Pavilion of the Rootless – Jianling Zhang

Der pandemiebedingte Lockdown hat uns in unseren eigenen Wohnräumen festgehalten und zum Stillstand gebracht. Zurückgeworfen auf die eigenen Gedanken wurden so aus schützenden Wände, einengende, unüberwindbare Mauern. Doch wie lässt sich diese Erfahrung beschreiben, für Menschen ohne einen festen Unterschlupf oder Wohnsitz? Zhang Jianling macht den unfreiwilligen, zweiwöchigen Quarantäneaufenthalt des jungen Migranten Kamlesh Meena auf einem Baum vor dem eigenen Dorf im indischen Rajasthan zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema.

Es geht nun einmal nicht. Zählen alleine genügt nicht.
Wieder schließt er seine Augen: die durch den Wind
verbreiteten Pilzsporen siedeln sich auf dem ersten
Blatt an und bilden dort oberseits oliv-braune Flecken
und unterseits einen weißlichen Pilzrasen. Zunächst wird
das zweite Blatt glasig-faulig, später folgt der typisch
gräuliche Schimmelrasen. In den Adern des dritten
Blattes ist es schwer die wenige Millimeter kleinen
Insekten ohne Lupe zu erkennen. Es riecht nach
stärkehaltigem Spritzmittel gegen Schädlinge. Leider zu
spät für das vierte Blatt. Durch Hagel, Windbruch,
Frost, Trockenheit usw. ist das Erscheinungsbild der
Schädigungen vielfältig, das fünfte Blatt zum Beispiel,
hat sich eingerollt, ist gehärtet und vergoldet. Das
sechste Blatt, einst das größte, ist stetig geschrumpft,
sogar auf die Größe eines Kleinkinds, grün-schwarze,
später braun-schwarze Teile von Armen und Beinen… “

Eine Nacht von Kamlesh Meenas Quarantäne auf dem Baum.

The Patient. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Moon. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Container. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Studio. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Crowd. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Dolphin. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Voter. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Substance Abuser. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Graveyard. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.

Jianling Zhang spring/summer of 2020.


Biografie

Zhang Jianling

Zhang Jianling studierte an der China Academy of Art Curatorial Studies, es folgte ein Abschluss an der Akademie der Bildenden Künsten in München in der Klasse von Prof. Julian Rosenfeldt. Die Abschlussarbeit Zhangs trug den Titel Redemption of Images: Mnemosyne and Angelus Novus. Während der langjährigen Tätigkeit im kuratorischen sowie künstlerischen Bereich, entstanden zahlreiche Ausstellungsformate innerhalb Europas und Chinas, die ein vertieftes Interesse an Ortsspezifik und daran gebundene Narrative erkennen lassen.

Feeling the Heterotopia – Nina Lapislazuli und Lotte Frahm

Wie können sich Kunstwerke in ihrer Entstehung gegenseitig beeinflussen oder sogar bedingen? Welche Möglichkeiten und Potentiale bietet ein Transferraum für die Entfaltung kollektiver künstlerischer Prozesse? Diese Praxis wird in Feeling the Heterotopia von Nina Lapislazuli Behnisch und Lotte Frahm für die Betrachter:innen sichtbar. Der Austausch verlief nach dem Prinzip der Mail-Art, in der Briefe, Gegenstände, Konzepte, (Kunst-) Werke per Post hin und her geschickt wurden. Im digitalen Raum sehen diese Fragmente ähnlich aus: eine Schlagwort-Gruppe zum Thema, ein Textausschnitt, der sich darauf bezieht, ein Bildausschnitt einer digitalen Zeichnung, oder aber ein Gefühl, das übermittelt wird…

