental, 2025, Foto: Theresa Kolb
Abb. 4 Sarah Maria Serve: claw fitting, 2025, Foto: Theresa Kolb
Abb. 5 Sarah Maria Serve: resting, 2025, Foto: Theresa Kolb
Abb. 6 Sarah Maria Serve: pose, 2025, Foto: Johanna Jelina Horn
Abb. 7 Sarah Maria Serve: everyday series, 2025, Foto: Theresa Kolb
Abb. 8 Sarah Maria Serve: xxl stiletto tip (Demontage Trump Tower / Ai Weiwei – Study of Perspective), 2025
Abb. 9 Sarah Maria Serve: Nergis (protest series), 2025, Konzept: Sarah Maria Serve, Foto: Jonathan Zwiener, Performerin: Nergis Songün
Abb.10 Sarah Maria Serve: clawing, 2025, Foto: Theresa Kolb
Abb.11 Sarah Maria Serve: protest claw (colour), 2025, Foto: Leolo Laubinger
Abb.12 Sarah Maria Serve: fragments of, 2025, Konzept: Sarah Maria Serve, Kamera: Johanna Jelina Horn, Performerin: Paula Bothner
Abb.13 Sarah Maria Serve: feminist tools (Collage), 2025, Foto: Sarah Maria Serve, Bearbeitung: Theresa Kolb
pose. (engl. Imperativ: posiere) – beschreibt einen Moment desStillstands: der Ruhe, der Atmung, der Besinnung auf die aktuelle Haltung des Körpers – und ihre Bedeutung im emotionalen wie politischen Sinne.
Abb. 14: Sarah Maria Serve: stretch and scratch, 2025, Foto: Leolo Laubinger
Entwicklung der Glasobjekte in Kollaboration mit der Künstlerin Simone Fezer
Biografie
SARAH MARIA SERVE absolvierte ihr Architekturstudium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Dort schloss sie 2025 mit der Masterarbeit „Körper Wissen Wäre Macht“ ab, für die sie mit dem Akademiepreis ausgezeichnet wurde. Zuvor studierte sie Psychologie an der Universität von Amsterdam sowie Architektur im Bachelor an der Universität Stuttgart. Ein bedeutender Teil ihrer künstlerischen Praxis ist der performative Dialog zwischen Körper und Raum, bei dem sie ihren eigenen Körper als Werkzeug und Ausdrucksmittel politischer (Re-)Aktion einsetzt. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch einen multimedialen Ansatz aus, wobei die Zusammenarbeit mit anderen Künstler:innen eine tragende Rolle spielt.
Für die Ausstellung Die Jagd (Künstlerhaus Stuttgart, 2022) begeben sich Moritz Berg und Lennart Cleemann im Kräherwald (Stuttgart) auf die Nachsuche. Eine Annäherung zweier Künstler und ihrer Praxis mit der Natur. Nahe der Erde, dem vermeintlich Toten nahetretend. Von Frühling über Herbst. Das Tun wird jagen, bedächtig, außerhalb des üblichen Zeitempfindens. Das Ritual konstituiert den Wandel. Die Trophäe verewigt den Verfall und festigt unsere Zeit.
Zwischen Archaik und Moderne
Die Jagd ist ein Zeugnis der barbarischen Zivilisation.
Sie ist der zweite archaische Zustand, nach dem der Sammler und Lotophagen, welche ihr Essen direkt von der Natur (konkret der Flora) entnehmen. Das Jagen von Tieren bedingt das Recht des Stärkeren und ist somit ein gewaltvoller Zustand, in dem die bewusste Entscheidung zur Beendung des Lebens des Tieres steht um das eigene Überleben zu sichern.
„Die nächste Gestalt, zu der Odysseus verschlagen wird – verschlagen werden und verschlagen sein sind bei Homer Äquivalente –, der Kyklop Polyphem, trägt sein eines rädergroßes Auge als Spur der gleichen Vorwelt: das eine Auge mahnt an Nase und Mund, primitiver als die Symmetrie der Augen und Ohren, welche in der Einheit zweier zur Deckung gelangender Wahrnehmungen Identifikation, Tiefe, Gegenständlichkeit überhaupt erst bewirkt. Aber er repräsentiert dennoch den Lotophagen gegenüber ein späteres, das eigentlich barbarische Weltalter als eines von Jägern und Hirten. Die Bestimmung der Barbarei fällt für Homer zusammen mit der, daß kein systematischer Ackerbau betrieben werde und darum noch keine systematische, über die Zeit disponierende Organisation von Arbeit und Gesellschaft erreicht sei. Er nennt die Kyklopen ‚ungesetzliche Frevler‘, weil sie, und darin liegt etwas wie ein geheimes Schuldbekenntnis der Zivilisation selber, ‚der Macht unsterblicher Götter vertrauend, / Nirgend baun mit Händen, zu Pflanzungen oder zu Feldfrucht; / Sondern ohn‘ Anpflanzer und Ackerer steigt das Gewächs auf, / Weizen sowohl und Gerst‘, als edele Reben, belastet / Mit großtraubigem Wein, und Kronions Regen ernährt ihn.‘ Die Fülle bedarf des Gesetzes nicht, und fast klingt die zivilisatorische Anklage der Anarchie wie eine Denunziation der Fülle: ‚Dort ist weder Gesetz, noch Ratsversammlung des Volkes, / Sondern all‘ umwohnen die Felsenhöhn der Gebirge, / Rings in gewölbeten Grotten; und jeglicher richtet nach Willkür / Weiber und Kinder allein; und niemand achtet des andern.’“
– Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 71f
Das Jagen hat einen festen Bestandteil in unserer modernen Kultur, die Beforstung der mitteleuropäischen Wälder ist nur möglich, wenn Jäger Flora und Fauna im Gleichgewicht halten. Das Trophäensammeln als Teil dieser Kultur wird von Horkheimer und Adorno nicht erwähnt, jedoch liegt der Fokus von Berg und Cleemann auf diesem Thema.
Die Künstler, welche beide ein Architekturstudium absolviert haben, bewegen sich im Spektrum zwischen Natur und Kultur. Moritz Bergs Arbeiten versuchen Naturspuren/-phänomene vorwiegend auf der Leinwand einzufassen. Lennart Cleemanns Arbeiten sind vielfältig, kommunizieren vorwiegend über den Raum mit intellektuellem Humor und Material-/Readymadekombinationen.
Die Schnittmenge der beiden offenbart sich in den Arbeiten für Die Jagd, für welche sie gemeinsam wie Jäger im Kräherwald bei Stuttgart verschiedene Naturabgüsse nahmen. Zwei Abendteurer, die sich mit dem Auto aufmachten, Gips, Beton, Latex und Werkzeuge im Gepäck, um zurückzukehren mit den Trophäen der Jagd. Es ist ein Prozess, der mehr den Eindruck eines Sammelns vermittelt als den des Jagens. Die Pirsch, also das Sichten, Festlegen und Ausführen der Abdrücke bedarf einer Feinfühligkeit und Behutsamkeit wie sie beim Pilze sammeln erforderlich ist. Vielleicht ist es aber auch ein Jagen der Abdrücke selbst, worauf die Künstler anspielen, quasi ein Erstellen eines Kadavers, der dann präzise im (Ausstellungs-)Raum positioniert zum Kulturobjekt, zur Trophäe wird.
Die Arbeiten der Ausstellung sprechen beide Sprachen, die der Sammlung / Lagerung und die der Schaustellung. Die zwei im Raum stehenden Regale weisen diese Bilingualität direkt auf, das eine (mit den Wurzelstümpfen) wirkt wie ein Herbarium oder eine Artensammlung, das andere enthält Gips- und Betonabgüsse, gefaltete Latexabdrücke und Textilien. Sie wirken wie nicht aufgehängt/-stellte Arbeiten, doch stellen die Regale durch ihre vertikale Erscheinung einen Bezug zu den anderen Objekten und dem Raum her.
Durch ihre Vertikalität konfrontieren sie dem Betrachter als ein Gegenüber und kommunizieren mit der dritten im Raum freistehenden Arbeit, welche aus einem vertikal aufgestellten Ast und einem langen Rindenabdruck besteht. Der dicke Ast ist auf den Kopf gestellt und wird durch eine angeschraubte kurze Holzlatte zu einem auf drei Beinen stehenden Wesen, das den Abdruck stützt. Der Abdruck liegt leicht schräg, diagonal in der Ausstellung und lädt in den Raum ein. Auf Grund der vielen Rinden- und Moosrückstände, wirkt er zuerst wie ein Ausschnitt des Waldbodens, auf dem die Arbeiten entstanden. Dann bei näherer Betrachtung und dem Folgen der Richtung der Arbeit in die Vertikale stellt man fest, dass es sich um einen Rindenabdruck handelt.
Anders erscheint jedoch der Abdruck in der Ecke, welcher ebenfalls aufgehängt ist, dieser erscheint wie ein gehäutetes Tier. Das liegt vor allem an der dominierenden Farblichkeit der Gaze und des Latex, aber auch an dem unteren Ende mit seinen zwei ausgestreckten Ecken und den hervorstehenden Mittelstück. Hier denkt man schnell an einen Tierkopf oder -schwanz bei einem ausgelegten Leder, wie man sie auch bei der typischen Kennzeichnung für echtes Leder kennt. Die Ecken erinnern an zwei kurze Beine, die Rinde und das Moos erinnern an Fellflecken.
Das mit Gaze armierte Latex der verschiedenen Abdrücke lässt bei vielen Arbeiten den Eindruck von Haut erwecken, durchaus verweisend auf die barbarische Natur des Titels der Ausstellung und die vollständige Verwendung der Tierkadaver. In der Dusche entsteht dann eine humoristische und groteske Wendung.
Der dort aufgehängte Baumabdruck wirft die Frage auf, warum die Abdrücke nicht vollständig von den Rinden- und Moosstücken gereinigt wurden. Die Intention der Künstler wird klar. Es handelt sich hier nicht um einen Zufall oder gar Faulheit, es ist das bewusste Spiel mit Haut, Natur, Tod und Dreck. Die Abrücke der Äste hängen von der Decke, sie wölben sich nach innen und wirken wie überlange Arme oder Würste. Man kommt nicht darum herum an Schlachthäuser zu denken. Die Dusche wird wie in Alfred Hitchcocks Film Psycho zum Ort des Horrors, auch ohne Duschvorhang und Blut.
Eindeutiger wird dieser Blick auf die Arbeiten bei dem an der Wand hängenden Rautengitter. Hierauf befindet sich ein Abdruck, der durch die dichte Stauchung der Gaze schon fast rosa wirkt. An den Rändern steht Moos von der Rückseite über, aber es ist kaum ersichtlich, ob es sich überhaupt um einen Abdruck handelt, denn das Textil, also die eigentliche Rückseite eines Abdrucks wird zu einem länglichen Knäul. Es enthält ein Loch, vermutlich die Gegenform eines Astes, durch welches ein spitzer Fleischerhaken stößt. Der Knäul wirkt somit wie ein aufgehängter Schinken. Das rechteckige Streckmetall ist Träger, Hintergrund und Rahmen für das Einzelstück. Die formale Nähe zum Fleisch eröffnet eine Reflexion über das Verhältnis von Natur und Kultur: Ist das Abdrucknehmen eine Ausbeutung der Natur? Welche Ähnlichkeiten hat es mit dem Schlachten? Ist es nicht ein wortwörtliches Ausschlachten des Waldes? Bringt man das Moos dabei um? Welche Rolle spielt unsere Gewalt über Flora und Fauna in unserem täglichen Umgang? Welche Rolle der Tod in der Natur?
Viele Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort gibt, stattdessen erlangt man beim Betrachten der Ausstellung ein höheres Verständnis der Komplexität unserer Interaktion mit Natur.
Die beiden forschenden Künstler sind in den Wald gegangen, um Fragen über unsere Existenz zu stellen. In all unserer Komplexität sind sie mit dem Auto und Rollwägen gekommen, um Spuren der Widersprüche zwischen Natur und unserer Zivilisation zu sammeln. Die Materialien geben einen Einblick auf das Gedankenspiel, welches Berg und Cleemann vorführen. Man bedient sich der Gaze, des Betons und der vielseitigen Bewehrungen; mineralische Baustoffe halten die Natur in ihrer Form fest. Die Naturformen treten durch die Abdrücke in Erscheinung und werden somit selbst Natur als Kulturprodukt.
„Es ist eine bereits patriarchale Sippengesellschaft, basierend auf der Unterdrückung der physisch Schwächeren, aber noch nicht organisiert nach dem Maße des festen Eigentums und seiner Hierarchie, und es ist die Unverbundenheit der in der Höhle Hausenden, die den Mangel an objektivem Gesetz und damit den homerischen Vorwurf der wechselseitigen Nichtachtung, des wilden Zustands, eigentlich begründet.“
– Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 72
Die Arbeiten versprühen eine Poesie der Anarchie des Archaischen und drängen zur Schaffung einer alternativen Gesellschaft. Schließlich ist jeder frei dazu, in den Wald zu gehen und Kunst zu machen. Die Welt wird in humorvollen Anekdoten dargelegt, von Anspielungen der Gewalt bis Naturfetisch präsentieren die Künstler eine Bandbreite der zeitgenössischen und vergangenen Kultur.
Dies unterscheidet ihre Arbeiten auch von der Vorstellung Homers. Der Ton, welcher wohlbekannt die Musik macht, ist grundlegend verschieden. Die Anarchie der Künstler ist demokratisch und ein Verweis auf eine vergangene (oder kommende) Welt. Homers Vorstellung vom Waldmenschen ist die eines Barbaren, das Patriarchat hat dort Vorrecht. Beide Uto-/Dystopien treffen sich in der Hinterfragung der gegebenen Gesellschaftsstruktur. Hier ergibt sich die Möglichkeit zu fragen: Wie? Wie gestalten wir eine kommende Gesellschaft? Wie leben wir zusammen? Wie entwerfen und entwickeln wir unsere Arbeiten? Aus welchem Umfeld heraus?
Es ist eine ständige Diskussion, welche sich in Form von verschiedensten Naturabdrücken äußert. Die Konstellationen gehen von Rauminstallationen und Regalsammlungen über Wandreliefe zu Stelen.
Die Ausstellung lädt Betrachtende immer wieder zum genaueren Hinsehen ein. Viele Abdrücke, vor allem die Beton- und Gipsgüsse, erwecken eine Faszination für die Kleinteiligkeit und Schönheit der Natur. Sie sind ansprechend, teilweise sogar harmonisch, wie die Natur selbst. Wie Sonntagsspaziergänger:innen im Wald, die an manch schönem Ort die Natur in seiner Komplexität der Oberflächen erfahren, sind auch die Arbeiten wortwörtlich Abdruck derselben.
Text: Pirmin Wollensak Bildcredits: Ausstellungsansichten: Moritz Berg und Lennart Cleemann, Die Jagd, Künstlerhaus Stuttgart 2022, Fotograf: Kai Knörzer
Biografie MORITZ BERG (*1994) lebt und arbeitet in Stuttgart, Deutschland. Seine künstlerische Praxis basiert auf dem Studium der Wahrnehmung und der ästhetischen Wirkung einer von der Natur geprägten Umgebung. Ausgehend von alltäglichen und zugleich vergänglichen Momenten entwickelt er ein visuelles Vokabular, das die Schnelllebigkeit des Alltags reflektiert und die verborgenen Qualitäten scheinbarer Nichtigkeiten sichtbar macht. Seine Arbeiten loten die Möglichkeiten einer Symbiose zwischen Mensch und Natur durch Abstraktion aus und verhandeln eine Verbindung, in der spezifische Qualitäten zu einem neuen Verständnis verschmelzen.
LENNART CLEEMANN (*1990) studierte Architektur in Hannover, Aarhus und Stuttgart. Vor seinem Studium an der Kunsthochschule Stuttgart absolvierte er ein Praktikum bei Buchner Bründler Architekten in Basel. Diese Zeit prägte seine Denkweise und Arbeitshaltung bezüglich des von ihm so benannten „poetischen Pragmatismus“. In der Kunstklasse Reto Bollers entdeckte er seine Affinität für den direkten Kontakt mit Material und dessen emotionale Potenz. In seiner Arbeit behandelt Cleemann Aspekte der Ein- und Zweisamkeit sowie Themen des sexuellen Begehrens und Konsums. Die Befreiung aus einer gefühlten Hilflosigkeit gegenüber gesellschaftlich und gedanklich festgefahrenen Strukturen ist dabei ein Ziel seiner Arbeit, deren Ausgangspunkt oft rohe, unbehandelte Materialien bilden. Diese werden gerne mit Fundobjekten von der Straße und Baustellen kombiniert und in Kontext miteinander gesetzt.
Sexualität ist eines der zentralsten, vielschichtigsten und zugleich kontroversesten Themen der Kunst. Von mythologischen Erzählungen in barocken Meisterwerken über subtile Anspielungen in Stillleben bis hin zur expliziten Konfrontation in der zeitgenössischen Kunst – die Darstellung von Sexualität ist immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Normen, Machtverhältnissen und individueller Begierden.
Sexualität war lange Zeit codiert, verborgen, nur angedeutet – In den Erzählungen der Kunstgeschichte lassen sich diese Spuren nachvollziehen. Tizians „Zeus und Danae“ oder Berninis „Apoll und Daphne“ zeigen, wie sexuelle Themen in mythologischen Kontexten verarbeitet wurden. Sie bieten, wie die Erzählung der unbefleckten Empfängnis, die ikonografisch besonders in religiösen Darstellungen verankert ist, reiches Material für eine kritische Auseinandersetzung und verweisen auf die Komplexität kultureller Konstruktionen von Körper und Begehren. Diese Komplexität zeigt sich auch in den provokanten Heiligen-Darstellungen des Malers Sebald Beham, die bis heute Fragen aufwerfen: Waren die erotischen, fast pornografischen Bilder aus dem 16. Jahrhundert lediglich auf finanziellen Gewinn ausgerichtet, oder lassen sich darin tiefere Bedeutungsebenen erkennen? 200 Jahre später tauchen in den Werken Fragonards subtile erotische Anspielungen auf, die verborgen hinter der Oberfläche einer formalisierten Ästhetik folgen und sich in bestimmten Motiven wie der “Lesenden” manifestieren. Die Schaukel, die spätestens im 18. Jahrhundert zur versteckten Metapher für Lust und Sex avancierte, bietet ein weiteres Beispiel dafür: die scheinbar unschuldige Darstellung schaukelnder Paare entlarvt geschlechtsspezifische Dynamiken, die bis in die Werke von Kiki Kogelnik, Carolee Schneemann und Monica Bonvicini nachwirken.
Seit den 1960er Jahren wurde die Auseinandersetzung mit Sexualität in der Kunst zunehmend radikaler. Künstler:innen wie Sarah Lucas oder Nan Goldin hinterfragen in ihren Werken unverhüllt die Darstellung von Körper und Geschlecht während der New Yorker Künstler und Aktivist David Wojnarowicz die AIDS-Epidemie der 1980er Jahre in seinen Sex Series (1989) auf subtile Weise verarbeitet und dabei nicht nur seine eigene Krankheit, sondern auch deren politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen thematisiert. Seine collagenartigen Fotoarbeiten, die in Negativbildern erscheinen, machen sichtbar, wie eng Fragen von Sexualität, Körper und politischer Realität miteinander verwoben sind.
Aktuelle künstlerische Positionen werfen unter anderem einen neuen Blick auf Männlichkeit und Intimität, wie Richard Culver mit der Neuverhandlung der sexuell-provokativen Ära der Young British Artists oder setzen sich mit digitalen und postfeministischen Perspektiven zu Sexualität auseinander. Die schwedische Netzkünstlerin Arvida Byström etwa polarisiert mit einer Kunst, die zwischen digitaler Kultur, girly aesthetic und Post-Softporno oszilliert. Sie navigiert sich selbstbewusst durch die Bilderlandschaft des Web 2.0 und nutzt deren Bildwelten, um Fragen zu Sex und Fetisch, Körperbildern und Schönheitsidealen des 21. Jahrhunderts zu kontextualisieren, in welchem neue hybride Formen Kategorien von real und virtuell, Körper und Abbild auflösen.
Denn wer oder was definiert Sex eigentlich? Und welche Rolle spielt Kunst in der Auseinandersetzung mit Sex und Machtverhältnissen, mit Missbrauch und Übergriffen? Die Sichtbarmachung sexualisierter Gewalt im Kunstfeld zeigt, wie tief verwurzelte patriarchale Strukturen den Kunstbetrieb prägen. Werke von Andrea Fraser, Jenny Holzer und den Guerrilla Girls thematisieren sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch und werfen die Frage auf, wie feministisch-aktivistische Kunst bestehende Strukturen herausfordern kann. All das zeigt: Sex ist in der Kunst nicht nur ein Sujet, sondern eine gesellschaftspolitische Frage, der sich frame[less] in Issue #8 widmet. Wir präsentieren theoretische und kritische Annäherungen ebenso wie künstlerische, performative und interdisziplinäre Arbeiten, die neue Perspektiven auf Sexualität, Gender und Körperlichkeit eröffnen.
Viele Klassiker des Kanons autofiktionalen Comic-Machens beschäftigen sich mit Sex und der Frage: Wie lässt sich über Sex autobiografisch arbeiten, wenn das bedeutet, als Künstler*in nicht nur intime Details über sich selbst preiszugeben, sondern eventuell auch über die Personen, mit denen man Sex hat? Helen interessiert sich für die Verflechtungen von Consent, für Fragen zu (Ab-)Bild und Repräsentation von Männern und Frauen und Anderen, für die Konstruktion von „Wahrheiten“ im autobiografischen Erzählen, sowie für Deutungshoheit über intime Situationen und Geschichten.
Bibliografie
Jacques Henric: Die Legende der Catherine M., München 2001. Chris Kraus: I Love Dick, London 2016. ██████████████████████████ Catherine Millet: Das sexuelle Leben der Catherine M., München 2003. Carta Monir: Napkin, URL: https://cartamonir.itch.io/napkin. (27.03.2025) Helen Stefanie: xxx, Kassel 2015. vaguesteph: Thoughts on Fantasy, URL: https://vaguesteph.tumblr.com/post/157028222602 (27.03.2025). vaguesteph: Ok, Listen, URL: https://vaguesteph.tumblr.com/post/180294137883/my-painting-professor-also-claims-that-we-are-in (27.03.2025). vaguesteph: There Is Always a You in My Comics, URL: https://vaguesteph.tumblr.com/post/183363377563/29-01-18-last-weeks-comic-from-the-newsletter (27.03.2025). vaguesteph: Embarrassment as Theme, URL: https://vaguesteph.tumblr.com/post/190126254584/embarrassment-as-theme-film-and-the-masquerade (27.03.2025).
P.S.: Danke an Carta Monir für die Fotoaufnahmen ihres Zines Napkin!
Biografie
HELEN STEFANIE ist Comic*Künstler*in und verortet sich in und zwischen den Arbeitsfeldern Comic, digitale Visualitäten und Theorie. Das Interesse an Autofiktion, Poesie-Comics, Memes, Cyborgs und trans und queeren Ästhetiken und Bildpolitiken setzt Helen in gedruckten Comic-Zines, digitalen Comics und Lectureperformances um. Seit 2015 veröffentlicht Helen Stefanie Comics auf dem experimentellen Comicblog vaguesteph. Die Figur „vaguesteph“ spricht in diesen Comics als Parodie der Selbstdarstellung von autobiografischen Comiczeichner*innen in autobiografischen Comics, immer taumelnd zwischen Wahrheit, Lüge und dramatischer Übertreibung. Helen Stefanie lebt in Leipzig und organisiert im SQUASH Comics e.V. das Snail Eye Comicfestival.
Wer hat entschieden, was als Scham in unsere Körper eingeschrieben wird? The Organ of Lust widmet sich der Geschichte, Anatomie und der politischen Bedeutung der Klitoris. In Film, Text und Lithografie legt die künstlerische Arbeit von Hannah Mevis Schichten von Körperlichkeit, medizinischen Narrativen und historischen Tabus frei. Durch die Sichtbarmachung lädt sie zum Zelebrieren des Organs ein und versteht darin sowohl den Widerstand gegen patriarchales Sozialverhalten als auch die Emanzipation des eigenen Körpers.
Wurzel der Lust
Vor langer, langer Zeit, irgendwo im verborgenen Fleisch einiger Säugetiere, entstand ein Organ, das sich genau eine Sache zum Ziel setzte. Bevor ich jedoch weiter auf die Wirkungsabsichten dieses Organs eingehe, möchte ich zunächst von seiner Geschichte berichten:
Das Organ wurde von denjenigen erkannt, die es in ihrem Körper trugen. Ebenso allerdings auch von denen, in deren Körper das Organ nicht zu Hause war. Und letztere waren es, die damit begannen, Aussagen über das ideale Erscheinungsbild und den Gebrauch des Organs zu formulieren. Erste sprachliche Debatten über die „Ab-/Normalität“ des Organs in der westlichen Welt tauchten im antiken Ägypten und Griechenland auf. Zu der Zeit wurden die Meinungen vertreten, dass:
der sichtbare Teil des Organs unter „seinem Schleier“ versteckt bleiben sollte,
alles, was zu groß und somit nach damaliger Logik nicht „normal“ war, sollte abgeschnitten werden,
es sollte ihm vor allem nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden, da ansonsten die Organträger*innen dazu tendieren würden, ihren zugeordneten Platz in der Gesellschaft aus den Augen zu verlieren.
Das Organ ist ein äußerst empfindliches und kommunikationsstarkes Körperteil.
Von der Medizin wurde es damals noch nicht benannt. Seine Kraft wurde allerdings mit vielerlei abwertenden Spitznamen versehen und sein „abscheuliches“ Potenzial durch die Kunst des Theaters in der Öffentlichkeit debattiert.
Ab dem 10. Jahrhundert tauchten Übersetzungen aus dem arabischen Raum auf, die die Massage des Organs empfohlen. Auch war es bis ins 12. Jahrhundert Gang und Gäbe Sheela-na-Gigs-Figuren1 und Anasyrma-Gesten2 in fast ganz Europa an Kathedralen, Schlössern und anderen Gebäuden abzubilden.
Im Mittelalter wiederum wurde das Aussehen des Organs dazu genutzt, um festzustellen, ob der Teufel in einen Körper gefahren sei und Besitz davon ergriffen hatte. Durch öffentliche Begutachtungen wurden Folter und Verbrennungen der Organbesitzer*innen legitimiert.
Mit der Zeit der Renaissance, der Wiedergeburt der klassischen Antike, kam es zur weiteren Differenzierung zwischen normal und abnormal. Für das Organ bedeutete dies einerseits, dass sein Nutzen in positiveres Licht gerückt wurde, vor allem, wenn es um die Annahme des Effekts auf die Fortpflanzung ging. Andererseits wurde die „Abnormalität“ obsessiv durch Verstümmelungen behandelt, weil das äußere Erscheinungsbild nach damaligen Glaube die Organbesitzer*innen zur falschen Begierde verführen würde. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass Eigentümer*innen des Organs mit Körpern intim werden würden, die ebenfalls solch ein Organ besaßen, anstatt sich für den „vorgesehenen“ körperlichen Gegenpart zu entscheiden.
Im 17. Jahrhundert erhielt das Organ endlich eine medizinische Bezeichnung. Ob sein Name vom lateinischen kleien = umhüllen/umschließen oder kleitys = kleiner Hügel abstammt, ist jedoch nicht sicher belegt. Auf jeden Fall tauchte das Organ zum ersten Mal 1615 mit dem (neuen) Namen Kleitoris in der Microcosmographia3 auf und wurde seitdem zumindest im medizinischen Kontext auch so benannt.
Was sich nicht eindeutig feststellen lässt, ist der Zeitpunkt, an dem die tatsächliche Größe des Organs belegt wurde. Nach heutigem Stand stammen erste anatomische Zeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Seine „Bergspitze“ wird mehr oder weniger von außen sichtbar, während sich etwa 90 % des Organs flügelartig durch das umliegende Gewebe zieht. Die organische Struktur erinnert an Wurzeln / Blätterdächer / Wolken / Romanesco.
Ihre Aktivität kommuniziert die Klitoris über das Rückenmark ins Gehirn, wo sie als Emotion erkannt wird. Ebenso kann das Gehirn die Klitoris ansteuern. In aktivem Zustand schwillt sie an, da mehr Blut durch sie fließt. Dies kann dazu führen, dass sie errötet. Jedoch, nur das Einverständnis der klitorisbesitzenden Person kann zum Festakt führen. Denn zur Krönung seiner Aktivität strahlt das Organ in den Körper aus, erreicht jede Faser und sorgt durch seine Existenz für das Pausieren von körperlicher Effizienz.
Nachdem die Größe des Organs festgestellt wurde, könnte mensch denken-glauben-hoffen, dass ihm mehr Aufmerksamkeit in Bezug auf seine Wirkungskraft geschenkt werden würde. Doch weit gefehlt. Etwa zeitgleich mit ihrer anatomischen Bestandsaufnahme kam heraus, dass die Stimulation der Klitoris nicht zur Empfängnis nötig und somit für die „Reproduktion“ von keinerlei Interesse war. Die Wortwahl mag hier irritierend erscheinen. Allerdings sind wir mittlerweile in einer Zeit angekommen, in der der Staat ein gesteigertes Interesse an Bevölkerungswachstum hatte, um den Erhalt von Arbeitskräften4zu sichern. Dies ging mit einer Art von Institutionalisierung des Konzepts der Kernfamilie und dem Verfestigen von Hierarchien einher5. Die Aufgaben von Körpern mit Klitoris und Gebärmutter waren: Kinder kriegen und die häusliche Versorgung der Familienmitglieder zu sichern. Die Emotion der Lust wurde als Störfaktor in diesem System diagnostiziert.
Das, was vorher von der Kirche als Todsünde verteufelt wurde, wurde nun durch „Fortschritte“ in der Biologie und Physiologie mit zusätzlicher Scham behaftet. 1886 wurde in dem ersten Standardwerk der frühen Sexualwissenschaft mit dem Titel Psychopathia Sexualis veröffentlicht, dass der Akt der Masturbation als Geisteskrankheit zu bewerten sei. Weiterhin wurden Klitoridektomien6 als gängige Heilmittel für Hysterie, Rückenschmerzen, Epilepsie, Unfruchtbarkeit, Paralyse, Erblindung, Wahnsinn und vieles mehr durchgeführt.
Anfang des 20. Jahrhunderts untermauerte Sigmund Freud mit den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die Unterscheidung zwischen klitoralen (= unreif / selbst herbeigeführt) und vaginalen (= voll entwickelt / heterosexueller Geschlechterverkehr) Orgasmen. Was die Notwendigkeit des „passenden“ Geschlechtsgegenparts erneut in gesellschaftlichen Ansichten verfestigen sollte.
Mit den Feminismus-Bewegungen der 70er und 80er Jahre im 20. Jahrhundert kam es langsam zur Rückeroberung des Körpers und den Forderungen nach Konsens und Selbstbestimmung. Trotzdem wird die Klitoris, die mit über 10.000 Nervenenden7 unglaubliches sensuelles Potenzial besitzt, nach wie vor auf den von außen sichtbaren Teil reduziert. Ihr anatomisches Aussehen gehört nicht zum Allgemeinwissen. 2009 fanden medizinische Untersuchungen statt, die mithilfe von 3D-Sonographie die Wirkungsabsichten der Klitoris wissenschaftlich belegen sollten. Dabei kam heraus:
Im aktiven Zustand schwillt sie an und drückt auf die Vaginalwand, was die Diskussion über klitorale oder vaginale Orgasmen überfällig werden lässt, da alle Formen des Höhepunkts mit diesem Organ zusammenhängen.
Und endlich die bereits zu Beginn angekündigte Wirkungsabsicht der Klitoris: sie dient als einziges menschliches Organ keinem anderen Zweck als dem der Lust.
Nun kann es sein, dass mensch sich fragt, was das alles noch mit Kunst zu tun hat. Dazu möchte ich sagen, dass es für mich als Künstlerin, die sich mit dem Körper auseinandersetzt, unmöglich ist, bei einer oberflächlichen/äußeren Betrachtung zu bleiben. Durch mein Aufwachsen in kleinen und großen sozialen Gefügen8 wurden gesellschaftliche Ansichten und „Verhaltensnormen“ auch in meinem Körper verankert. Stereotypen, binäre Systeme, Diskriminierung, Unterdrückung, Scham, dem Stellenwert von Genuss und dem Verlangen danach in meinem eigenen Körper zu Hause zu sein, werden durch eine solche Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart greifbarer.
Zum Abschluss möchte ich dir liebe*r Leser*in einen Auszug aus einem fiktiven erotischen Dialogue Between A Married Lady And A Maid (= Dialog zwischen einer verheirateten Dame und einem Dienstmädchen) aus dem Jahr 1740 mitgeben, der von Nicholas Chorier geschrieben wurde: „… gegen den oberen Teil der Vulva ist ein Ding, das sie Klitoris nennen, das ein wenig wie der Penis eines Mannes ist, denn es schwillt an und steht wie seiner; und wenn sie gerieben wird, wird sie mit übermäßigem Vergnügen eine Flüssigkeit ausstoßen, die, wenn sie weggeht, uns in Trance versetzt, als ob wir sterben würden, wobei alle unsere Sinne verloren gehen und alles an dieser einen Stelle zusammengefasst wird, und unsere Augen geschlossen sind, unser Herz an einer Körperstelle schmachtet, unsere Glieder gestreckt sind, und mit einem Wort, es folgt eine Auflösung unserer ganzen Person und ein Verschmelzen in solchunaussprechlichen Freuden, die niemand außer denen, die sie fühlen können, ausdrücken oder verstehen kann…“
Dank an: Chloé Op de Beeck, Kate Bohunnis, Anaïs Chabeur, Teresa Cos, Noé Duboutay, Eva Gräbeldinger, Sina Hensel, Annemarie Wadlow.
Anmerkung: Diese Abhandlung entstand im Zusammenhang mit der lithografischen Nachzeichnung der anatomischen Abbildungen der Klitoris aus dem Buch Die männlichen und weiblichen Wollust-Organe des Menschen und einiger Säugetiere von Dr. G. L. Kobelt, aus dem Jahr 1844.
Der Erzählfokus liegt auf dem Blickwinkel der westeuropäischen Welt. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil, Themen wie Klitorishypertrophie, Geschichte der Hysterie, Intersexualität, Sexarbeit, Care-Work, die Geschichte der Hebammenkunst und deren verdrängter Einfluss auf soziales Zusammenleben, Reproduktion, Intimchirurgie, Manifestierung der binären Kategorisierung von Körpern, Legitimation der Rassifizierung durch Fetischisierung von Geschlechtsorganen, Einflüsse der Psychoanalyse von Freud, die Emotionen Lust und Scham oder auch die Feminismus-Bewegungen ab den 1970er Jahren konnten nur oberflächlich betrachtet werden und bedürfen weiterer Aufmerksamkeit an anderer Stelle.
Quellen / Inspiration:
Kate Lister: A Curious History of Sex – Looking for the Boy in the Boat von
Silvia Federici: Caliban und die Hexe – Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation & Jenseits unserer Haut – Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus
Thomas Laqueur: Making sex – Body and Gender from The Greeks to Freud
Emily Nagoski: Come as you are von
Netflix Miniserie: The Principles of Pleasure
Biografie
HANNAH MEVIS (*1989) schloss im Jahr 2017 ihr Studium der Freien Kunst mit dem Schwerpunkt Bildhauerei und Public Art an der HBK Saar mit Diplom ab. Von 2018 bis 2019 war sie Stipendiatin am Postgraduierten Programm Advanced Studies and Practice-based Research in Visual Arts am HISK in Gent, Belgien. Seit 2021 widmet sie sich ihrer künstlerischen Forschung zum Thema “Erschöpfung”, für die sie zwischen 2021 und 2023 im Rahmen der Graduiertenförderung durch die Hochschulen des Saarlandes gefördert wurde. Zusätzlich ist sie seit 2015 als Dozentin und Kunstvermittlerin tätig und seit 2023 als Mediatorin für Kunst im Bürger:innenauftrag im Saarland tätig.
