Artist-Run-Spaces als verortete Utopien von Kunst und Gesellschaft sind keine Neuheit. Deren rasante Multiplikation kann jedoch als globales Phänomen eingeordnet werden, das seit den 1990er-Jahren einen immensen Zuwachs erfuhr. Im Besonderen spielen selbstorganisierte Kunstinitiativen in Südostasien eine tragende Rolle die abwesende staatliche Kunstinfrastruktur auszugleichen.1 Tony Godfrey beginnt 2010 seinen Beitrag zur Ausstellung Contemporaneity. Contemporary Art in Indonesia mit einer Reflektion darüber warum die indonesische Kunstszene im europäischen Kunstdiskurs kaum sichtbar ist und mit der daraus resultierenden Frage, warum der Rest der Welt mehr über indonesische Kunst wissen sollte.2 In derselben Publikation identifiziert Nuraini Juliastuti alternative Kunsträume in Indonesien als eine neue Kulturbewegung3, wohl kaum ahnend, dass ein Jahrzehnt später eines dieser zahlreichen Künstler:innenkollektive die kuratorische Leitung der documenta fifteen übernehmen wird.
Zwischen spatial und collaborative turn wird die documenta fifteen in diesem Essay als Dreh- und Angelpunkt einer (Neu)-Betrachtung von Gegenräumen mit kollektivem Handlungspotenzial betrachtet. Mit der Berufung des in Jakarta basierten Künstler:innenkollektivs ruangrupa4 die nächste documenta-Ausgabe zu kuratieren und durch ihr Bestreben mittels des experimentellen Ansatzes Lumbung & Korperasi das Biennale-Format neu zu denken, stellen sich folgende Fragen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kunstbiennalen und Kunsträumen und können diese Phänomene als Heterotopien der Gegenwartskunst betrachtet werden? Und welche Rolle spielen Künstler:innenkollektive in der Entwicklung dieser Gegen-Räume und der Fabrikation neuer Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Kunstdiskursen? Ziel ist es in diesem Essay von der Gründung ruangrupas 1998 bis hin zur documenta fifteen ihren kollektiven Praktiken mittels raumtheoretischer Überlegungen nachzuspüren. Als Seismograph wird die documenta daher zur kollektiven Heterotopie, einer Praxis des Teilens von Zeit, Raum, Wissens oder Fürsorge im globalen Kontext mit lokaler Verankerung – so die Vision (Abb. 1–3).
1. Ruangrupa und indonesische Kunsträume. Der Beginn einer kollektiven Raumpraxis
Oftmals initiiert von Künstler:innenkollektiven formierten sich alternative Kunsträume über den gesamten indonesischen Archipel nach dem Fall Suhartos und dem Ende des 32-Jährigen repressiven Regimes. Die Neue Ordnung (Ordre Baru) – und damit einhergehend eine von Militarismus und Staatskontrolle geprägte Zeit, in welcher kollektive Ansammlungen untersagt waren – wurde von demokratischen Neuerungen abgelöst. Sich im Untergrund anbahnende Jugendbewegungen brachen ab 1998 lautstark hervor und studentische Kunsträume formierten sich vor allem in Jakarta, Bandung und Yogyakarta – es war Zeit für neue Räume des Denkens und Experimentierens. Diese verorteten Utopien5 oder auch Fixer6, wie Ade Darmawan7 es beschreibt, boten eine Alternative8 zur Nicht-Existenz einer institutionellen Kunstinfrastruktur.9
Auch ruangrupas Anfänge sind eng verwoben mit der Schaffung von verräumlichten Utopien als kreativer Akt und dem Bewusstsein darüber, dass der öffentliche Raum einem ständigen Bedeutungswandel unterliegt (Abb. 1). Wie bei den meisten indonesischen Künstler:innenkollektiven beginnt ruangrupas Raumpraxis mit dem gemeinsamen Mieten eines profanen Wohnhauses (Abb. 4).10 Raumumwandlungen standen an der Tagesordnung und spiegeln das Verschwimmen der Grenzen und das informelle Setting von Artist-Run-Spaces mit Open-Access Philosophie wider. So wurde beispielsweise das Schlafzimmer in ein Künstlerstudio umfunktioniert oder die Toiletten als Ausstellungsraum genutzt – der wichtigste Raum war