Feeling the Heterotopia

Es scheint keine Orte mehr zu geben. Es gibt nur noch den Bildschirm, vor dem ich sitze. Manchmal gehe ich einkaufen und bin erstaunt darüber, dass die Luft nach Sommer riecht, obwohl es noch so kalt ist. Die Punkte, an denen ich mich bewege, sind begrenzt. Meine geistige Karte kommt mir unvollständig vor, dabei ist es unter jeglichen Umständen zu viel gewollt, einen Anspruch der Vollständigkeit an etwas Weltliches anzusetzen. An viele Orte komme ich gar nicht mehr. Ins Kino, ins Krankenhaus, um meinen Bruder zu besuchen, ins Museum, in die Bibliothek. Sie bleiben mir alle verschlossen. Heterotopien scheint es nicht mehr zu geben, dabei weiß ich, dass sie noch da sind, ich habe nur keinen Zugriff auf sie. Und vielleicht will ich das auch gar nicht. Was sind menschengeschaffene Räume schon ohne Menschen? Sie werden unwirklich, trennen sich langsam von der Realität und driften in eine Art Zwischenwelt ab. Heterotopien waren für mich schon immer Gebilde an der Grenze zum Liminalen, bevor ich überhaupt wusste, was diese Worte bedeuten. Sie sind für mich unzertrennlich mit Schweben, mit dem magenaufwühlenden Gefühl des Dazwischen-Seins, des Unwirklich-Seins und vor allem mit meiner Großmutter verknüpft.

Abb. 1: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 1, 2021, digitale Zeichnung.

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Vielleicht im Dezember oder Januar vor drei, vier Jahren. Meistens vergeht die Zeit schneller, als man denkt. In meiner Erinnerung lag Schnee. Ich hatte mir Zeit genommen, um am Freitag ins Krankenhaus zu meiner Großmutter zu fahren. Meine Eltern meinten, ich solle sie besuchen, da sie sich auf dem Weg der Besserung befände. Seit ich auf die weiterführende Schule gekommen war, hatte ich nicht mehr viel Zeit mit ihr allein verbracht. Früher hatte sie oft auf meinen Bruder und mich aufgepasst. Mittlerweile waren wir beide aus dem Alter herausgewachsen, in welchem man in den Kindergarten begleitet oder abgeholt werden musste. Ich war nervös. Krankenhäuser sind immer ein schwer fassbarer Ort, wenn man gesund ist. Ich bewegte mich in einem Terrain, in welches ich eigentlich nicht gehörte. Dazu kam, dass Prüfungsphase war und ich im ersten Semester studierte. Für mich bedeutete das ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit und Angst vor dem Scheitern. Ich hatte seit Tagen nicht mehr ausgeschlafen. Viel mehr als Lesen, Arbeiten und am Wochenende zu viel trinken gab es bei mir nicht. Ich befand mich in einem Schwellenzustand, in einem Treppenhaus, in dem ich nicht verweilen wollte und somit musste ich diese Treppen weiter hinaufsteigen. In einem Zustand innere Liminalität traf ich somit auf die erste Heterotopie.

Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, wie ich auf der Station die Schwester angesprochen habe und nach dem Raum fragte. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte ich mich eingeschlichen, das Eintrittsritual übersprungen, obwohl ich mir sicher bin, dass meine nassen Schuhe auf dem orange-braunen Linoleumboden gequietscht haben müssen. Meine Großmutter lag in einem Zweibettzimmer. Ich habe sie nicht erkannt, wie sie da im Bett lag, eingefallen und mit ungemachten Haaren. Ich dachte, ich hätte die Zimmernummer versehentlich verdreht. Der Rest ist in meiner Erinnerung sehr unscharf. Ich weiß nicht genau, wie lange ich da war. Ihr Krankenzimmer war für mich ein zeitloser Ort. Zu viel Elend, um auf die Uhr zu sehen. Als ich an ihr Bett herantrat, hat sie die Augen leicht geöffnet und meinen Namen gesagt und dass sie sich freuen würde, dass ich da bin. Dann hat sie nur noch darüber geredet, dass sie will, dass alles aufhört, dass sie nicht mehr leben will. Ihre Stimme war leise und schwach. Ich habe ihre Hand genommen und musste weinen. Ich weiß nicht, wann ich sie das letzte Mal davor angefasst habe. Wahrscheinlich als kleines Kind. Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen. Meine Eltern hatten gesagt, dass es ihr wieder besser gehen würde. Ich hatte ihnen geglaubt. Vielleicht sind meine Erinnerungen auch so schwach, weil ich anfangen musste zu weinen und die Tränen meine Wahrnehmung einschränkten. Irgendwann kam eine Ärztin in den Raum und fragte, ob sie mir etwas erklären sollte zum Krankheitsverlauf meiner Großmutter. Ich murmelte nur, dass ich nicht gewusst hätte, wie schlecht es ihr ging. Dabei versuchte ich der Ärztin nicht in die Augen zu sehen, damit sie meine Tränen nicht sehen konnte. Völlig umsonst. Als ich das Krankenhaus verließ, redeten die Menschen im Gang über mich. Ihr Tuscheln verfolgte mich bis nach draußen. Was ich danach gemacht habe, weiß ich nicht. Wahrscheinlich habe ich auf dem Weg zur Straßenbahn versucht mich zu beruhigen. Vorhin habe ich gesagt, dass ich nicht wüsste, wie lange ich bei meiner Großmutter war. Das war gelogen. Ich weiß es ganz genau: zu kurz. Wenige Tage später ist sie gestorben, woran genau weiß ich bis heute nicht. Ich habe nie gefragt.