In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit dem menschlichen Körper und erforscht seine Möglichkeiten, Grenzen und verkörperte Geschichte durch sinnliche Neugier und Fürsorge. Indem sie sich zwischen den Disziplinen bewegt und Multimaterialität miteinbezieht, möchte sie sowohl sich selbst als auch dem Publikum körperliche Erfahrungen ermöglichen. Ob durch Installationen, die zu körperlicher Bewegung einladen, Lecture Performances, die zum Nachdenken anregen, oder gemeinsames Essen und Storytelling – wichtig ist es ihr Räume zu schaffen, in denen Einzelne oder Gruppen neue/andere Perspektiven entdecken und durch den Körper erfahren können. Ihre Arbeit verbindet Sinnlichkeit und Kollektivität mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und zielt auf ästhetische Wirkung und die Sichtbarmachung unterrepräsentierter Erzählungen ab.
Two-Backed Beast ist ein mentales Modell, das Sex als übergeordnete Struktur untersucht. Dabei wird Sex ontologisch als ein Ort verstanden, an dem ein fundamentaler Mangel in symbolischen Strukturen wie Sprache und Kultur als konstitutive Essenz hervorgebracht wird. Ein Versuch, Objekte zu erschaffen, die an kritischen Kommoditäten bedient, die historischen sowie kunsthistorischen Konnotationen des kollektiven Gedächtnisses auf ein Maximum reduzieren und durch präzise Konzeption quasi ikonografisch gelesen werden können. Das Kunstwerk soll kein statisches Objekt sein, sondern eine Bewegung zwischen Idee, Materie und Kontext darstellen.
erased self portrait by a lover, after Rodin, 2025
Inspiriert von der Notwendigkeit, die Roland Barthes im Vorwort zu Fragmente einer Sprache der Liebe9 artikuliert, versucht das mentale Modell der Extra-Potenzialität, sich im Two-Backed Beast auf diesen Diskurs der Liebe zu fundieren: „Wenn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der, wenn auch winzige, Raum einer Bejahung zu sein.“ Der Einsame und Unzeitgemäße – doch bleibt er vielleicht gerade deshalb ein Ort der radikalsten aller Bejahungen.
Model II: wood, hand painted in carbon pigment fothcoming in brass, 2024
Two-Backed Beast ist ein konzeptuelles Modell, das der künstlerischen Praxis übergeordnet ist und nicht auf die bloße Produktion von Artefakten reduziert wird, sondern eine darüber hinausgehende Dimension zu eröffnen versucht – die desDenkens als primäre Praxis. Diese lässt Objekte nur aus einer absoluten Notwendigkeit entstehen: jener, der Praxis ein Kontinuum zu gewährleisten. Als fortwährender Akt des Scheiterns und der Neukonzeption. In ihrer Materialität – indem die Objekte sich kritischer Kommoditäten bedienen und historische sowie kunsthistorische, komplexe Konnotationen des kollektiven Gedächtnisses auf ein Maximum reduzieren – fungieren sie zugleich als Ausgangspunkt einer Objekt–Subjekt-Beziehung, die einen diskursiven Raum erbringt. In permanenter Transformation und daher auch in Selbstnegation begriffen, werden sie wie Sprache gebraucht (wie Sprache in der Philosophie oder der Poesie): als Artikulation, nicht Ausdruck. Sie werden wie Ikonen geschrieben und nicht gemalt, aber anstatt einer sakralen erzeugen sie dadurch eine profane Kraft.
Liebe und Sex werden hier als ontologisch grundlegende, potentere, erkenntnistheoretische Fundamente verstanden – als Orte, an denen ein fundamentaler Mangel durch Lücken in symbolischen Strukturen wie Sprache und Kultur aufgedeckt wird. Eine Differenz, die konstitutiv für das Subjektsein ist. Es ist das Unsichtbare, nicht als Sichtbares, sondern als die Existenz dessen, was nicht vorhanden ist. Das Heterogene im starken Sinne – das Treffen mit dem radikal Anderen.10
Während das Begehren bei Lacan durch einen strukturellen Mangel konstituiert wird – einen in das Subjekt eingeschriebenen, durch symbolische Ordnung erzeugten Verlust –, behauptet Two-Backed Beast, dass das Begehren nicht im Moment des Mangels, sondern im Moment der Extra-Potenzialität entsteht: einer anderen geistigen Wirklichkeit, die im Materiellen nicht zu erfüllen ist. Die sich aufgrund ihrer Unübersetzbarkeit dem bloßen Ausdruck als Idee entzieht. Sobald sie dennoch versucht, sich aus Not zu artikulieren, verfällt sie in ein Paradox, mit einem Mangel oder einem Überschuss, das sich nur in der Wiederholung seiner Bewegung als Unsichtbares – das was es ist – manifestieren kann.
Biografie
PAULA MATHEIS ist bildende Künstlerin und Theoretikerin. Obwohl ihr akademischer Hintergrund in der Kunst liegt und sie ihr Studium an der UdK Berlin im Sommer abschließen wird, hat sich ihre Praxis zunehmend in eine theoretische Richtung verlagert. In diesem Zusammenhang begann sie in ihrem letzten Studienjahr am Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik zu arbeiten. Ihr Fokus liegt auf den Schnittstellen von Repräsentation, Wahrnehmung und Denken, wobei sie einen offenen, interdisziplinären Ansatz zwischen Kunst, Philosophie und Theorie verfolgt. Seit etwa zwei Jahren entwickelt sie ihre Arbeit auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit philosophischen, psychoanalytischen und semiotischen Texten aus den Bereichen Ontologie, Ideologiekritik und Literaturtheorie. Dabei entsteht ein mentales Modell, das als übergeordnete Struktur für ihre Arbeiten, Schriften und Installationen dient.
Der in seinem Aufbau an der Ästhetik des Codings von Websites (html, css) und videospieltypischen Erzählstrukturen orientierte Beitrag erforscht die Möglichkeiten und Grenzen von Liebe jenseits wechselseitiger Subjekt-Subjekt-Beziehungen. Ausgehend von zwei Figuren, girlygirlXX und the investigator, beschäftigt sich der Text damit, dass Liebe mehr Handlung als überwältigende Naturgewalt ist und Objekte mehr sind als ihr Zweck. So hinterfragt die Autor*in tradierte Liebeserzählungen und stellt ihnen transhumanen Maschinensex gegenüber. Im Zentrum steht die Frage, wie fiktionale und reale Objekte zum Gegenstand romantischer Zuneigung werden können. Dabei wird Objektophilie als eigenständige Form von Beziehungsdynamik verhandelt, die emotionale Bindung jenseits von Gegenseitigkeit und Zweckgebundenheit sichtbar macht.
TUTORIAL
I wanna tell a story about girlygirlXX leaving their purpose behind. Merging, mutilating, evolving, maybe. Disappearing from the spectator’s eye, only to be seen by the investigator. Because the investigator steals and oversteps to find truth, if there are things hidden from the investigator the investigator failed and must die. 1) (I) Investigate. 2) (I) jump. 3) (I) run around. 4) (I) read diaries. 5) (I) ask burning questions. 6) (I) notice everything
(I) Look around his shady ass room. (I) investigate a suspicious notebook. He says girlygirlXX made it, during their time together. The first page says: I, girlygirlXX, the girltoy, breathing, high voice, 3 holes, got shipped here. By class=„mytruehumansoul,mycenterthatwillneverbeconsumable,thatbelongstomealone“ alt=„the center“. I got shipped here to collect fluids in the tubes that are connected to the holes. They will end up in the sacks, connected to the tubes, womb, stomach, never to be extracted. I got shipped here to contain him, digest him, ascend him.
on the last page of the notebook it says: we {class=„mytruehumansoul,mycenterthatwillneverbeconsumable,thatbelongstomealone“, class=„the_main_stream“} need to rethink objectophilia. It is not niche anymore, since I girlygirlXX, the best human, connect to it emotionally. We need to redefine it as mainstream. As cute. As love, equal to the love between 2 humans. It’s feminist. It’s transhuman. (But also nice for the cishumans and the neo-luddites. You can do this with dicks in pie, vulvas on pillows, a body in a tiny box, forced into a hug, feeling warmth within and coldness from the rigid unmoving walls. You can build the box out, to stretch you, to expand and shrink, making you breathe in its rhythm. You can make it velvet or iron).
(I) close the notebook. For now. (I) come back to it later. Around the room there are piles of unwashed clothing, a bed with blue sheets, a desk with a gamingsetup, a lamp, posters on the walls, a little kitchen with unwashed dishes in the sink, a sexswing, a chair-like-thing for weirdly bended bodies and little metal rings everywhere. It is a dungeon x studio apartment. (I) feel the vibe. It’s uncomfortable. There’s an aura of carelessness that doesn’t mix well with sadism. If these objects could talk, they would scream. They would tell tales of unwashed dick swinging around. They would still yearn for the pussies of a dozen girls, that won’t come back here, because they outgrew shady man. But objects can’t talk or feel anything, that’s the whole point.
(I) ask shady man about girlygirlXX and pussy and love. He says he will only talk with his fingers inside, so (I) plug into shady man, to talk. (I) ask: 1) Do you live here? 2) How does it feel living here? 3) How did you meet girlygirlXX
Shady man says: Yes, I have lived here for 10 years. I can’t complain – I have everything I need. We met on a forum about petplay.
1) So, you weren’t necessarily interested in meeting a human? 2) Did you expect to meet a human, when you met up with them for the first time? 3) What are the things you need?
Shady man says: you ask too many questions and starts wriggling inside. He does not understand he is plugged into a serious investigator. He does not understand what the task at hand is. The task of the investigator is to ask questions, it is the job, it is not a silly thing. Why is it so hard to make people understand, that trying to understand things is not an annoying trait. Maybe it is. (I) let him wriggle. Just like girlygirlXX, (I) let him in. The true connection is not to him, but to them. Discovery: some rooms are impossible to enter as a full human person.
1) (I) unplug, (I) leave. There is nothing more to see here 2) (I) focus on them. (I) imagine their pussy on these objects around. (I) try to focus, (I) try to really feel them in the room right now. Everything here vibrates with memories. (I) make them vibrate on clit. (I) come to the fluids that are still in the chair-like-thing, the sheets, the wrinkles on his fingertips. (I) come to the echoes of moans. (I) wonder, if girlygirlXX did that too, or if they were like – in the moment. Because they are not an investigator.
ACT 2: HOME
On the whole way home (I) think of bed. Safe bed, bed that has nothing to do with girlygirlXX, actually with no one for that matter. bed, that only holds {/pussy} fluids and only {/stranger} memories. id=„home bed“. (I) think, how easy it is to mess things up with memories. Sometimes, it is good to keep them contained. (I) open the notebook again.
On the second page of the notebook it says: I fucked Anton
(I) hate, that shady man gets a real human name, while everyone in class=„mytruehumansoul,mycenterthatwillneverbeconsumable,thatbelongstomealone“ does not. (I) think about names, that aren’t functions {chair} {/sexswing}. Can sexswing be more than {sex, swing}, of course. But what will people expect? Exactly. Stupid name-giver, forcing expectations onto sexswing. Mean mean bad intention inventor. Mean class=„mytruehumansoul,mycenterthatwillneverbeconsumable,thatbelongstomealone“
4 times today. I don’t know what else to do with him so every time there is a long pause I just end up filling it with my tongue or my fingers. Time flows through me. At the end of the day, I leave. I think I will do this for a few more days, because it feels good to be his connection to time. To be his clock. To give rhythm to this disoriented boy and his fleeting days.
(I) close notebook.
(I) sit, and stare. (I) stop working on it. (I) try to relax and come home. This is id=„home“, the place, that does not need to be investigated. where being in the moment is possible. because no one else is in the moment. So, the moment cannot be about anyone else. So, the mental space, that is always occupied by investigation, is free and can fill up with {/others}, {/investigation}.
(I) make some tea. The hands are shaky. If this was a place for investigation one might assume there are feelings here that are not being adressed. But this is id=„home“. Tea spills over. Cup helps cry, when crying is not possible. Towel helps console.
(I) lie in id=„home bed“, warmed by tea, held from all sides by fabric and feathers and foam. (I) enjoy being held by the softest of things on this earth. (I) enjoy not having to hold anything in return. What a wonder that they are here with body, when they used to be chicken, field, thread.
(I) turn on phone. (I) watch Damon Salvatore edits all night. (I) enjoy watching him, feeling the love and excitement flush the whole body, make it radiate out, trapped under covers, encasing in love-bubble. (I) enjoy not being watched back. (I) scrunch up the body in the weirdest way. No need to worry about how it looks. No one is looking. The body loves limitlessly, undisturbed, this love is for here and now, sings the body to sleep with wonder and hopefuls.
In the notebook, near the end, it says: I don’t know what happened, but I got my own space. I used to only exist in the spaces of others, shapeshifting in my shipping-box to match whatever they needed. Usually, a sexdoll though. Maybe enough fluids have been collected, or I did another unknown job well enough. Maybe I made enough people happy. Whatever it was, when I stepped out of Antons apartment today there was a space for me to go and it was empty, so I assume it is mine. I don’t know what to do with it, but I am hopeful I will find out.
<a href=„google.mapshzrz“>castle of girlygirlXX</a> is locked. It is their only private space, sacred. There is no consensual step inside. The passcode is written in the notebook, that was stolen to be investigated. It is <a href=„memory134.mov“>passcode</a>. A scene of girlygirlXX getting fucked by a dildo, while a shady figure watches from the corner, plays. Then the door opens. (I) step inside.
(I) enter big hall. There are 3 doors. „The room that took months to build“, „the room that took days to build“ and „the final stage“.
1) (I) choose door one. „The room that took months to build“ is filled with words. It looks like a 3-dimensional diary. (I) Investigate further. There are seemingly endless lists and some sketches. List:Like: {velvet, metal,}{/wood}{glass, latex, rubber, water}{/scratching, /biting, /mananimals}{actual animals, feeling like an animal, making beast sounds}{/being heard, /being seen, /being touched by humans}, {waves, the ocean, being moved by something bigger than myself} List:Things bigger than me: {the ocean, most rooms, a forest, a table, MRI machine, car, songs}, {/any human} In the notebook it says: by figuring out what I like and dislike I am becoming useless. I am becoming something that is not useful anymore. Is this a dying house? Where dolls come to die? Is the death of a doll gaining consciousness? List:Like: {/thinking, /questioning things, /being useless, /empty space, /my own mind}, {feeling that there is a floor that is supporting me, the feeling when I got here} In the notebook it says: in every box I was shipped in I was hibernating in a fluid of pure trust in the process. I was calm, in a moment of becoming. My mind hurts and I feel like this room is drowning me. I need to leave here; I can’t do this. Sketch: Big hands encasing a ribcage. Thumbs placed below breasts, the other fingers are touching behind their back. Figure is held up by the hands, floating. In the notebook it says: I only picture un-human bodies when thinking about this. I imagine being carried by a giant from this movie I saw next-door. On his back it would feel like hiking through mountains, I would feel the grass beneath my feet and see the sun on the horizon, I could stay there for days and feel utterly alone (like), but if he took me in his hand I would be reminded, I am carried through the world through the vehicle that is him, he has muscles that move below me, agency. List:Like:{being reshaped, living without noticing much, focusing on feelings}, {/focusing on thoughts}, {spirituality, believing in something big and strong, ddlg but like, cosmic}, {/stories}, {worlds, the fact I can imagine how every surface would feel on my tongue, fur, mesh, rope, tightness, vastness}, {/cooking, /cleaning, /going for a walk because body wants fresh air and leg movement although my garden is boring and there is no life there}, {my cinema} In the notebook it says: Ever since I built a cinema I am a whole new person. Transforming inside my body. This room is getting easier to fill, because I know more things now. I can imagine everything. I can imagine how every single thing feels and sometimes I even feel them, like actually. I don’t really get the stories or care for them much, but I love seeing the people experience and blush or cry or get shot. I imagine cold steel entering me, making a fourth hole, that I can feel my heartbeat in and apparently everything gets a little whiter and quieter too. The things are not my memories anymore, they are overwritten by new pictures of things. I imagine hands being wolf-hands and vampire hands, that have fur or are porcelain cold, that are hands only in the sense of grabbing, holding, pushing motion, but also are stuffed animal or vase or dildo. Just like my hands were never really… hands… around other people. I can imagine living on top of a giant. I can imagine all the lives. I can imagine building a life together with everything around me, since I’ve fallen in love a little bit, with the carpet and the drapes, while laying on them and playing with them and watching pictures. Silently committing to love each other. I watched the beauty and the beast recently and this is it. This is it. we {class=„mytruehumansoul,mycenterthatwillneverbeconsumable,thatbelongstomealone“, class=„the_main_stream“} need to rethink objectophilia. It is not niche anymore, since I girlygirlXX, the best human, connect to it emotionally. We need to redefine it as mainstream. As cute. As love, equal to the love between 2 humans. It’s feminist. It’s transhuman. (But also nice for the cishumans and the neo-luddites. You can do this with dicks in pie, vulvas on pillows, a body in a tiny box, forced into a hug, feeling warmth within and coldness from the rigid unmoving walls. You can build the box out, to stretch you, to expand and shrink, making you breathe in it’s rhythm. You can make it velvet or iron). The notebook ends. Sketch: tentacle like, something inside, holding the body in place, it’s at an angle. Other tentacle-like objects brushing through their hair. List:Want: {something inside and outside that holds me, fluids flowing through me, nourishing me, something stable and eternal, something that feels unforgiving in the way it handles my body, yet I feel the love I have built into it, something that could crush me but doesn’t} Sketch: a body on the strange chair, legs and hips up, head down. List:Need: {constant movement, so body doesn’t die, cramp, fill up with blood}, {/mental stimuli, /language, /solid foods}, {nourishment, orgasms every now and then, feelings of hug, blanket, body function surveillance system so I don’t accidentally die}
2) (I) choose door two. „The room that took days to build“ is empty, except for a big projector. All the walls are covered in white paint, the windows covered by drapes. It is a cinema. The projector is connected to YouTube and free (illegal) streaming platforms for movies. The ones that play porn adds and look like they will crash your computer forever. The room has carpet. Stains and indentations and places, where it gets thinner. Traces of love
3) (I) choose door three. The final stage. In all the years of investigating knowledge about final stages has been gained. Usually there is another password, protecting the most sacred of places. But here, there isn’t. girlygirlXX was so sure nobody would ever enter the castle, that they didn’t protect themselves in here. The door swings wide open. (I) investigate the final stage.
It is the biggest room in the house. The windows are open, there’s a breeze. Night and day flow through. Entangled in a huge network of cells and cables, plugged into this artificial hostorganism, humming, vibrating, there is a body. Hacked into alt=„the centre“ for energy and tools, leeching, glitching in and out. Looking at it the investigator loses neutrality. It is impossible to talk about the final stage from an outside perspective. There is no outside perspective. The final stage has been entered. There is that sound, that all things make, when they’re big enough, swarms and waves and rain, the hard kind, womb sounds, something earth shattering all around, but the earth doesn’t shatter. Because the earth, too, is bigger than us. girlygirlXXs body is wet and has wounds and gets thrown around. washing machine, deep sea. Bleeding a little. Eyes closed. Something pressing down hard on their ribcage. Hair flowing wild and wet like medusa snakes, uneasy. Pillows around inflating deflating, giving softness to varying parts of the body, sometimes for longer probably. It is unclear when this will loop, how long one might need to stare until one had seen everything. It is the job of the investigator to see everything. (I) get wet. (I) fall a little. (I) feel, that there is a body connected to this mind, one, that will suffer here, because the room is not built for it. It is not in the center, the rhythm is not it’s heartbeat or sexbeat or preferred bpm. It is calibrated by and for girlygirlXX final body, that itself has human limits taken out, surgically, has been made to fit here and experience only what is desired to be experienced. It is placed strategically, while the investigators body just blindly followed the curious mind purpose. This is not human territory anymore. These choices and surroundings and live-flow and the medical equipment needed to keep girlygirlXX breathing and the lashing ropes, the noise, the vibrating, shaking, the unforgiving ground the investigators body has fallen on, the spikes, the metal, the ripping, the investigators body feels, the shredding of clothes, the forced vulnerability, it feels hostile. It’s not a weapon, it’s just not. made. for. {/girlygirlXX}. Hard to survive, if one may only investigate, never alter, never ever disrupt or fight. If one must have a body, a limit. (I) choose to survive this – (I) leave.
EPILOG
(I) report back to class=„mytruehumansoul,mycenterthatwillneverbeconsumable,thatbelongstomealone“ alt=„the center“ (I) report: 1) the broken story, showing the investigators failures 2) the findings, the empty spaces filled with what is most likely, it reads smooth and unbroken, there is a narrative
(I) tell girlygirlXXs story as 1) a story about hybris 2) a story about redefining limits, resetting standards, escaping your purpose 3) a cautionary tale with a sad ending
Biografie
THALIA NOAH SCHOELLER (they/them) studiert an der Akademie der Bildenden Künste München in der Klasse von Alexandra Pirici und ist in der freien Theaterszene als Regisseur*in und Dramaturg*in tätig. Noahs künstlerischer Fokus liegt auf immersiven, installativen Theaterräumen, die die Grenzen zwischen Publikum und Performance auflösen und sich an Videospiel-Logiken sowie post-digitaler Theorie orientieren. In Noahs Arbeiten stehen Machtungleichheiten im Fokus, die durch die Medien Text, Video und Bühne reflektiert werden. Aktuelle Projekte umfassen eine breit gefächerte Recherche zur alt-right sowie die Verbindung von künstlerischer und Community-Arbeit in Initiativen wie Pathos Open House, einem kollektiven Theaterprojekt für junge Menschen, und Freispruch – Ein Ermächtigungsprojekt, das in einem Team mit ausschließlich betroffenen Personen erarbeitet wurde und Performance mit Aufklärungsarbeit zu sexualisierter Gewalt und rape culture verbindet.
Das Mittelalter war nicht prüde, wie die meisten wohl zu denken vermuten. Aber Sexualität ist eng verwoben mit den Vorstellungen über Körper und die soziale Geschlechterrolle innerhalb der Gesellschaft. Auf medizinischen Abbildungen wird dieser Konnex sichtbar. Die Schwangerschaft avanciert zum gesundheitsfördernden Idealzustand des weiblichen Körpers. Reproduktion bleibt im Mittelalter oberstes und einzig legitimes Ziel für sexuellen Verkehr. Sophie Roßbergs Beitrag möchte eben jene anatomischen Bildquellen decodieren, inwieweit die Zeichnungen des Frauenkörpers die genderspezifischen Konnotationen zementiert und verbreitet.
„… hiet der êrst mensch niht gesünt, all menschen wæren ân geprechen geporn.“11
Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Dominikaner Konrad von Megenberg in seinem Werk Buch der Natur aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, wonach die Sünde Evas und Adams Grund für deformierte Geburten ist. Die menschliche Sexualität ist für ihn mit dem Sündhaften behaftet. Diese Assoziation zwischen sexuellem Akt und Sünde beginnt kurz nach der Vertreibung aus dem Paradies. So berichtet die Genesis: „Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain […].“ (Gen 4,1)12 Vor jeder Schwangerschaft und Geburt steht der pejorativ konnotierte Sexualakt. Im Mittelalter lassen sich Sexualität und Schwangerschaft nicht trennen. Die Frauen werden anders als ihre männlichen Zeitgenossen in der mittelalterlichen Medizin13 hernach über ihre Sexualität definiert: Sie sind jungfräulich, schwanger, unfruchtbar oder nicht mehr gebärfähig.14 Die Lebensphasen des Frauenkörpers referieren auf ihre Physiologie und Anatomie, die im Mittelalter maßgeblich von der naturphilosophischen Idee der humores, der Humoralpathologie oder Viersäftelehre, vereinnahmt ist. Hat die heutige Wissenschaft Sexus als biologisches sowie Gender als kulturelles Geschlecht identifiziert und dekonstruiert, erscheint eine Differenzierung in der Betrachtung und dem Verständnis von mittelalterlicher Körperlichkeit defizitär und schwierig. Denn als unumstößliche Größe hat Gott den menschlichen Körper in seinem Ganzen geschaffen, wobei die angelernten, auferlegten oder abgesprochenen Körperaskepte Teil seiner Schöpfung und somit angeboren sind. Verhalten, sexuell oder intersozial, welches nicht der Norm entspricht, wird daher auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte zurückgeführt. Der geschlechtliche Körper (sexed body) und die Sexualtität (sexual body) müssen daher zusammengedacht werden. Sexuelles Verhalten (sexual body) erscheint als natürlich, wenn es dem sexed body entspricht: Eine Person mit männlichen Körpermerkmalen verhält sich maskulin, feminines Gebaren obliegt einer Person mit weiblichem Merkmalen. Diese mittelalterliche Faktizität determiniert die Frau als passiven Part, den Mann als aktiven Part sowohl im sexuellen als auch sozialen Kontext.15 Für die mittelalterliche Frau ist zudem der reproductive body von zentraler Bedeutung, der mit der Geschlechtsreife aktiviert wird. Mutterschaft bezeichnet Katherine Park sogar als „highest status“, den eine Laiin erreichen kann, wobei im Mittelalter Virginität und spirituelle Mutterschaft neue Idealvorstellungen konstituieren.16 Dennoch gehören Schwangerschaft und Kinderstillen für die Mehrheit der mittelalterlichen Frauen zu normalen Lebensvorgängen. So schreibt auch Matthäus in seiner apokalyptischen Rede: „Weh aber den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen!“ (Mt 24,19)17
Abb. 1: Petits traités d’hygiène et de médecine, 15. Jahrhundert, fol. 31r, Krankheiten der Frauen, Paris, Bibliothèque nationale de France (Ms latin 11229).
Eine medizinische Sammelhandschrift aus dem späten 15. Jahrhundert, die sich heute in der Bibliothèque nationale de France unter der Signatur MS Latin 111229 befindet, zeigt auf fol. 31r eine ganzseitige Zeichnung eines Frauenkörpers (Abb. 1). Der Körper ist entlang der linea alba, die bei einer Schwangerschaft als dunkelgefärbte Linie, der linea nigra, hervortritt, aufgeklappt und die Haut ist aufgelöst. Lediglich ihr Kopf weist keine Öffnung auf. Es präsentiert sich eine Innenansicht des Körpers in beziehungsweise um dessen Teile Krankheitssymptome, anatomische Bezeichnungen und ätiologische Kommentare eingeschrieben sind. Sie zählen unter anderem die negativen Auswirkungen beim Ausbleiben der Menses (Bildung von Hämorriden18) oder Beschwerden wie geschwollene Füße (inflacio pedum) auf. Aber zentral im ausladenden Brauch platziert, findet sich die Gebärmutter(matrix), in der zwei ungeborene Kinder (embrio) gen Betrachtende blicken. Ihr Körper und jeweils eine Gesichtshälfte verschwinden hinter der inneren Wand der Gebärmutter. Da sie beide Seiten besetzen, kann dies als Indiz für ein Jungen und ein Mädchen gelesen werden. Die rechte Seite wird dabei dem Maskulinen und die linke Seite dem Femininen zugeordnet. Denn die Naturphilosophie markiert die linke Seite als die kältere, auf der sich der weibliche Embryo langsamer entwickelt, während auf der wärmeren Seite Jungen produziert werden. Blickt man auf die Heimsuchungsgruppen mit den sichtbar gemachten Kindern erscheint dies als Paradoxon, weil Christus und Johannes der Täufer frontal in der Mitte der Uteri platziert sind. Laut der Naturphilosophie müsse es sich dabei um Hermaphroditen handeln. Die mariologische Ikonografie steht jedoch außerhalb des parallelen naturphilosophischen Diskurses, fehlt ihnen doch trotz Innenansicht das männliche Glied oder die anderen geschlechtlichen Merkmale (Abb. 2).19 Abseits des sakralen Kontexts manifestiert die Unterscheidung einer guten und einer schlechten Seite die medizinische Genderkonstruktion. So schreibt Joan Cadden: „The strings of association, right-warm-male and left-cool-female, return us also to the gender implications of medical views of sex differences.“20 Die Zeichnung integriert dieses imaginierte Seitenverhältnis und zeugt von dessen weiter Verbreitung im medizinischen Kontext.
Um die Gebärmutter windet sich die secundina, die Nachgeburt. Sie wird durch einen Fortsatz der matrix unterbrochen. Dieser wird als innenliegendes männliches Glied (vulnerata virga iacens) benannt. Nach der medizinischen Überzeugung des Mittelalters besitzen Frauen sowohl ein äußeres Geschlechtsorgan, die Vagina mit einem anschließenden Uterus und ein verstecktes, inneres Geschlechtsorgan, das dem männlichen Glied in seiner äußeren Form entspricht.21 Der zugehörige Text der Handschrift teilt sich in ein französisches Traktat Régime ordonné pour la santé du corps de créature humaine (fol. 1r – 18r) und einen lateinischen ohne Titel (fol. 19v – 49v), der nur kurz Obstetrik und Frauenheilkunde beinhaltet und fast unverändert 1491 zum ersten Mal in Venedig von den Gebrüdern de Gregoriis da Forli als Fasciculus medicinae des Johannes de Ketham (Pseudo-Johannes von Kirchheim) gedruckt wird.22Generell prägen die Texte eine iatromathetische Auffassung von Medizin, wonach die Stellung der Himmelskörper und Gestirne Krankheitsart, -verlauf und -heilung beeinflussen. Viele mittelalterliche medizinisch geschulte Personen nutzen Zählertabellen mit Daten und Uhrzeit, um schnelle Diagnosen auszustellen.23 Neben der Frauenzeichnung beinhaltet die Handschrift noch fünf weitere Miniaturen, die allesamt männlich konnotiert sind: ein Wundenmann (fol. 36v), ein Krankheitsmann (fol. 37v), ein Mann in einem Zodiakus-Zirkel (fol. 45r), ‚Die vier Zonen des Menschen‘ auf fol. 25v und schließlich auf fol. 40v der Venenmann. Alle Abbildungen dienen als Lehrgraphiken für die medizinisch-gebildete Leserschaft der Traktate. Jedoch steht die weibliche Zeichnung isoliert. Die männlichen Figuren verwehren den Blick ins Innere. Denn dort lässt sich kein verstecktes Genital finden. Sie verkörpern eher die einzelnen diagnostischen und therapeutischen Disziplinen wie die Chirurgie in Form des Wundenmannes oder die Phlebotomie als der Venenmann. Sie repräsentieren darüber hinaus den „generic human”24. Die Innenansicht der weiblichen Figur dagegen zentriert die Reproduktionsorgane und ordnet jedes körperliche Leiden der Viersäftelehre unter. Während der Wundenmann von verschiedenen Werkzeugen oder spitzen Gegenständen von außen malträtiert wird, ist der weibliche Körper eo ispo Ursache für die weiblich konnotierten Krankheiten. Folglich wird auch die weibliche Sexualität pathologisiert.
Denn es ist eben jener Körper der dem sexual body, also der sexuellen Aktivität, vollkommen ergeben ist. Schließlich erklären sich die mittelalterlichen Autor:innen die unersättliche sexuelle Lust vieler Frauen aus deren feuchteren Körpern. Der Drang nach sexueller Aktivität scheint insofern kurios, als dass die Frau als passiv und der Mann als aktiv agierend definiert ist. Die Frau empfängt den semen des Mannes und je nach dem welcher Theorie man folgt, gibt die Frau ihren semen hinzu, der nur durch einen Orgasmus abgegeben wird, oder sie öffnet lediglich ihren Uterus zur Aufnahme des männlichen Samens, was für sie wiederum die sexuelle Lust generiert. Beide Meinungen existieren im Mittelalter parallel.25 Lust ist also anhängig vom Mann und gleichzeitig jedoch sehr ambivalent. Denn Koitus soll ausschließlich der Reproduktion dienen, folglich ist der reproductive body bereits immer beim weiblichen sexual body inhärent. Auch die Pariser Zeichnung zeigt das gewünschte Ergebnis sexueller Aktivität. Die Schwangerschaft wird hier zu einem idealen Zustand sublimiert; mehr noch: Die Gravidität fördert die Gesundheit, da während ihr und der anschließenden Stillzeit keine menstruale Purifikation stattfindet. Der weibliche Körper nutzt das Blut als Muttermilch zur Ernährung des Säuglings.26 Die Zeichnung kommuniziert den Betrachtenden eben jenen Idealzustand, der den sündhaften Sex legitimiert. Außerdem trägt die Frauenzeichnung im Gegensatz zu den männlichen Zeichnungen einen Marker sozialen Status‘. Auf ihrem Kopf platziert der Maler eine Haube, die die Haare komplett bedeckt, obschon ihre Bedeutung und Existenz mit dem Haarausfall (casus capillorum) als körperliches Leiden benannt werden. In der mittelalterlichen Gesellschaft verweist die Haube auf den ehelichen Status der Frau. Besonders die Heimsuchungsgruppen nutzen sie als Objekt zur Differenzierung zwischen der jungfräulichen Maria mit wallenden, langen Haar und ihrer älteren Cousine Elisabeth, deren Haube sowohl ihren Ehestand mit Zacharias als auch ihr fortgeschrittenes Alter symbolisieren. In der Pariser Zeichnung ist die Haube ein wichtiges Detail, da sie die Legitimierung des sexual body garantiert. Nur eine konjugale Verbindung zwischen Frau und Mann erlaubt den sexuellen Verkehr. Die Haube ersetzt in der Hochzeitsnacht die sogenannte Brautkrone, die gemeinhin die Virginität der Braut symbolisieren soll. Die Haube wird zu einem Zeichen von Sittsamkeit und Keuschheit.27 Die partielle Verschleierung anatomischer Abbildungen ist auf eine lange kunsthistorische Tradition zurückzuführen. Silke Tammen statuiert in ihrem Aufsatz, dass der Schleier eine Grenze zwischen der anatomischen Entblößung, begierigem Wissensdrang durch das Sezieren weiblicher Körper und einem verschleierten Geheimnis der Frau markiert. Es verweist „auf das ebenso wissenschaftlich wie sinnlich motivierte Begehren des Sehens und ruft die Metaphorik von Organen und Haut als Gewebe auf.“28 Der körperbedeckende Schleier ist die Weiterentwicklung der hier genutzten Haube, da vor allem über das Haar im Mittelalter soziale Identität und Integrität kommuniziert wird.29 Schleier und Schwangerschaft der gezeichneten Gravida präsentieren nicht nur ihren reproductive und sexual body, sondern vermitteln ebenso den sozialen Status als Ehefrau und Mutter – einem kontrollierbaren und kontrollierten Raum innerhalb der Gesellschaft.
Welche Implikation hat die die Gravida-Zeichnung auf die Lesenden der Handschrift? Zunächst einmal muss von einer überwiegend männlichen Leserschaft ausgegangen werden. Sie sind die Adressaten solcher Traktate, die meist im universitären Kontext zirkulieren und von Medizinern konsultiert werden.30 Sie sehen diese Lehrgraphik als Idealbild des sexed body und zugleich sexual body: Die Frau ist verheiratet und zeugt Kinder. Die männlichen Leser nutzen es als Schablone für ihre Behandlungen. Dabei funktioniert die Zeichnung mnemotechnisch. Die weitreichende Überlieferung solcher Abbildungen im Kontext verschiedener Texte, die zumeist unabhängig von den Zeichnungen stehen, suggerieren den hohen Wert visueller Medien im medizinischen Bereich.31 In dieser Funktion offeriert die Gravida eine Anleitung des weiblichen Körpers, die mit den Darstellungsmodi eines aufgeklappten Leibes, der beschrifteten Teile und beistehender Legenden einer Karte ähnelt. Diese Kartierung des weiblichen Körpers wird sukzessive durch den männlichen Arzt erforscht und er prägt sich das Körperbild des anderen Geschlechts ein. Als Entdecker des Körperlichen agiert er wie ein Landeroberer und nutzt die Gravida wie einen Atlas.32 In seinen Händen dient es als therapeutisches und diagnostisches Hilfsmittel, aber ebenso als moralische Mahnung eines zu kontrollierten Körpers.