jedoch das Wohnzimmer als Ort der Zusammengehörigkeit (Abb. 5).11 Interpersonelle Beziehungsgeflechte und netzwerkartige Zusammenschlüsse zwischen Künstler:innen und Kulturakteur:innen führen zu vielfältigen partizipativen (Kunst-)Formaten. Dieses Verschwimmen von Sphären wie privat/öffentlich oder individuell/kollektiv ermöglicht es in unkonventioneller Weise neue Kunstformate auszuprobieren.12 Ruangrupa ist zudem im Sinne Henri Lefebvres13 untrennbar mit der multiethnischen und multireligiösen Lebensrealität Jakartas verbunden und schöpft aus dem urbanen Umfeld, in welchem das Chaos zum Katalysator wird, wie Ade Darmawan das Verhältnis zur Megastadt beschreibt: „Our artistic approach — and the artistic role we take — will only grow well relevant to the messy, sweaty and untidy space of Jakarta.“14
2. Ruangrupa. Ruruhuis. Ruruhaus. Vom Haus zu Häusern – vom Kollektiv zu Kollektiven
Auch das kuratorische Konzept Lumbung & Korperasi für die documenta fifteen basiert auf einer in Jakarta bereits umgesetzten Strategie eines gemeinschaftlichen Ökosystems der Kunst, das auf neuen Kollektivismus abzielt. In reinaart vanhoes Monographie zu indonesischen Kunstinitiativen kündigt sich der transformative Übergang von ruangrupa als studentische Graswurzelbewegung hin zu einer Einbettung in ein größer angelegtes Kunstökosystem auf regionaler und transnationaler Ebene an.15 Der Zusammenschluss mit weiteren lokalen Kollektiven und deren Gemeinschaftsinitiative der experimentellen Lernplattform GUDKSUL16 (Abb. 6) erforderte mehr Raum und mündete im Bespielen des Gudang Sarinah Lagerhauses, das mit zwei langgezogenen Flachdachhallen einen Kontrast zur vertikalen Architektur der modernen Großstadt bildet (Abb. 7).
Zur selben Zeit fand 2015 auch erstmals die Jakarta Biennale17 in dem im Süden der Mega-City gelegenen Gebäude18 statt. Trotz eines unabhängigen Kurator:innenteams19 spielte ruangrupas Praxis, die Stadt und lokale Communities miteinzubeziehen, eine zentrale Rolle spielte. Während ruangrupas strategische Positionierung in der lokalen Kunstszene neben Kooperationen mit weiteren Kollektiven, mittlerweile auch die Zusammenarbeit mit institutionellen Partner:innen, diverse Geschäftsmodelle miteinschließt, und darüber hinaus längst in der internationalen Kunstwelt Fuß gefasst hat, ist die Notwendigkeit für Raum bis heute Triebfeder ihrer künstlerischen Praxis. Als Hybridwesen zwischen rebellischer Gründungsidee und javanischer rukun-Philosophie harmonischer Beziehungen und Konfliktvermeidung, stellt sich die Frage, ob das Modell ruangrupas inzwischen als System kultureller Kreativindustrie20 im Sinne einer neoliberalistischen Mischökonomie zu denken ist, oder als kollektive Heterotopie das Potential hat alternative ökonomische, künstlerische und soziale Modelle zu etablieren?
Die Idee eines Kollektivs der Kollektive soll auch Kassel sowie das ruangrupa-Netzwerk über die hundert Tage der Weltkunstausstellung hinaus prägen und richtet unser Augenmerk auf weniger sichtbare Kunsträume abseits des Biennale-Booms. Anstatt eines übergeordneten kuratorischen Narrativs soll mithilfe des indonesischen Lumbung-Systems21, das heißt der Einbindung von vierzehn Kunstinitiativen weltweit22, das multiple Organisator:innenteam in Kassel eine transkulturelle Eigendynamik entfalten. Lumbung bedeutet Reisscheune, dient als kollektiver Pot der Ernte im indonesischen Kontext und symbolisiert für ruangrupa eine experimentelle Methode nachhaltige Kunstinfrastrukturen zu schaffen. Neben der metaphorischen Nutzung spiegelt der architektonische Bezug der Reisscheune als soziale Struktur für ruangrupa eine tragende Rolle. Denn Ausgangspunkt ist immer der Raum als Ort der Begegnung, des Austausches und Denkens: In Jakarta oder Kassel.