Denke ich heute an dieses Erlebnis zurück, kommt es mir absurd vor. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, während einer Krise an einem Ort der Krisen zu sein. Es kommt mir unmöglich vor. Und eigentlich ist es das ja auch. Kein Besuch mehr in Krankenhäusern oder zumindest stark reguliert. Manchmal stelle ich mir vor, das Ganze unter heutigen Umständen noch einmal zu durchlaufen. Über Zoom, Webex, Jitsi oder wie die Programme alle heißen. Ich weiß nicht, ob es schlimmer oder besser wäre. Wahrscheinlich schlimmer. In Person da gewesen zu sein, gibt mir wenigstens das Gefühl, Abschied genommen zu haben. Den Ort des Krankenhauses über einen Bildschirm betrachtet zu haben, während ich persönlich involviert bin, hätte mich komplett entmächtigt. Der Bildschirm kann in diesem Fall kein Botschafter einer Utopie sein, diese nicht übertragen. Er kann die Zwischenmenschlichkeit der Realität nicht ersetzen. Doch genau diese Zwischenmenschlichkeit sagt uns so viel über unsere Umgebung, leitet uns durch unser Leben.

Abb. 2: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 2, 2021, digitale Zeichnung.

Einmal habe ich mich mit meiner Großmutter verabredet und am Nachmittag Kuchen gegessen. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie schlau sie war. Nicht dass ich das vorher nicht von ihr erwartet hätte, aber ich hatte nie darüber nachgedacht. Großmütter sind für Enkel meistens einfach nur Großmütter und keine differenzierten Intellektuellen. Wir haben Kuchen gegessen und über Politik geredet. Sie meinte: „Die Leute reden immer über Putin und ja, der ist schlimm, aber Obama ist mindestens genauso schlimm.“ Ich weiß nicht wie viele Jahre sie in die Schule gegangen ist. Autofahren konnte sie nicht. Wenn sie auf dem Fahrrad unterwegs war, war sie immer besonders vorsichtig, weil sie nicht wusste, was die Straßenschilder bedeuteten. Der Krieg hatte ihr viel versagt, hatte Heterotopien zerstört und unbrauchbar gemacht.

Später sind wir dann auf den Friedhof gegangen, um das Grab meines Großvaters zu besuchen, der schon tot war, seit ich 14 bin. Ich weiß noch, wie meine Mutter mich damals gefragt hatte, ob ich „…den Opa noch einmal sehen will?“. Das war im Herbst irgendwann. Es war schon dunkel draußen. Es war immer meine Mutter, die solche Nachrichten überbrachte. Nie mein Vater, obwohl es sein Vater war, obwohl es seine Mutter war. Ich habe damals Nein gesagt: „Nein, ich will Opa nicht noch einmal sehen.“. „Weil du ihn lieber lebend in Erinnerung behalten willst?“, diese Worte hatte mir meine Mutter förmlich in den Mund gelegt und ich widersprach nicht. Aber eigentlich lag es nicht daran. Ich hatte Fußballtraining und es gibt nichts Schöneres als ein Fußballfeld in der Dunkelheit und vielleicht, ganz vielleicht, hatte ich auch Angst.