An dieser Stelle muss noch auf die Beziehung zwischen solchen medizinischen Bildern und dem fetus type bei Heimsuchungsgruppen eingegangen werden. Den fetus type kennzeichnet die Sichtbarkeit der heiligen Kinder Christus und Johannes. Diese können bei Skulpturen entweder als Relief oder aber als Statuen gestaltet sein. Bei zweidimensionalen Werken sind sie entweder im Leib der Frauen oder davor schwebend abgebildet. Die Sichtbarkeit der Ungeboren erklärt Silke Tammen mit einer „Sehbegier“, die auch durch das Tabu, schwangere Leiber zu öffnen und zu untersuchen, entsteht. Daher erscheint es ihr auch nachvollziehbar, dass die Innenansicht auf die Kinder mit dem Aufkommen der Anatomie als Wissenschaft wieder verschwinden.33 Diese Sichtbarmachung des belebten Uterus läuft parallel zu den medizinischen Abbildungen. Jedoch verfolgen sie jeweils eine disparate Intention. Sowohl Maria als auch Elisabeth geben zwar ihre ungeborenen Kinder preis, verbergen aber dennoch ihren reproductive body. Die einzige Analogie zwischen ihnen und der Pariser Gravida scheint in der Form der Uteri als oval geformtes Fenster zu bestehen. Dieses Sichtfenster bleibt im mariologischen Kontext, wie bereits erwähnt, von allen anderen Eingeweiden oder Organen isoliert – ihr secretum mulieris. Lediglich die sogenannte Passauer Heimsuchung, heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, von circa 1420 füllt den elisabethanischen Uterus mit undefinierbaren wurmartigen Gebilden (Abb. 2). Während Hildegard Urner-Astholz darin Eingeweide erkennen mag, spricht Silke Tammen von einem Kontrastmittel zum „jungfräulich-reinen Ausnahmekörper” Mariens.34 Man möchte hier einen naturalistischen Anspruch geltend machen, weil das menschliche Ungeborene, Johannes, nicht in einem leeren Uterus wie Christus schwebt, womit ebenso das Erkennen Christi als Heiland durch Johannes den Täufer visuelle Relevanz erhält. Nichtsdestotrotz zeugt der sakrale Topos von der Abwesenheit des Sexuellen. Obschon die genaue Funktion solcher Bildwerke nicht rekonstruierbar ist, aber dennoch die Überlieferung aus Frauenklöstern dokumentiert ist, ist von einer Aufstellung im Nonnenchor und dem Zugang der Nonnen zu ihnen auszugehen. Besonders während der Zeit der Frauenmystik häuft sich das Bild der Visitatio. Als Andachtsbild dient es ergo für die spirituelle Mutterschaft respektive geistige Schwangerschaft, bei der die Figuren auch um Interzession angerufen werden können.35
Abb. 2: Sogenannte Heimsuchung von Passau, ca. 1420, Sandstein, H. 96 cm; B. 89 cm; T. 33 cm Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Pl.O.2401).
Was bedeutet also Sex im Mittelalter? Sexuelle Aktivitäten werden nah zur Sünde beschrieben und dennoch ist Sex laut Gottes Anweisung notwendig: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde […].“ (Gen 1,28).36 Die gottgewollte sexuelle Aktivität stellt die mittelalterliche Theologie und Naturphilosophie vor Herausforderungen, propagieren sie doch die Kontrolle des weiblichen Körpers und Sexualität ist nur im Zusammenhang mit Reproduktion erstrebenswert. Die medizinische Zeichnung aus Paris verkörpert einen restringierten reproductive body, der das einzig legitime Ergebnis sexueller Aktivität im Leib trägt. Dabei gehören die Gravidität und Mutterschaft zu wiederkehrenden Lebensphasen vieler mittelalterlicher Laiinnen. Die Zeugung von Nachkommen soll jedoch in einer Ehe vollzogen werden, wie es auch die Haube der Gravida suggeriert. Die relativ hohen Überlieferungskontexte solcher Zeichnungen implizieren zudem, dass sie einer regen Kopiertätigkeit sowie medizinischen Bekanntheit unterlagen und die Miniaturen zu Lehrzwecken in der medizinischen Behandlung genutzt worden sind. Dabei überlagern sich sexual body und reproductive body stetig, da die Naturphilosophie dem weiblichen Körper in Gänze dem Prinzip der humores und dem Kontrast von warm und kalt unterstellt. Sie bestimmen nicht nur sexuelles Verhalten, sondern beeinflussen ebenfalls den Charakter eines Menschen.37 Hieraus leitet sich eine Hierarchie der sexed bodies ab. Mit den innenliegenden Genitalen werden der Frauenkörper und der Vorgang der Befruchtung zu einem Geheimnis, secretum mulieris, was zu dem Andersartigen, Inferioren und Imperfekten stilisiert wird. Hinzukommt die Vorstellung, dass die Frau sowohl in sozialen als auch in sexuellen Beziehungen nur passiv handelt: „This did not mean that women did not experience sexual pleasure, but rather they were conceptualized as being acted upon, while men were the actors.”38 Diese Hierarchisierung spiegelt sich auch in der medizinischen Sammelhandschrift wider, in der die männlich konnotierten Zeichnungen der Gravida gegenüberstehen. Auch heute steht die Frauenheilkunde vor ungeklärten secreta mulieris, die sich nur sukzessiv in medizinischen Abbildungen visualisieren.
Biografie
SOPHIE ROßBERG ist Kollegiatin am Graduiertenkolleg „Dynamiken der Konventionalität 400 – 1550“ an der Universität zu Köln. Ihr Dissertationsprojekt „Ego te baptizo. Zwischen visueller und gendernormativer Konventionalität: Biologische & Rituelle Elternschaft“ fokussiert Geburts- und Taufdarstellungen im Mittelalter im Kontext von Ritual Studies, Gender Studies und dem Begriff der Elternschaft.
In einem von kunsthistorischen und queer-feministischen pornografischen Referenzen durchzogenen Dialog verhandeln Claudia Lomoschitz und Konnie Krčal Fragen der Darstellung von Körperflüssigkeiten. Welche Genealogien und ökonomischen Regimes lassen sich bei der Darstellung von Laktat, Blut, Schweiß, Spucke, Sperma und weiblichem Ejakulat ausmachen? Bildanalysen erfolgen als kritischer Schlagabtausch, ein Gespräch zwischen dem Wunsch nach Resignifikation und Repräsentation, Körperempfindung und feministischer Kritik an patriarchalen Machtdynamiken.
Im Folgenden betrachten Claudia Lomoschitz und Konnie Krčal ausgewählte Beispiele der Kunst- und Kulturgeschichte zeitgenössischer Bildproduktion, hingehend der Darstellung von Körperflüssigkeiten und deren Ökonomien. Die Bildanalysen erfolgen als Gespräch zwischen dem Wunsch nach Resignifikation und Repräsentation, Körperempfindung und queer-feministischer Kritik an patriarchalen Machtdynamiken. Welche Genealogien und ökonomische Regimes lassen sich bei der Darstellung von Laktat, Blut, Menstruationsflüssigkeit, Schweiß, Spucke, Sperma und weiblichem Ejakulat ausmachen? Welche Fantasien wurden und werden mittels der Darstellung von Körperflüssigkeiten figuriert, und inwieweit reproduzieren diese patriarchale Gewalt von male gaze und compulsive heterosexuality? Wie nehmen Bilder Bezug auf transformierende Flüssigkeiten wie Testogel und Östrogeninjektionen, sowie auf körperergänzende Substanzen, wie Milchpulver, Gleitgel und Fake-Sperma der Pornoindustrie? Wie können nicht-patriarchale und gewaltfreie Darstellungsmöglichkeiten imaginiert werden?
Konnie Krčal: ALLEGORIE In der europäischen Kunstgeschichte der Neuzeit wird Sexualität, im Gegensatz zum Porno, meist allegorisch ambivalent dargestellt oder in den Bereich des Karnevalesken verschoben, der als bestimmender und fremdbestimmter Repräsentationsrahmen die Bauernschaft und urbanes Proletariat als gewalttätig und triebgesteuert entmenschlicht. Kot, Urin, Speichel und Erbrochenes, die reichlich im Karnevals- und Genrebild fließen, stehen göttlicher Laktation und göttlichem Blutfluss in der religiösen und, besonders der antik-mythologisch inspirierten Kunst seit der Renaissance, entgegen. Vermengungen dieser beiden Bildsphären sind mit der Ausnahme der frühneuzeitlichen nordalpinen Kunst, die dem Karnevalesken insgesamt mehr Raum gibt, rar. All diese Flüssigkeiten wurden zweifellos sexuell besetzt und assoziiert, fast völlig abwesend sind allerdings zwei Flüssigkeiten, die heute so zentral für die Repräsentation von Sexualität und Geschlechtlichkeit sind: Scheidensekret und Sperma. Als deren nächstes allegorisches Äquivalent kann in vielen Bildern Wasser identifiziert werden, was wohl auch damit zusammenhängt, dass viele mythologische Szenen der (sexuellen) Transformation und des Begehrens um Quellen und Gewässer strukturiert sind, etwa die Mythen des Hermaphroditos und des Narzissus.
Claudia Lomoschitz: FLEISCHESLUST Christliche Normen beeinflussen seit jeher Sexualität maßgeblich, auch wenn im Alten Testament wird noch relativ unbefangen von körperlicher Liebe gesprochen wurde, hielt mit dem neuen Testament ein zunehmender Sexualpessimismus einzug ins Privatleben, der Körperlichkeit und Körperflüssigkeiten als Unrein diffamierte.39 Körperfeindlichkeit wurde vom Christentum gezielt genutzt, um die Kontrolle sowie Definitionsmacht über Körper zu erlangen und lustvolle Praktiken anderer Glaubensrichtungen zu verunglimpfen. Sexualität wurde als unkontrollierbare Fleischeslust unter den Generalverdacht der Sünde gestellt. Diese Körper- und Sexualfeindlichkeit diente dem Christetum als Machtinstrument, um heteronormative Fortpflanzung und Erbreichtum zu festigen.40 Ausschließlich Enthaltsamkeit – Unbeflecktheit – wurde als rein propagiert. Als fleischlich und unrein wurden vor allem gebärende, menstruierende und laktierende Körper verunglimpft und mit illusorischer Schuld aufgeladen. Weibliche Körper wurden in die Schablonen, der körperlichenSünderin (Eva) oder der unbefleckten Heiligen (Maria) gepresst.41Die Emotion der Scham gegenüber dem eigenen Körper und dessen Begehren wurde genutzt, um Sexualität zu kontrollieren und patriarchale Normen zu festigen.
Konnie Krčal: SUBSTITUT Die Verdrängung einer lustvollen Sexualität und negative Besetzung weiblicher und queerer Körper entspricht der angesprochenen Dialektik von allegorischer Sublimierung und karnevalesker Abwertung. In denjenigen Bildern, die später als Kunst in öffentlichen Museen gelandet sind und unsere Vorstellungen von bildlicher Repräsentation, Geschichte, Menschlichkeit etc. bis heute stark prägen, wird Sex fast nicht dargestellt. Der “Akt” ist meist die nächste Szene oder war die vorangehende Szene, passiert im Nebenzimmer, oder wird metaphorisch verklärt als Goldregen, Engelszungen, Wolken, Schlangenbisse, in dieser oder jener mythologischen Geschichte, historischem Geschehen, oder weniger expliziten Genreszene. Neben der Substitution von Körperflüssigkeiten und -teilen durch Wasser, Muscheln, Früchte etc. können Ersatzhandlungen von Mensch und Tier allegorisch für Sex und sexuelles Begehren einstehen. Joachim Wtewaels Gemälde Goldenes Zeitalter, das seine offensichtliche Prämisse der schamfreien Sexualität einer mythisch-vorkulturellen Menschheitsstufe visuell nicht einzulösen vermag, bietet sämtliche Substiutionsmodi auf (Abb. 1). In diesem und zahlreichen ähnlichen Bildern bekommt die Familie der sexualisierten Pfirsich- und Melanzani-Emojis eine größere historische Dimension. Hinsichtlich einer Geschichte der queeren Sexualität und Resignifikation erlauben uns solche Bilder das Archiv sexueller Substitutionen, Prothetik und transformativer Flüssigkeiten zu erweitern, jedenfalls hinsichtlich der Imagination und Repräsentierbarkeit von Sexualität. Die zugrundeliegenden historischen Bild- und Interpretationsnormen sind allerdings zutiefst patriarchal geprägt und bedürfen einer Allegoriekritik, wie sie Mieke Bal am Beispiel des Mythos der Lucretia formuliert: “Allegory is a historical reading attitude. It is a mode of reading that isolates the event from its own history in order to place it within a different one, it is an act of displacement and reframing. But the gist of my argument is that allegory can never replace the ‚literally‘ real. Rather, allegory is an extended metaphor, it is a reading based on the continuous similarity, involving both difference and contiguity, between its vehicle – say, here, the myth of Lucretia – and its tenor – according to its oldest pre-texts, political tyranny”.42 Eine solchermaßen auf die Füße gestellte Allegorisierung, die die zugrundeliegende Realität nicht verschleiert, sondern explizit aktiviert, um genuine metaphorische Bedeutung zu produzieren, kann dazu beitragen historische Lücken des Archivs, wie etwa Darstellungen selbstbestimmter queerer und weiblicher Sexualität, mit kritisch-utopischer Imagination zu überbrücken.
Abb. 1: Joachim Wtewael, Das goldene Zeitalter, Öl auf Kupfer, 1604. Abbildungsnachweis: New York, MET, Edward Joseph Gallagher III Memorial Collection, Inv.: 1993.333, public domain.
Claudia Lomoschitz: MYTHOLOGISCHE MILCH In meiner künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeit beschäftige ich mich mit der kunstgeschichtlichen Repräsentation von Laktation und deren queer-feministischen Implikationen. Im Folgenden werde ich auf meine Rechercheergebnisse, die in die Videoarbeit Lactans (Abb. 2) zusammenflossen, näher eingehen. Laktat ist eine der ersten kunsthistorisch dargestellten Körperflüssigkeiten, womöglich weil Laktat historisch überlebenssichernd war. Von der Antike bis in die Renaissance wurde Milch als heilende, wie auch magische Flüssigkeit zelebriert und in zahlreiche Mythologien gegossen. In der antiken ägyptischen Kultur wurde Laktat mit besonderer Wertschätzung begegnet und als eine schützende, reinigende Substanz verehrt, die auch als Wundheilmittel Verwendung fand. Einige, auf ein Grab geträufelte Tropfen Milch konnten eine mythologische Wiedergeburt hervorrufen.45 Die Gottheit Isis wurde häufig beim Stillen ihres Sohns Horus dargestellt und ein Kult rund um Isis verbreitete sich bis nach Europa, sogar in Rom wurden Isis-Tempel errichtet. Der Isis-Kult forderte die in Rom aufkommende patriarchale christliche Moral heraus, sodass jegliche Isis Verehrung ab dem sechsten Jahrhundert vom Christentum verboten wurde. Die Stillende Maria Lactans kann als Substitut für Isis gelesen werden, um Gläubige zu konvertieren. Isis stillt Horus auf ihrem Schoß sitzend, wie Maria Jesus stillt, die Ähnlichkeit der Darstellungsweise ist verblüffend. Weiters sind sowohl Horus als auch Jesus der Legende nach zur Wintersonnenwende geboren, was wiederum auf die Inkorporation vorangehender Rituale von Naturreligionen verweist. Gläubige Christen beteten Darstellungen von Maria Lactans an und modellierten Wachsnachbildungen von Brüsten als Opfergabe bei Stillschwierigkeiten und entzündeten Brustdrüsen. Brunnen der laktierenden Maria wurden angefertigt, um Pilger:innen mit übernatürlichen Laktationskräften zu heilen. Vergleichsweise brutal wirkt der Umgang mit Laktation in der antiken griechischen Mythologie. Während z.B. die Göttin Hera schlief, wurde ihr von ihrem Mann Zeus gewaltsam Milch entnommen. Zeus drückte seinen außerehelichen Sohn an die Brust seiner schlafenden Frau Hera, um ihre göttliche Milch zu stehlen. Als Hera vom kräftigen Saugen des Kindes erwachte, stieß sie das Kind von ihrer Brust, wodurch sich ein Bogen ihrer magischen Milch in den Nachthimmel ergoss und die Milchstraße kreierte. Neben der Erschaffung der Milchstraße verlieh Hera dem Kind übermenschliche Kräfte – Herakles betritt die mythologische Bühne, sein Name bedeutet “Heras Ruhm“. Schon in griechischen Ursprungsmythen wurde weiblichen Personen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper abgesprochen. Hallen Mythen in heutigen Körperpolitiken nach? Und welche Sehnsüchte verbergen sich hinter zeitgenössischen Laktations-Darstellungen?
Konnie Krčal: ZUM VISUELLEN BEGEHREN VON MILCH In zeitgenössischer Pornografie wird Laktation oft in zweifacher Weise als Tool patriarchaler Macht wirksam: Im Begehren nach Milch als erotisierender Substanz auf Basis der Fetischisierung des weiblichen Körpers und als binär kodierte Rollendynamik, in der einem Part die entlastende kindliche Rolle zuteil wird. Damit übernimmt die milchgebende Person das allzu bekannte Rollenklischee der nährenden und sexualisierten Figur – und damit eine Doppelbelastung. Diese Rollenverteilung findet sich auch in frühneuzeitlichen Darstellungen, wie z.B. der Affäre zwischen Venus und Mars, mit bekannten Beispielen von Paolo Veronese und Peter Paul Rubens. Während Venus in Rubens Darstellung einen Milchstrahl an den in der Szene anwesenden kindlichen Armor abgibt, ist Mars völlig bekleidet und wird zum Voyeur der Szene. Ganz ähnlich verhält es sich in Veroneses Gemälde, wobei der ebenfalls bekleidete Mars hier vollends die Doppelrolle des sexuell Begehrten und kindlich Umsorgten einnimmt (Abb. 3). Die “Entwaffnung”, wie der Bildtypus auch genannt wird, oder Bändigung als Kriegsgott, die hier durch verschiedene Symbole und Motive wie das Pferd mit Zaumzeug Betonung findet, dient in dieser Darstellungsform ausschließlich den sexuellen Fantasien der maskulinen Identifikationsfigur, wie regressiv diese auch sein mögen. Für mich stellt sich angesichts solcher Bilder die Frage, inwieweit die Allegorisierung von Sexualität in der europäischen Kunstgeschichte, in der meist männliche Interpret:innen die Deutungsmacht über zumeist weibliche Körper innehatten, die heutige Bildproduktion prägt und welche allegorischen Überreste sich in pornografischen Bildern ausmachen lassen? Die Sexualisierung der Venusfigur kann in jedem Augenblick millionenfach im Internet wieder aufgeführt werden, nicht nur in unkommentierten Bildern der Vergangenheit, sondern insbesondere in zeitgenössischer pornografischer Bildproduktion. Können queer-feministische Pornos Laktation widerständig aufgreifen, oder bleiben sie als Nischenprodukte kapitalistischer Diversifikation Teil des Problems?
Abb. 3: Paolo Veronese, Venus und Mars, Öl auf Leinwand, 1570er, Abbildungsnachweis: New York, Met, John Stewart Kennedy Fund, 1910, Inv.: 10.189, public domain.
Claudia Lomoschitz: BEDÜRFNISSE LAKTIERENDER KÖRPER In der Darstellung von Veronese wird Venus, die Göttin der Liebe, in Zusammenhang mit Laktation und einer sexuellen Annäherung gebracht. Venus ist im Vergleich zu Mars unbekleidet dargestellt und dem patriarchal gaze dargeboten. Weiters steht sie labil auf einem Bein, um welches Armor das Band der Liebe schnürt. Eine allegorische Leseweise würde hier die Ebene der Körperpolitik außen vorlassen und verunmöglicht es, kunsthistorische Figuren kontextualisiert zu erfassen.46 Patriarchale Darstellungen, wie die der Venus, sind weit entfernt von der Lebensrealität laktierender Personen, die mit schmerzenden Brüsten, entzündeten Brustwarzen und Geburtsrückbildung beschäftigt sind. Matilde Cohen verdeutlicht, dass die Sexualisierung von Laktation ökonomische Realitäten der reproduktiven Arbeit verschleiert.47 Viel wichtiger ist die Frage, ob laktierende Personen sexuelle Nähe begehren? Begehren sie Unterstützung, Arbeitsteilung und Care-Arbeit? Zeitgenössische Normen rund um das Stillen sind eng gefasst und drängen die zumeist weibliche Person in die alleinige Verantwortung, meist bleibt sie auch alleine mit ihren Bedürfnissen.48 Wo zeigen bildliche Repräsentationen tatsächliche körperliche Bedürfnisse und Sorgearbeit? Wie kann Laktation außerhalb patriarchaler Sehnsüchte aufgewertet werden und als unbezahlte Reproduktionsarbeit unter Schweiß, Tränen, Blut und Schlafmangel Wertschätzung erfahren? Ist es ethisch, milchgebende Körper zu sexualisieren, wenn diese es selbst nicht tun? Ermächtigen erotische Darstellungen laktierende Personen, oder üben sie patriarchale Gewalt aus? Wie stellen sich laktierende Personen selbst dar?
Konnie Krčal: EROTISCHE REPRÄSENTATION VON LAKTATION In Anbetracht der aktuellen antifeministischen, regressiven und aggressiven Gesellschaftsformation wäre es bedenklich, Milch und andere Körperflüssigkeiten noch zusätzlich zu sexualisieren. Es darf nicht darum gehen, den scheinbar unaufhaltsamen Prozess der Überführung von Körperlichkeit in die kapitalistische Begehrensökonomie unkritisch weiter zu beschleunigen. Die zentrale Frage für mich lautet, wie wir Sexualität aus Machtverhältnissen lösen können und welche Rolle (pornografische) Repräsentation dabei spielen kann. Auf einer queeren Porno Seite sehe ich das Video Maman II (2023), in der zwei weibliche Darstellerinnen laktieren und gemeinsam mit einer queeren Person und einer Transfrau sexuelle, nicht-penetrative Handlungen, rund um Laktation vollziehen. In einem für Pornos untypisch durchgehendem Voice-Over, thematisieren die Darsteller:innen ihre wechselnden Rollen und ihre Begehren, wodurch eine Atmosphäre der Intimität geschaffen wird und gleichzeitig eine Distanzierung von den Bildern der Pornografie. Die Akteur:innen sprechen auch darüber, wie sie ihre Milchproduktion durch Hormongabe ermöglicht haben und wie sie auf Basis eigener Erfahrungen Körperteile wie Nippel, Brüste, Klitoris und Penis re-signifizieren. Diese Strategien erinnern mich daran, dass frühneuzeitliche Männer laktieren konnten, ohne große Verwunderung auszulösen, da Körperflüssigkeiten, insbesondere Milch und Blut, in der Humoralpathologie und darüber hinaus nicht diskret konzeptualisiert waren.49 Auch nicht-menschliche Flüssigkeiten, wie etwa Rubens Bleiweiß zur Darstellung von Milchstrahlen, konnte alchemisch-symbolische Teilhabe an menschlicher Körperlichkeit haben.50 Was das für historische Queerness bedeutet, muss angesichts des mehr als fragmentarischen Archivs weitgehend offen bleiben. Die eher voyeuristische Faszination mit Figuren wie Hermaphroditos und die Entmenschlichung nicht-europäischer Menschen als effeminiert oder geschlechtlich uneindeutig bieten unerfreuliche Verdachtsmomente.
Claudia Lomoschitz: QUEERE LAKTATION In meiner künstlerischen Arbeit Partus Gyno Bitch Tits (Abb. 4) beschäftige ich mich mit induzierter Laktation, und thematisiere queere, kollektive und multigenerationale Reproduktionsphantasien.51 In der Videoinstallation teilen Protagonist:innen Erfahrungen, Wünsche, Ängste, Zärtlichkeit und Erinnerungen in Bezug auf sorgetragende Praxen. Grundsätzlich ist es allen Körpern, unabhängig vom Geschlecht möglich, mittels monatelanger Stimulation der Brüste, durch eine Milchpumpe und Hormonpräparate, den Milchfluss auszulösen. In dem empfehlenswerten Ratgeber Queer Nursing schreibt Liesel Burisch: “nursing does not solidify a gender”.52 Induzierte Laktation wird in Gemeinschaften rund um Adoptivelternschaft, Queer-Parenting, Milchtauschbörsen und erotische Laktation praktiziert. Fiona Giles hinterfragt das Verhältnis von queerer Repräsentation und gelebter Körperlichkeit wie folgt: “A queer mode of inquiry invites an opening of attitudes towards breastfeeding as a practice intrinsically marked by difference, relationality, and fluidity. In addition to inviting an exploration of the ethics of diverse breastfeeding practices, it also encourages us to critically analyse the meanings of existing, inherited representations of breastfeeding.”53 Wie könnten sexuelle Bedürfnisse abseits kapitalistischer pornografischer Darstellungen repräsentiert werden? Solange weiterhin infrastrukturelle Ungerechtigkeiten bestehen, sehe ich von der kapitalistischen Vermarktung und Sexualisierung von Laktation ab – wobei ich laktierenden Körpern Sexualität nicht abspreche. Viel eher interessiert mich die Repräsentation von gerechten Strukturen, die körperliches, emotionales, geistiges und wirtschaftliches Wohlbefinden reproduktiver Arbeit unterstützen. Unter anderem sind das Räume, in denen das Abpumpen von Milch, Erwärmen von Milch und Stillen störungsfrei möglich sind. Auch Zugang zu Stillberater:innen, sowie eine Entschädigung des Verdienstausfalls durch Stillzeiten und wirtschaftliche Absicherung zählen zu solchen noch zu erkämpfenden Strukturen.
Claudia Lomoschitz: VON MILCH ZU BLUT Anhand von christlichen Bildwerken lässt sich eine genealogische Verschiebung von Milch (Maria Lactans) zu Blut (Jesus am Kreuz) erkennen. Die Darstellung von laktierenden Marienfiguren versiegt geschichtlich, zu dem Zeitpunkt wo Jesus Blut in Strömen zu fließen begann. Die Flüssigkeit des weiblich konnotierten, überlebenswichtigen Laktats, wurde nach und nach durch das Blut leidender männlicher Figuren substituiert. Christus wurde erst ab der Spätromanik als sterblicher, leidender und blutender dargestellt, dies geschah, damit sich Gläubige mit dem Körper Jesu identifizieren konnten. Davor wurde Jesus vorwiegend mit geöffneten Augen als wiederauferstandener Weltenherrscher (Pantokrator), der den Tod überwunden hat, abgebildet. Christus als leidender am Kreuz, mit geschlossenen Augen und blutenden Wunden, ist Symbol für den christlich-patriarchalen Übergang von der Wertschätzung weiblicher Körperflüssigkeiten hin zu männlichem Leid, welches mittels der Emotion Angst, christlichen Reichtum befeuerte.
Konnie Krčal: BLUTSTRÖME Fra Bartolomeos verlorener Heiliger Sebastian wurde angeblich aus einer Kirche in Florenz entfernt, weil die Reaktion der Gläubigen auf diesen blutüberströmten Märtyrer den kirchlichen Autoritäten allzu weltlich-lustvoll erschien. In dieser Anekdote tritt sexuelles Begehren mit einer konservativen Autorität in Konflikt, die nicht zuletzt Macht über Körper ausübt, indem sie Flüssigkeiten als sündig tabuisiert. Dennoch setzte sich die Aneignung und Transformation des frühchristlichen Heiligen zur queeren Ikone fort, wofür heute insbesondere Derek Jarmans Film Sebastiane (1976) steht. Wie alle Märtyrer ist Sebastian ein Nachahmer Christi, dessen Blut sozusagen immer mitmischt, wenn es seinen Nachfolger:innen an den Kragen geht. Ausgehend vom geschundenen Körper Jesu hat das römische Christentum eine reiche Ikonographie körperlicher Versehrtheit hervorgebracht, die den Verlust körperlicher Integrität zum Ideal erhebt. Die bizarre Ikonographie des “Christus in der Weinpresse” macht das ganz explizit in einem Blutstrahl, der in den meisten Versionen in hohem Bogen aus der Seitenwunde schießt und letztlich im liturgischen Kelch zur Konsumation aufgefangen wird (Abb. 5). Obskurer ist die mittelalterliche Ikonographie dieser Wunde als Vagina, aus der die Kirche selbst geboren wurde. Handelt es sich hierbei um eine weitere patriarchale Aneignung weiblicher Körperlichkeit und weiblich konnotierter Symbolik, oder können wir Christus als queeren Körper ansprechen (Abb. 6)? Queering the church oder Jesus ist mir als ungetaufter Atheist kein persönliches Anliegen, letztlich wissen alle wie gay besonders die katholische Kirche ist, was die Institution nicht weniger queerphob, misogyn und reaktionär macht. Allerdings haben alle Gläubigen meine Sympathie, die durch die Vorstellung einer Red-Shower aus Jesus vaginaler Seitenwunde so erregt werden, wie Teresa von Ávila oder Franz von Assisi beim Empfang ihrer Stigmata.
Claudia Lomoschitz: BLUTLEER Im Vergleich zu Darstellungen des blutüberströmten Jesus und heiligen Sebastians wirken die Darstellungen weiblicher Ikonen wie Agatha von Catania oder Lucrezia meist blutleer.54 Lucrezia bürdete sich, nachdem sie vergewaltigt wurde, in einer Täter Umkehr jegliche Schuld auf und ermordete sich aus Verzweiflung mit einem Dolch selbst. Ihr blutendes Leid wird seit dem Mittelalter kaum noch dargestellt, hingegen wird sie mit Beginn der Renaissance zunehmend sexualisiert. Die ihr erfahrene Gewalt wird außen vor gelassen und es wirkt so, als dürften in der christlichen Ikonografie nur männliche Protagonisten bluten, leiden und empfinden. Dies zeigt sich auch bei blutleeren Darstellungen von Agatha von Catania, die oftmals ihre abgetrennten Brüste auf einem Tablett präsentiert. Diese steht in Kontrast zur Gewalt die Agathe erfahren musste. Im Alter von 15 Jahren legte sie das Gelübde der Jungfräulichkeit ab, eine durchaus verständliche Entscheidung im mittelalterlichen Patriarchat. Der weitaus ältere Statthalter Quintianus respektierte ihre Entscheidung jedoch nicht und wollte sie zur Frau nehmen. Agatha lehnte seinen Antrag ab und wurde daraufhin von Quintianus in ein Bordell gesperrt und dort zwangsprostituiert. Nach den Qualen unterbreitete Quintianus ihr erneut einen Heiratsantrag, den Agatha ebenfalls entschieden ablehnte, woraufhin er beschloss, ihr mit einer Zange am lebendigen Leib die Brüste abzutrennen. Sie ertrug diesen grausamen Akt der Folter und überlebte, doch daraufhin ließ er ihren Körper auf glühende Kohlen legen, was ihren brutalen Tod zur Folge hatte. Trotz all der Gewalt gegenüber ihrem Körper vergießt Agatha in christlichen Darstellungen keinen Tropfen Blut. Stattdessen feierte die christliche Kirche sie als hingebungsvolle, unbefleckte Heilige – welch grausame Ironie. Bis heute wird die Gewalt gegenüber Agathas Körper in Form eines Kuchens, der sizilianischen St. Agatha-Torte gefeiert. Diese ist ihren abgeschnittenen Brüsten nachempfunden, mit einer Kirsche oben auf – eine in Zuckerguss gehüllte Normalisierung von Gewalt gegen weibliche Körper. In meiner Videoarbeit Lactans (Abb. 7) taucht Agatha aus einem Meer von Blut auf, mit dem Verweis auf all das Blut, das von weiblichen Körpern im Lauf der Geschichte vergossen wurde.
Claudia Lomoschitz: MENSTRUATION Obwohl die Hälfte aller Menschen seit Anbeginn der Zeit, vom Teenager-Alter bis zum Klimakterium, jeden Monat menstruiert, existiert so gut wie keine Darstellung von Menstruation in der Kunstgeschichte vor 1970. Bis ins vorige Jahrhundert wurde Menstruation vom Christentum als weibliche Krankheit diffamiert, die als unrein galt. Und als ob diese Leseweise immer noch tief sitzt, finde ich kaum lustvolle Darstellungen von Menstruationssex im Internet, weder bei Mainstream Porno Anbietern noch bei queeren Seiten. Ist Menstruation zu dirty für die Pornoindustrie oder will das Patriarchat immer noch Kontrolle über weibliche Körper ausüben? In der Antike wurde Menstruationsflüssigkeit hingegen als heiliges, zyklisch-reinigendes Liquid verehrt und fand sogar in spirituellen Zeremonien Verwendung.55 Ägyptische Texte der Antike bringen weibliche Gottheiten in Verbindung mit dieser zyklischen Kraft, so trat aus der Gottheit Isis Hellrotes hervor, aus Nephthys Rotes.56 Sogar die Morgenröte wurde im antiken Ägypten mit dem göttlichen Blut der Geburt verglichen – jeden Morgen gebar die Göttin Nut aufs Neue den Sonnengott Re.57 Da Menstruation ein regenerativer Prozess ist, der im Wiederaufbau der Gebärmutterschleimhaut mündet – einer Flüssigkeit, die Leben spenden kann, ist eine positive Leseweise naheliegend. Auch frühe mesopotamische Hochkulturen fertigten Malereien mit Menstruationsblut an, um Fruchtbarkeit zu beschwören. Im antiken Griechenland nahm Aristoteles an, dass Menstruation das Äquivalent zum männlichen Samen sei und Kinder aus einer Vermengung der beiden Flüssigkeiten entspringen würden.Menstruation wird auch seit jeher mit dem Mondzyklus in Verbindung gebracht, und bis heute sprechen wir, wenn der Mond vergrößert und orange am Himmel steht, vom Blutmond. Dennoch wird zeitgenössisch Menstruation selten positiv dargestellt, außer in Form von euphorischen Werbungen der Billionenschweren Industrie von Hygieneprodukten. Ich selbst nehme meine Menstruationsflüssigkeit nicht als hygienebedürftige Flüssigkeit wahr, sondern als spannendes, warmes Liquid in unterschiedlichen Rottönen. Auch wenn sich Künstler:innen in den letzten Jahrzehnten vermehrt mit Menstruation beschäftigen, scheint Menstruation immer noch nicht normalisiert zu sein. Das beweist z.B. ein Social Media Post von Rupi Kaur 2015, wo sie mit rot beflecktem Jogginganzug am Bett liegend posiert. Das Bild wurde umgehend von der Social Media Plattform entfernt. Weshalb wird Menstruation immer noch zensiert? Besteht Angst vor Menstruationsflüssigkeiten, da es manche immer noch verwirrt, dass Körper jeden Monat bluten und nicht sterben? Meine Suche nach erotischen Darstellungen von Menstruationsflüssigkeit verebbt in zartrosa Spuren, kaum ein blutiger Cunnilingus lässt sich im Netz finden, verwunderlich, da doch Orgasmen krampflösend wirken. Es drängt sich die Frage auf, ob einem lustvollen Umgang mit Menstruationsflüssigkeit noch immer ein Tabu anhaftet. Auch der Versuch, KI-Bilder von Menstruationssex zu generieren, bleibt überraschend trocken. Meine Sehnsucht danach, einen Film über Menstruationsvampire zu drehen, wächst. Eine lustvolle Annäherung an Menstruationsflüssigkeit könnte dazu beitragen, Emotionen wie Ekel und Scham zu entgegnen und soziale Codes zu verflüssigen. Auch nach langer Recherche lustvoller Abbildungen finde ich vorwiegend Bilder glitzernder Hygieneprodukte oder Malereien mit Menstruationsflüssigkeit, jedoch selten erotische Darstellungen. Auch wenn ich ein persönliches Leintuch-Archiv monatlicher Menstruationsspuren sexueller Lust erfreulich finde, wirkt es nicht unmittelbar reizvoll. Als eines der wenigen lustvollen Bilder bleibt mir ein Foto, welches Cardi B (Abb. 8), in einem von Tom Brown entworfenen Kleid zeigt, in Erinnerung. Die geriffelte Oberfläche des Kleides ruft Assoziationen zu der Schleimhaut der Vulva wach, aus der sich Ströme roter Flüssigkeit ergießen. Auch wenn diese stoffliche Darstellung lustvoll auf Menstruation aufmerksam macht, fügt sie sich Millionenschwer in sexualisierende kapitalistische Strukturen ein, ohne realpolitische Forderungen zu stellen. Eine hingegen unsichtbare, erfreuliche strukturelle Wertschätzung von menstruierenden Körpern, vollzieht sich seit kurzem in Spanien, wo menstruierende jeden Monat mehrere Tage bezahlten Krankenstand beantragen können, um sich von Periodenkrämpfen oder Endometriose zu erholen. Nicht jede Handlung kann sich in Bilder kleiden.