Nach etlichen Einladungen internationaler Biennalen23 Räume als Künstler:innenkollektiv zu bespielen und ihren Bezug zu Jakarta miteinzubeziehen24, agierte ruangrupa erstmals im internationalen Kontext als kuratorische Leitung im Rahmen von SONSBEEK’ 2016 – dem Ausstellungsformat für Skulptur im öffentlichen Raum in den Niederlanden, das ähnlich wie die documenta die Wunden des zweiten Weltkrieges heilen sollte. Mit dem Titel transACTION zielte ruangrupa auf in sich verwobene kulturelle, soziale und räumliche Austauschprozesse im Dazwischen ab – ob in der im Park angelegten Holzwerkstatt, der multi-kulturellen Bäckerei oder dem aus Jakarta nach Arnheim transferierten Spielplatzes. Anstatt einer Ästhetisierung des Skulpturalen wurde die Nutzung des Raumes vorangestellt. Mit dem ruruHuis (Abb. 9) in Arnheim sollte die Reise bereits ein Jahr vor Ausstellungsbeginn seinen Lauf nehmen. Als Ort der Begegnung von Künstler:innen sowie der lokalen Bevölkerung steht das ruruHuis nicht nur für die zentrale kuratorische Strategie, sondern verweist auch auf die Wurzeln des Kollektivs, als ein für alle zugängliches Wohnzimmer im Post-Suharto Jakarta der 2000er-Jahre. Inwieweit konnte das indonesisch-familiäre Haus-Modell jedoch an Arnheims sozio-kultureller Realität anknüpfen? Rakun erwähnt im Gespräch mit Charles Esche, dass mit Anwesenheit des Künstler:innenkollektivs im ruruHuis kollektive Prozesse in Gang gesetzt werden konnten, diese jedoch stockten sobald ruangrupa nicht physisch präsent war – denn zielloses Beisammensein wurde oft mit Verlust von Zeit und Kapital verknüpft, wodurch das Jakarta-Modell sich nicht vollends entfalten konnte.25
In Kassel ist bereits das ehemalige Kaufhaus Sportarena als Basisstation für die kommende documenta umfunktioniert worden (Abb. 10). Während das ruruHuis mit heimeliger Atmosphäre in Arnheim eher unbemerkt und langsam zum Treffpunkt wurde, befindet sich der mehrstöckige Nachkriegsbau zwar prominent in der Kasseler Innenstadt, der einladende rund um die Uhr zugängliche Wohnzimmercharakter scheint jedoch der Bewältigung von Massen gewichen zu sein. Ob ruruHuis oder ruruHaus– transloziert finden sich wiederkehrende Elemente wie partizipative Stadtkarten, interaktive Flipcharts, oder Sticker, die bewusst Raum für Gestaltung durch kollaborative Praxis zulassen.Denn im Mittelpunkt der ruruHäuser als Keimzelle steht die in Indonesien praktizierte nongkrong-Praxis – das unverbindliche Zusammensein und die sich daraus entwickelnde kollektive Intelligenz.26
3. Von Nongrkong zu Nongol. Zur Entstehung neuer Orte zwischen lokalen Kollektiven und globalen Kunstbiennalen
Nongkrong bedeutet mit Freunden in ungezwungener Art und Weise Zeit zu verbringen, sich in Gesprächen zu verlieren und ohne zeitliches Limit oder vorgegebenes Endprodukt das physische Miteinander im Hier und Jetzt in den Mittelpunkt zu rücken und ist Teil der kuratorischen Strategie ruangrupas. Denn erst durch nongkrong entsteht in Indonesien Kollektivität in Räumen.27 Angesichts der pandemischen Herausforderungen stellt sich nun die Frage wie ruangrupas kollaborative Prozesse in einer neuen Realität sozialer Distanzierung ihre eigentliche Dynamik überhaupt entfalten können?