Dabei muss niemand Angst vor dem Tod haben. Vielleicht vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod. Friedhöfe sind eine seltsame Angelegenheit. Natürlich gibt es sie in verschiedenen Formen, Größen und Ausarbeitungen, aber trotzdem kann man am anderen Ende der Welt sein und ein kleines Stück Heimat auf einem Friedhof finden. Der Raum ist hier verwinkelt und die Zeit fließt immer sehr zäh. Friedhöfe sind beinahe zeitlose Gedenkstädten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwann einmal verschwinden werden. Wohin auch? Was soll ein Friedhof im digitalen Raum und wohin anders als in den digitalen Raum, soll der Fortschritt gehen? Ich kann mir nicht vorstellen einmal StrgF zu drücken und sofort das Grab meiner Großeltern zu finden. Immer wenn ich auf den Friedhof gehe, muss ich suchen, wo sie begraben sind. Dann streife ich eine Weile durch die Gänge des Friedhofes, sehe mir die Gräber an, lese die Namen und fühle mich, als würde ich mir meinen Weg durch New York suchen. Von Block zu Block. So jedenfalls stelle ich mir New York vor. Ein riesiger Betondschungel, in dem das Leben tobt. Es ist schon fast zu einem Ritual geworden in jeder Stadt, in der ich mich etwas länger aufhalte, einen Friedhof aufzusuchen. Eigentlich sind sie alle wie Gärten. Gärten aus Stein, Gärten aus Stein und Grün, Gärten, in denen die Natur ungestört wuchert und sich ausbreitet, Gärten, in denen man sich verliert, Gärten, in denen eine große Losgelöstheit herrscht. Meistens hört man die Vögel lauter als die Menschen. Oft habe ich Angst, mich zu verlaufen und meinen Weg nicht mehr zurückzufinden und oft verlaufe ich mich tatsächlich in der Abgeschiedenheit dieser Friedhofswelt. Wären Friedhöfe in Word-Dokumenten festgehalten, könnte ich immer StrgZ drücken. Während ich die Gräber meiner Großeltern suche, geht das nicht. Ich löse mich völlig auf in dem Gefühl, dass alles irgendwann vorbei ist, dass alles unwichtig ist, nicht nur ich, sondern alle menschgemachten Räume auf dieser Erde, unser gesamter Planet, unser Sonnensystem. Früher hatte ich Angst vor diesem Gedanken. Er hielt mich nachts wach. Heute ist er mir egal. Ich habe mich damit abgefunden. Anstatt Angst zu haben, werde ich heute von diesem wiederkehrenden Gedanken getröstet, genauso wie von meinen Friedhofsbesuchen.

Abb. 3: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 3, 2021, digitale Zeichnung.

Fußballfelder und Friedhöfe sind sich eigentlich recht ähnlich, aber vielleicht auch nur in meiner Erinnerung. In dieser existiert die Verknüpfung beider Orte über den Tod meines Großvaters. Friedhöfe und Fußballfelder gibt es in den meisten Teilen der Welt und sie haben immer die gleiche Grundform inne. Was ist ein Fußballfeld schon weiter als ein rechteckiges Feld und zwei weitere Rechtecke, die Tore? Ein simples Konzept und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb spiegelt sich hier die große Schönheit wider. Ästhetisch ist nur das, woran man kein Interesse hat. Bei Minusgraden im Dunkeln ziehe ich meine Runden, verfluche dabei meine Entscheidung, mich auf den Platz gequält zu haben und dann, auf einmal fängt es an zu schneien und damit kommt auch die Offenbarung. Und diesmal geht es nicht darum, zu erkennen, dass ich meine Großmutter kaum kannte, wie mir damals im Krankenhaus klar geworden ist, nein, es geht um etwas Größeres. Wenn sich der Schnee unter dem Licht der Flutstrahler versammelt und dort tanzt, dann wird alles in mir ganz ruhig, aber gleichzeitig ist dieser Anblick unglaublich aufwühlend. Es ist wie in den Bergen zu stehen und den Horizont zu suchen. Um mich herum nur riesige Felsformationen, keine menschgemachte Struktur und ich fühle mich befreit und gleichzeitig erdrückt von der Gewaltigkeit der Berge. Auf dem Fußballfeld ist es etwas friedlicher und trotzdem bleibt die Frage: Was mache ich hier überhaupt? Warum drehe ich meine Runden? Warum sehe ich dem Schnee zu? Vielleicht ist es nur simple Ablenkung, aber vielleicht ist das auch der Moment, in dem ich Gott direkt in die Augen blicke. Losgelöst von der eigentlichen Welt, in welcher der Fußballplatz von schreienden Zuschauern gefüllt ist, in welcher Bier verschüttet wird, in welcher die schrillen Pfiffe der Schiedsrichter die Luft zerschneiden und auf dem Platz gerangelt wird. Die Nacht löst diesen Ort von der Wirklichkeit. Die Dunkelheit zweckentfremdet das Fußballfeld, aber dadurch werden neue Möglichkeiten geschaffen. Mit Menschen befüllt ist die Schönheit des Fußballfeldes versteckt. Sie zeigt sich nur nachts oder in den frühen Morgenstunden. Sie zeigt sich in der Liminalität dieser Heterotopie. Im Krankenhaus fühlst du dich unwohl, auf dem Friedhof wanderst du umher, aber auf dem verlassenen Fußballfeld findest du deinen Frieden. Wieso jedes Jahr 60€ für ein neues Fifa Spiel ausgeben, wenn die Offenbarung kostenlos vor fast jeder Haustür liegt?