Abb. 8: Cardi B attends The 2019 Met Gala Celebrating Camp: Notes On Fashion at The Metropolitan Museum of Art on May 06, 2019 in New York City. Photo by Lionel Hahn/ABACAPRESS.COM.
Konnie Krčal: MONEY–SHOT Im Gegensatz zur fehlenden Darstellung von Menstruationsflüssigkeiten erfährt eine Flüssigkeit besonders in der zeitgenössischen Pornografie übertriebene Aufmerksamkeit: Sperma. Wenn wir das männliche Ejakulat ganz unvoreingenommen in den Blick nehmen könnten, was für eine Flüssigkeit wäre es dann? Milchig-trüb, erst zähflüssig, dann zunehmend flüssiger, mit schwer beschreibbarem Geruch. Der Blickpunkt, der für ein verändertes, nicht reproduktives sexuelles Verhältnis zu Sperma notwendig wäre, ist stark verstellt durch eine jahrhundertelange patriarchale und lustfeindliche kulturelle Dominanz. Als eine schambesetzte Spur des Sexuellen, die nie zu sehen sein darf, war Ejakulat im historischen Längsschnitt zumeist nicht bildwürdig. Die völlig normalisierte Allgegenwart des “money shots” als zentraler Ausdruck des Phallozentrismus in heutiger Mainstream Pornografie ist auch innerhalb des Genres ein sehr junges Phänomen und kennt kein funktionales Äquivalent in der älteren Kunst. Als “defining trope of pornography” konnte sich der “money shot” erst seit den 1970er Jahren etablieren.58 Damit hat die Pornoindustrie eine einfache Antwort auf die Frage der Repräsentation von Orgasmen gefunden, die dem Patriarchat zugutekommt. Der Cumshot mag Ejakulat als Flüssigkeit in gewisser Hinsicht enttabuisieren und aus dem reproduktiven Imperativ lösen, doch zugleich lädt er diese unbedeutende Flüssigkeitsmenge mit übergebührlicher Bedeutung und vermeintlicher Dominanz auf, unter der alle möglichen nicht-ejakulierenden Körper leiden. Diese Bilder sind stark verengte Allegorien eines phallozentrischen patriarchalen Begehrens, das neu interpretiert und verflüssigt werden muss.
Claudia Lomoschitz: WEIBLICHES. VS. MÄNNLICHES EJAKULAT In der heutigen erotischen Bildproduktion ist die Fokussierung auf Ejakulat auffallend überrepräsentiert, auch wenn dies in der europäischen Geschichte ein relativ junges Phänomen ist, da Ejakulat in pornografischen Bildern bis ins 20. Jahrhundert so gut wie nicht dargestellt wurde. Die zeitgenössische erotische Bildproduktion ist hingegen äußerst phallozentristisch und setzt oftmals Ejakulat mit der gesamten männlichenSexualität gleich. Erogene Zonen, Bedürfnisse sowie Sensitivitäten werden ausgeklammert – jegliches Lustempfinden wird auf 2-6 Milliliter Ejakulat reduziert, welches von der Pornoindustrie mit fake-Sperma in großen Mengen inszeniert wird. Eventuell ist dies eine überproportionale Gegenreaktion auf die Jahrhunderte lang vom Christentum propagierten patriarchalen Irrglauben, dass Embryos zur Gänze im Ejakulat angelegt seien und jegliche Verschwendung von Ejakulat, wie z.B. Verhütung, Masturbation und Homosexualität, als eine Sünde die dem Mord glich gehandhabt wurde.59 So behauptete die christliche Kirche zum einen die schöpferisch patriarchale Dominanz, die das weibliche Zutun zur Kreation eines Menschen völlig ausklammerte, und verknüpfte zugleich Autoerotik und Homoerotik mit Schuld. Auch die chinesischen Taoisten setzten den Verlust von Sperma mit Verlust von Lebensenergie gleich und gingen davon aus, dass die Vermeidung von Ejakulation dazu führen würde, Lebensenergien zu bewahren. Sie beschrieben, dass männlichen Körpern Samen nur begrenzt zur Verfügung stünde, während die Säfte weiblicher Körper unerschöpflich fließen würden und nie versiegen würden.60Weibliches Ejakulat, in China auch Mondblumenwasser, Pfirsich- oder Melonensaft genannt, galt als hochgradig potente Flüssigkeit, wobei davon ausgegangen wurde, dass Empfängnis sich bei der Vermischung von weiblichem und männlichem Ejakulat vollziehen würde.61 In der chinesischen Kosmologie galt der Austausch von Körperflüssigkeiten als lebenserhaltende Medizin: „Man trinkt einander. Atmet den Atem und den Duft des Liebsten, nimmt die Energien und die Kraft des Geliebten über alle Öffnungen des Körpers auf.“62 Solch sinnliche Beschreibungen der Verbundenheit fehlen oftmals in heutigen Darstellungen, wo sogar ein zärtlicher feuchter Kuss zur Ausnahme zählt. In der Pornoindustrie steht dem Money-shot männlicher Ejakulation seit den 2010er Jahre der Money-shot weiblicher Ejakulation gegenüber. Anfänglich wurde weibliche Ejakulation in feministischen Bildungsvideos der 1980er propagiert, jedoch geriet sie in den 2010ern in den Fokus von Mainstream-Pornos, die weibliche Ejakulation für den patriarchalen Blick vermarkten.63 Die Repräsentation von weiblicher Ejakulation, in für den Male-gaze erstellten Money-Shots, verharrt in allzu bekannten Rollenstereotypen. Vergleichsweise selten ejakuliert z.B. eine weibliche Person ins Gesicht einer männlichen Person. Viel eher wird Squirting in Mainstream-Pornos als Kuriosität ausgestellt und einer Leistungsschau unterzogen, wie z.B. in einem Video, wo eine Protagonist:in angehalten wird, 4m weit zu ejakulieren, um einen Lichtschalter auszuschalten. Gibt es ähnliche Videos mit männlichem Pendant dazu? Squirting wird zu einem raren Kunststück stilisiert, und weibliche Körper werden der Schaulust preisgegeben, ohne auf deren lustvolles Empfinden einzugehen. Absurd ist dies vor allem, da beinahe jede Person mit Vulva Squirten könnte, ob die Praxis aufgrund der Flüssigkeitsfeindlichkeit der Gesellschaft oder der sexuellen Kontrolle weiblicher Körper nicht jeder Person bekannt ist, bleibt offen.
Claudia Lomoschitz: TRÄNEN Der Text endet mit der Betrachtung von Tränenflüssigkeit und beweint zeitgleich patriarchale Ungerechtigkeit. In einigen Kulturen wurden und werden Tränen als produktive Flüssigkeit wertgeschätzt, z.B. im antiken Ägypten, wo Tränen die kreative Kraft der Wiederauferstehung zugesprochen wurde.64 Die Entstehungsgeschichte des Mittleren Reichs spricht sogar davon, dass Menschen aus göttlichen Tränen geschaffen wurden.65 Im christlichen Spätmittelalter wird Jesus häufig weinend dargestellt (Abb. 9), hingegen wurde mit Beginn der Renaissance vor allem weiblichen Figuren die emotionale Leistung des Weinens zugesprochen. Dies wirkt bis heute in Form der Verdrängung von white male tears nach, ein Meer unterdrückte Tränen, dass zu Sexismus, Diskriminierung und Rassismus führt. Vielleicht würde es um die Welt besser stehen, wenn Tränen als Ausdruck von Empfindsamkeit und Berührbarkeit flüssiger Bestandteil körperlicher Intimität wären. In heutiger Pornografie sind männliche wie weibliche Tränen nicht präsent. Kunstgeschichtliche Darstellungen tränenfeuchter Gesichter scheinen durch digitale Bilder von Ejakulat auf Gesichtern visuell ersetzt worden zu sein – Bild und Empfindung driften auseinander. Den eigenen Körper von Bildern zu befreien, sehe ich derzeit als bio-politischen Aktivismus, um sich Körperempfinden und Körperflüssigkeiten wieder anzunähern. Pornografische Bilder bleiben trotz Zuhilfenahme von Fake-Flüssigkeiten, digital glatt und trocken, sie erzählen viel eher von kapitalistischen Ökonomien, als von körperlichen Erfahrungen. Können wir uns von den unzähligen, auf der Netzhaut klebenden Bildern lösen? Und wie könnten Formen der Repräsentation von Emotionalität und Intimität aussehen? In klingenden Worten: „Da seh′ ich es in Deinen Augen glitzern, sag mal, weinst du, oder ist das der Regen, der von deiner Nasenspitze tropft? Sag mal, weinst du etwa, oder ist das der Regen, der von deiner Oberlippe perlt? Komm her, ich küss den Tropfen weg, probier‘ ihn, ob er salzig schmeckt.”66
Abb. 9: Ambrogio Bergognone, Christus trägt das Kreuz (Detail), um 1501 Abbildungsnachweis: The National Gallery, London.
Biografie
CLAUDIA LOMOSCHITZ ist als bildende Künstlerin, Choreografin und Filmemacherin tätig. Sie studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien, der Royal Danish Academy in Kopenhagen und absolvierte den MA Performance Studies an der Universität Hamburg. Sie ist Lektorin an der Akademie der bildenden Künste Wien und forscht zu kulturgeschichtlichen Implikationen von Laktation und queer-feministischer reproduktiver Arbeit. Ihre künstlerischen Arbeiten waren u.a. in der Kunsthalle Wien (LACTANS, 2023), im brut Wien (CUMULUS, 2022), Kunstraum Niederösterreich (PARTUS Gyno Bitch Tits, 2021), Tanzquartier Wien (G.E.L., 2021) und Belvedere 21 (One Mess Gallery, 2019) zu sehen. www.claudialomoschitz.com
KONNIE KRČAL beschäftigt sich in seiner kunsthistorischen Praxis mit Gattungstheorie, allegorischer Signifikation, Ephemeralität, sowie der Repräsentation und Konstruktion von Normen und Alteritäten in der europäischen Kunst der Frühen Neuzeit. 2024 ist seine Dissertationsschrift unter dem Titel „Das französische Thesenblatt im 17. Jahrhundert. Drei Studien zur allegorischen Gattungsgenese“ bei DeGruyter erschienen. Das aktuelle Postdoc-Projekt ist einer Auseinandersetzung mit der ersten Phase des Kolonialismus gewidmet, mit dem Ziel die entstehende Ästhetik kolonialer Repräsentation und Legitimation im Rahmen der europäischen Festkultur und des politischen Rituals zu analysieren.
inappropriate poems about fuckboys (seit 2022) ist eine Serie lyrischer Texte in denen Momente vor, nach und während sexueller Begegnungen betrachtet werden. In Reflexion eigener Erfahrungen und Erinnerungen werden die Grenzen von „Intimität ohne Commitment“, das Phänom emotional unerreichbarer Männer, das Ausloten von Bedürfnissen und Bedingungen, die Struktur und der Ablauf sowie das Abhängigkeits- und Obsessionspotential von flüchtigem Sex untersucht.
Biografie
MARLA FISCHINGER studierte von 2017 bis 2024 Bildende Kunst an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart in den Klassen von Reto Boller und Birgit Brenner. In ihren installativen Arbeiten greift sie auf Medien wie Text, Foto, Video und Zeichnung zurück. In Reflexion eigener Erfahrungen untersucht sie Phänomene der Psyche, die begleitenden körperlichen Prozesse sowie die Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen. Zuletzt hat sie sich für ihre Diplomarbeit den Themen Einsamkeit und Kommunikation(-sverlust) angenommen und das Setting einer Gruppentherapie in einer Soundinstallation verhandelt.
In the essay Geroges Bataille’s Trangression in Michael Haneke’s “The Piano Teacher”, Gianfranceschi examines the relationship between lust, desire and acts of transgressive sexual behaviour exhibited by the protagonist, Erika Kohut, in an effort to to decipher how the three might interlink or be heterogenous to each other.
Lust, in comparison to love, does not need to rely on respect, neither personal nor altruistic. It can, but it is not bound to it. In fact, the experience of lust can be built upon the active disregard for respect, giving in or submitting to an eventual urge that overtakes the notion of respect, morals, boundaries collectively understood as the edge between amorality, perversion and displays of sexuality societally understood as acceptable, within the confines of the infrastructure of a society or in the comfort of your own home, which, in this case, becomes the denial of formalities in favor for the submission to carnal delights. Naturally, as Georges Bataille suggests, carnal pleasures do not come about without the omission of a particular transgression, but what if, considering the portrait of Erika Kohut in Michael Haneke’s The Piano Teacher–a voyeuristic, semi sadomasochistic, you guessed it, piano teacher that enjoy sexual acts from a far rather than indulging in her own fantasies, the transgression does not even need to take place for the pleasure to be reached?
Something that Bataille perhaps forgot to mention in his freakishly indulgent monologues about eroticism as a whole is the potential of said eroticism in the clear delineation of its own limitations, in as much as that pleasure might actually come from knowing about those very transgressions but not indulging in overstepping them. Kohut, in the movie as with in the book, is not seen as someone with no desires, who is not interested at all in any sexual activity, but she is neither seen in a position where the vicarious experience of sexual actions provides her with something akin to any satisfaction at all, upon which one could question the nature of the statement at hand, seeing as there is nothing reached and so, in true Bataille fashion, there also cannot be any “little death”, as in orgasm. This might be true to some extent, especially considering that when her fantasies are, finally, not shared and she is actually violated (something that, to some extent, she seemed to loosely allude to previously as actually enjoying, as in “physical pain” but not necessarily the actual abuse), she obviously does not enjoy it all, which begs the question if the fantasies portrayed beforehand are any less valid now. Furthermore, it should also be noted that visiting pornographic movie theatres, which Kohut also does in secret, could already be considered a transgression of a particular taboo, even if those institutions exist precisely so that the taboo might be, even if momentarily, broken and indulged in. What remains fascinating about the character-study Haneke/ Jelinek presented is the fact that, and this is speculation about something fictional so there might actually not even be a word describing this bumbo-jumbo but, if Kohut had not met Klemmer (her, well, person of erotic interest, let’s put it that way)–who, as we now know, does not share Kohut’s fantasizes of violence and bondage-related causalities–it might actually be possible that Kohut would be just as contempt in never living out her fantasies, for she might not have had the guts to tell somebody else her wishes. Haneke/ Jelinek make it pretty clear that, to some extent, Kohut does strive for a realization of her desires, but they also make it abundantly clear that the reality of said desire does not match Kohut’s fantasies, which in turn has to be put into question considering that high level of intellect the character of Kohut is inscribed with, making the audience wonder if it might’ve not been possible that Kohut was already aware of the fact that a fantasy is not to be matched with reality.
Towards the end of the film, when Kohut express her wishes–which are not met with empathy–we see her distraught by this contrast in desire, with a facial expression that almost scream “I would’ve been better off in not having said anything”, almost regretting opening up about her deepest wishes. Klemmer even goes so far as to describe Kohut’s predilections for a mutilation and sadism a “sickness”, which not only makes Kohut visibly ashamed–something she should, under the right circumstances, not be–but also seems to impose a hierarchy of desire, where there is a normal desire and an abnormal one. This is not entirely false, considering that those interested in the sexual practices Kohut seems to be interested in are few and far between (in the general scope of things, of course), but it is only deemed as abnormal when somebody else does not reciprocate it. This revelation is not portrayed as a learning-moment for Kohut. Instead, in true Haneke-fashion, we are left in a haze of unanswered threads, with the only thing remaining a terribly tragic gut feeling, screaming that not everything happens for a reason.
It is entirely possible that, in general, the desire is already the final act of the game we like to call eroticism. Unfortunately, the human brain has the tendency to want to indulge in the reality of something, so the transgression of action is always on the table, but it seems that Kohut (or someone with a predisposition like hers) is acutely aware of her desires, making its manifestation almost unnecessary because the desire is, presumably, so specific that the actual personification of its ramifications would be a tedious and difficult act. Additionally, we know how much we humans like to rely on commodities, so there might be a point in which the transgression does not need to actually happen because the transgression already happened in the ether of the mind. This, of course, is a rather solitary existence (and both the book and the film never shy away from presenting Kohut’s existence, even if in a revered position, as such). It seems that Kohut’s story works best when thought about in-between the dichotomy of action and non-action; Kohut as someone that does crave a very specific kind of intimacy, but also as someone that is highly self-indulgent, probably thinks very highly of herself and also presents herself as such, clearly indicating a certain higher/upper-class. Kohut is also constantly seen as wanting to be in control of a particular situation, whether that is in the way her relationship with her live-in mother is portrayed or the way in which she purposefully traumatizes her students, in order to get the “best results” out of them. Thus, it could be arguable that when someone like Kohut, who seems to thrive in control, is met with a predilection for giving up control in favor of sexual pleasure, the result is a conflicted one, and that is putting it lightly. In fact, even Kohut’s transgressions are completely controlled, solitary and, mostly, carefully planned (or at least presented as such). In the case of the underlying paraphilia of Kohut mixed with sado-masochistic tendencies, the one transgression one has to actually commit to if the desire is to be lived out within the confines of one’s own body and not with others is the verification of the flesh in the form of corporal punishment, which one would need to commit fully to in order to manifest the actual desire. Beyond this, one has to transgress not only the body but also the impulse to abuse the body, so a double transgression of sorts. This might be where the dichotomy between action and reaction persists, because to fulfill a desire for self-harm, one has to actually act on it, relinquishing control just enough to be satisfied with the final “result”. The desire itself might be enough for a while, perhaps for more than expected, but eventually the desire is bound to swallow up the person’s body entirely, commanding death of the ego in the form of consensual (or not, actually) violence against the self, perhaps even in the comfort of your own living room. You see, this might sound contradictory to what is stated above, in that in this case the desire is actually lived out, but it is only lived out with oneself, perhaps even actively choosing to restrain oneself from indulging in it with another being. In this case, the transgression is calculated, meaning that it can never fully be a transgression but rather an attempt to circumvent actuality. It could also be seen as a practice run, for the usual tendency in sexual practices is the togetherness of oneself and that of another person, indulging in respective desires. In this case, the desire is lived out alone, which begs the question if we can actually speak of “lived out” fully: we encounter Kohut as clearly, or, at least tangentially, sociopathic, no friends, no real intrapersonal relationships with her colleagues and even her repour with her mother is flawed at best and toxic at worst. Kohut never really makes a big deal about her obvious solitude, which might mean to imply a certain satisfaction with it. Her para-social behavior also begs the question as to whether or not her sociopathic tendencies dictate her sexual desire or vice versa. Naturally, her solitude only exasperates her desire which, in true De-Sadeian fashion, if never acted upon can only, some would say, bring about great pain and present a clear disconnect between idealism and reality. Kohut is, in this sense, presented as a complete hypocrite, enjoying sexual acts only from a far but, without acting upon this desire; desperately wishing to be corporally punished. Still, we as the audience do feel pity for her when Klemmer, well, basically kink-shames her, because this scene–in which Kohut presents Klemmer with a plethora of gadget and sex-toys hidden in her room–is the first time Kohut is presented as being vulnerable. She also lays out her desires in a relatively, for a sociopath, empathetic way, so that the audience almost wants her to finally get what she craves. Haneke (and Jelinek) derails this proposition in a way only he knows how. Equally as interesting is the question of why Kohut doesn’t just pay for the service she desires and, instead, seems to, dare one say, almost fall in a sort of proto-love with Klemmer. It then would appear that the sociopathic shell is merely a defense mechanism and that she does, indeed, crave not only hurt but also affection and as much as eventual “love”? Haneke shows us that, for Kohut, to love would equal to inflict or receive corporal pain, whereas for Klemmer, love and pain are not mutually exclusive. It would then appear that, the Batailleian transgression suddenly becomes a subjective one, where desire suddenly becomes categorized between a “sickness” and a wish for something to occur.
What The Piano Teacher masterfully tries to hint at is the possibility of absolution through desire and the required dedication to it, even if it leads to a rather miserable and solitary life. Perhaps, and just perhaps, there is no desire without suffering and just as Buddhism teaches that all earthly hurt is caused by a desire to want, maybe, just maybe the inverse can also be the truest deliverance of all; a desire that is so all consuming, it does not need to be acted upon, growing evermore in every loin full of splendor, a desire that is self-aware enough to realize its own fallacy but be resolute in as much as it is satiated through its own sheer manifestation. Perhaps the only real transgression that is still possible is the neglection of one’s own being in favor for the apparition of desire to be able to take shape. In fact, don’t we talk about “losing ourselves to love” and doing anything and everything for it? Perhaps the latent pseudo-sado-masochistic element of love–that, in turn, seems to stem at least partly from desire–is all that we are allowed to be, lost in the proclamation of a union that never completely satisfies desire, for otherwise that very intrapersonal relationship would stop being desired at all. This desire, perhaps, needs to annihilate us in order so that we keep on losing ourselves to the love we claim to feel; it needs to smother us from the inside out because without it, there’d be nothing to strive towards, even if we fully know that the pinnacle of ultimate pleasure, resulting from the congruence between our wished upon desire and that that is actually manifested, cannot coexist and need to disparate to each other. The body needs to become accustomed to a certain tolerance for a lack of manifested desire in order keep striving towards it. Those that do not uphold this tolerance and go beyond it–like murderers, dictators and so on–are shunned by society; a society that knows that, in action, there have to be boundaries. In the mind, desire is allowed to grow into itself evermore, so why not indulge in just that? Those that often do certainly know the difference between desire and fantasy: the ladder sort of manifests itself through the former, but those under the spell of desire are completely aware of the fantasy that is being created, thus even in an illogical realm of dreams and desires, the idiosyncrasy of the lived out and the desired is completely apparent and not in need of hiding. Kohut’s existence, is caught between the two extremes, wishing to be equally as much as to not, so that by the end, after her wishes and desires are not meant, one might wonder what this means for her, as the kids say, “character development”. Perhaps nothing at all, as Haneke finishes the story before a resolution for the character can ever take place.
Quellen
Haneke, Michael (Director): The Piano Teacher (after Elfriede Jelinek eponymous book), 131 min., 2001.
Bataille, Georges: Eroticism, Penguin Modern Classics, UK, 2012.
Biografie
DANIEL GIANFRANCESCHI (*1999) is a multidisciplinary artist working within the realms of painting, writing and sound. Gianfranceschi is currently studying at the Academy of Fine Arts in Munich under Prof. Florian Pumhösl. In 2023, he founded the online-blog „Subject Change“, hosting interviews with the likes of Boris Bidjan Saberi, Meo Fusciuni, Stephanie Stein, Zimoun, Stephanie Stein any many more.
Gina Marie Schwenzfeier knüpft in ihrem Textbeitrag an die TEXTE ZUR KUNST-Debatte Vom Private View ans Licht der Öffentlichkeit. Überlegungen zur Sichtbarmachung sexualisierter Gewalt im Kunstfeld (2023) an, um die tief verwurzelten patriarchalen Machtstrukturen im Kunstbetrieb zu analysieren. Sie untersucht anhand von Werken Andrea Frasers, Jenny Holzers und der Guerrilla Girls, wie feministisch-aktivistische Kunst sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch sichtbar macht. Der Text lotet die Schnittstellen zwischen Kunst, Gewalt und Macht aus und zeigt auf, wie zeitgenössische künstlerische Praktiken die Diskrepanz zwischen sexualisierter Gewalt als Thema und deren Realität innerhalb der Kunstinstitutionen aufdecken können.
Do women have to be sexually harassed to get into the art industry?
Nein. Dennoch stabilisieren Machtstrukturen Räume, in denen patriarchale Aneignung marginalisierter Körper nicht (entsprechend) verurteilt oder gar unsichtbar gemacht wird. Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung ist die am 26. Juli 2023 in TEXTE ZUR KUNST veröffentlichte Debatte Vom Private View ans Licht der Öffentlichkeit. Überlegungen zur Sichtbarmachung sexualisierter Gewalt im Kunstfeld von Sabeth Buchmann, Christina Clemm, Iris Dressler und TEXTE ZUR KUNST. In dieser werden künstlerische Werke, aktuelle Berichterstattungen und theoretische Analysen verknüpft und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Der vorliegende Aufsatz erweitert diese Perspektive, indem er die drei folgenden künstlerischen Arbeiten untersucht: Untitled (2003) von Andrea Fraser,44Abuse of Power Comes as No Surprise (1983) von Jenny Holzer und 3 Ways to Write a Museum Wall Label when the Artist Is a Sex Predator (2018) der Guerrilla Girls. Die Werke greifen (patriarchale) Machtstrukturen und sexualisierte Gewalt in Kunstinstitutionen aus unterschiedlichen Perspektiven auf: Fraser kritisiert die Machtmechanismen des Kunstsystems, Holzer betrachtet das Thema des Machtmissbrauchs im gesellschaftlichen Kontext und die Guerrilla Girls üben eine praktische institutionsbezogene Kritik anhand eines konkreten Fallbeispiels aus und gehen damit explizit auf Machtmissbrauch in Form von sexualisierter Gewalt ein. Alle drei Werke sind institutionskritisch, Holzers Werk und das der Guerrilla Girls sind zusätzlich aktivistisch angelegt.
Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen folgende Fragen: Inwiefern machen diese Arbeiten die dem Kunstbetrieb zugrunde liegenden Machtstrukturen sichtbar? Wie distanzieren sie sich von diesen und schaffen zugleich Räume der Ermächtigung? Und welche Diskrepanz besteht zwischen der Thematisierung sexualisierter Gewalt sowie der Präsenz feministischer Perspektiven in Kunstwerken und Institutionen und den realen Bedingungen innerhalb des Kunstbetriebs, denen Teilnehmende des Kunstbetriebs gegenüberstehen? Um diese Fragen zu beantworten ist eine Klärung zentraler Begriffe wie Kunstbetrieb, Macht und Machtstrukturen im Kunstbetrieb, Sexismus und Misogynie und sexualisierte Gewalt notwendig.67 Am Ende wird daher ein glossarähnliches Kapitel zur Begriffsklärung der angeführten Begriffe, beigefügt, das bei Bedarf herangezogen werden kann. Es bleibt zu betonen, dass sexualisierte Gewalt in intersektionalen Zusammenhängen betrachtet werden muss. Sie ist kein Problem, das nur in heteronormativen, binären Verhältnissen auftritt, sondern ist eng mit Machtverhältnissen und weiteren Diskriminierungsformen wie beispielsweise Rassismus und Klassismus verflochten.68 Die Rolle kapitalistischer Strukturen in Machtungleichgewichte im Kunstbetrieb ist ebenfalls zu berücksichtigen.
Der folgende Text greift die These der TEXTE ZUR KUNST-Debatte auf, in der formuliert wird, dass die Kunst- und Kulturbranche – trotz der feministischen und kritischen Auseinandersetzung vieler Kunstwerke (mit sexualisierter Gewalt) – bereits über ihre Strukturen anfällig für Übergriffe ist.69 Dies liegt, so wird es festgehalten, unter anderem an der oft unscharfen Trennung zwischen beruflichem und privatem Kontext, der Machtkonzentration auf wenige Akteur:innen und den asymmetrischen Machtverhältnissen innerhalb der Branche sowie der starken Abhängigkeit vieler Karrieren von diesen Machtpolen.70 Ziel ist es, die Arbeitsrealitäten in dieser von (weißen) patriarchalen Machtstrukturen geprägten Branche offenzulegen und zu fragen, welche Funktion Kunstwerke, Debatten und in erster Linie die Schaffung neuer Strukturen in der Sichtbarmachung und Überwindung solcher Bedingungen einnehmen können.
Die TEXTE ZUR KUNST-Debatte zum Thema sexualisierter Gewalt im Kunstfeld setzt sich mit der Frage auseinander, inwiefern Machtstrukturen und institutionelle Dynamiken Sexismus und Übergriffe begünstigen. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach der Rolle der sexualisierten Gewalt bei der Aufrechterhaltung patriarchaler Machtverhältnisse im Kunstbetrieb, wie und warum der Kunstbetrieb daran scheitert, strukturelle Veränderungen herbeizuführen und inwiefern die spezifische Organisation des Kunstfeldes – unter anderem geprägt von Netzwerken, Veranstaltungen und Terminen, bei denen die Grenze zwischen beruflichem und privatem schnell verschwimmen – zu einer „Kultur des Schweigens“72 beiträgt.
Die Debatte verdeutlicht, dass die Probleme nicht auf individuelle Fehlverhalten beschränkt sind, sondern auf systemische Dynamiken verweisen, die tief in der Organisation des Kunstbetriebs verwurzelt sind. Die Diskussion greift dabei sowohl die gesellschaftliche Dimension als auch die spezifischen Bedingungen des Kunstfeldes auf. Dabei lassen sich unterschiedliche zentrale Punkte festhalten. Anzufangen ist mit dem Fortbestehen patriarchaler Strukturen trotz diskursiver Kritik. Während feministische Stimmen und die #MeToo-Bewegung die Diskurse im Kunstfeld geprägt haben, bleibt das Patriarchat institutionell und strukturell weitgehend unangetastet.73 Darüber hinaus ist sexualisierte Gewalt als eines der Instrumente von Machthierarchien und ihrem Erhalt zu verstehen. Sie wird nicht allein als individuelles Vergehen betrachtet, sondern als Mittel, um Macht und soziale Kontrolle auszuüben. Dabei überschreitet sie bewusst die Grenzen zwischen Einvernehmlichkeit und Nicht-Einvernehmlichkeit, um Hierarchien zu stabilisieren. Hinzu kommen Defizite im strukturellen Umgang mit Missbrauch, wie fehlende Anlaufstellen und gesetzte Maßnahmen, die in Institutionen umgesetzt werden müssen, wenn es zu Vorfällen kommt.74 Übergriffiges Verhalten setzt häufig bereits in den Kunstakademien ein und wird in späteren Umfeldern, wie Galerien oft fortgeführt.75 Denn trotz medialer Aufmerksamkeit und öffentlicher Diskussionen bleibt eine systematische Auseinandersetzung mit Missbrauchsfällen häufig aus wodurch die strukturellen Bedingungen nicht ausreichend untersuchen werden können, um sie zu dekonstruieren. Netzwerke, die den Kunstbetrieb prägen, sind nicht nur ausschlaggebend für beruflichen Erfolg, sondern werden häufig in hohem Maße diskret und privat behandelt, weshalb eine Sichtbarmachung bereits auf dieser Ebene oft nicht zustande kommt.76 Diese Verflechtungen schaffen ein „kollektives Wegsehen“77, das durch Abhängigkeiten und die Angst, eigene Positionen zu verlieren, verstärkt wird.78 Dem als zentrale Rolle hinzugerechnet werden müssen auch Institutionelle Geflechte. Letztlich bieten fehlende Strukturen für Betroffene und das daraus resultierende „Einzelkämpfer:innentum“79 eine Grundlage für eine nicht entsprechende beziehungsweise fehlende Umgangsweise. Die Debatte kritisiert eine individualisierte Herangehensweise, die kollektiven Widerstand erschwert. Auch in der Veranstaltung Talking Back 1 – #MeToo in der bildenden Kunst?!“ wurde das Phänomen des „Einzelkämpfer:innentums“ als zentrale Problematik thematisiert.80 Es mangelt ebenso an unabhängigen Ansprech- und Unterstützungsstellen, die nicht von den Machtverhältnissen des Kunstbetriebs durchdrungen sind.81
Die in der Debatte formulierte Kritik bildet eine Grundlage, um sowohl strukturelle als auch künstlerische Aspekte sexualisierter Gewalt weiter aufzuarbeiten. Um beispielsweise die strukturelle Ungleichheit im Kunstbetrieb zu verstehen, müssen die spezifischen Bedingungen des Kunstfeldes – einschließlich des Mythos des Genies und der strukturellen Ausgrenzung von Frauen und marginalisierten Personen – kritisch beleuchtet werden.82 Dabei müsste die historische Marginalisierung dieser Gruppen in Kunstinstitutionen in dieser Auseinandersetzung berücksichtigt werden. Für die Überwindungen von Machtmissbräuchen bedarf es Strukturen, die eine Überwindung oder zumindest eine systematische Umgangsweise mit beispielsweise sexualisierter Gewalt hervorbringen, um den dadurch stattfindenden Vorgang der Marginalisierung zu überwinden. Letztlich sollte eine „Kultur des Hinsehens“83 geschaffen werden, heißt es in der Debatte. Diese Schaffung einer „Kultur des Hinsehens“ ist als essenziell zu betrachten, um vorherrschende Strukturen zu überwinden. Sie erfordert nicht nur den strukturellen Wandel, sondern auch ein kollektives Bewusstsein für die Verantwortung Machtmissbrauch zu thematisieren, denn wir treten diesem nicht durch Wegsehen entgegen.
Die TEXTE ZUR KUNST-Debatte bietet für die folgende Auseinandersetzung eine erste theoretische Grundlage, um die fortwährenden Machtstrukturen im Kunstfeld nicht nur zu analysieren, sondern auch nach Wegen der Transformation zu suchen. Die Diskussion schließt mit der Forderung, nicht länger bei diskursiven Demontagen zu verweilen, sondern an den Stellschrauben struktureller Macht zu drehen.
It’s not porn. Andrea Fraser
In ihrer Arbeit Untitled (2003) kritisiert Andrea Fraser die Mechanismen des Kunstsystems und versinnbildlicht die dort vorherrschenden Machtstrukturen.84 Das Werk kann dabei als Performance von Fraser mit einem anonymen Sammler verstanden werden, die in einem New Yorker Hotelzimmer miteinander Sex haben. Den Akt hat Fraser in einem 60-minütigen, tonlosen Video für Ausstellungen greifbar macht (Abb. 1).85
Abb. 1: Andrea Fraser, Untitled, 2003, (Video still), SD-Video, in digitales Format übertragen, 60 Min. (Loop), Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery.
Die Aufnahme wurde von einer stationären Kamera gefilmt, die in einer der oberen Zimmerecken angebracht wurde. Die Überwachungskameraästhetik schafft es, eine möglichst neutrale Perspektive auf den körperlich-intimen Moment der beiden Personen zu werfen, ohne die Körper sexualisierend darzustellen, indem hier zusätzlich auch nur das vorhandene Licht des Zimmers genutzt wird. Auch durch die fehlende Kameraführung distanziert sich Frasers Video explizit von pornografischen Produktionen.86 Ihre Vorgehensweise bei der konzeptionellen Entwicklung wie auch dem Umgang mit dem entstandenen Video ist dabei von einem starken Selbstermächtigungsmoment geprägt, wie sie es auch selbst festhält.87 Fraser hat die Friedrich Petzen Gallery für die Suche eines Sammlers angefragt, der mit Fraser Sex vor laufender Kamera haben würde. Dieser erhielt im Anschluss das Vorrecht auf den Kauf der ersten Auflage des Videos und zahlte dafür einen festen Betrag. Wohlbemerkt handelt es sich bei dem Kauf, um den Erwerb eines Videos als Kunstwerk und wichtigerweise nicht um die Bezahlung für den Akt. In der Rezeption kam es vielfach zur Annahme von Sexarbeit beziehungsweise fiel in diesen (oft) misogynen Rezeptionen das Wort „Prostitution“88.89 Die Auflagenhöhe war auf eine Anzahl von fünf stark begrenzt und sowohl die Erstellung von Bildmaterial als auch die Ausstellung des Videos kann nur in Rückmeldung mit Andrea Fraser erfolgen und ist so von ihr abhängig.
Während ihre Arbeit primär die Machtstrukturen im Kunstbetrieb beleuchtet, welche nicht direkt mit sexualisierter Gewalt verbunden sind, schafft die Rezeption um das Werk, sich selbst als misogynes System zu entlarven; und damit auch den Kunstbetrieb, in dem Fraser agiert. Das ist nicht nur über die „Prostitutions“-Thematik greifbar geworden. Ihr vielfach rezipiertes Werk Untitled hat auch anderweitig einige misogyne Rezeptionen erfahren. Etwa durch Jerry Saltz der im Artnet Magazine nicht nur ihren Körper in Bezug auf ihr Alter sexistisch kommentierte, sondern auch ihre sexuellen Fähigkeiten.90 Fraser musste daher des Öfteren ihre Arbeit verteidigen und daran erinnern, dass es sich nicht um Pornografie oder „Prostitution“ handelt, sondern um ein Kunstwerk, das den Akt zweier Personen zeigt, die in diesem Fall beide ein Teil des Kunstbetriebs sind.