Das Kollektiv reagierte mit hybriden Formaten, wie beispielsweise dem Bespielen der Fensterauslagen des ruruHauses in Kassel mit Medienkunst oder der Fabrikation von Masken in der Gudang Sarinah Lagerhalle in Jakarta. Darüber hinaus bilden Videokonferenzen auch für ruangrupa Alternativen zu kuratorischen Treffen mit den anderen weltweit verstreuten Kunstplattformen.28 Gespräche zur documenta sind für die Öffentlichkeit online abrufbar – die nongkrong-Praxis wurde zum virtuellen nongOl-Raum (kurz für nongkrong online) umfunktioniert. Die Taktik der Anpassung an neue Umstände ist für ruangrupa nicht neu und erinnert an flexible Raumumwandlungen zu Beginn ihrer Praxis. Zwischen Jakarta und Kassel bespielt das Künstler:innenkollektiv unzählige Kanäle, Soziale Medien, experimentiert mit den beschränkten Möglichkeiten der rechteckigen Zoom-Architektur29 und erschafft so neue Räume des Narrativen.30 Das Nebeneinander von zeitlichen, räumlichen und sozialen Räumen wird besonders dadurch deutlich, dass ruangrupa parallel zur documenta fifteen-Planung weiter Programme für Jakarta entwirft. Die Möglichkeit an mehreren Orten gleichzeitig zu sein scheint so auch die Bestrebung zu erleichtern nicht die lokalen Verpflichtungen aus den Augen zu verlieren.31
Während die Kunstmuseen mittlerweile aus dem Koma erwacht sind und mit Hybridformaten auf die Krise reagieren, steht das vom globalen Publikum abhängige Biennale-Format vor seiner Neuerfindung. Kunsträume als zum Biennale-Boom der 1990er-Jahre parallel verlaufendes Phänomen agierten zwar im Hinblick auf Kunstmegaevents im Hintergrund – die Biennalen selbst boten den Kunsträumen allerdings Möglichkeiten der Vernetzung untereinander; vor allem auch innerhalb des südostasiatischen Kontexts. So war ruangrupa seit Beginn Teil eines transnationalen Netzwerkwerks32, ist mittlerweile erprobter Player auf globalem Terrain und gleichzeitig tief verwurzelt mit Jakartas sozialer Realität. Vor dem Hintergrund der Neuformierung der Kunstwelt sowie Kunstinfrastruktur scheint ruangrupa als Kollektiv, das gekonnt zwischen globalen und lokalen Räumen oszilliert, für die besonderen Herausforderungen der kommenden documenta gewappnet zu sein. Es wird sich zeigen, ob mit dem transkulturell ausgerichteten Vorhaben –bestehend aus multiplen Lokalitäten weltweit —die documenta selbst zur Ressource der Lumbung-Praxis wird oder ob partizipative Kunstpraktiken als Spielball des Spektakels und zur Erschließung neuer Zielgruppen33 die Intention eines kollektiven Sammelsystems überlagern.
Abb. 14, 15: Produktion von Mundschutzmasken und Schutzanzügen in Südjakarta zu Beginn der Corona-Pandemie, Gudang Sarinah, Foto: Gudskul/Jin Panji, 2020.
Alle Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung vom Künstler:innenkollektiv ruangrupa, der Presseabteilung der documenta fifteen, sowie dem Rautenstrauch-Joest-Museum zur Verfügung gestellt.
Biografie
Claudia König
Claudia König studierte Kunstgeschichte, Theater- Film und Medienwissenschaften sowie Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf transkulturelle Austauschprozesse zwischen Asien und Europa in der Kunst. Nach ihrem Masterabschluss zog es sie für ein zweijähriges Kunst- und Kulturstipendium nach Indonesien, infolge dessen sie sich auf zeitgenössische Kunst in Java und Sumatra spezialisierte. Derzeit arbeitet sie an einer Dissertation zum kuratorischen Konzept Lumbung & Koperasi des indonesischen Künstler:innenkollektivs ruangrupa für die documenta fifteen an der Universität Heidelberg. Ihr Blickfeld richtet sich dabei auf die Zirkulation von Kunstpraktiken und sich parallel heraus entwickelnder Phänomene wie der Biennalisierung und der Formierung von Künstler:innenkollektiven im südostasiatischen Raum.