In Zeiten eines krisenbehafteten Systems bleibt uns der Zugang zu bestimmten Räumlichkeiten verwehrt, doch an anderen Stellen öffnet er sich erst wieder, indem wir andere Wege suchen, unser Leben zu gestalten. Menschen sind resilient, passen sich an Situationen an, gestalten Räume um. Menschen sind aber auch emotional und färben alles, was sie berühren mit dieser Emotionalität ein. Orte, egal ob menschengemacht oder nicht, sind gefüllt mit Emotionen, die an ihnen haften wie Gerüche. Auch ohne Zugang werden wir die Heterotopie nicht vergessen, weil wir sie fühlen und uns erinnern.

Werke von Nina Lapislazuli // Text von Lotte Frahm


Biografie

Lotte Frahm lebt und arbeitet in Berlin und studiert Philosophie an der Freien Universität Berlin. Nina Lapislazuli studiert Bildende Kunst an der HfBK Dresden und ist seit 2020 in der Klasse von Prof. Carsten Nicolai für digitale und zeitbasierte Medien. Seit 2011 arbeitet sie in ihrem Atelier im Leipziger Tapetenwerk. Gemeinsam arbeiten sie an medienübergreifenden, künstlerischen Projekten.

Orte zur Imagination der Zukunft. Das Labor als Heterotopie – Nils Mojem

In seinem Text Orte zur Imagination der Zukunft. Das Labor als Heterotopie versucht Nils Mojem der Frage nachzugehen wie und wo Utopien imaginierter Zukünfte auf reale Räume der Gegenwart treffen. Dabei soll der Fokus dem Forschungslabor als Heterotopie gelten, um einen Raum zu untersuchen, der durchzogen ist von hierarchischen Strukturen und sich über einen exklusiven Zugang durch Wissen auszeichnet. Es wird die Frage gestellt, wer wo, wann und für wen welche Zukünfte herbeiführen kann, soll und darf.

Ein großes Thema der Gegenwart ist es die Welt zu retten. Ausgehend von den aktuellen Krisendiskursen, die sich letztendlich in der Erkenntnis einer multiplen Krise von Menschheit und Planet im Zeitalter des Anthropozän verdichten,1 scheint die Gestaltung wünschenswerter Zukünfte notwendiger und dringlicher denn je. Und obwohl Zukünftiges stets ungewiss ist, Möglichkeit bleibt und nie etwas Faktisches darstellt,2 schließt doch die Imagination dessen, was werden kann oder soll, sowohl Möglichkeiten der Kritik des Gegenwärtigen als auch die Annahme der Einflussnahme auf das Zukünftige mit ein.3 Ausgehend von dem narrativen Charakter menschlicher Erfahrungsbildung,4 sind es also Imaginationen, die als kulturelle Praktiken „eine mitunter sprachlose Ungewissheit in Handlungsentwürfe überführen.“5