Es bleibt festzuhalten, dass Fraser diese dem Kunstbetrieb zugrundeliegenden Machtstrukturen sichtbar macht, indem sie sich bewusst, mit sexuellen Mitteln und dabei im Kunstbetrieb agierend, aus dem Geschlechtsverkehr ein Video schafft und es sowohl – in stark begrenzter Stückzahl – auf den Kunstmarkt bringt und ebenso in die Ausstellungsräume. Sie konfrontiert damit alle (aktiven) Teilnehmer:innen des Kunstbetriebs und schafft über den Aspekt, dass es sich nicht nur um ein Video, sondern um eine Performance handelt eine Auseinandersetzung hiermit.91 Indem Fraser die entscheidungstragende Rolle in Bezug auf das Kunstwerk einnimmt, schafft sie einen selbstermächtigenden Moment: Sie distanziert sich nicht direkt von machthabenden Räumen aber arbeitet kritisch mit diesen. Die Diskrepanz zwischen den feministischen Kunstwerken und den realen Bedingungen innerhalb der Kunstbetriebe liegt, wie hier beispielhaft nachvollzogen, in der Diskrepanz zwischen Werk und der Rezeption. Während das Werk selbst Aufmerksamkeit für Machtstrukturen schafft, wird in der Rezeption der selbstermächtigende Moment der Arbeit(sbedingungen) fortgesetzt.
Abuse of Power Comes as No Surprise (1983) ist Teil von Jenny Holzers Truism-Reihe, die sie bereits 1977 im öffentlichen Raum – in leicht abgewandelter Form – plakatierte (Abb. 2).
Dass Machtmissbrauch keine Überraschung ist, ergibt sich auch aus diversen Artikeln, die sich mit sexualisierter Gewalt im Kunstbetrieb auseinandersetzen und betonen dabei die Problematik, die ganz nach dem Prinzip läuft: Alle haben es gewusst, keine Person hat sich getraut etwas anzumerken.93 Woran das liegt, ist klar: Wenn Macht zugunsten des eigenen Vorteils missbraucht wird, wird sie sicherlich auch dazu missbraucht, um sich vor ‚Anschuldigungen‘ zu schützen. Damit wird auch verständlich, was in der TEXTE ZUR KUNST-Debatte als kollektives Wegsehen beschrieben wurde.94 Jenny Holzers Arbeit war dabei schlagwortgebend für den offenen Brief „We are not surprised.“ Von diversen Positionen aus dem Kunstbetrieb, die Erfahrung mit sexualisierter Gewalt in unterschiedlichster Form in der Kunstwelt gesammelt haben als auch für den #NotSurprised.95 Holzer arbeitet mit den Mitteln der Werbebranche. So plakatiert sie eingängige, sloganartige Aussagen im öffentlichen Raum in Form von Plakaten, Bänken, T-Shirts und weiteren öffentlichkeitswirksamen Formen und macht auf gesellschaftlich relevante Gegebenheiten aufmerksam. Als künstlerische Arbeit schafft sie so Sichtbarkeiten, die eine erweiterte Öffentlichkeit ansprechen.96 Sie sind dabei ausstellungstechnisch nicht von machthabenden Institutionen und Personen abhängig, die sich in der Regel für oder gegen eine Ausstellung entscheiden97 und bieten darüber hinaus auch einen neuen Anstoß für Ermächtigungsräume. Dies wird besonders dann sichtbar, wenn ihre Arbeiten im öffentlichen Raum in Interaktion mit Personen treten, wie 1977 in New York (Abb. 2), aber auch, wenn sie in Form eines Aufdrucks auf T-Shirts gesetzt werden, wo sonst häufig plakativ Marken genannt werden (Abb. 3).
Über das Bedrucken von Kleidungsstücken mit ihren Truism schafft Holzer damit eine optische Nähe zu der in den 1980er-Jahren gängige Praxis, Marken auf den Brustteil von Kleidungsstücken zu drucken. Wie eben auch für den offenen Brief gilt, prangern Holzers Arbeiten auf eingängliche Weise Missstände und Unverhältnisse im Kontext von Machtstrukturen an und können so auch auf Kunstbetriebe übertragen werden, auch wenn die Anprangerungen, nicht nur für Kunstbetriebe, als repräsentative Kritik parat stehen. Ebenso wie das Werk Holzers verdeutlich auch der offene Brief wie die Diskrepanz zwischen feministischen als auch institutionskritischen Kunstwerken und der Institution selbst besteht. Nicht überrascht zu sein, wie es bei Holzer und darüber auch im Brief betont wird, verdeutlicht in diesem Kontext besonders gut, dass Strukturen wahrgenommen werden, aber nicht die Mittel existieren, um diese Strukturen tiefgreifend zu durchbrechen. Zum Schutz der eigenen Person und Karriere werden Taten des Unrechts, wie in Form von Machtmissbrauch, ignoriert. Dass dies keine Kritik an Einzelpersonen sein soll, wurde sicherlich schon deutlich. Stattdessen ist es eine Kritik am System der Macht und damit einhergehend am System sexualisierter Gewalt im Kunstbetrieb.
Handle with care. Guerrilla Girls
Auch aktivistisch angelegt, aber doch mit einem anderen Ansatz tritt die Arbeit 3 Ways to Write a Museum Wall Label when the Artist Is a Sex Predator der Guerrilla Girls von 2018 in Erscheinung (Abb. 4).
Sie kreiden dabei nicht nur eine konkrete Person – Chuck Close98 – an, der sexualisierte Gewalt als Form der Machtausübung beziehungsweise des -missbrauchs ausübte, sondern adressieren darüber hinaus auch direkt die Kunstinstitutionen kritisch und fordern sie auf, sich ihrer Macht bewusst zu sein. Die Guerrilla Girls schaffen mit ihrem Werk eine Anleitung mit drei aufeinander abgestuften Kategorien, entlang derer sie Museen aufzeigen, wie ein kritisches Label für Künstler:innen zu schaffen ist, um deren Macht im Kunstbetrieb transparent werden zu lassen. Zusätzlich schaffen sie mit diesen drei Beispielen auch eine Sichtbarkeit darüber, dass Institutionen in der Schuld stehen die eigenen Strukturen öffentlich und damit sichtbar zu hinterfragen und so auch zu fragen, wie und wieso gewisse Künstler:innen zu den „wichtigen Künstler:innen“ der Kunstbranche gehören. So machen die Guerrilla Girls die Machtstrukturen auf mehreren Ebenen sichtbar. Zusätzlich distanzieren sie sich, wie im Werk nachvollziehbar wird, von Institutionen, die unkritisch und unreflektiert Positionen ausstellen und letztlich ihre Erfolge betonen, ohne zu reflektieren aus welcher Position es zu diesem Erfolg kam. In diesem Werk betonen sie außerdem explizit den Genie-Mythos, der besonders bei cis-männlich gelesenen Künstlern angeführt wird und über diesen versucht wird offensichtliches Fehlverhalten (der unterschiedlichsten Formen) zu legitimieren. Wie lange dieser Genie-Mythos zurückreicht und wie viele machtbezogene Ungleichgewichte vorherrschen, verdeutlichen einmal mehr wie lange dieses strukturelle Problem existiert und wie langwierig sich damit auch ein Prozess der Veränderung entziehen kann.99 Die Guerilla Girls schaffen Aufmerksamkeit für die Macht, in denen Kunstinstitutionen zum einen als ausstellungsproduzierende Instanz erscheinen, die damit auch Wissen produzieren und weitergeben, dieser Macht der Wissensproduktion aber nicht selbstreflektiert gegenübertreten und sich dabei beispielsweise nicht fragen, welche Macht sie an Personen verteilen.
Diese Arbeit der Guerrilla Girls reiht sich dabei in ihr institutions-, sexismus- und rassismuskritisches Gesamtwerk ein, dass sie seit 1985 über aktivistische Kunst mit einem häufig sarkastischen Unterton formen, der sich dabei stets auf Forschung und Statistiken beruft.100 Sie gehören damit zu einer Bewegung von Künstler:innen, die sich mit der Politik der Kunstbranche auseinandergesetzt hat. Fragen nach der Institutionalisierung von Kunst, dem Umgang mit dieser sowie den vorherrschenden Mechanismen waren und sind dabei zentral.101
Es bleibt damit festzuhalten, dass 3 Ways to Write a Museum Wall Label when the Artist Is a Sex Predator verdeutlicht, dass wir im Museum nicht nur die Kunstwerke selbst, sondern auch die Künstler:innen mit Vorsicht behandeln müssen. Vorsicht meint dabei nicht, über eine Vorsicht mit ihnen umzugehen, die sie heroisieren würde, sondern eine Vorsicht die Aufmerksamkeit im Umgang bedarf und sich fragt, was es bedeutet eine Person auszustellen und dieser damit Raum zuzusprechen. So sind Museen und ausstellungsschaffende Institutionen nicht neutrale Orte, die nur Kunstwerke ausstellen, sondern sie sind machtinnehabende Kunstbetriebe. Es darf hier also hervorgehoben werden, das ausgestellte Kunstwerke nicht nur losgelöst auszustellen sind,102 sondern es ebenso wichtig ist, sich mit den Personen, die über ihre Werke Ausstellungsraum übergeben bekommen, auseinanderzusetzen. Das heißt nicht, die Autonomie des Kunstwerks anzugreifen, sondern Kunst auszustellen und sich als Institution der eigenen machttragenden Rolle bewusst zu sein, und daher Kontexte zu schaffen.
#MeToo
Das Hashtag ist ambig zu betrachten. Manches zeigt er aber bestimmt und direkt. Sexualisierte Gewalt existiert, wird lange und häufig zum Schweigen gebracht und es braucht Gemeinschaft, um vorherrschende Machtstrukturen zu destabilisieren. Denn es sind keine Einzelfälle, sondern ein System in dem sexualisierte Gewalt passieren kann, weil es nicht entsprechend gehandhabt wird. Dass das Hashtag darüber hinaus zum dritten Platz der Power 100 Liste derArtReview gekürt wurde und nach monopol magazin zu „den Mächtigsten der Kunst“103 gehört, ist spannend. So handelt es sich bei der Bewegung doch um eine, die aufgrund von verübtem Machtmissbrauch durch die Betroffenen damit erst einmal durch die nicht machtinnehabende Instanz entstanden ist. Zum einen verdeutlicht dies einmal mehr, dass das Auflehnen gegen Machtstrukturen Gemeinschaft braucht, um Macht zu gewinnen, aber zum anderen zeigt es auch etwas anderes: machtkritische Themen, werden in Institutionen akzeptiert, gedisplayed und dabei auch instrumentalisiert. Das Ankreiden von Personen aus den eigenen Reihen findet aber nicht statt, Personen werden geschützt, die anderen keinen Schutz bieten, sondern im Gegenteil: Sie werden zum Grund, wieso Personen mehr Schutz(räume) brauchen. Wie die herangeführten Artikel zum Thema sexualisierter Gewalt im Kunstbetrieb und Machtmissbrauch im Allgemeinen dargelegt haben: Mit fehlenden Methoden werden bestehende Systeme nicht umgedacht. Dennoch schließe ich meinen Aufsatz mit der gleichen Antwort auf die Frage: Do women have to be sexually harassed to get into the art industry?, mit der er beginnt – bei einem einzigen Wort, das rechtlich ausreicht, um die Grenze gegen sexuellen Missbrauch zu ziehen, in der Realität jedoch oft ignoriert, übergangen oder aus Angst nicht ausgesprochen wird: Nein.104
Zwischen Kunstbetrieb und sexualisierter Gewalt – Begriffsklärung
Kunstbetriebe: Der Begriff „Kunstbetrieb“ bezeichnet das Geflecht aus sozialen, ökonomischen und kulturellen Interaktionen das die Produktion, Distribution und Rezeption von Kunst organisiert.105 Er fungiert als „Resonanzraum“ und „Anerkennungszone“, ist jedoch stark von kapitalistischen und patriarchalen Machtstrukturen geprägt, die geschlechtsspezifische Hierarchien und Ausschlüsse reproduzieren.106 Diese Strukturen sind zu kritisieren, da sie Relevanz und Bedeutung über Macht beispielsweise in Form von Kapital produzieren und aus historischer Perspektive so nicht neutral arbeiten.107 Eine radikale Neuausrichtung, die marginalisierte Stimmen sichtbar macht und alternative Formen der Teilhabe ermöglicht, kann hier eine Gegenstimme eröffnen und den Blick auf die Kriterien richten, die darüber entscheiden, wer Zugang zur Anerkennung erhält. Der Kunstbetrieb wird so nicht nur als Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sondern auch als potenzieller Raum für Widerstand und Transformation sichtbar. Praktiken, die hegemoniale Narrative infrage stellen und neue Formen des Zusammenwirkens schaffen, tragen dazu bei, bestehende Hierarchien aufzubrechen und progressive, kulturelle Veränderungen zu fördern.108
Macht und Machtstrukturen im Kunstbetrieb: Die Verbindung von Macht und Bedeutung ist zentral für das Verständnis des Kunstbetriebs. Wie bei Whitney Chadwick nach Lisa Tickner argumentiert wurde, sind die Produktion von Bedeutung und die Ausübung von Macht untrennbar miteinander verwoben.109 Macht kann also nicht als einseitig ausgeübte Dominanz verstanden werden, sondern als ein komplexes Netz von Beziehungen und Dynamiken, das innerhalb von Institutionen, Diskursen und gesellschaftlichen Strukturen wirkt. Michel Foucaults Konzept der Macht als eine diffuse Struktur, die nicht primär durch physischen Zwang, sondern durch Wissen, Diskurse und institutionelle Praktiken ausgeübt wird, bietet dabei eine Perspektive in die visuelle Kultur als regulierende Praxis.110 Diese ermöglicht es, den Kunstbetrieb nicht nur als Raum der künstlerischen Produktion, sondern auch als Arena der symbolischen und sozialen Aushandlungen zu verstehen. Feministische Theorien, wie jene von bell hooks, betonen, dass die Transformation repressiver Machtstrukturen eine zentrale Voraussetzung für progressive kulturelle Veränderungen ist.111 Machtkritische Ansätze stellen dabei die radikale Ablehnung von Herrschaft in den Fokus, wobei sie hegemoniale Normen von Geschlecht und Sexualität dekonstruieren.Im Kunstbetrieb zeigen sich Machtstrukturen besonders in geschlechtsspezifischen und intersektionalen Ungleichheiten. Geschlechterverhältnisse sind hier nach wie vor häufig asymmetrisch und spiegeln soziale Hierarchien sowie symbolische Gewalt wider, wie Pierre Bourdieu sie beschreibt.112 Seine Analysen verdeutlichen, dass diese symbolische Gewalt in kulturellen Praktiken und Normen verankert ist, die oft unbewusst reproduziert werden.113 So wird der Mythos des männlichen Genies weiterhin aufrechterhalten, was die Sichtbarkeit und Wertschätzung von Künstlerinnen und nicht-binären Kunstschaffenden erheblich beeinträchtigt.114 Der Kunstbetrieb fungiert somit als Ort, an dem Geschlechterordnungen sowohl reproduziert aber auch infrage gestellt werden können, dabei aber von Machtstrukturen geprägt ist, die zur Infragestellung zumeist aufgebrochen werden müssen.
Sexismus und Misogynie: Sexismus ist eine Art der Diskriminierung, die die patriarchale Ordnung aufrechterhält, indem Personen beispielsweise aufgrund ihres bei der Geburt zugeschrieben Geschlechts spezifische Eigenschaften und soziale Rollen zugeteilt werden.115 Diese Zuschreibungen versuchen die binäre und hierarchische Konstruktion von Geschlecht zu legitimieren. Diese statische Vorstellung von Geschlecht ist jedoch zu kritisieren, da dies eine soziale Konstruktion von Geschlecht darstellt, die sowohl diskriminierend als auch einschränkend in Erscheinung tritt. Misogynie bezeichnet die gezielte Feindseligkeit und Abwertung von Frauen*.116 Diese zeigt sich in individuellen Handlungen wie Belästigungen, aber auch in strukturellen Formen wie dem Gender Pay Gap oder der Unterrepräsentation von Frauen* und weiteren marginalisierten Personen in Führungspositionen.117 Während Sexismus nicht geschlechtlich eingegrenzt ist, so kann auch die Aufrechterhaltung von Männlichkeitsnormen unter Sexismus fallen, ist Misogynie spezifisch auf die Unterdrückung und Abwertung von Frauen* gerichtet.118 Dieses Verständnis kann erweitert werden, indem Sexismus mit anderen Kategorien wie Klassismus, Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung in den Blick genommen wird.
Sexualisierte Gewalt: Sexualisierte Gewalt überschreitet bewusst die Grenzen von Einvernehmlichkeit, um Machtstrukturen zu festigen und Hierarchien zu stabilisieren.119 Sexualisierte Gewalt ist nicht nur als individuelles Vergehen zu verstehen, sondern als strukturelles Problem, das tief in patriarchalen und heteronormativen Gesellschaftsordnungen verwurzelt ist und auf vielfältigen machtgeprägten Strukturen aufbaut. Im Kunstbetrieb manifestiert sich sexualisierte Gewalt sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene. Die Mechanismen reichen von der Instrumentalisierung von Abhängigkeiten – etwa durch prekäre Arbeitsverhältnisse – bis hin zur systematischen Marginalisierung von Betroffenen.
Biografie
GINA MARIE SCHWENZFEIER schließt ihr Masterstudium in Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart im Jahr 2025 ab. Ihr beruflicher und wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf gesellschaftlich ausgerichteten Kunstprojekten mit partizipativem Ansatz sowie auf Formen institutioneller und außerinstitutioneller Ausstellungspraxis. Zu ihren Forschungsinteressen zählen künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum, feministische und aktivistische Kunst sowie die kritische Auseinandersetzung mit Arbeit und sozialen Strukturen im Kontext der Kunst.
Zeigt sich in heutiger britischer Kunst eine Neuverhandlung der sexuell-provokativen Ära der YBA? Künstler:innen wie Richie Culver hinterfragen Geschlecht, Intimität und Männlichkeit —introspektiv und emotional aufgeladen, zwischen Clubkultur und Fragilität und britischem Erbe. Carolin Heel bietet einen Blick auf aktuelle Diskurse.
Autorin liest in Richie Culver: Did U Cum Yet. Lissabon: stolen bookes 2019.
Wenn ich mein Handy öffne, dann springt mir das pinke Icon Instagrams aufdringlich entgegen. Die Plattform ist (längst, aber nun: wie lange noch?) zum Unterhaltungsmedium geworden, auf dem sich reale Kontakte, Influencer:innen aber auch Galerien und Künstler:innen vermischen. Anhand meiner sogenannten For You Page sind aktuelle Trends des kulturellen Geschehens ebenso abzulesen, wie künstlerische Kooperationen und wer mit wem welcher Strömung zuzuordnen ist. Aufmerksam wurde ich dort vor ein paar Jahren auf eine Malerei des britischen Künstlers Richie Culver, die in Großbuchstaben mit malerischem Gestus auf einer sonst leeren Leinwand fragte: Did U Cum Yet? Die Frage nach dem Höhepunkt war nicht nur eine sexuelle Provokation Culvers, so wurde schnell deutlich, sondern vielmehr eine anklagende Frage an den (erweiterten) Kunstmarkt und ein Spiegel des Voyeurismus der skandalbefeuerten Betrachter:innen. Culvers Spiel gefiel mir: Die handschriftliche Roughness und fast naive Aufmachung der großformatigen Leinwand täuschte auf den ersten Blick über die tatsächliche Kuration der inszenierten Partie Culvers hinweg. Doch der Künstler vollführte ein vielschichtiges Spiel, indem er die Malerei in seinem Studio fotografierte, das ursprüngliche Werk dann zerstörte und die Studioaufnahme erneut auf eine weitere Leinwand aufzog und wiederum an jener Stelle im Studio fotografierte – and again. So entstand ein Loop aus verschiedenen Versionen der Malerei, die immer wieder auf seinen Instagram-Account hochgeladen wurden und die Frage, ob nun endlich der Höhepunkt erreicht sei, immer drängender erscheinen ließen. Unter diesen Postings der Serie auf Culvers Account sammelten sich schließlich viele Stimmen. Einige davon werden dem kommerziellen Kunstmarkt-Sektor zugeordnet, darunter etwa Galerien, Kunstvereine oder internationale Sammler:innen. Sie sahen, so interpretierte ich ihr Feedback unter den Beiträgen, in Culvers Position wohl eine aktuelle Ästhetik und Formsprache. Dieser Hang zur Trendhaftigkeit in Culvers Positionierung fiel auch mir auf. Besonders fiel mir auf, wie die latente Kühnheit der herausfordernden und zugleich fast beiläufigen Textmalerei stark mit einer aktuellen Strömung der angesagten britischen Szene verbunden zu sein scheint. Neben diesen professionellen Stimmen des Kunstmarkts fanden sich vor allem zahlreiche kritische Kommentare eines breiteren Instagram-Publikums. Diese stellten aufgrund der schnellen und scheinbar laienhaften Machart des Werks dessen künstlerischen Charakter infrage. „Doesn’t anyone even try anymore?“99 (deutsch, sinngemäß: „Versucht es denn heute überhaupt noch jemand?“, CH), war dort etwa zu lesen. Neben solchen, vergleichsweise harmlosen Kommentaren, fanden sich allerdings auch solche, die nicht nur dem Werk seine Daseinsberechtigung absprachen, sondern auch Culver als Künstler.
Sex Sells dachte ich mir, denn auch wenn die anonymen Stimmen der Internet-Rezipient:innen hochgradig ambivalent waren, erbrachte das Spiel mit Instagram doch eines: Aufmerksamkeit. Ebendiese war zwar einerseits durch den sexuell aufgeladenen Spruch generiert, blieb aber dann letztlich – so konnte man in den Kommentaren ablesen – an Medium, Material und der Kombination von Text und Malerei hängen. Ich sah damit den subversive Ansatz jüngster britischer Kunst zwischen Trend und Rebellion in Culvers Spruch gespiegelt: Dass der Künstler mit seiner sexuellen Anspielung auf die Höhepunkt-Strategie eines nicht zu befriedigenden und schnelllebigen Kunstmarktsystems deutete, wurde nochmals deutlicher, als 2019 das Buch zur Serie herauskam. Die gleichnamige Publikation Did U Cum Yet erschien 2019 bei stolen books (Portugal) und ist nicht weniger als eine 370 Seiten starke Ansammlung der verschiedenen Stimmen aus Culvers Kommentarspalten. In der Ästhetik von Screenshots zeigt Culver darin jene Kommentare und damit die gesamte Bandbreite der Aufregung um die Malerei. Oliver Morris Jones, Kunstauktionär der britischen high-art Szene, schrieb 2019 über die Serie und Publikation Culvers:
„[…] Whatever such a collection of dialogue might be called, it continues the hard work of the original in faith to its provocative simplicity, and begs the question one more time to those who felt compelled to comment on Richie’s work, if at last they have finally had the satisfaction of unloading their viscous bile.“113
Culvers rebellischer Geist, sich gegen bestehende Begrenzungen aufzulehnen, oder zumindest, innerhalb dessen anzuecken, wird durch sein biografisches Narrativ unterstrichen. Dieses ist in der aufmerksamen Verfolgung seines Instagram-Accounts abzulesen. Der Künstler ist Autodidakt und stammt aus einer kleinen nordenglischen Stadt namens Hull, wo er in jungen Jahren als Wohnwagen-Konstrukteur arbeitete und sich nebenbei auf seine Kunst und vor allem auch auf seine Musik konzentrierte. Es folgte ein Aufenthalt in Berlin und der dortigen Techno-Szene und schließlich die Rückkehr nach England.
Bad Girls: Sex und Rebellion im England der 1990er-Jahre
Doch zurück zur sexuellen Frage nach dem Höhepunkt, denn Culvers Position verwirrte mich: Worin lag also das besondere Potenzial dieser Arbeit? Wieso faszinierte sie mich ebenso, wie sie hunderte Menschen auf Instagram faszinierte?
Denn generell befinden wir uns doch auf einem bekannten Terrain: Sex und Rebellion hat in der britischen Kunstwelt beinahe Tradition. In den 1990er-Jahren waren es besonders die bad girls der Young British Artist, der YBAs. Sarah Lucas, eine der prägendsten Figuren der YBAs kehrte im Sommer 2024 nach beinahe zwei Jahrzehnten mit einer Ausstellung nach Deutschland zurück. Als die Kunsthalle Mannheim ankündigte, die Werke der Britin in die Stadt am Neckar zu holen, war mir klar, dass ich diese Eröffnung nicht verpassen durfte. Zu meiner großen Überraschung gab es dann einen zusätzlichen Höhepunkt des Eröffnungsabends, denn die Künstlerin selbst war anwesend. Es bot sich also die seltene Gelegenheit, Lucas hautnah zu erleben und alsbald bildete sich eine Schlange an gut angezogenen Kunstfans jeden Alters, um der scheinbar unbeeindruckten und lässigen Künstlerin einmal die Hand zu schütteln. In Cargohosen und Kapuzenpulli stellte diese sich publikumsnah den Umstehenden. Lucas war, wie ich es mir träumte: Obwohl sie zu den wohl bekanntesten und erfolgreichsten Künstler:innen der Welt gehört, ging die Aufregung, die um sie herrschte, nicht von ihr aus. Der Gang durch die Ausstellung führte zu einem der bekanntesten Porträts, das die junge Sarah Lucas breitbeinig und provokativ in die Kamera blickend darstellt. Nun, da ich die tatsächliche Lucas vor Augen hatte, kam mir das Porträt weniger gestellt vor, als ich es bis dato mit meinem kunstwissenschaftlichen Blick einordnen wollte. Denn hier ist grundsätzlich die Sollbruchstelle anzumerken: Wie wir etwas (ein Bild, eine Strömung) werten und wahrnehmen, hat mit unserer eigenen kulturellen Einbindung zu tun und bricht manchmal mit dem, was zumindest im Moment der Entstehung (künstlerische) Intention war. Wenn ich hier nun also über die britische Kunstszene nachdenke, dann schaue ich hierauf mit meinem Blick, der auf der Suche nach kunstwissenschaftlichen Antworten ist.
Das Porträt jedenfalls, vor dem ich nun stand, ist wohlbekannt – es ist ebenjenes Selbstporträt der Britin von 1996, über das wahrscheinlich am meisten geschrieben und gesprochen wurde. Lucas sitzt breitbeinig und in alltäglicher Szenerie auf einem Stuhl, mutmaßlich ist der gescheckte Boden einer Küche zuzuordnen. Sie trägt ein olivfarbenes Army-T-Shirt und auf ihrem Oberkörper hat sie zwei Spiegeleier auf Höhe ihrer Brüste platziert: fried eggs. Dieser visuelle Streich ist auch ein sprachlicher Witz, denn fried eggs bedeuten umgangssprachlich auch „kleine Brüste“. Was klar ins Auge fällt, ist Sarah Lucas selbstbewusste Geste: Sie nimmt sich Platz, sie sitzt nicht wie eine Lady. Sie sitzt wie ein Mann. Eigentlich macht sie genau das, was wir heute als man spreading diskutieren und kritisieren. Und auch der Reisverschluss ihrer Jeans zeigt an, dass sie eine Hose trägt, die für Männer gedacht war. Damit sei eine Sache grundsätzlich angemerkt, nämlich, dass wir gewisse Vorstellungen davon haben, welche Gesten, Handlungen und Bewegungen weiblich oder männlich sind. Deckungsgleich mit meinem Real-Life-Eindruck von Lucas dachte ich mir vor dem Porträt stehend, dass Lucas wohl unbeeindruckt ist: von Konventionen, von Gesten und (nicht nur am Eröffnungsabend) von Kleiderordnungen.
Doch andersrum, schienen die Konventionen in den 1990er-Jahren maßgeblich von Lucas berührt, denn die Künstlerin wurde mit ihren Körperspielen und den sexuellen Referenzen zu einer ebenjener bad girls des damaligen Kunstmarktes ernannt. Das Porträt mit den Eier-Brüsten ist bei weitem nicht das einzige, das sexuell provozierte, denn Sex spielt(e) bei Lucas eine maßgebliche Rolle, um die Zuweisung von Künstler:innenschaft zu verhandeln. Gemeinhin wurde Lucas eine aufbegehrende Haltung und damit eine reflexive männliche Geste zugeschrieben, eine feminine Masculinity.
Als ich so durch die Mannheimer Ausstellung gehe und die nackten Bunnys sehe – die Körperskulpturen Lucas’ mit großen Brüsten – ist meine vereinfachte These, dass Lucas eine nach wie vor tradiert männliche künstlerische Haltung einnimmt, gerade aber dadurch überhaupt die gesellschaftliche Erlaubnis erhält, subversiv zu hinterfragen. Lucas’ Position hatte in den 1990er-Jahren subversives und rebellisches Potenzial. Doch gerade aus heutiger Perspektive wird ersichtlich, dass der male gaze dieser Sexualität – auch oder gerade in der Übernahme maskuliner Haltungen und Repräsentationen – erhalten bleibt. Was also bei Lucas rebellisch war, war die Nacktheit, die männliche Geste, mit der sich Lucas ihren Raum nahm. Und bei Culver?
Zwischen Elitisierung und Subversion
Ich kam nicht umhin mich zu fragen… – um an die gedankenschwangere Carrie Bradshaw zu erinnern, die in den 1990er-Jahren rauchend und grübelnd zur stilsicheren Ikone weiblich-konnotierter literarischer Bemühungen wurde (in derer sie über das männliche Verhalten schrieb, was ich an dieser Stelle nun passend finde) – nun, ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob der Geist der bad girls, wie sie genderbetitelnd genannt wurden, nun in Culvers Pinselstrichen steckt? Wenn er mit Sprüchen und Titeln wie Did U Cum Yet den Kunstmarkt an die Wand stellt, ist er dann auch ein bad guy? Oder ist das nicht eher der Geist eines dandyhaften James Dean, der mit Kippe im Mundwinkel die Frauenherzen höherschlagen lässt? Es wird deutlich: der Komplex Sex und Künstler:innenschaft hat mit Stereotypen zu tun, die ihrerseits nicht nur genderspezifisch, sondern auch epochenabhängig gewertet werden. Während das rebellische und aufbegehrende Potenzial der sogenannten bad girls der 1990er-Jahre eben darin lag, wie Sarah Lucas weibliche Genitalien abzubilden, und diese Künstlerinnen damit eben ungehörig waren, ist Richie Culvers Geste, wenn man ihn nun als bad guy betiteln möchte (was sicherlich konsequenterweise nicht zu halten wäre) von verschiedenartigen Zuweisungen getragen. Sicherlich gibt es, gerade wenn Werke im öffentlichen Raum der Social Media Plattform Instagram platziert werden, eine breite Masse an Kommentaren, die sich durch die sexuelle Provokation zu klischeehaften Aussagen verführen lassen. Doch in Culvers Selbstdarstellung schwingt unverkennbar ein heroischer Unterton mit: Er nutzt die sexuelle Anziehungskraft bewusst von der „sicheren“ Seite der Trennwand. Dies tut er einerseits, um auf die Schnelllebigkeit des Kunstmarktes hinzuweisen und auf den kaum zu erfüllenden Anspruch, dass Künstler:innen ständig neue Höhepunkte schaffen müssen. Andererseits nimmt er eine reflexive, fast konzeptuelle Haltung ein, mit derer er sich von den Kommentaren unter seinen Arbeiten distanziert. Durch die Sammlung und Kuratierung dieser Kommentare in einer Publikation positioniert er sich in bekannter Zuordnung als künstlerisches „Genie“, das die komplexen Spannungsfelder zwischen Kunst, Anspruch und Gesellschaft scheinbar souverän überblickt. Auf dieser anderen Seite, der halberhöhten Empore verschiedener Kunstvereine auf internationaler Ebene, hat man das trendhafte Potenzial Culvers längst für sich beansprucht. Denn, Culvers Kunst nennt Sex nicht nur beim Namen – sie ist auch sexy: Sie lockt, sie ist sich einer gewissen Ästhetik, einer Zugehörigkeit und einem Klang bewusst. Verschiedene Verweise auf die Werkserie Did U Cum Yet tauchten so wiederkehrend in anderen Arbeiten des Briten auf und ziehen uns als Rezipient:innen in einen spielerischen Komplex der Lust. Weitere Text-Malereien im selben Stil zeigten Sprüche wie „Look Me In The Eye’s When You Come“ oder „Use Your Mouth“ und erweiterten das Narrativ um die voyeuristische Schaulust und die Beziehung zwischen dem Künstler und seinem Publikum.117 Doch damit nicht genug: schließlich kursierte das Foto einer Tätowierung auf Instagram, die den Spruch Did U Cum Yet auf einem anonymen Körper präsentierte. Mit solchen Einblicken hält Culver stetig die Verbindung zwischen Urbanität, Subversion und Humor. 2021 durchbricht der Künstler auch innerhalb des Werkkomplexes die Grenzen der Disziplinen und führt das Motiv Did U Cum Yet in die musikalische Kollaboration mit dem Label Blackhaine. Seine provokative Haltung, die ihn in der zeitgenössischen Kunstszene als Grenzgänger positioniert, scheint von einer Mischung aus kalkulierter Provokation und klischeehafter Inszenierung getragen zu sein.
Damit wird ein Unterschied zu Lucas sichtbar: Dieser liegt in der Tonalitätihrer Setzung. Lucas eckte an, war laut und im Geiste der bad girls unangepasst. Culvers Verhandlungen sind doch gerade in seiner Nonkonformität archetypisch für eine aktuelle Szene jüngerer britischer Kunst, die nicht nur Grenzen wie Genre und Gattungen, sondern in einer selbstbewussten Ermächtigung von sexuellen Referenzen und Intimitätskomplexen Diskurse von Öffentlichkeit und Privatheit aber vor allem auch von Männlichkeit und Weiblichkeit – stets im Diskurs zur Künstler:innenschaft – hinterfragt. Culver zeigt sich also einerseits als Gegenfigur, andererseits fügt er sich in seiner Darstellung des reflexiven All Rounders aka Konzept-Künstlers auch perfekt in diese aktuelle Szene ein.
Alter Schauplatz, neue Diskurse
Diese Vielschichtigkeit, die in der genauen Besprechung der Serie ersichtlich wird, hat damit zu tun, dass sich die heutige Generation britischer Künstler:innenschaft dem Erbe der YBAs nicht nur bewusst ist, sondern, dass sie damit umgehen muss.
Lucas’ Penisskulpturen, Fetischobjekte und Bunnys aus Nylonstrümpfen konnten in den 1990er-Jahren binäre Systeme hinterfragen. Es ging zudem eine Provokation und Aufmerksamkeit davon aus, dass gerade eine Frau diese Frage stellte – wenngleich man ihr zur Erlösung alsbald eine männliche Haltung diagnostizierte. Es ist heute aber keine sexuelle Provokation mehr. Wir gehen anders durch die Ausstellung Lucas’, und das nicht nur, weil wir sie mittlerweile als Weltkünstlerin anerkannt haben, sondern auch, weil uns der Sexper se nicht mehr auf dieselbe Weise provoziert, wie er es damals tat – die Carrie Bradshaws der letzten 30 Jahre haben ihren Soll erfüllt. Das soll nicht bedeuten, dass sich binäre Systeme erledigt oder gar aufgelöst haben: Gegenteilig wurden unter dem Motto Sex binäre Systeme wiederkehrend verfestigt. Zu hinterfragen ist eben die feminin masculinity, die Sarah Lucas’ zugesprochen wurde – und ob nicht gerade im männlich geordneten Teil der künstlerischen Idenität die gesellschaftliche Erlaubnis nach Aufbegehren verortet ist.
Doch der Diskurs muss neu geführt werden: Auch wenn der Sex allein sein provokantes Potenzial einbüßen musste, so sind die Diskurse, die er mit sich bringt, aktueller und schärfer denn je. Mir kommt Culvers Spiel in Did U Cum Yet daher wie eine Re-Inszenierung jener Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse vor, um sich darin mit der eigenen Künstlerschaft, aber auch innerhalb des britischen Erbes der YBAs, mit denen Künstler:innen seiner Generation zwangsläufig in Verbindung gebracht werden, auseinanderzusetzen. Was Lucas’ für den Kunstmarkt der 1990er-Jahre bedeutete, war groß: Sie zeigte sowohl Sex als Ware auf, wie sie auch feministische Diskurse anregte. Heute ist ein Spiel auf dieser Ebene nicht mehr fortzuführen. Did U Cum Yet provoziert daher auch nicht in erster Linie aufgrund des sexuellen Gehalts, dieser ist vielmehr nur Erkennungszeichen dafür, dass hier eine Auseinandersetzung stattfinden soll. Sondern er provoziert dann, wenn er sich mit Konventionen von high art und den Anspruch an Künstler:innenschaft auseinandersetzt. Was tatsächlich in den Kommentaren hinterfragt wird, sind Fragen nach Form, Medium, Gattung und Vergänglichkeit. Darin geht Culvers Strategie auf, Künstler:innenschaft zu beleuchten. Verbindet man nun diese Haltung Culvers mit den Narrativen über ihn, von denen man über seinen Instagram-Account und Interviews erfährt, so bildet sich ein vollumsichtiges Bild des Künstlers, der klare Trennlinien, auch von Genre und Disziplin, zu hinterfragen sucht. Eben darin gründet sich die aktuelle junge Szene britischer Kunst, etwa auch um die junge Kuratorin Ellie Pennick, die mit ihrer Guts Gallery erreichen möchte, den Kunstmarkt Londons niedrigschwelliger und sozial gerechter zu gestalten. Dieses Umfeld scheint weniger von Provokation geprägt zu sein als vielmehr von der Auseinandersetzung mit etablierten Behauptungen, der Reflexion von Identitätsdiskursen und der Verflechtung von Kunst, Markt und Gesellschaft.
Subversion und Trend gehen oft Hand in Hand – das lässt sich kaum leugnen – und so ist hier noch abzuwarten, welche Segmente einer derzeitigen Dynamik tatsächliches transformatives Potenzial in sich tragen. Aber vielleicht offenbart sich eine mögliche neue Ära des Sex in der Londoner Kunstszene gerade darin, dass Sex sein reines Provokationspotenzial längst verloren hat. Stattdessen scheint sich die neue Generation umso bewusster zu sein, dass in ihm tiefer gehende Diskurse über stereotype künstlerische Rollenbilder verborgen sind. Dadurch ist er vielleicht noch mehr zu einem Ort der Identitätsbildung geworden, und genau das ist es, was mich an Culver so verwirrt(e) und warum seine Position so ungreifbar zu entgleiten scheint, wenn man sie wirklich fassen will. Clubkultur, Arbeitslosigkeit, Trauer, Sehnsucht, Emotion und Intimität wird ineinander verwoben, wenn wir Culver quasi in Echtzeit auf Instagram beobachten können. Dazwischen schalten sich dann die schnellen Malereien und kühnen Fragen danach, ob wir nun befriedigt seien. Mit dieser Positionierung stehen Künstler:innen wie Culver in einem ambivalenten Verhältnis zum Erbe britischer Kunst. Sie erinnern uns an das aufbegehrende, gleichsam Intime wie das rebellisch Öffentliche der 1990er-Jahre – doch es scheint, als würde eine neue Schicht hinzugefügt, die es zu erfassen gilt. Damit deutet der sexuelle Reiz in Sprüchen wie Did U Cum Yet nicht nur auf eine neue Ästhetik der Kunst im Social Media Spiel hin.
Und schließlich frage ich mich wieder: Sind wir damit bei einer neuen Ära des Sex angelangt, die über den Verkaufsschlager einer Sex Sells Attitude hinaus, eine strukturelle, moralische, ästhetische… oder wie auch immer gelagerte Umarbeitung erwirken kann? Sehen wir in Culvers Position, dass klassische Strukturen nicht mehr nur angegriffen werden, sondern in ihrer tiefen Verwobenheit mit künstlerischer Identität reflektiert werden? Oder weist das subversive Potenzial, das man interpretieren möchte, doch nur auf den Umstand, dass es hier eben nun keine Frau ist, die die Beine breit macht, sondern Culver als männlicher Künstler – trendgerecht – in der Lage ist, diese Fragen an ebenjenen Kunstmarkt zu stellen, den er scheinend zu unterlaufen sucht? (Und dem er damit zu gefallen scheint…)
Ob Culver dieser Anspruch gelingt oder ob er uns alle lediglich verführt, bleibt zumindest vorerst eine offene Frage – eine, die vielleicht genau in ihrer Unklarheit das Spannende an seinem Werk ausmacht.
Biografie
In ihrer kunstwissenschaftlichen Forschung hat sich CAROLIN HEEL auf Affekt- und Emotionstheorien mit dem Schwerpunkt Gender spezialisiert. Sie lehrte an der AdBK Karlsruhe das Seminar »Kunst und Gender« und doziert im Masterstudiengang Körper, Poetik und Praxis des Performativen an der ABK Stuttgart im Modul »Sprache und Poetik«. Aktuell ist sie Post-Doc-Wissenschaftlerin im DFG-Projekt »Visuelle Bildung« an der Universität Hamburg.
Mit Schlangen assoziierte Frauen wie Eva, Lilith, Medusa und Kleopatra werden in der Kunst meist als unheilbringende Verführerinnen dargestellt. Während Sigmund Freud in der Schlange ein Phallussymbol und in der Enthauptung der Medusa die Kastrationsangst erkennt, verstehen feministische Psychoanalytikerinnen den vermeintlichen weiblichen Penisneid als reale Unterdrückungserfahrung, die durch den Bund zwischen der biblischen Urmutter und der Paradiesschlange legitimiert wird.
Der Sündenfall als erster menschlicher Moment des Ungehorsams markiert mit dem Aufkommen des Schamgefühls zugleich den Beginn der sexuellen Lust. Die Schlange als Symbol der Verführung wurde dabei eng mit dem Bild der unheilbringenden Frau verbunden, deren Bann sich der Mann nicht zu entziehen vermag. Obwohl die Schlange, so Natalie Lettner, in vielen animistischen und totemistischen Religionen Weisheit, Macht und Ausdauer verkörpere, ihre Häutung mit Unsterblichkeit und ihre phallische Gestalt mit sexueller Kraft in Verbindung gebracht werde,118 dient sie nach Aby Warburg zugleich als allgemeines erlösendes Erklärungssymbol für Zerstörung, Tod und Leid in der Welt.120 Dieses symbolische Motiv ist, so Lettner, durch ein Geflecht aus Mythen, christlichen Deutungen und Misogynie untrennbar mit dem Weiblichen und dem Bösen verknüpft.121
Die Vertreibung Evas und Adams aus dem Garten Eden stellt als Anfangspunkt dieser Verknüpfung eins der ikonischsten Motive der (westlichen) Kunstgeschichte dar, an dem auch zentrale Fragen nach der Beschaffenheit des Menschseins verhandelt werden. In der biblischen Erzählung kommen mit dem Verlassen des Paradiesgartens verschiedene Phänomene wie die Arbeit, das Schamgefühl, der Schmerz der Geburt und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auf, welche danach allgemein als Teil der menschlichen Natur wahrgenommen und durch die Geschichte gleichsam legitimiert werden. Während die Vertreibung in der christlichen Theologie das Dogma vom Sündenfall und der Erbsünde repräsentiert und, so Shulamit Laderman, bereits im dritten Jahrhundert künstlerisch dargestellt wurde, lassen sich derlei visuelle Abbildungen in der jüdischen Kunst erst ab Ende des 13. Jahrhunderts belegen, wobei in schriftlicher Form umfassende Auseinandersetzungen mit Evas Erschaffung und ihrer Beziehung zur Schlange stattgefunden hatten.122 Im Buch Genesis wird beschrieben, wie Adam und Eva eine Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen essen und infolge dessen aus dem irdischen Paradies vertrieben werden. Adam weist als vermeintlich passives Opfer jegliche Schuld von sich: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben und so habe ich gegessen.“ Eva entgegnet: „Die Schlange hat mich verführt und so habe ich gegessen.“123 Diese Abstufung an Verantwortlichkeit, die Eva näher an die Schlange rückt, findet sich in der jeweiligen Bestrafung wieder, wonach die Schlange fortan auf dem Bauch kriechen und Staub fressen muss, Eva dazu verdammt ist, unter Schmerzen Kinder zu gebären und ein Verlangen nach dem über sie herrschenden Mann zu spüren. Adam bekommt zwar die mühevolle Bearbeitung des Bodens übertragen, genießt allerdings gleichzeitig das Privileg, der Frau gar erst einen Namen zu geben: „Adam nannte seine Frau Eva (Leben), denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen.“124 Sie wird also zum einen zur Urmutter erklärt, zum anderen wird ihre Verführung Adams mit der Täuschung durch die Schlange gleichgesetzt, was ihr eine ambivalente Rolle verleiht. Gerade im christlichen Glauben an die Ursünde ist es notwendig, Eva mit der Schuld zu beladen, wie Andrea Imig verdeutlicht, denn sonst „wäre die Ursünde per definitionem keine Sünde und die Darstellung des Sündenfalls könnte somit als Allegorie des Sündigen an sich nicht bestehen.“125
Abb. 1: Franz von Stuck, Adam und Eva, um 1920, Tempera auf Holz, 98 x 93,7 cm, Frankfurt am Main, Städel Museum.
Franz von Stucks Gemälde Adam und Eva (um 1920) präsentiert die biblischen Stammeltern vor einem schwarzen Hintergrund. Eva posiert selbstbewusst, den nackten Körper den Betrachtenden zugewandt, den Arm in die Hüfte gestemmt, und lächelt Adam herausfordernd an (Abb. 1). Sie streckt ihm den Apfel entgegen, den sie von unten mit der Hand umfasst, so dass ihre Finger mit den Zähnen der von oben in die Frucht beißenden Schlange ein Gebiss bilden. Das bläulich schimmernde Reptil windet sich um ihren Oberschenkel, schlängelt an ihrem Schritt entlang. Mit dem das Rot des Apfels aufgreifenden Haar erinnert Eva Darstellung an Hexenbilder. Während sie amüsiert scheint, schaut Adam betroffen nach unten. Seine zögerlich ausgestreckte Hand verfehlt den Apfel und bewegt sich bezeichnenderweise auf Evas nackten Oberkörper zu.
Von Stuck gehörte zu den Symbolisten, die um die Jahrhundertwende die erotische Anziehungskraft der vermeintlich unheilbringenden Frau verarbeiteten und dafür wiederholt auf das Schlangenmotiv zurückgriffen. Neben den zahlreichen Versionen seines Gemäldes Die Sünde schuf der Künstler 1889 auch eine Radierung mit dem Titel Die Sinnlichkeit, die in einigen Quellen den Untertitel Lilith trägt (Abb. 2). Zu sehen ist eine nackte weibliche Figur, die sich in sinnlicher Umarmung mit einer Schlange verbindet. Ihre entblößte porzellanweiße Brust hebt sich stark vom Hintergrund der oberen, dunkel schattierten Bildhälfte ab. Ihr Blick, der die Betrachtenden sehnsüchtig zu fixieren scheint, wird von dem an ihren Hals geschmiegten Schlangenkopf gedoppelt. Der Anblick der bedrohlichen Zähne und der am Busen hinabrankenden Schlangenzunge weist auf eine Ambivalenz der erotischen Ästhetik als gefährlichem Genuss hin. Während die dargestellte Frau sich keiner Bedrohung bewusst zu sein scheint, umschlingt das monströs wirkende Reptil ihren gesamten Körper, wobei auch hier die Berührung mit dem weiblichen Schoß betont wird. Frau und Schlange befruchten sich gegenseitig in Schönheit und Dämonie. Die weibliche Allegorie der Sinnlichkeit verkörpert gleichsam die, in der Endzeitstimmung des Fin de Siècle äußerst populäre Figur der Femme Fatale. Die Faszination für das Schaurigschöne hatte sich mit der sogenannten Schwarzen Romantik bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ausgebreitet, wobei die misogynen, gleichermaßen sexualisierenden, dämonisierenden und pathologisierenden, Frauenbilder der Belle Époque auch als Reaktion auf die als bedrohlich empfundene erste Welle der modernen Frauenbewegung und auf die zunehmend emanzipierte weibliche Sexualität verstanden werden können. Durch die Abgrenzung vom Gegengeschlecht würden, so Astrid Lange-Kirchheim, die Angstgestalten gleichzeitig zu Sehnsuchtsgestalten. Der Betrachter der Darstellungen sei dabei als Mann präfiguriert: „Nach der patriarchalischen Logik von weiblichem Blickobjekt und männlichem Blicksubjekt ist dieser weibliche Blick [der Dargestellten] im Vorhinein entmächtigt, eben ins Bild gesetzt und damit gebannt.“126
Abb. 2: Franz von Stuck, Die Sinnlichkeit, um 1889, Radierung, 56 x 38 cm, Stuttgart, Staatsgalerie Stuttgart.
Während Eva im allgemeinen Verständnis die Urmutter darstellt, handelt es sich bei der in Stucks Radierung von 1889 dargestellten Figur um eine andere Frau. Nach rabbinischer Auslegung existierten zwei unterschiedliche Partnerinnen Adams, wobei Lilith, so Dagmar Börner-Klein, erst mit dem Alphabet des Ben Sira ab dem 9. Jahrhundert zu Adams erster Frau erklärt wurde. Diese sei nach dieser Version der Schöpfungsgeschichte gleichzeitig mit Adam und somit ihm grundsätzlich gleichwertig geschaffen worden, während Eva aus seiner Rippe geformt wurde. In dieser Interpretation sei Liliths Anspruch auf Gleichberechtigung und ihre Weigerung, sich im Sex zu unterwerfen, mit ihrer Vertreibung und der Ersetzung durch Eva gestraft worden.127 Das weibliche Aufbegehren habe dann, so Dorothee Pielow, auch eine Diffamierung des Weiblichen nach sich gezogen:
„Dieses (unerlaubte und scheinbar unverzeihliche) Verlangen nach eigener, nicht dem Mann untergeordneter Aktivität beim Liebesspiel, ja mehr noch, der Wunsch ‚oben zu sitzen‘, trugen zur Entstehung vom Urbild der Lilith als wollüstigem Weib, ‚Dämonin der Onanie‘, als personifiziertem Succubus und Incubus bei.“128
Ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde die vormals in Sündenfalldarstellungen verbreitete zoologische Schlange, so Andrea Imig, vermehrt durch ein Mischwesen aus Frau und Schlange ersetzt.129 Während die frauenköpfige Schlange in diesem Zusammenhang als Symbol des Teufels zu verstehen sei,130 identifizierte der Kunsthistoriker Josef Kirchner sie in seiner 1903 erschienene Publikation Die Darstellung des ersten Menschenpaares in der bildenden Kunst als eifersüchtige Lilith:
„Lilith aber gönnte den vorerst ihr eigen gewesenen Gatten der Nachfolgerin nicht, und da ihr die psychische Gewalt über ihn genommen war, so nahm sie zur List ihre Zuflucht, um die Nebenbuhlerin zu verderben und jenen vielleicht wieder zu sich herüberzuziehen.“131
Kirchners Neuerfindung des Lilith-Mythos, mit der die Schlange eine aus Rache rückkehrende Versucherin wurde, wurde breit und weitgehend unkritisch rezipiert. So schreibt Jeffrey Hoffeld in seinem Aufsatz Adam’s Two Wives (1968):
„She consorted with the devil and took on the form of a serpent, with the features and long hair of a female (fulfilling her earlier reputation as a seducer). It was in this form that she became the serpent in the Garden of Eden, associated with the fall of man in Genesis.“132
Dabei werde Lilith, so Andrea Imig, weder im Alphabet des Ben Sira noch im kabbalistischen Sohar mit der Paradiesschlange in Verbindung gebracht. Vielmehr stützte sich Kirchner auf ein 1868 verfasstes Gedicht des Künstlers Dante Gabriel Rossetti,133 der Lilith beschrieb als
„[…] The witch he loved before the gift of Eve, that, ere the snake’s, her sweet tongue could deceive. And her enchanted hair was the first gold. And still she sits, young while the earth is old, And, subtly of herself contemplative, Draws men to watch the bright web she can weave, Till heart and body and life are in its hold. […]“134
Vor ihrem langen Haar wird in Rosettis Gedicht somit explizit gewarnt. Auch andere vermeintlich sündhafte Frauenfiguren wie Maria Magdalena wurden meist mit langem, offenem Haar dargestellt und im Zuge der Hexenverfolgung wurde Frauen der Kopf geschoren, um ihren Zauber unschädlich zu machen. Dass Lilith und Eva durchaus mit Hexen in Zusammenhang gebracht wurden, lässt sich unter anderem durch Martin Luthers Hexenpredigt (1526) belegen, in der er auf die Frage, warum das Gesetz gegen Zauberinnen vor allem von Frauen spricht, entgegnete: „Weil Frauen mehr als jene [Männer] durch Verführungen (superstitionibus) dem Satan unterworfen sind. Wie Eva. Der Volksmund nennt sie die Weisen Frauen. Sie sollen getötet werden.“135 Lilith wurde, so Dorothee Pielow als „verführerische Hexe und Hure, […] als langhaarige Dämonin, die Frauen und Kinder würgt und mit Männern Unzucht treibt“136 beschrieben und mit ihr auch das Bild der Schlange zum Feindbild erklärt.137
Dabei war die Schlange nicht immer weiblich konnotiert. Nach Natalie Lettner betont die rabbinische Tradition mitunter „den männlichen, phallischen Charakter der Paradies-Schlange“138 und der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim vertrat die Ansicht, Eva sei gerade durch die Männlichkeit der Schlange verführt worden.139 Die Vorstellung von der Schlange als weiblich habe sich, so Lettner, ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Kontext eines neuen christlich-theologischen Frauenbildes entwickelt. Mit einem anwachsenden Marienkult sei Eva nun der Gottesmutter im Sinne einer Heilige-Hure-Dichotomie gegenübergestellt worden.140 In einem Holzschnitt von Lukas Cranach dem Älteren aus dem Jahr 1523 wird eine zudem homoerotische Aufladung der Beziehung zwischen Eva und der Schlange deutlich (Abb.3).141 Eva drückt die ihr zum Verwechseln ähnliche Schlange mit dem Rücken gegen den Paradiesbaum, hinter dem Adam voyeuristisch hervorblickt. Während dessen Intimbereich durch ein Blatt bedeckt ist, wird die Nacktheit Evas durch den herbeieilenden, in voller Montur bekleideten Engel noch hervorgehoben. Im Zeitalter der Reformation stellte der Sündenfall ein beliebtes Motiv in der Kunst dar, verdeutlichte die Geschichte doch bildhaft die protestantische Sündenlehre und bot gleichzeitig die Möglichkeit einer unverfänglichen Aktdarstellung.
Abb. 3: Lucas Cranach d. Ä., Sündenfall, 1523, Holzschnitt, 27,6 × 22,1 cm, Wien, Grafische Sammlung Albertina.
Als weiteres Sujet hierfür bot sich die ebenfalls mit moralischen Vorstellungen aufgeladene Leidensgeschichte der schlangenhaarigen Medusa an. Nach griechischer Mythologie ist sie die einzige sterbliche unter den drei Gorgonentöchtern der Meeresgötter Phorkys und Keto und wird als unwiderstehliche Schönheit beschrieben. In Folge ihrer Vergewaltigung durch den Meeresgott Poseidon verwandelte Athene Medusa in ein schreckliches Monster, dessen Anblick jeden, der sie ansah, zu Stein erstarren ließ. Perseus enthauptete die Gorgone später durch den Schutz eines Spiegels. Das abgetrennte Medusenhaupt nutzte der nun als Heros Verehrte als Waffe und übergab es anschließend an Athene, die es auf ihrem Schild befestigte. Benvenuto Cellinis berühmte Bronzeplastik in der Loggia dei Lanzi in Florenz zeigt Perseus, wie er das Medusenhaupt in seiner linken Hand als Trophäe in die Luft streckt (Abb. 4). Unter seinen Füßen liegt der zusammengefallene, nackte Körper der Medusa, welcher, jeglicher Menschlichkeit beraubt, sogar im Tod sexualisiert ist. Die Skulptur des Perseus, die 1545 von Cosimo I. de’ Medici in Auftrag gegeben wurde, entstand im Kontext einer neuen Machtkonsolidierung, im Laufe derer sich der Fürst als heldenhaften Perseus inszenierte.142 Das Thema der Enthauptung hatte in der florentinischen Kunst, wie Allie Terry erläutert, eine rhetorische Funktion, um den wechselnden politischen Status der Medici zu beschreiben.143 Die Enthauptung der Medusa diente demnach als politisches Symbol, um die eigene Macht und Herrschaft zu legitimieren.
Abb. 4: Benvenuto Cellini, Perseus, um 1550, Bronze, Florenz, Loggia dei Lanzi.
Bereits in Homers Epos der Odyssee repräsentiert Medusa nach Achim Geisenhanslüke „eine weibliche Urmacht, von der eine Bedrohung ausgeht, der keine Form des männlichen Ruhms standhalten kann.“144 Sie stelle eine ambivalente Figur dar, in der sich Angst und Faszination dadurch überlagern, dass sie die männliche Geschlechterpolitik außerkraftsetze. Als böse Schwester von Frauengestalten wie Pallas Athene repräsentiere sie eine „Weiblichkeit, die für die männliche Ordnung eine kaum zu bewältigende Form der Bedrohung darstellt.“145 Sigmund Freud beschrieb den Schrecken der Medusa in seinem posthum erschienenen Aufsatz Das Medusenhaupt (1922) als Spiegelbild des Kastrationskomplexes, welcher im kleinen Jungen beim Anblick der weiblichen Genitalien geweckt würde. Bei Medusas Schlangenhaaren handele es sich nach Freuds Ansicht um Phallussymbole, die Versteinerung durch den Anblick Medusas parallelisiert er mit der Erektion, die dem Jungen oder Mann beruhigend vor Augen führt, dass er im Besitz eines Penis ist. Geisenhanslüke erklärt, für Freuds These sei der Akt des Sehens zentral, der „ihn mit der Angst konfrontiere, sein eigenes Genital zu verlieren.“146 Freud verstehe Medusa somit nicht als (drohende) Kastratorin, sondern, so Klaus Heinrich, als Kastrierte: „Selbst diese Drohung nimmt ja Freud den Frauen weg und fügt sie in effigie den Männern zu als ein Privileg, nämlich das höchst zweideutige: zu kastrieren.“147 Bei Hesiod sei, so Geisenhanslüke, allein Perseus handlungsmächtig und stünde gar im Mittelpunkt der Geburtsszene, in der Pegasus und sein Bruder Chrysaor aus dem abgeschlagenen Kopf entspringen. Von Medusa hingegen sei „nur noch als von einem passiven Material die Rede.“148
Abb. 5: Jean-André Rixens, La Mort de Cléopâtre, 1874, Öl auf Leinwand, 198 x 289 cm, Toulouse, Musée des Augustins.
Um jener weiblichen Passivität zu entkommen und zu vermeiden, als Trophäe vorgeführt zu werden, wählte die ebenfalls als Gefahr für die Männerwelt dargestellte Kleopatra VII. Philopator bezeichnenderweise den Schlangenbiss als Ausweg und setzte ihrem Leben angesichts der anrückenden römischen Armee unter Kaiser Augustus ein Ende. Manfred Clauss betont, wie schwierig die wenigen antiken Quellen gerade unter Berücksichtigung der männlichen Sprecherposition einzuordnen sind.149 Jean-André Rixens Gemälde La Mort de Cléopâtre aus dem Jahr 1874 zeigt Kleopatras leblosen, nackten Körper auf einem mit Geieremblemen verzierten Bett (Abb. 5). Mit von sich gestreckten, erschlafften Armen liegt sie, dem Blick des Betrachtenden ausgeliefert, auf dem Rücken. Lediglich ein Teil ihres Beines wird von einem weißen Tuch bedeckt. Eine ihrer zwei Dienerinnen berührt liebevoll die Schläfe der Königin und thront an ihrer Seite, als bewache sie die Tote, während die römischen Soldaten, die der ägyptischen Herrscherin einen selbstbestimmten Abgang nicht zugestehen wollen, bereits herbeieilen. Der Raum ist mit einer Statue der Isis, als deren Inkarnation sich die Königin stets inszeniert hatte, ausgestattet. Kleopatras Diadem mit vergoldeter Uräusschlange verweist auf das heilige Tier des Sonnengottes Amon Ra, das im alten Ägypten als Herrschersymbol genutzt wurde.150
Im Vordergrund ist ein Beistelltischchen mit Löwenbeinen und der Feigenkorb, in dem die todbringende Schlange zu ihr gebracht wurde, platziert, der gleichzeitig Assoziationen zum Paradiesgarten hervorruft. Jene Sündigkeit wird durch das Tierfell in Kombination mit Kleopatras entblößter Brust und ihrem goldenen Schmuck unterstrichen. Während Kleopatra als Männer verführende und verderbende Femme fatale, als Opfer einer tragischen Liebe und als Symbolfigur von verschwenderischem Luxus und moralischer Schwäche dargestellt wurde, sei „ihre historische Leistung als Königin, die rund 20 Jahre über Ägypten herrschte“151 in der Kunst hingegen unporträtiert geblieben. Wie Patrick Farsen betont, ist die in der Malerei dargestellte Nacktheit Kleopatras „ein frappantes Detail, das sich keiner historischen Quelle entnehmen lässt […].“152 Der römische Sieg über Kleopatra wird anhand ihres wehrlosen und ausgelieferten Körpers inszeniert. Nach Anja Wieber und Filippo Carlà-Uhink enthält das Thema „the soothing message that the established order, i.e. male domination, would return […].“153 Die meist männlichen Autoren der Antike hätten Frauen in Machtpositionen grundsätzlich als Normbruch und Zeichen der Schwäche ihrer männlichen Angehörigen beschrieben.154 So lästerte Plutarch, Kleopatra hätte Antonius‘ voriger Ehefrau Fulvia „eigentlich das Dressurgeld für das Pantoffelregiment zahlen müssen, worunter Antonius stand, denn von Fulvia übernahm sie ihn schon ganz gezähmt und längst darauf abgerichtet, auf Weiberstimmen zu hören.“155 Mit Kleopatras Tod habe in diesem Verständnis, so Camille Paglia, die psychische Stabilität über die psychische Impulsivität triumphiert.156
Geschichten über Kleopatra und ihren ausschweifenden Lebensstil seien in Rom gerade vor der Kontrastfolie der sittsamen Octavia ausgeschmückt worden.157 Das Säen von Zwietracht unter Frauen ist auch den anderen diskutierten Erzählungen eigen, welche die Beziehungen zwischen Lilith und Eva, Medusa und Athene sowie zwischen Kleopatra, Fulvia und Octavia als Beziehungen weiblicher Eifersucht und Rache beschreiben. Nach Klaus Heinrich werde das Rachebedürfnis Frauen geradezu angehext und dadurch ihre reale Unterdrückung legitimiert.158 Dabei findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt, indem Lilith von der Unterdrückten und Vertriebenen zur eifersüchtigen Rächerin und Schlange, Eva von der Verführten zur Verführerin, Medusa vom Vergewaltigungsopfer zur männervernichtenden Bestie und Kleopatras Schmerz zum dekadenten Bund mit einer Schlange umgedeutet werden. Gleichzeitig bedienen die Geschichten den von Sigmund Freud formulierten Madonna-Hure-Komplex. So, wie Schlangen neben der Gefahr auch die Fruchtbarkeit symbolisieren, so verkörpert die Frau eine Dichotomie der Mutter und der Verführerin. Eva, die sich im Kontrast zum passiven Adam aus ihrer Unmündigkeit befreit, wird von diesem zur Urmutter erklärt. Damit handelt es sich um eine ambivalente Erfahrung der Rebellion und Befreiung, die gleichermaßen neue Formen der Lust und der Unterdrückung hervorbringt. Obgleich der Selbstmord Kleopatras, durch den sie sich mithilfe des Schlangenbisses der männlichen Kontrolle entziehen kann, einen emanzipatorischen Moment aufweist, wird sie ähnlich wie Medusa leblos und unschädlich zur Schau gestellt. Ihre nackten Körper werden als wehrlos und verfügbar präsentiert und so die Geschlechterordnung wiederhergestellt.
Die Kunst des Symbolismus mit ihren Bildern gefährlicher Verführerinnen und die Psychoanalyse mit ihren Studien über Hysterie (1895) befassten sich beide mit unbewussten Ängsten und Träumen, entsprangen derselben Zeit und übernahmen so auch ähnliche misogyne Frauenbilder. Nach der Psychoanalytikerin Jessica Benjamin ist Freuds Beschreibung der Weiblichkeit „auch als ein wirklicher Teil der patriarchalischen Kultur lesbar, deren erkennbarer Inhalt sich auf eine bestimmte psychische Konstellation zurückführen läßt.“159 Benjamin betont, die Psychoanalyse sei trotz ihrer Unzulänglichkeiten dem aufklärerischen Projekt der Befreiung aus der Unmündigkeit verpflichtet. Obwohl sie die Gegensätzlichkeiten des aktiven Subjekts und des passiven Objekts, und damit die Geschlechterhierarchie, immer wieder neuinszeniert habe, stelle sie gleichzeitig die Instrumente zu deren Analyse bereit.160 Schließlich geht es, so Margarete Mitscherlich und Christa Rohde-Dachser, in der Psychoanalyse um die psychische Verarbeitung von Konflikten. Der Penis könne dann auch als symbolischer Wert, der über seine biologische Bedeutung als Sexualorgan hinausgeht, verstanden werden161 – als Symbol gesellschaftlicher Macht. Die Vorstellung von einem Penisneid der Frau und einer Kastrationsangst des Mannes steht so für eine reale weibliche Benachteiligungserfahrung auf der einen Seite und für eine männliche Angst vor dem Verlust der Vormachtstellung auf der anderen. Sowohl die von den Medici in Auftrag gegebene Skulptur der Medusa als auch die frauengestaltigen Schlangen der Renaissance und die symbolistischen Femme Fatale-Bilder des Fin de Siècle entstanden im Kontext sozialer oder politischer Umbrüche und reagierten auf drohende oder tatsächliche Machtverschiebungen.
Abb. 6: Chana Orloff, Ève et le serpent, 1966, Gips, Bronze, 55 x 29 x 1,23 cm, Privatsammlung.
Während die Angst vor der weiblichen Emanzipation und Rache von den Künstlern unter anderem auf ihre erotisch aufgeladenen Darstellungen von Lilith, Eva, Medusa und Kleopatra projiziert wurde, boten sich für Künstlerinnen andere Identifikationsmöglichkeiten. So verarbeitete die Bildhauerin Chana Orloff mit ihrem wiederkehrenden Sujet der vertriebenen Eva den Schmerz ihrer eigenen Erfahrung von Vertreibung und Verlust. Im Kontext ihres von antisemitischer Verfolgung geprägten Lebens nimmt sie die weibliche Perspektive der Geschichte ein und sieht in dieser keineswegs eine gefährliche Verführerin. Orloffs Eva-Figuren aus den Jahren 1916, 1928 und 1966 sind allesamt von Scham und Verzweiflung gezeichnet, bedecken mit ihren Händen Schritt und Gesicht. Insbesondere mit der spätesten Ausführung Ève et le serpent, die Orloffs Stilentwicklung unter den Eindrücken der Shoah und des Krieges widerspiegelt und zum ersten Mal auch eine Schlange beinhaltet, wird durch eine grobe und expressionistische Gestaltung die Drastik des Motivs verstärkt (Abb. 6). Ähnlich wie Chana Orloff sich mit Eva identifizieren konnte, erkannte sich die Bildhauerin Camille Claudel in der Leidensgeschichte Medusas wieder. 1901 schuf sie eine Skulptur der enthaupteten Gorgone mit ihren eigenen Gesichtszügen, um dem Schmerz des Verlassenwerdens durch Auguste Rodin Ausdruck zu verleihen (Abb. 7). Während Rodin, der neben seiner Ehe weiterhin Affären unterhielt, größeren Ruhm erreichte, verarmte Claudel zunehmend, erlitt einen vermeintlichen Nervenzusammenbruch und entwickelte eine ständige Furcht, Rodin stehle ihre Entwürfe. Im Jahr 1913 wurde sie gegen ihren Willen von ihrer Familie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, wo sie dreißig Jahre später verstarb und als Künstlerin in Vergessenheit geriet.162 Nach Anne Higonnet verkörpert Camille Claudel das schöpferische Potenzial von Frauen, wobei ihre Geschichte die gewaltigen inneren und äußeren Hindernisse verdeutlicht und vor Augen führt, welchen Preis die Gesellschaft Frauen für ihre Normabweichungen abverlangt.163 Claudel galt lange nur noch als Muse Rodins. Ihre Geschichte wurde somit wie Medusas aus der männlichen Perspektive umgeschrieben und sie ihrer aktiven Rolle der Kreation beraubt.
Abb. 7: Camille Claudel, Persée et la Gorgone, 1901, Marmor, 196 x 111 cm x 99 cm, Paris, Musée Rodin.
Achim Geisenhanslüke hatte Medusa eine Gebärfähigkeit im doppelten Sinne attestiert: „Aus ihrem Schoß, in diesem Fall der blutenden Wunde, die der abgeschlagen Kopf hinterlassen hat, entspringt ein kleines Pferdchen und mit diesem eine Form der Kunstmächtigkeit, für die der mythologische Name Pegasus einsteht.“164 Dass er Medusas unfreiwilliges Gebären der Nachkommen ihres Vergewaltigers aus ihrem abgeschlagenen Kopf als „Kreativität“ bezeichnet, steht in starkem Kontrast zu Simone de Beauvoirs Verständnis der Gebärfähigkeit als Ursprung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. So schreibt auch Camille Paglia: „Ob sie Mutter werden will oder nicht, die Natur zwingt sie unter das Joch des unerbittlichen, unwandelbaren Rhythmus der Fortpflanzung.“165 Selbst die Menstruation, die in Anspielung auf die Vertreibung aus dem Garten Eden passenderweise als „der Fluch“ bezeichnet wird, könne vom Mann noch als für ihn bedrohlich wahrgenommen werden: „Sie verwandelt einen Schleimauswurf in das sich ausbreitende Gespinst eines fühlenden Wesens, das an der schlangengleichen Nabelschnur hängt, mit der die Frau jeden Mann bindet.“166 Camille Claudels Schicksal hallt in zeitgenössischen Narrativen nach, in denen Frauen, verbunden durch das Schlangenmotiv, sexualisiert, dämonisiert und pathologisiert werden. Ein prominentes Beispiel ist Britney Spears, die 2001, sieben Jahre vor ihrer Entmündigung und dem Verlust ihrer Autonomie, für ihren VMA-Auftritt mit einer Schlange als Sinnbild der Verführung gefeiert wurde. Die Öffentlichkeit erklärte sie für verrückt, als sie sich symbolisch von der ihr aufgezwungenen Sexualisierung befreite, indem sie sich die Haare abrasierte. Ähnliche Mechanismen wirken auch heute in medial begleiteten Gerichtsprozessen, im Rahmen derer Frauen als hinterlistige Schlangen oder Wahnsinnige diffamiert werden. In Internetforen finden sich Gewaltfantasien gegen Amber Heard, die dort als „abusive mentally deranged snake“ oder „manipulative snake“167 be-zeichnet wird.
Die Psychoanalytikerin Hélène Cixous unterstrich bereits in ihrem 1975 erschienenen Essay Le Rire de la Méduse die Bedeutung von weiblichen Perspektiven, deren Vernachlässigung sie bei Freud kritisierte und deren Glaubwürdigkeit immer noch weit unter den Aussagen eines Mannes eingeordnet werden. Im Hinblick auf die von Frauen ausgehende Gefahr stellte Cixous klar: „You only have to look at the Medusa straight on to see her. And she’s not deadly. She’s beautiful and she’s laughing.“168 Doch angesichts ihrer Geschichten stellt sich die Frage: Müssen Frauen wie Medusa, Camille Claudel und Britney Spears schön sein und lachen, damit ihr Anblick erträglich ist?