Dabei sind die Imaginationen der Zukunft aufs engste mit den Erzählungen der Gegenwart verknüpft. Und obwohl der überwiegenden Mehrheit der Erzählungen der Gegenwart das Anerkennen der multiplen Krise im Anthropozän gemein ist, werden dabei doch je nach Narrativ und Erzählposition „unterschiedliche Ursachen und Treiber […] sowie unterschiedliche Interventionsszenarien, Widerstandakteure und Transformationsträger identifiziert.“6 Dies kann zwar als grundlegende Deutungsoffenheit von Geschichte/n ausgelegt werden, doch entpuppt sich diese Deutungsoffenheit im Übergang von Narration zu Imagination als das Verhandeln von Deutungsmacht. Dies vor allem, da sich durch die kulturelle Praxis der Imagination auch eine neue Form der Temporalität ergibt; aus einer ‚Zukunft‘ als singulärem Telos wird eine Multiplizität möglicher Zukünfte.7 Wenn nun die unterschiedlichen Imaginationen von Zukünften maßgeblich aus den jeweiligen Erzählungen der Gegenwart hervorgehen, in ihnen die Hauptakteure der Gegenwart Handlungsentwürfe entwickeln und ihre Geschichte fortschreiben, dann ist die Frage nach der Deutungsmacht bei den Erzählungen der Gegenwart eine entscheidende, gerade weil die Erzählungen von multipler Krise und Anthropozän das Schicksal der gesamten Menschheit und sogar des ganzen Planeten behandeln. So geht es darum, welche möglichen Zukünfte von wem – das heißt aber auch: wie, an welchen Orten und für wen – formuliert werden können, erdacht werden sollen und herbeigeführt werden dürfen.

So werden an unterschiedlichen Orten, von unterschiedlichen Gruppen verschiedene Zukünfte imaginiert, je nachdem, welches Narrativ sie nutzen, welche Werte und Annahmen ihren Erzählungen zu Grunde liegen, welche Erzählstruktur ihre Geschichte prägt und welche Hauptakteure dabei in ihren Handlungsentwürfen in den Fokus geraten. Entscheidend hierbei ist also auch der Modus, in welchem erzählt und gedacht, Gegenwart wahrgenommen und Zukünfte gestaltet werden sollen. Haraway formuliert dies folgendermaßen: „Es ist von Gewicht, welche Gedanken Gedanken denken. Es ist von Gewicht, welche Wissensformen Wissen wissen. […] Es ist von Gewicht, welche Erzählungen Erzählungen erzählen.“8 Dies gilt es zu beachten, wenn an verschiedenen Orten die vermeintlich selbe Geschichte anders erzählt wird, unterschiedliche Zukünfte imaginiert werden. Denn trotz einer Pluralität der Geschichten der Gegenwart und der Imaginationen von Zukünften gibt es doch solche Erzählungen, die mehr Gehör finden, gibt es Sprecher:innen, die eine besonders dominante Rolle in der Erzählung von Gegenwart und Zukunft einnehmen, Orte, an denen gesprochen eine besonders prominente Sprecher:innen-Position eingenommen wird.9

Einem bestimmten Ort kommt dabei ganz besondere Bedeutung zu: Es ist das Forschungslabor – ein merkwürdiger, von Macht und Wissen durchzogener Raum, in dem zeitliche und räumliche Strukturen aufeinandertreffen und sich in einer eigenartigen Verbindung mit- und durcheinander fortsetzen. Als Institution der Wahrheitsfindung, des Wissens und der Innovation nimmt das Forschungslabor einen bedeutenden Platz innerhalb der Gesellschaft ein und stellt dennoch einen eigenartig von der Gesellschaft abgesonderten Raum dar. Weil der Zugang zu ihm exklusiv und an Wissen gebunden ist, besitzt es einen ein- und ausschließenden Charakter. Das in ihm aufgeführte Expert:innentum begründet seine narrative Kraft – die Möglichkeit der Kritik ist an einen Zugang zu ihm, an eine Übernahme des ihm eigenen Forschungsmodus gebunden. Das Forschungslabor ist überall auf der Welt zu finden und tritt dabei merkwürdig mit sich selbst in Kontakt; sein gleichzeitiger Betrieb an unterschiedlichen Orten wird durch eine strukturelle Identität, durch die standardisierten Bedingungen naturwissenschaftlicher Forschung ermöglicht; indem Experimente durchgeführt und Hypothesen geprüft werden, können durch die nüchterne Sachlichkeit naturwissenschaftlicher Forschung vermeintlich objektive Wahrheiten erzeugt und anschließend in anderen Laboren falsifiziert werden. Seine Exklusivität als geschlossener Raum, als Hort des Wissens und der Wahrheit bleibt gerade dadurch erhalten. Doch auch zum ‚Außen‘, zur Mit- und Umwelt steht das Labor in einer merkwürdigen Verbindung, welche überhaupt erst eine standardisierte Forschung durch das naturwissenschaftliche Experiment ermöglicht und gewährleistet: Dadurch, dass das Labor sich selbst von der Welt abgrenzt, ausschließt, dabei gleichsam aber ein Stück der äußeren Welt in sich einschließt, können Forschende eine eigenartige Macht über die natürlichen Untersuchungsobjekte erlangen, gerade weil sie diese in eine technisch-kulturelle Umgebung verlagern.10