Biografie
INES GERBER ist Kunsthistorikerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte an der Universität Leipzig und der TU Berlin, mit Auslandssemestern in Paris und Haifa. Gerber beschäftigte sich bereits mit Kleopatra-Bildnissen des 19. Jahrhunderts, ihre Master-Arbeit trägt den Titel »Das Leben als Quelle der Kunst: Chana Orloffs Denkmäler in Israel zwischen persönlichem Zeugnis und nationalem Narrativ«. Sie ist auf der Open Source Plattform DepositOnce der TU-Berlin veröffentlicht. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die feministische und die antisemitismuskritische Kunstgeschichte.
Ein Beispiel aus der Kunst, welches Aufschluss über den Diskurs rund um weibliche Sexualität im 18. Jahrhundert und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen gibt, ist das Gemälde „Junges Mädchen beim Lesen“ von Jean-Honoré Fragonard. Die Kunsthistorikerin Melissa Percival verweist darauf, dass das Werk eine „erotische Possibilität“ birgt, eine Annahme, die im Beitrag differenziert ins Augenmerk genommen wird. Hierbei wird das Ziel verfolgt, ausgehend von Fragonards „Junges Mädchen beim Lesen“, darzulegen, inwiefern das einzelne weibliche Lesen sexuell gedeutet wurde. Um eine differenzierte Auseinandersetzung zu eröffnen, wird darüber hinaus betrachtet, welche Bedeutung das Lesen für weibliche Personen des 18. Jahrhunderts innerhalb patriarchaler Strukturen gehabt hat.
Jean-Honoré Fragonards (1732 – 1806) Œuvre ist von erotischen Bildmotiven durchzogen, die in ihrer sexuellen Dimension klar zu lesen sind. Sie zeigen vielfach Szenen in Schlafgemächern, in denen weibliche Figuren oftmals entblößt dargestellt sind und wodurch jene Bilder für die Betrachtenden schnell als erotisch eingeordnet werden können. Besonders interessant wird es, wenn man nun auf ein Kunstwerk trifft, das in der kunsthistorischen Forschung erotisch interpretiert wird, welches jedoch beim Betrachten der Darstellung keine eindeutige Erotik offenbart: Dies ist bei Fragonards Ölgemälde Junges Mädchen beim Lesen (ca. 1769) der Fall, welches der Gemäldegruppe der Fantasy Figures152 zugerechnet wird. Als Betrachter*in blickt man auf dieses Werk und der Blick trifft auf ein Mädchen, ihr Blick aber ist ganz auf das kleine Buch in ihrer Hand gerichtet – Sie scheint dessen Inhalte in sich aufzunehmen, gar zu absorbieren (Abb. 1).169
Abb. 1: Jean-Honoré Fragonard, Junges Mädchen beim Lesen, ca. 1769, Öl auf Leinwand, 81,1 x 64,8 cm, Washington, D. C., National Gallery of Art. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 283.
Auffallend ist die Kleidung des Mädchens, insbesondere das Gelb ihres Kleides, welches einen farbigen Blickfang darstellt. Über einer Lehne, auf der ihr linker Arm ruht, liegt erneut gelber Stoff – für das Auge ist es nur schwer festzustellen, zu welchem Teil des Kleides dieser gehört. Die Falten des Stoffes sind detailliert ausgeführt und durch geschickt gemalte Licht- und Schatteneffekte wird dessen Stofflichkeit betont. Auch das Kissen, an welchem der Rücken des Mädchens lehnt, ist mit gekonnten Pinselstrichen gemalt, so dass durch die evozierte Stofflichkeit und Volumen, das Kissen fast greifbar erscheint. Möchte man nun den Versuch unternehmen, alle Details der Darstellung zu erfassen, wird man schließlich mit rätselhaften Uneindeutigkeiten konfrontiert: es ist nicht auszumachen, was auf den Seiten des Buches geschrieben steht, da diese bloß mit schwarzen Linien angedeutet sind; zudem lassen sich über den Ort, an dem die Figur dargestellt ist, nur Vermutungen äußern. Es ist einzig ein brauner Hintergrund zusehen, in dem kein Mobiliar dargestellt ist. Rein die Lichtsituation lässt die Annahme zu, dass das Mädchen in einem Innenraum sitzt. Durch das Spiel mit den Uneindeutigkeiten lässt das Bild viele Fragen zu: Wer ist das Mädchen? Was liest sie gerade? Und welche Assoziationen werden beim Betrachten ausgelöst? Letztendlich kommt die Frage auf, wie sich dieses Werk deuten lässt. Auf diese bietet Melissa Percival in ihrer Publikation Fragonard and the Fantasy Figures eine Antwort an.170 Eine Antwort, welche im Folgenden differenziert betrachtet und als Ausgangspunkt genommen wird, um einerseits nachvollziehen, weshalb das einzelne, individuelle weibliche Lesen als Bildmotiv sexuell gedeutet wurde. Andererseits soll ihre Antwort um eine tiefergreifende Dimension erweitert werden, die beachtet, welche Bedeutung das Lesen für weibliche Personen des 18. Jahrhunderts innerhalb patriarchaler Strukturen abseits diskursiv wirkmächtiger Auslegungen hatte.171 Ein Vorhaben, welches den Versuch darstellt, eine differenzierte und kritische Lesart eines Gemäldes zu ermöglichen, welches sich durch seine künstlerische Ausführung, die den Fokus insbesondere auf die Farbkomposition und den lebendigen Duktus lenkt, einer direkten erotischen Lesart zu entziehen scheint.
Weibliches Lesen erotisch gelesen
In ihrer Publikation widmet Percival eine recht kurze Passage der Interpretation des Gemäldes des lesenden Mädchens. Sie sagt, dass die Darstellung des Gemäldes eine „erotische Possibilität“172 birgt. Dies macht sie an der Position der linken Hand, welche die Kunsthistorikerin nah am Intimbereich des dargestellten Mädchens verortet sowie des vermutlichen Inhalts des kleinen Buches – womöglich ein Roman mit anzüglicher Handlung – fest. In ihrer Analyse wird zudem auf den männlichen Betrachter verwiesen, der auf dieses Bild eines konzentriert lesenden Mädchens mit Neugier und Lust blickt.173
Begibt man sich nun auf die Suche nach dieser erotischen Possibilität und schaut erneut auf das Werk, ist folgende Erkenntnis naheliegend: Blickt man heutzutage auf die Darstellung, scheint es, als ließe sich in der Darstellung des Mädchens keine explizite Erotik entdecken. Keine stark entblößten Körperstellen, kein verführerischer Blick zur betrachtenden Person des Gemäldes. Aber wie kann es sein, dass eine scheinbar so anständige Darstellung dennoch erotisch ist? Betrachtet man rein die Art und Weise der Darstellung, lässt sich die von Percival suggerierte Erotik anfechten: Die Hand, die laut ihr in der Nähe des Intimbereichs platziert ist und dessen Hinweis die Möglichkeit zur Selbstbefriedigung zu suggerieren scheint, lässt sich beim genauen Hinsehen als auf der Lehne ruhend, erkennen. Auch das so angespannte Halten des Buches mit der rechten Hand und der konzentrierte Blick auf dieses, erscheinen eher unschuldig und auf das vertiefte Lesen fokussiert als einer sexuellen Fantasie zu verfallen. Zudem verweist die Kunsthistorikerin an früherer Stelle selbst darauf, dass die Fantasy figures vergleichsweise anständig dargestellt sind.174 Die erotische Lesart gewinnt somit eigentlich erst an Form, wenn man die vorherrschenden Vorstellungen der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts mit in den Blick nimmt, welche Percival wie folgt beschreibt:
„Fragonard’s fantasy figures are comparatively modest. But […] solitary female subjects regularly provoked an erotic response in the male viewer. In the eighteenth-century, the trope of a woman reading was highly charged: novels were seen as immoral, and women’s imaginations, supposedly more volatile than men’s, were thought to be highly susceptible to their corrupting influences.”175
Dieser Aspekt, dass auch anständig wirkende Darstellungen im 18. Jahrhundert als erotisch anregend gelesen wurden, thematisiert ebenfalls die Kunsthistorikerin Mary D. Sheriff in ihrem Buch Moved by Love: Inspired Artists and Deviant Women in Eighteenth-Century France.Es sei im Jahrhundert in dem Fragonard lebte so gewesen, dass es einerseits explizit erotische Szenen auf die unmoralischen Auswirkungen weiblichen Lesens schließen lassen. Andererseits verweist sie darauf, dass in dieser Zeit auch in ‚genial verschleierten‘ Kunstwerken ein moralischer Verfall bzw. ein Verlangen nach Liebe – eine Auswirkung, die in Hinblick auf Diskurse um weibliche Sexualität vielseitig deutbar ist – von damaligen Betrachter*innen wahrgenommen wurde.176
Um dies deutlicher zu machen, ist es hilfreich ein anderes Werk zum Vergleich heranzuziehen. Ein wichtiges Werk, welches im Zusammenhang mit weiblichen Lesenden im 18. Jahrhundert und dem dazugehörigen Diskurs referiert wird, ist Pierre-Antoine Baudouins (1723 – 1769) Die Lektüre. In Gegenüberstellung mit Junges Mädchen beim Lesen hilft es zudem nachzuvollziehen, weshalb eine ‚verhüllte‘ Darstellung, wie die von Fragonard, dennoch erotisch gelesen wurde.177
Abb. 2: Pierre-Antoine Baudouin, Die Lektüre, um 1765, Gouache auf Papier, 29 x 22,5 cm, Paris, Musée des Arts Décoratifs. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard Amoureux. Galant et libertin, Paris (Musée du Luxemburg) 2015, S. 181.
Die Lektüre (Abb. 2) zeigt eine barbusige Frau, die in einem Boudoir auf einem Sessel sitzt, mit ihrem Kopf leicht zur Seite geneigt. Auf einem neben dem Sessel platzierten Hundehäuschen liegt ein aufgeschlagenes, kleinformatiges Buch, welches der weiblichen Figur offenbar aus der Hand gefallen zu sein scheint. Ihr Körper wirkt entspannt – zum einen durch ihre Kopfhaltung, zum anderen durch ihre schlaff herabhängenden Gliedmaßen. Sie lehnt zudem an einem voluminösen blauen Kissen, welches an das im Gemälde Fragonards erinnert. Das Werk von Baudouin wird vielfach als aufreizend und provokant aufgefasst sowie als eine Darstellung von Masturbation gedeutet.178 Darüber hinaus wird es als eine der wichtigsten Darstellungen, die einen Einblick in weibliche Sexualität im 18. Jahrhunderts gibt, gesehen.179 Wenn man Baudouins Werk mit Fragonards Junges Mädchen beim Lesen vergleicht, dann unterscheiden sie sich in ihren Darstellungsweisen: Die Figur aus Die Lektüre lässt sich durch ihre entspannte Körperhaltung und entblößten Brüsten deutlicher in einen erotischen Kontext setzen. Diese beiden expliziten Entscheidungen der Darstellung weichen von Junges Mädchen beim Lesen ab. Das Mädchen, das von Fragonard gemalt wurde, ist noch immer in ihre Lesetätigkeit vertieft. Sie hält das Buch weiterhin in der Hand und sie ist – ausgehend von dem, was der Bildausschnitt erkennen lässt – vollständig bekleidet. Es gibt aber auch Aspekte, die die beiden Werke miteinander verbinden: Beide sind, beziehungsweise im Fall der weiblichen Figur Baudouins waren, mit der Lektüre eines kleinformatigen Buches beschäftigt.
Abb. 3: Pierre-Antoine Baudouin, Die Lektüre, Detail, um 1765, Gouache auf Papier, 29 x 22,5 cm, Paris, Musée des Arts Décoratifs. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard Amoureux. Galant et libertin, Paris (Musée du Luxemburg) 2015, S. 181.Abb. 4: Jean-Honoré Fragonard, Junges Mädchen beim Lesen, Detail, ca. 1769, Öl auf Leinwand, 81,1 x 64,8 cm, Washington, D. C., National Gallery of Art. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 283.
Zudem lehnen beide an einem Kissen (Abb. 3 und 4), welches sehr voluminös ist, was durch die Setzung von Licht und Schatten sowie die Farben erreicht wird. Diese Kissen verbinden die beiden Darstellungsweisen miteinander. Melissa Percival legt dar, dass Fragonard solch füllig wirkende Kissen auch in anderen Gemälden malte, in denen leicht oder gar nicht bekleidete Frauen in Schlafzimmerszenen dargestellt und die dadurch deutlich in einen erotischen Kontext gesetzt sind – wie beispielsweise Le Feu aux poudres, welches sich in der Sammlung des Louvre in Paris befindet (Abb. 5) und ein Exempel für die eingangs beschriebenen erotischen Werke Fragonards ist.180 Die erotische Lesart lässt sich also scheinbar durch den diskursiven Kontext rund um das Lesen von Romanen im 18. Jahrhundert sowie die – direkte oder gedankliche – Gegenüberstellung mit anderen Kunstwerken unmissverständlich erotischen Bildinhalts, erklären.
Abb. 5: Jean-Honoré Fragonard, Le Feu aux poudres, vor 1778, Öl auf Leinwand, 37 x 45 cm, Paris, Musée du Louvre. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 163.
In Hinblick auf die Betrachtung des Gemäldes Junges Mädchen beim Lesen wurde von Percival auf den männlichen Betrachter verwiesen, der auf das Kunstwerk blickt und eine solche erotische Komponente hineinprojiziert. Wolfgang Kemp, der sich umfassend mit dem Verhältnis zwischen Kunst und betrachtender Person auseinandergesetzt hat, bemerkt, dass jedes Kunstwerk an jemanden adressiert ist und dadurch eine Kommunikation mit den Betrachter*innen entsteht. Darüber hinaus verweist das Kunstwerk dadurch auf seinen Platz und seine Auswirkungen in der Gesellschaft, in der es situiert ist.181 Dies kann eng mit dem Konzept des Male Gazes, insbesondere von Laura Mulvey in den 1970er Jahren geprägt, gedacht werden. Ein Auszug ihres Textes Visuelle Lust und narratives Kino gibt einen pointierten Einblick: „In einer Welt, die von sexueller Ungleichheit bestimmt ist, wird die Lust am Schauen in aktiv/männlich und passiv/weiblich geteilt. Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird.”182 Es wird deutlich, dass der Blick und somit die Rolle des männlichen Betrachters eine Machtkomponente beinhaltet, da er durch seinen Blick auf die weibliche Person einwirkt. Dieses Machtverhältnis wird insbesondere erkennbar, wenn beachtet wird, dass das Konzept des Gazes in den visuellen Künsten Blickakte – hier durch den männlichen Betrachter – beschreibt, die durch ein vorherrschendes Verlangen und den Wunsch Kontrolle über das betrachtete Objekt zu erlangen, gekennzeichnet sind.183
Leserinnen im Spannungsfeld patriarchaler Strukturen
Dass zwischen Frauen und Männern ein Ungleichgewicht – nicht nur in Hinblick auf betrachtendes männliches Subjekt und betrachtetes weiblichen Objekt – herrscht, wird auch in den Bildvergleichen, die Melissa Percival anführt, deutlich. Sie vergleicht Junges Mädchen beim Lesen mit zwei anderen Werken der Gruppe Fantasy Figures. Als erstes wählt sie eine andere Frauendarstellung mit dem Titel Die Studie (Abb. 6).
Abb. 6: Jean-Honoré Fragonard, L’Étudie, dit aussi parfois Le Chant [Die Studie, teilweise auch genannt Der Gesang], 1750/1775, Öl auf Leinwand, 82 x 66 cm, Paris, Musée du Louvre. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 273.
Statt dem für Frauen verbreiteten kleinen Buchformat ist die Frau mit mehreren großformatigen Büchern – eines davon geöffnet – dargestellt. Sie verweist diesbezüglich darauf, dass diese Darstellungsweise trotzdem immer noch davon abweicht, wie im Kontrast dazu Männer bei der Lektüre dargestellt werden. Dafür wählt sie als weiteren Vergleich das Portrait von Denis Diderot184 (Abb. 7), eine männliche Figur, abgebildet mit Büchern. Die schwere Kleidung des Mannes sowie seine Kette suggerieren laut Percival eine gewisse Professionalität, wie beispielweise die eines Anwaltes. Dadurch wird ihm ein größeres Eintauchen in das Lesen und somit in das Dazulernen zu gesprochen als der dargestellten Frau zuvor – für diese sei Lesen ein bloßer Zeitvertreib.185
Abb. 7: Jean-Honoré Fragonard, Portrait de Mr Meunier, dit autrefois Denis Diderot [Portrait von Mr Meunier, oder auch Portrait von Denis Diderot], um 1769, Öl auf Leinwand, 82 x 65 cm, Paris, Musée du Louvre. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Fragonard, Paris/New York (Galeries Nationales du Grand Palais/The Metropolitan Museum of Art) 1987, S. 264.
Durch die Vergleiche wird deutlich, dass die Darstellungen weiblichen Lesens nicht nur in Hinblick auf Diskurse um beispielsweise die weibliche Sexualität im 18. Jahrhundert gesehen und gedeutet werden können, sondern ferner eine Auseinandersetzung mit diesen Darstellungen Aufschluss darüber bietet, wie die Lesetätigkeit von Frauen in Abweichung von männlichen Lesenden gesehen wurde – eine Dimension, der Percival keine weitere Beachtung schenkt.
Lesen kam im 18. Jahrhundert, insbesondere für Frauen, ein neuer Stellenwert zu. Es war der Fall, dass damals immer mehr Personen lesen lernten, da Lesen zunehmend als bedeutende Fähigkeit angesehen wurde und dies auch in der Bildung sowie Erziehung weiblicher Personen einbezogen wurde. Viele von Ihnen, die Teil der Bildungsschicht waren, besaßen inzwischen auch Zeit zum Lesen, da es zu veränderten Haushaltsaufgaben kam.186 Wie durch die Vermutung erkennbar wird, dass es sich der möglichen Buchgattung der Lektüre des Jungen Mädchens beim Lesen um einen Roman handeln könnte, kam es, dass dieses Genre im 18. Jahrhundert eine zunehmende Beliebtheit bei Leser*innen erfahren hatte. Jedoch gab es auch Kritik bezüglich des Lesens von Romanen, insbesondere wenn diese von Frauen gelesen wurden, da der Verdacht bestand, dass diese Buchgattung das weibliche Geschlecht negativ beeinflussen würde. Es wurde angenommen, dass Romane sexuelle Fantasien hervorrufen würden, eine Annahme, die sich auch in den Darstellungen und Interpretationsansätzen von Bildmotive individuell lesender Frauen widerspiegelt.187 Es wurde befürchtet, dass eine extensive Lesetätigkeit möglicherweise außerdem dazu führen könne, dass die „soziale Ordnung“ aufgewühlt und gefährdet werde.188 Eine Annahme, die auf eine mögliche Furcht hinweist, dass hierdurch die patriarchale Gesellschaft, in der der Mann die vorherrschende Position und Macht besitzt, ins Wanken geraten könne. Um die Strukturen zu sichern, die eine Gesellschaft mit männlicher Vormachtstellung festsetzt, ist es ein Instrument, die Frau aus der politischen Öffentlichkeit, in der Entscheidungen besprochen und gefällt, sowie Machtverhältnisse festgesetzt werden, auszuschließen. Dies geschieht insbesondere durch die Abtrennung der öffentlichen Sphäre von der privaten, häuslichen Sphäre.189 Laut der Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer wurde insbesondere mit der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert „eine Reihe von Konventionen, Regeln und Institutionen geschaffen, die die Frau der Privatheit, Männer dagegen der Öffentlichkeit und der Politik zuordneten, also die gesellschaftlichen Sphären geschlechtlich kodierten und hierarchisierten.“190
Was hat das nun mit Fragonards Junges Mädchen beim Lesen zu tun? Das Gemälde zeigt, wie die weibliche Person dem Lesen als selbstständiger, einzelner Aktivität nachgeht – vermutlich in einem privaten Innenraum. Im Hinblick darauf sind Überlegungen von Griselda Pollock gewinnbringend, die sie in ihrem Text Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne, die sie in Bezug auf die Kunst des Impressionismus entwickelte, festhält und die eine differenzierte Lesart des Gemäldes ermöglichen, welche über die Kunst dieser Zeit die Rolle der Frau und ihre Verortung in der Gesellschaft bestimmt und reflektiert. Pollocks Darlegungen sind aber auch für die Kunst aus Fragonards Zeitalter fruchtbar, da sie gesellschaftliche und politische Strukturen thematisieren, die sich im 18. Jahrhundert entfaltet haben, wie anhand der Ausarbeitungen von Birgit Sauer deutlich wurde. Griselda Pollock thematisiert in ihren Ausführungen die Orte, an denen Frauen in Kunstwerken dargestellt wurden.191 In einer ihrer Betrachtungsebenen verweist sie darauf, dass Frauen in der Regel in der „häusliche[n] oder private[n] Sphäre“192 gezeigt werden und bekundet damit, dass die Trennung auch in der Kunst Eingang gefunden hat. Durch diese Perspektive ist es möglich über die Kunst dieser Zeit die Rolle der Frau und ihre Verortung in der Gesellschaft zu bestimmen und zu reflektieren. Auch wenn man den genauen Raum, in der sich das lesende Mädchen befindet, nicht benennen kann, scheint es so, als ob sie sich in einem Innenraum aufhält. Sie ist also räumlich sowie im Hinblick der gesellschaftlichen Ebene in die häusliche Sphäre verwiesen, also in einen Bereich in denen explizit Frauen verortet wurden und der niedriger angesehen war. Darüber hinaus bot dieser Bereich weniger Handlungsmöglichkeiten als die politische Öffentlichkeit, in der sich männliche Personen bewegten.193 Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit stellt ein Instrument dar, welches eine „hierarchisch[e] Zweigeschlechtlichkeit“ herstellt und als Rechtfertigung der „Unterordnung von Frauen“ genutzt wurde.194 Von der Literaturwissenschaftlerin Ursula Becher wird das individuelle Lesen zudem als „Teil der Privatsphäre“ aufgefasst.195 Sie hebt die Bedeutung des Lesens für Frauen in einer Welt in der Öffentlichkeit und Privatheit geschlechterbasiert voneinander getrennt sind folgendermaßen hervor:
„Zeit zum Lesen zu finden, war so wichtig, weil Lesen für die meisten dieser Frauen einem existentiellen Bedürfnis entsprach. Im Lesen fanden sie Zugang zu einer fernen Welt, die ihre eigene Welt werden mußte. Ihre alltägliche Welt zählte nicht, verglichen mit der herrlichen Welt, die die Bücher ihnen erschlossen, der Alltag freilich wurde – vom Glanz der Buchwelt erstrahlt – erträglicher. Die Lektüre anspruchsvoller Bücher verbindet sie mit der Welt, die für sie, die sie aufs Haus, auf die private Innenwelt verwiesen sind, Außenwelt, Öffentlichkeit darstellt. Viele Anstrengungen der Leserin sind darauf gerichtet Einblick in diese Welt und Zugang zu ihr zu gewinnen.“196
Es wird deutlich, dass Leserinnen durch ihre Tätigkeit in die unpolitische private Sphäre verortet wurden. Dies ist repräsentativ für den Platz den Frauen im patriarchalen Europa des 18. Jahrhunderts hatten und somit aufschlussreich, um zudem Darstellungsweisen in Kunstwerken kritisch zu reflektieren und dabei zu schauen, ob Deutungsansätze ausschließlich diskursiv wirkmächtige Narrative reproduzieren. In der Auseinandersetzung wird nämlich darüber hinaus erkennbar, dass Frauen zu dieser Zeit nicht nur Romane lasen und deren potenziell sexuellen Inhalten verfielen, sondern auch auf Literatur zurückgriffen, um sich weiterzubilden. Bechers Ausführungen zeigen zudem auf, dass Frauen vermehrt das Verlangen hatten Zutritt zur politischen Öffentlichkeit zu erlangen.197 Dies zeichnet sich auch in Hinblick auf Aktivistinnen zum Ende des Jahrhunderts ab. Als 1789 in Frankreich die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte verfasst wurde, wurden Frauen nicht als Bürgerinnen angesehen. Dies ist der Grund, weshalb sich beispielsweise Olympe de Gouges (1748 – 1793) – eine bedeutende Frauenrechtlerin – für die Gleichstellung der Frau und den Erhalt gleicher Rechte für das weibliche Geschlecht einsetzte.198
Schon ein Ende in Sicht?
Trotz der Bestrebungen, die die Gleichberechtigung im Zusammenhang mit den politischen Veränderungen der französischen Revolution forderten, blieben patriarchale Strukturen bestehen und Frauen wurden politisch noch immer nicht als Bürgerinnen und Teil der politischen Öffentlichkeit gefasst.199 Im darauffolgenden Jahrhundert ist die Verortung der Frau in die private Sphäre weiterhin üblich und hierbei auch in den Darstellungen der Kunst präsent, wie Grisdela Pollock in ihrem Text zu den Räumen der Weiblichkeit in der Moderne festhält.200 Auch lesende Frauen sind weiter als Bildsujet in der Kunst des neuen Jahrhunderts beliebt, wie beispielsweise zahlreiche Werke impressionistischer Maler*innen zeigen. Pollock hebt hervor, dass Frauen auch in der Kunst weiter der Privatsphäre zu geordnet sind, „[s]eltener werden Frauen in der Öffentlichkeit abgebildet und wenn, dann in einer beschränkten Weise. Frauen gingen im Park spazieren, fuhren aus und besuchten Orte respektierlicher Unterhaltung wie das Theater oder die Oper, Räume bürgerlicher Muße und des rituellen sich Zeigens.“201 Um einen weiterführenden Blick zu wagen, wäre es nun interessant zuschauen, wie sich möglicherweise Deutungen einer erotischen Possibilität übertragen oder auch weiterentwickelt haben könnten. Wird weibliches Lesen – im Impressionismus auch in Parks oder anderen öffentlichen Orten dargestellt – noch immer mit einer möglichen sexuellen Komponente assoziiert? Oder sind es nun andere Bildmotive, z.B. Szenen in Vergnügungsorten der Bourgeoise, die eine erotische Lesart suggerieren – wie beispielsweise Édouard Manets (1832 – 1883) Un bar aux Folies Bergère (1882)?202
Biografie
JUSTINE NEY studiert Kunstgeschichte und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit Juni 2022 ist sie studentische Mitarbeiterin in dem DFG-Forschungsprojekt „Klimagipfelkunst. Kunst und politisches Event, 1972 – 2022“, welches von Dr. Linn Burchert geleitet wird. Ferner ist sie Redaktionsmitglied im Open-Access Journal re:visions, das seinen Fokus auf Kunst und visuelle Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts legt. Ihr Forschungsinteresse umfasst theoretische Diskurse und verschiedene künstlerische Medien, wobei sie einen besonderen Schwerpunkt auf Fotografie sowie kritische und feministische Zugänge zu Kunst und Kunstgeschichte hat.
Als Aktivist, Künstler und Autor im New York der 80er-Jahre erfuhr David Wojnarowicz die AIDS-Epidemie am eigenen Leib. In den Bildern der Sex Series (1989) thematisierte er seine eigene Krankheit, jedoch immer vor einem universellen, öffentlichen und politischen Hintergrund. Es handelt sich dabei um collagenartige Fotoarbeiten, die im Negativ, also mit invertierten Tonwerten erscheinen. Es ist bemerkenswert, wie das Fotonegativ als ursprünglich technisches Hilfsmittel im fotografischen Prozess eine entscheidende Rolle für die aktivistische Bildaussage einnimmt. Denn die Sex Series thematisiert auf formaler Ebene, wovon sie inhaltlich berichtet, nämlich dass die Dichotomie von Negativ und Positiv im Falle von HIV/AIDS über Leben und Tod entscheiden konnte. Die Frage ist, ob das Negativ als Bild eine Ausdrucksform des Aktivismus sein kann?
In New York City war die Aids-Epidemie in den 1980er und 90er-Jahren auf ihrem Höhepunkt. Die Öffentlichkeit sah in Aids damals eine Krankheit173 von „Randgruppen“ wie Homosexuellen oder Drogenabhängigen, was den Grad der Stigmatisierung parallel zu den Zahlen der Todesopfer in die Höhe schnellen ließ. 1987 – im selben Jahr, in dem Prinzessin Diana einem Aids-Patienten die Hand schüttelte und damit zur Entstigmatisierung der Erkrankung aufrief – erhielt der Künstler, Aktivist und Autor David Wojnarowicz seine eigene HIV-Diagnose. Wojnarowicz schuf bis dahin hauptsächlich Collagen und Malereien, doch als sein Freund und Mentor Peter Hujar, der im selben Jahr an den Folgen von Aids verstarb, ihm seine Dunkelkammer vermachte, begann Wojnarowicz auch rein fotografische Arbeiten herzustellen.
In einem aufwendigen Montageverfahren erarbeitete er die aus mehreren Teilen bestehende Arbeit Sex Series (1989). Es handelt sich um collagenartige Fotoarbeiten, deren prominentestes Merkmal ihr negatives Erscheinungsbild mit invertierten Tonwerten ist. Wojnarowicz belichtete Farbdias in einem Vergrößerungsgerät auf schwarzweißes Fotopapier, wodurch die Umkehrung von Hell und Dunkel stattfand.178 Durch Maskierungen und sehr präzises Arbeiten schaffte er es, die Bilder von Stadtansichten, Fortbewegungsmitteln oder Naturphänomenen mit kleinen runden „Peepholes“ zu kombinieren, die, wie die Okulare eines Mikroskops Blutzellen und andere verschiedene Referenzen, meist aber intime oder pornografische Darstellungen enthalten. Die Bilder sind auf einer dritten Ebene überblendet mit Textpassagen von Wojnarowicz selbst, in denen er zum Beispiel seine sexuellen Begegnungen verarbeitet, sowie Poesie oder Pressetexte, die von Ereignissen im Kontext der Aids-Epidemie berichten.
Im Folgenden soll analysiert werden, inwiefern die negative Bildsprache, welche die Sex Series als eigentümliches Hauptmerkmal bestimmt, mit der inhaltlichen Ausrichtung der Bilder und auch Wojnarowiczs politischer Haltung, die aus seinen Texten hervorgeht, korrespondiert. Denn durch das Negativ als Stilmittel thematisiert David Wojnarowicz‘ Sex Series auf formaler Ebene, wovon sie inhaltlich berichtet: Die Dichotomie von Negativ und Positiv kann im Falle von HIV über Leben und Tod entscheiden. Das fotografisch-technische Verfahren, die fotografische Materialität, wird mit der inhaltlichen Ebene der Fotocollagen in Verbindung gebracht und zum Instrument eines spezifischen Bildausdrucks erweitert. Es soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie besonders die invertierte Erscheinung des Negativs hier eine aussagekräftige, wenn nicht aktivistische Bildsprache findet.
Abb. 5: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
Die Bilder, die David Wojnarowicz als Grundlagen für seine Montagen verwendet, gehören allesamt dem Bereich der Öffentlichkeit an. Es handelt sich beispielsweise um eine Landschaftsaufnahme mit Zug (Abb. 5), einen Wirbelsturm (Abb. 2), den New Yorker East River (Abb. 1 und 7) oder eine Luftaufnahme eines Flugzeugs mit Fallschirmspringern (Abb. 3). Das Thema der Bewegung scheint eine Rolle zu spielen, manchmal verkörpert durch ein Fortbewegungsmittel, an anderer Stelle durch die flüchtige, leicht verwackelte Aufnahme, so als hätte man sie im Vorbeifahren gemacht, wie beim Beispiel des Silos (Abb. 8).
Abb. 8: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
Über dem Bild des wütenden Wirbelsturmes (Abb. 2) blendet sich ein weißer Text ein, in dem Wojnarowicz vom Sex mit einem Fremden berichtet. Er beschreibt sehr detailliert, fast ohne Punkt und Komma, dessen Kleidung und wie er ihn derer Schritt für Schritt entledigt. Das Lesen gerät in einen fluiden Sog, wie im Strudel des abgebildeten Sturms – bis plötzlich eine Art Realitätsabgleich stattfindet:
„and he kissed behind my ears and licked across my throat and across my face and down the bridge of my nose to my mouth where he put his warm tongue in and I have the secondary stages of Aids and the man on the T. V. who looks like he has a potatoe for a head is telling me and the rest of the country that I must supress my sexuality“185
Abb. 2: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
Die Aufmerksamkeit verschiebt sich auf ein Fernsehgerät, das die private und intime Begegnung zu einem öffentlicheren Zusammenhang hin öffnet. Sie wird in einen größeren Kontext der Verantwortung gestellt, die vor allem jeder Art von Sex auferlegt wurde, der nicht eine langfristige und monogame Form der Sexualität implizierte. Nicht Promiskuität an sich, sondern ganz bestimmte, „abweichende“ Formen und Praktiken von Sexualität wurden mit dem Vorwurf der riskanten Fahrlässigkeit zu unterdrücken versucht.192 Generell aber sollte Enthaltsamkeit als der wirksamste Schutz gegen eine Infektion kommuniziert werden.
Insgesamt sechs runde Vignetten flankieren links und rechts das Bild. Wie durch Gucklöcher erhalten Betrachtende hier einen Einblick auf zwei Menschen, die sich küssen und berühren; auf Geldscheine und Münzen; den Ausschnitt eines Gemäldes, das den heiligen Sebastian darstellt, einen Pestheiligen der später zu einer queeren Ikone avancierte; einen Funkturm, der sich wohl auf die Medienberichterstattung bezieht; Zellen unter einem Mikroskop und der Röntgenaufnahme eines Embryos.
Während die Hintergrundbilder allesamt zu einem „Außen“ und „Öffentlichen“ gehören, gewähren die Gucklöcher, die einen viel privateren Blick versprechen, die Sicht auf etwas Inneres. Ein Guckloch, eine kleine Öffnung in einer Wand oder Tür, durch das man (heimlich) sehen kann, was auf der anderen Seite geschieht. Der Durchblick macht etwas sichtbar, was eigentlich nicht zu sehen wäre; und möglicherweise kommt etwas ans Licht, was gar nicht gesehen werden soll oder will. Etwas Verborgenes wird plötzlich sichtbar. Das Guckloch verbindet die Bereiche des Außen mit dem Innen, wie etwa bei einem Türspion; das Private mit dem Öffentlichen, wie etwa bei einem Blick durchs Schlüsselloch. Im Guckloch offenbart sich etwas, was abseits der Öffentlichkeit, abseits der Normen und Regeln der konservativen, heteronormativen Gesellschaft existiert.
Was die Peepholes zu sehen gewähren, sind Assoziationsmomente und Referenzen, die in Kombination gesehen ein Gesamtbild ergeben, das syntaktischen Regeln folgt.
„To me, photographs are like words and I generally will place many photographs together or print them one inside the other in order to construct a free-floating sentence that speaks about the world I witness.“203
Jeder Teil des montierten Bildes steht für einen Teilzusammenhang, der im Gesamten seinen Sinn entfaltet. Werden diese Einzelelemente, die Wojnarowicz hier als Worte bezeichnet, dann aus ihrem Kontext genommen, verlieren sie diese Bedeutung, die sie in ihrer syntagmatischen Zusammenstellung im Gesamtgefüge angenommen hatten.
Im Bild mit dem Wirbelsturm ist unten rechts die Röntgenaufnahme eines embryonalen Skeletts montiert, und darüber ein mikroskopisches Bild von Blutzellen. Beides sind wissenschaftliche Bilder, die einen Blick ins Innere des menschlichen Organismus, dessen Strukturen und Grundfunktionen gewähren.
„It’s like stripping the body of flesh in order to see the skeleton, the structure. I want to know what the structure of all this is in the way only I can know it.“204
Die Dinge auf ihre zugrundeliegenden Strukturen herunterzubrechen, um ihre genaue Funktionsweise und ihre Mechanismen zu erkennen und gegebenenfalls kritisieren zu können, wird besonders im Fall der Sex Series zu Wojnarowiczs Strategie: „I’m trying to lift off the weight of the preinvented world so I can see what’s underneath it all.“205 Es geht um die Erforschung dessen, was unterhalb der klar ersichtlichen Oberfläche existiert und (noch) keine Sichtbarkeit erlangt hat. Wenn David Wojnarowicz von der preinvented world spricht, so meint er eine Welt voller festgesetzter Werte, mit einer bestimmen Art des Denkens und des Blicks auf die Welt, mit Normen, die eingehalten werden müssen, um das System der Konventionen aufrecht zu erhalten. Eine Welt also, in der er für sich selbst als stigmatisierter Infizierter und Homosexueller ganz und gar keinen Platz sieht.
Dies spiegelt sich in der Verwendung des Fotonegativs als formales Symptom dieser Darstellung der Struktur der Dinge, des Skeletts und Grundgerüsts eines Zusammenhangs wider. Mit dem Negativ wird die sonst unsichtbare Grundlage des fotografischen Mediums und seine Funktionsweise in den Fokus gerückt. Das Negativ ist das Ur-Bild, das Eigentliche der Fotografie, das primäre Bild, das im fotografischen Prozess entsteht. Jedoch ist es im Vergleich zum Positiv ein weitaus unbeliebteres und weniger gesehenes Bild. Das Positiv ist das, was wir umgangssprachlich als Foto bezeichnen. Das Positiv ist es auch, das gesehen, vermarktet und verbreitet wird. Dem Negativ verbleibt dann nur noch die Rolle des Helfers, das einen Zwischenschritt im Prozess zum richtigen und gültigen Bild darstellt. Die Umkehrung der Licht- und Schattenverhältnisse im Negativ ist nicht nur auf formaler Ebene eine Irritation unserer Sehgewohnheiten, sondern bewirkt auch im übertragenen Sinne, dass die Welt aus ihren gewohnten Fugen gerät und sich in ihr düsteres, merkwürdiges und monströses Gegenteil verkehrt. Formal betrachtet sind die beiden Gegenpole Negativ und Positiv zunächst gleichwertige Teile, die sich genau gegenüberstehen. Doch durch die ungleiche An- und Verwendung sowie durch kulturelle Konnotationen und die pejorativen Assoziationen des Negativen hat sich ein klares hierarchisches Verhältnis und eine Asymmetrie gebildet.
Die Arbeit mit den Grundlagen des fotografischen Mediums ist hier die Voraussetzung für eine Grundlagenanalyse der Gesellschaft. Wie ist sie konstituiert? Wie bringt sie bestimmte Repräsentationen und Sichtbarkeit hervor und wie werden andere Daseinsformen unterdrückt? Was erlangt wie Sichtbarkeit und warum? Und was eben gerade nicht?
Die hellen Schatten und dunklen Lichter, von denen man angesichts des Negativs sprechen muss, stellen seine sprachliche Beschreibung vor Herausforderungen und Widersprüche. Es gibt keine Worte für das, was da beschrieben werden soll, weil das Negativ als Bild unseren Sehgewohnheiten kaum entspricht, und weil es der Welt, wie wir sie kennen, unähnlich ist. Zum einen spricht dies für das enorme bildliche Potenzial des Negativs, denn durch den charakteristischen Modus der Umkehrung ist es zu einem bildlichen Ausdruck befähigt, der die Möglichkeiten der Sprache und des Denkens überschreitet. Zum anderen steht es aber auch dafür, wie wenig Spielraum unsere Gesellschaft für Phänomene bietet, die sich sprachlich nicht greifen lassen, oder für Phänomene, die eben nicht den festgesetzten Normen entsprechen.
Es wird eine Umpolung von hierarchischen Strukturen bewirkt, die im Kontext der Sex Series eine besondere Tragweite entwickelt, denn die oben beschriebene Disposition des Negativs lässt sich vom formalen Erscheinungsbild auf die inhaltliche Ebene der Bilder der Sex Series übertragen, wodurch auf größere Zusammenhänge wie Ungleichbewertung und Unterdrückung hingewiesen wird.
„Describing the once indescribable can dismantle the power of taboo. Speaking about the once unspeakable can make the invisible familiar if repeated often enough in loud and clear tones and pictures.“206
Nicht-normative Vorstellungen und Bilder von Intimität verbleiben in der preinvented world in der Regel unsichtbar. Werden sie nun doch, wenn auch nur durch kleine Gucklöcher, in den Bereich des Sichtbaren verschoben, erzeugt dies eine Irritation und Provokation, die eine Destabilisierung von festgesetzten Vorstellungen zum Effekt hat. Das Negativ wird zum Ausdruck einer Andersartigkeit, der die heterosexuelle, weiße Öffentlichkeit mit Stigmatisierung und Unterdrückung begegnete.
Besonders durch die Bilder von Sex in Wojnarowiczs Arbeit kulminiert sein politischer Aktivismus und die gesellschaftliche Dimension der Aids-Epidemie mit deren eigentlich privaten, persönlichen oder gar intimen Aspekten. Die Verbindung der beiden Seiten ist für Wojnarowicz offensichtlich. In seinem Buch Close to the Knives schreibt er:
„When I was told that I’d contracted this virus it didn’t take me long to realize that I’d contracted a diseased society as well.“207
An dieser krankhaften Gesellschaft kritisiert er die Unterdrückung von Lebensformen, die abseits der Konventionen einer bürgerlichen Gesellschaft existieren. In seinen vielzähligen Texten greift er Institutionen wie die Familie, den Staat und die Religion an und setzt sich mit sozialen und politischen Ordnungen auseinander, durch die viele Menschen ausgeschlossen wurden und werden. Das Bildermachen ist für ihn eine Möglichkeit, aus den Zwängen dieser Gesellschaft herauszufinden, sie herauszufordern.
„History is created by and preserved for rich white straight people. Views of the human body have been informed by this version of history to the point at which the functions of the body, such as sexuality have been reduced to a generic set of symbols that remain at odds with what we privately embody“208
Mit der Wahl der negativen Bildform wurde auch ein Instrument gewählt, genau diese „version of history“, mit der gleichsam eine bestimmte Version von Bildlichkeit einhergeht, aufzugreifen, sie umzukehren und zu kritisieren. Mithilfe des Negativs anders zu sehen, offenbart dann das Potenzial, durch Sichtbarmachung Veränderung zu bewirken und den Blick zu erweitern.
Abb. 4: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.Abb. 6: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
Vor allem die Darstellung von Sex im Negativ, wie sie in den Bildern mit dem Wald (Abb. 4), dem Schiff (Abb. 6) oder dem Fluss (Abb. 1 und 7) zu sehen ist, spiegelt die Alienierung, Entfremdung und Entmenschlichung von Homosexualität aus dem konservativen Blick heraus wider, und gleichzeitig ist diese Sichtbarmachung im Negativ ein Vor-Augen-führen und Anklagen dieses Blicks selbst.
Abb. 1: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.Abb. 7: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
„To make the private into something public is an action that has terrific repercussions in the preinvented world.“209
Etwas privates in etwas öffentliches zu kehren, oder allgemeiner gesprochen, einen Teil einer dualen Struktur in sein Gegenteil umzukehren, hat enorme Auswirkungen auf diese gesellschaftliche Grunddisposition, die Wojnarowicz kritisiert. Mithilfe der negativen Bildform gelingt es ihm also auf die systematische Unterdrückung zu verweisen, und durch das Sichtbarmachen des Unterdrückten stellt er dar, wie der Umgang mit Aids von mangelnder, fehlender oder falscher Information geprägt war. Das Entgegensetzen des Negativs gegen einen „positiven Blick“ spiegelt dann auch die Polarisierung der US-Amerikanischen Politik und Kultur wider: Religiöse Traditionalisten wie der Politiker Jesse Helms, der aktiv der Aufklärung über Aids entgegenarbeitete, standen progressiven, säkularen Protagonisten gegenüber, die gegebene Strukturen für verhandelbar ansahen.210
Susan Sontag reflektiert in ihrem Buch Aids und seine Metaphern, das ebenfalls 1989 erschien, darüber, wie Haltungen gegenüber einer Krankheit gesellschaftlich geformt werden. Besonders virulent ist dabei die Kriegsmetapher, die im Allgemeinen häufig für Krankheiten verwendet wird.
Abb. 3: David Wojnarowicz, Untitled, from the Sex Series, 1989, Gelatin silver print, 40,6 x 50,3 cm, New York, Whitney Museum of American Art.
Im Bild mit den Fallschirmspringern (Abb. 3) findet eine Art Invasion statt: Aus einem Flugzeug, das aus der Luft aufgenommen wurde, springen Fallschirmspringer über einer unbesiedelten Landschaft ab. In der unteren linken Ecke befindet sich ein Peephole, das eine Person zeigt, die über eine zweite, auf dem Bauch liegende Person gestützt ist. Das Wort „Invasion“ hat sowohl eine militärische als auch eine biologische Bedeutung. Die beiden kulminieren in dem Bild durch die Montage, die Wojnarowicz vornimmt. Die Besetzung eines Territoriums durch eine (feindliche) Partei, hier aus der Luft, gerät so in den Zusammenhang der sexuellen Übertragung des HI-Virus, des potenziellen Eindringens von schädlichen Viren in einen Organismus.
Aids wird entsprechend der Kriegsmetapher als eine Krankheit wahrgenommen, die durch einen von außen kommenden Feind verursacht wird. Es ist nicht nur eine Infektion einer Einzelperson, sondern die Infiltration der gesamten Gesellschaft. Die Effekte, die dadurch ausgelöst werden, haben reziproke Wirkungen: Die Diagnose
„beleuchtet blitzartig eine Identität, die man Nachbarn, Arbeitskollegen, Angehörigen und Freunden sorgsam verheimlicht hatte. Sie bekräftigt aber auch Identität: In jener ‚Risikogruppe‘, die in den USA bisher am schlimmsten betroffen ist, nämlich bei den homosexuellen Männern, hat sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugt, aber auch die Erfahrung gebracht, daß die Kranken isoliert sind und von der Umwelt drangsaliert und verfolgt werden.“211
Das Othering, das die Krankheit mit sich bringt, kann also auch ein identitätsstiftendes Merkmal einer betroffenen Gruppe sein.
Zwischen Aids als Krankheit, Homosexualität und der medialen Beschaffenheit des von Wojnarowicz für die Sex Series gewählten Mediums lassen sich weitere metaphorische Parallelen ziehen. Die Inversion der Tonwerte als Hauptmerkmal des Negativs ist begrifflich verwandt mit einer veralteten medizinischen Beschreibung von Homosexualität. Im Duden findet sich die Bezeichnung „ein Invertierter“ für eine Person, die „homosexuell veranlagt“ ist.212 Die Umkehrung dient hier zur Beschreibung einer Abweichung von einer im Gegensatz dazu nicht verkehrten Art der Sexualität.
Weiter hat Aids mit dem Fotografischen metaphorisch gemeinsam, dass es sich um eine prozessuale Disposition und ein Denken in Stadien handelt.
„Aids, diese Krankheit, bei der Menschen als krank begriffen werden, bevor sie es sind; […] und die vielen den sozialen Tod beschert, bevor sie noch physisch tot sind […]“213
Diese Vorgängigkeit entspricht dem Negativ in seiner Rolle als Vor-Bild, einem Bild, das vor dem eigentlichen Positivbild existiert und dessen Grundlage ist. Es handelt sich um eine infizierte Sichtbarkeit, die existiert, noch bevor das positive Bild ausbricht.
In Close to the Knives deutet David Wojnarowicz die Verbindung seiner HIV-Diagnose zur fotografischen Materialität und zum Negativ ebenfalls an:
„These days I see the edge of mortality. The edge of death and dying is around everything like a warm halo of light sometimes dim somtimes irradiated. I see myself seeing death. It’s like a transparent celluloid image of myself is accompanying me everywhere I go.“214
Hier werden gleich mehrere Bezüge erkenntlich: Erstens stellt Wojnarowicz einen direkten Zusammenhang zwischen seinem Zustand und der fotografischen Materialität her: Das Zelluloidbild, also das Negativ, dient ihm als Metapher, um seinen entrückten, befremdlichen und merkwürdigen Zustand zu beschreiben. Zweitens stellt sich das Bild einer Verdopplung ein, wenn er schreibt, das Zelluloidbild seiner selbst begleite ihn überall hin. Diese Verdopplung kennen wir von Negativ und Positiv, und der Tatsache, dass eine Fotografie im Grunde aus zwei Bildern besteht, die untrennbar miteinander verbunden sind. Parallel zum Dualismus von Negativ und Positiv assoziiert Wojnarowicz den Dualismus von Leben und Tod. Er schreibt: „I see myself seeing death.“ Mit diesem Satz erzeugt er zum einen eine Betrachtung zweiter Ordnung, und zum anderen ein weiteres Paradox, das der oxymoronartigen Struktur des Negativs entspricht: Ich sehe mich selbst, wie ich den Tod sehe. Das Erleben des eigenen Sterbens ist eine unmögliche und unauflösbar widersprüchliche Vorstellung, analog zu den widersprüchlichen Lichtverhältnissen, die im Negativ sichtbar werden.
Jedoch befindet er sich, wie Wojnarowicz schreibt, am Rande der Sterblichkeit, das heißt in einem Zwischenzustand, der ebenfalls dem Negativ in seiner Helferrolle vergleichbar ist, wenn man bedenkt, dass das Negativ dasjenige Bild ist, das in seiner Transitfunktion zwischen einem Abbild der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst steht. Das Negativ befindet sich im Dazwischen, macht das Ungesehene sichtbar, präsentiert das Abwesende, macht das Unsagbare und Paradoxe ausdrückbar; genau weil es, wenn es als es selbst sichtbar wird, auch seine eigene Unterdrückung erkennbar macht. Das Negativ als Bild erzeugt also paradoxe Situationen und befindet sich oft genau im Dazwischen, indem es eine Doppel- oder Zweiseitigkeit und ihre asymmetrische Wertung aufzeigt.
Drittens eröffnet David Wojnarowicz mit seiner Beschreibung des „warm halo of light“ einen Bezug zur Lichtmetaphorik, die kulturgeschichtlich eine prägende Funktion innehat. Alles Helle, Sichtbare und Anwesende ist kulturgeschichtlich mit dem Positiven und Guten assoziiert. Das Negativ als die dunkle Seite der Fotografie dient hier als Metapher für den düsteren Schleier einer Krankheit, die sich über das Leben, das Bild und die Wahrnehmung dieses Mannes gelegt hat. Es ist ein infizierter Blick auf die Welt, der ein Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit und die gesellschaftlichen Bedingungen der Erkrankung in den Bereich der Sichtbarkeit zu verschieben vermag.
David Wojnarowicz’ Sex Series wirft einen Blick auf eine Welt voller Konventionen und Vorurteilen. Durch die Verwendung des Negativs und das Integrieren der montierten Peepholes als Gestaltungselemente wird etwas sichtbar gemacht, und gleichzeitig dessen eigentliche Unsichtbarkeit thematisiert. Durch die Umkehrung des Negativs soll genau das Sichtbarkeit erlangen, was sonst unterdrückt wird. So kann das Andere, die Abweichung für sich sprechen und neue Perspektiven aufzeigen. Was dadurch sichtbar wird, verändert den Blick auf die Welt – es ist nun ein Blick, der aus der Perspektive einer unterdrückten Minderheit gerichtet wird. Diese Art der Umkehrung ist der Modus, nach dem diese Bilder funktionieren, und sie ist auch genau ihr Thema.
Sowohl die private als auch die gesellschaftliche Ebene werden in Wojnarowiczs Serie parallel geführt und das Thema der Sexualität wird mit der politischen und sozialen Dimension der Aids-Epidemie und den individuellen Erfahrungen als HIV-Infizierter verknüpft. Wojnarowicz macht dadurch das (eigene) Infiziertsein zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem, indem er es in einen größeren, öffentlicheren und politischen Zusammenhang stellt.
Die Gegenüberstellung von Privatem und Öffentlichkeit, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Leben und Tod, von Identität und Alterität wird durch die Verwendung des Negativs deutlich. Die gegebene Ordnung der Dinge wird bildlich umgekehrt und eine Irritation in der Wahrnehmung ausgelöst. Dies ist ein radikaler Akt, weil er Glaubens- und Wertesysteme der heteronormativen Gesellschaft auf den Kopf stellt. Es werden visuelle und gesellschaftliche Codes herausgefordert und die von Wojnarowicz sogenannte „preinvented world“ wird mit einer anderen, scheinbar fremden Welt konfrontiert, in der das Unterdrückte (Re-)präsentation erlangt. Die Umkehrung des Blicks und der Denkweisen wird zum Bildprogramm der Sex Series. Es wird dadurch umso sichtbarer, wie die Welt und unsere Wahrnehmung strukturiert sind. Erst dann können gegebene Denkmuster hinterfragt und neu gedacht werden. In dieser Betrachtungsweise werden die Werke der Sex Series zu aktivistischen Bildern.
Biografie
NINA MAIER (*1994) studierte Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften (BA und MA) an der Universität Konstanz. Zur Zeit arbeitet sie für eine private Kunstsammlung und promoviert an der Uni Konstanz zum fotografischen Negativ. Ihre Schwerpunkte sind die Theorie und Geschichte der Fotografie, zudem gilt ihr Interesse der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Nina Maier ist Kuratorin in der Kunsthalle Neuwerk in Konstanz.
Sebald Beham, der als der „gottlose Maler von Nürnberg“ in die Kunstgeschichte einging, schuf provokante Darstellungen von Heiligen, die bis heute Fragen aufwerfen. Welche Intention verfolgte der Künstler? Waren die erotischen, fast pornografischen Bilder nur ein Versuch, finanzielle Gewinne zu erzielen oder lassen die Malereien weitere Bedeutungsebenen zu? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Daria Ünver in ihrem Beitrag am Beispiel des Stiches Joseph und Potiphars Weib von Sebald Beham.
Wenn man sich heute den kleinformatigen Kupferstich von Sebald Beham (1500-1550)208 anschaut, der eine erotische, aber auch durchaus gewaltsame Begegnung eines Paares (Abb. 1) zeigt, fällt einem schnell der Begriff „Pornografie“215 ein, den der Duden wie folgt definiert: „sprachliche, bildliche Darstellung sexueller Akte unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs und unter Ausklammerung der psychischen und partnerschaftlichen Aspekte der Sexualität“216.
Abb. 1 Sebald Beham, Joseph und Potiphars Weib (1526), Kupferstich, D 5,2 cm, Kunstsammlung der Universität, Göttingen, Inv. D447. Abbildungsnachweis: Ausst.- Kat.: Gerissen und gestochen. Graphik der Dürerzeit aus der Kunstsammlung der Universität Göttingen, Paderborn, Emden, Göttingen (Städtisches Museum, Johannes a Lasco – Bibliothek, Kunstsammlung der Universität Göttingen), 2001, S. 22, Abb. 7.
Tatsächlich muss die Darstellung Sebalds als pornografisch eingeordnet werden, wenn man diesen Pornografiebegriff zugrunde legt. Auf dem briefmarkengroßen Kupferstich (Abb. 1) ist eine halbnackte Frau in der Bildmitte dargestellt, die sich soeben aus einem Bett erhebt. Ihr hochgerutschtes Kleid lässt den Blick auf ihre Genitalien frei. Sie dreht ihren ganzen Körper nach links und versucht, den vor ihr fliehenden nackten Mann an dessen Mantel festzuhalten, der das einzige Kleidungsstück ist, das er trägt. Den Betrachtenden wird der Eindruck vermittelt, dass der Mann gleich aus dem Bild verschwindet, da seine Bewegung dynamisch in die Gegenrichtung zu der Frau ausgerichtet ist. Obwohl man die männliche Figur nur in einem Ausschnitt sieht, erkennt man sofort ein pikantes Detail der Darstellung, und zwar sein erigiertes Glied. Dieses Bild könnte eine witzige erotische Anspielung auf die verkehrte Ordnung der Geschlechter sein217, wenn das Bild keine Inschrift trüge: An prominenter Stelle benennt Sebald Beham den Protagonisten seiner Darstellung als „Joseph“.
Die nach modernem Verständnis als pornografisch einzuordnende Darstellung geht auf die biblische Geschichte von Joseph und Potiphars Weib218 zurück. Joseph wurde von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft und landete im Haus des Potiphars. Die Ehefrau des Potiphars verliebt sich in Joseph und versuchte, ihn zu verführen. Joseph entzog sich jedoch ihrem Drängen, woraufhin ihn Potiphars Frau aus Rache verleumdete.219 Vor diesem Hintergrund wirkt dieses Blatt noch befremdlicher. Das Bild des nackten und sexuell erregten Patriarchen stellt einen drastischen Bruch mit den wohlbekannten Darstellungen dieses Motivs dar. Man denkt unmittelbar an das Fresko Raffaels in den vatikanischen Loggien, das seine große Verbreitung durch den Stich von Marcantonio Raimondi220 fand und die Darstellungstradition des Motivs entscheidend prägte. Tatsächlich kann die anmutige antikisierende Figur Raffaels mit der nackten, auf seine Fleischlichkeit reduzierten Figur Behams kaum verglichen werden.
Schon auf den ersten Blick wird klar, dass Joseph auf dem Stich nach Raffaels Vorlage den richtigen Weg wählen und der Verführung durch Potiphars Frau widerstehen wird. Die Bilderfindung Behams lässt die Entschlossenheit des Heiligen, seine Keuschheit zu bewahren, zunächst infrage stellen. Die unerwartet menschliche Reaktion auf die Verführung, und zwar seine sexuelle Erregung, empfinden wir als abstoßend. Die gleiche Reaktion der zeitgenössischen Betrachtenden aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, die solche Bilder als „anstößig“ oder als „unsittlich“ gesehen haben, veranlasste Ernst Wilhelm Bredt sogar dazu, eine Verteidigungsschrift gegen moralische Vorwürfe an sinnliche Kunstwerke mit dem sprechenden Titel „Sittliche oder unsittliche Kunst?“ zu verfassen.221 Mehr als hundert Jahre später versetzt der Stich Behams die Betrachtenden immer noch in Verwirrung. Was stört uns eigentlich an diesem Bild?
Die Erektion oder die über dem Kopf der Frau angebrachte Inschrift „Joseph“, die die Hauptfigur des Stiches benennt? Die anonyme gegenseitige Kopie nach Sebald Behams Blatt aus der Sammlung des Kupferstichkabinetts in Bremen steht dem originalen Originalgrafik sehr nahe und ist sogar mit Sebalds Signatur 222 versehen. Der einzige Unterschied liegt darin, dass der Kopist auf die Inschrift verzichtete. Ohne die Benennung der Hauptfigur als Joseph rückt die Darstellung in den Bereich der derben erotischen Bilder, die auch viele Zeitgenossen von Sebald Beham zur Belustigung des Publikums schufen.223 Ein prägnantes Beispiel dafür ist ein Erhard Schön zugeschriebener Vexierholzschnitt aus der Sammlung der Albertina.224 Auf der linken Seite ist eine Frau mit einem deutlich älteren Partner, vermutlich ihrem Ehemann, auf dem Bett sitzend dargestellt. Auf der rechten Seite des Blattes entdecken die Betrachtenden die gleiche Frau im Bett mit ihrem jungen erregten Liebhaber. Die Besonderheit des Blattes liegt darin, dass sich die obszöne Szene der rechten Bildhälfte nur aus einem bestimmten, am linken Rand des Blattes angebrachten Betrachtungspunkt erkennen lässt. Dieses frivole Augenspiel, das die ungezügelte weibliche Sexualität zum Thema hat, war offensichtlich für die Erheiterung der männlichen Betrachter gedacht.
Da solche Blätter ihren Platz in der Bildkultur des sechzehnten Jahrhunderts hatten, dürfen die abstoßenden Reaktionen nicht nur auf die unbeschönigte Darstellung des männlichen Gliedes zurückgeführt werden. Der Stich von Sebald Beham wirft zunächst die undenkbare Frage nach der sexuellen Begierde des Heiligen in den Raum, die uns heute, wie vermutlich auch den Zeitgenossen Behams, schockierend erscheint. Wie polemisch die Frage nach den menschlichen Begierden der Heiligen im sechzehnten Jahrhundert war, lässt sich am Beispiel des Heiligen Johannes Chrysostomos illustrieren.
Die Geschichte des Einsiedlers, der seine Begierde nicht zähmen konnte, sich an einer unschuldigen Prinzessin vergeht und sie, um der weiteren Verführung zur Sünde zu entgehen, von einem Felsen stößt, fand schon vor der Reformation ihre Verbildlichung.225
Die Legende von Heiligen Chysostomos entnahmen die Künstler dem meistverbreiteten Proposapassional des Mittelalters, das 1471/72 in Augsburg bei Günther Zainer unter dem Titel Der HeiligenLeben erschienen war.226 Mit diesem Sujet setzten sich auch die Brüder Beham auseinander. Der Stich von Barthel Beham (1502-1540) (Abb.2)227 zeigt eine liegende weibliche Aktfigur mit einem neben ihr stehenden Kind im Freien. Die gesamte Aufmerksamkeit der Betrachtenden liegt auf der schönen, wohlgebauten Aktfigur, sodass die kleine kriechende Figur des büßenden Heiligen Chysostomos mit dem Mittelgrund zu verschmelzen scheint.
Abb.2 Barthel Beham, Die Büße des Hl. Chrysostomus (um 1525), Kupferstich, 5,5 × 7,8 cm, The British Museum, London, Inv. Nr. 1882,0812.326. Abbildungsnachweis: Thomas Schauerte, Jürgen Müller, Bertram Kaschek, Zur Einführung, in: Thomas Schauerte, Jürgen Müller, Bertram Kaschek (Hrsg.): Von der Freiheit der Bilder. Spott, Kritik und Subversion in der Kunst der Dürerzeit, Petersberg 2013, S.16, Abb. 2.
Die starke Polemik über den Heiligen entflammte erst nach der Publikation von Martin Luthers Schrift Die Lügend von St. Johanne Chrysostomo228. Schon durch das Wortspiel Legende/Lügende wurde Luthers Leserschaft verdeutlicht, dass es sich um eine spöttische Stellungnahme des Reformators zu der seiner Ansicht nach mit abstrusen Wundern überladenen Mirakelerzählung handelte. Am Beispiel der Vita des Hl. Chrysostomus verdeutlichte Luther, wie absurd er die Praxis der Heiligenverehrung in der katholischen Kirche fand.229 In seinem Werk kommentierte Luther ironisch die Legende und versah sie mit einem Nachwort, in dem er die Heiligenerzählung als eine teuflische Lüge entblößte. An der Legende des Hl. Chysostomus kritisierte Luther exemplarisch alles, was ihn an der Heiligenverehrung der katholischen Kirche störte: die Fürbittfunktion der Heiligen, den Erwerb der Heiligkeit durch eigene Büße sowie den Ablasshandel.230 Luther bekräftigte nochmals seine Position, dass die Heiligen für die Gläubigen nicht als Fürbitter, sondern lediglich als Glaubensvorbilder dienen sollten. Die Aufforderung, in dem Heiligen den vorbildhaft frommen Gläubigen zu sehen und sich von der katholischen Tradition der Heiligenverehrung zu distanzieren, gab den Anstoß für die Entwicklung einer literarischen Gattung der biblischen historie.231 Im Gegensatz zu den teuflischen lügenden galten die Historien als wahrhaftige Erzählungen über das Leben der Heiligen.232
Diese Vermenschlichung der Heiligen und ihre Entrückung aus dem Bereich der wundertätigen Helden:innen ermöglicht es, die Frage nach ihren fleischlichen Begierden zu stellen.233 Schon in Bezug auf den Stich von Barhtel Beham wurde bemerkt, dass die ausgesprochen sinnliche Darstellung des weiblichen Rückenaktes die Betrachtenden zwingt, sich mit den eigenen unkeuschen Gedanken zu konfrontieren, und ihnen die Möglichkeit nimmt, sich moralisch über den gesündigten Heiligen zu erheben.234 Dieser Gedanke lässt sich auf den Stich Joseph und die Frau des Potiphar übertragen. Die vollkommen verständliche menschliche Reaktion Josephs auf die Bemühungen seiner Verführerin soll den Betrachtenden verdeutlichen, dass es sogar dem alttestamentlichen Patriarchen schwerfiel, seine Lüste zu überwinden.
Abb. 3 Sebald Beham, Joseph und Potiphars Weib (1544), Kupferstich, 8,1 × 5,6 cm, Kunstsammlung der Universität, Göttingen, Inv. Nr. D448. Abbildungsnachweis: Ausst.- Kat.: Gerissen und gestochen. Graphik der Dürerzeit aus der Kunstsammlung der Universität Göttingen, Paderborn, Emden, Göttingen (Städtisches Museum, Johannes a Lasco – Bibliothek, Kunstsammlung der Universität Göttingen), 2001, S. 22, Nr. 4.
Diese These bestätigt sich auf einer weiteren Fassung des Motivs bei Sebald Beham aus dem Jahr 1544235 (Abb. 3). Die nackte Frau des Potiphar sitzt mit weit gespreizten Beinen auf dem Bettrand. Sie blickt in das Gesicht Josephs, als er sich von ihrer Umarmung zu befreien versucht. Die dynamische Figur des Heiligen im Ausfallschritt ist nach links gerichtet. Obwohl die Figur Josephs keine Zeichen der sexuellen Erregung mehr aufweist, erzeugen seine Nacktheit und die unmittelbare körperliche Nähe zu seiner Verführerin eine erotische Spannung im Bild. Man fragt sich, wie es dazu gekommen sein mochte, dass Joseph sich komplett entblößte und zwischen den geöffneten Beinen der Frau stand, bevor er letztendlich die Flucht ergriff. Der Stich bringt den Gedanken näher, dass Joseph der Verführung durch die Frau des Potiphar im allerletzten Moment widerstand und deshalb nackt aus ihrem Schlafgemach flieht. Auf der Tafel am unteren Bildrand ist eine lateinische Inschrift angebracht.Ins Deutsche übersetzt ist hier zu lesen: „Joseph der treue Sklave ist auch der Überwinder der Begierden“236.
Der explizit erotische Inhalt der Darstellung scheint auf den ersten Blick mit der Inschrift, die Joseph als Überwinder der Begierden feiert, zu kontrastieren.237 Die Darstellung dieser wollüstigen Frau mit den sinnlichen Rundungen, die zum Liebesspiel einlädt, sollte wahrscheinlich besonders die Vorstellungskraft von männlichen Betrachtern anregen. Zugleich dient die Inschrift als eine Erinnerung an das Beispiel Josephs, der dieser Verführung widerstand. Die Betrachtenden konnten sich die Frage stellen, ob sie die gleiche Willenskraft wie der Heilige besitzen, um die eigene Lust überwinden zu können.
Abb. 4 Pieter Jalhea Furnius, Joseph und Potiphars Weib (1572), Kupferstich, 21,5 × 27,4 cm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. Nr. RP-P-1994-44. Abbildungsnachweis: Rijksmuseum, Amsterdam, gemeinfrei http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.250332
Die gleiche Intention, den Betrachtenden den inneren Kampf der Heiligen mit der eigenen Fleischlichkeit so bildhaft wie möglich vor Augen zu führen, kann auch auf den anderen Darstellungen von Joseph und die Frau des Potiphar beobachtet werden. Das vierte Blatt aus der Josephserie von Pieter Jalhea Furnius (1545 -1610)238 ist der gescheiteren Verführung des Patriarchen gewidmet. Die Frau des Potiphar packt den nur mit Unterhosen bekleideten, von ihrem Bett weglaufenden Joseph an seinem Mantel. Die zur Seite gerutschte Unterwäsche Josephs eröffnet den Blick auf seine Hoden. Die Entscheidung, ob der Stoff infolge seiner energischen Bewegung verrutschte oder von seiner Verführerin einen Moment zuvor zur Seite geschoben wurde, wird den Betrachtenden überlassen. Die Zweideutigkeit dieser Darstellung involviert das Publikum, genau wie die Stiche von Sebald Beham, in die Verführungsszene und zwingt die Zuschauenden, über ihre eigene Begierde nachzudenken.
Als weiteres Beispiel kann eine niederländische Federzeichnung aus der Sammlung der Albertina (Abb. 5) gesehen werden.239 Vor einem prächtigen Himmelbett erkennt man Joseph und seine Verführerin. Die Frau des Potiphar sitzt mit nackten, gespreizten Beinen auf dem Bettrand. Ihre rechte Hand ruht auf Josephs Schulter, und mit ihren linken versucht sie Joseph in dessen Genitalbereich zu berühren. Der in sich versunkene Heilige ist zwischen den Beinen von Potiphars Frau positioniert. Die durch seine Beinstellung angedeutete Bewegung in die Gegenrichtung, also weg von seiner Verführerin, verdeutlicht seine Intention, sich von ihrer Umarmung zu lösen. Die zärtliche Berührung des um seine Schulter gelegten Arms der Frau und die verwickelten Beine der beiden lassen den Betrachtenden dagegen an seiner Entschlossenheit zweifeln. Der Ausgang der Geschichte, der zunächst noch offen zu sein scheint, ist durch eine Szene im Hintergrund angedeutet. Die Türöffnung erlaubt den Zuschauenden den Blick in einen weiteren Raum, wo sich die Szene der Verleumdung Josephs abspielt. In der weiblichen Figur in Rückenansicht erkennt man die Frau des Potiphar, die den Gesinden Josephs Mantel als Schuldbeweis präsentiert.
Die Begehrlichkeit der Verführungsszene im Vordergrund stellt den Betrachtenden die Tugendhaftigkeit unter Beweis. Die – männlich zu denkenden – Betrachter sollten Verständnis für das Zweifeln des Heiligen haben, weil sie sich schon beim Anschauen dieses Blattes mit ihren eigenen unkeuschen Gedanken beschäftigen müssen. Der Hinweis auf den weiteren Verlauf der Geschichte soll dem Publikum als Erinnerung dienen, dass Joseph trotz des Moments des inneren Konflikts seine Tugendhaftigkeit bewahrte. Seine Vorbildhaftigkeit ist darin begründet, dass er trotz seiner sexuellen Anziehung zu der Frau seine Keuschheit bewahrte.
Die starke emotionale Beteiligung der Zuschauer an der Verführungsszene, die alle diese Werke zu erzielen versuchen, wird als ein Mittel eingesetzt, um sie zu zwingen, sich mit der eigenen Sündhaftigkeit auseinanderzusetzen. Die infolge des Interesses am erotischen Inhalt anfänglich leicht zu übersehenden Hinweise auf die moralische Exzellenz der Heiligen, die z. B. durch die Inschrift oder die Szene der Verleumdung im Hintergrund zum Ausdruck kommt, kommen nach längerer Betrachtung stärker zum Vorschein und machen den Betrachtenden ihre Schwäche des eigenen Fleisches bewusst. Die prickelnde Aufregung beim Entdecken der erotischen Szene wird vom Schamgefühl beim Lesen der moralisierenden Inschrift abgelöst.
Die Sinnlichkeit dieser Werke wurde in der Forschungsliteratur zu Recht auf das zeitgenössische Interesse für die erotischen Darstellungen zurückgeführt. Zudem wurde die Motivation der Künstler, solche Werke zu schaffen, mit der hohen Nachfrage und dem finanziellen Gewinn erklärt.240 Tatsächlich kann der ausgesprochen erotische Appell dieser Werke nicht geleugnet werden, die Bedeutungsdimension dieser Darstellungen lässt sich jedoch nicht nur auf ihren sinnlichen Inhalt reduzieren. Die Erbauungsfunktion der Bilder von Joseph und der Frau des Potiphar, die auf den ersten Blick im Vergleich zu ihrer erotischen Anziehungskraft in den Hintergrund tritt, ist im neuen Verständnis des Heiligen als eines Menschen, der mit der eigenen Fleischlichkeit zu kämpfen hatte, begründet. Den Betrachtenden wird auf einprägsame Weise vor Augen geführt, dass sogar der Heilige Joseph auf seinem Weg zur moralischen Perfektion Schwierigkeiten hatte. Das Argument, mit dem Ernst Wilhelm Bredt den Stich Joseph und die Frau des Potiphar von Sebald Beham gegen die Vorwürfe der Sittenprediger zu verteidigen versucht, kann heute erneut aufgegriffen werden: „Ein Bild der Versuchung muß auch den Betrachter starke Regungen fühlen lassen. Je dunkler die Folie, je leuchtender die Gestalt des Heiligen.“241
Biografie
DARIA ÜNVER (*1993) promoviert an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg über erotische Druckgrafiken mit biblischen Sujets im Œuvre der Deutschen Kleinmeister. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der visuellen und materiellen Kultur des deutschsprachigen Raums im sechzehnten Jahrhundert, der Buchillustration sowie der erotischen Kunst und ihrer Sammlungspraxis.