Nicht nur durch seine Exklusivität, seine eigenartige Position innerhalb der Gesellschaft, seinen Bezug zum Innen und Außen kann das Labor als Heterotopie im Sinne Foucaults11 bezeichnet werden. Es übt auch eine eigenartige Brückenfunktion aus, verbindet unterschiedliche Zeitlichkeiten und setzt verschiedene Räume miteinander in Verbindung. So wird in Bezug auf die Erzählung der Gegenwart und die Imagination von Zukünften hier entweder versucht die Realität der Gegenwart in eine imaginierte Zukunft zu überführen oder aber eine fiktive und imaginierte Zukunft schon in der Gegenwart Realität werden zu lassen.

In diesem Bestreben und mit dem eigenen Modus der Forschung steht das Labor als Forschungsstädte auch für eine besondere Auffassung des Verhältnisses vom Menschen zur übrigen Welt: Mittels technischer Verfahren können und sollen die Geheimnisse der Natur entschlüsselt und der Menschheit nutzbar gemacht, um letztlich jedoch ihrem Willen untergeordnet zu werden. In diesem Konzept der Nutzbarmachung wird Natur zum bloßen Erkenntnisobjekt, zum Untersuchungsgegenstand und zur gewinnbringenden Ressource degradiert, die mit Hilfe technischer Eingriffe und Verfahren gewissermaßen manipuliert und dann möglichst profitabel durch den Menschen selbst geformt werden kann. Maßgeblich hierfür ist ein rationalisierter Erkenntnisprozess: Mit Kultur und Technik tritt der Mensch der Natur entgegen, stellt sich ihr gegenüber, analysiert, seziert, benennt und ordnet, erschließt Zusammenhänge und erzählt dabei eine Geschichte der Trennung von Natur und Kultur, erzählt eine Geschichte von Erkenntnis, Fortschritt und Innovation, erzählt gewissermaßen eine Geschichte der Naturmachtbefähigung des Menschen.12

Ausschlaggebend ist dabei die Form des Wissens, die den Menschen zur Beherrschung der ihm äußerlichen Natur befähigt. Analog zum Dominium terrae des Alten Testamentes ist es hierbei nicht göttlicher, sondern menschlicher Wille, der dem Menschen die Natur zum Untertanen macht, es ist keine göttliche, sondern eine menschliche Ordnung, eine auf rationaler Erkenntnis beruhende menschliche Anordnung, die zu eben jener Naturmachtbefähigung führt.

Entscheiden daran ist, dass dieser Modus der Mensch-Natur-Begegnung sich erst im Verlauf der europäischen Wissensgeschichte entwickelte: Durch den an vielen Stellen auf Descartes‘ Trennung von Körper und Geist zurückgeführten Prozess der Rationalisierung13 etablierte sich seit Beginn der Neuzeit in Europa jenes dichotome Denkmodell, welches sich bis in unsere Gegenwart fortschreiben sollte und mit Blick auf die expansive, koloniale und imperialistische Geschichte Europas gar als dichotomer Wahn bezeichnet werden kann. Die philosophischen Abstraktionen Descartes‘ wurden dabei zu praktischen Herrschaftsinstrumenten, sie „waren reale Abstraktionen mit gewaltiger materieller Kraft“14, welche die moderne Logik von Macht und Denken nachhaltig prägten. Diesem Denken entsprangen hierarchische Ordnungsentwürfe entlang von raum-zeitlichen Achsen, Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse konnten so im Sinne der Ordnenden legitimiert werden, wobei die vermeintliche Überlegenheit der Ordnenden sich selbst aus ihrer Rationalität heraus begründete.15

Die Rationalisierung der Welt war dabei aber auch auf das engste mit dem Festigen eigener Macht, der Akkumulation von Kapital und dem Bestreben einer Steigerung der Produktion verbunden. Schon in frühen Phasen des heute so unübersehbar ausufernden Kapitalismus waren Fortschritt und Wachstum an wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Innovationen und die etablierte Trennung von Natur/Kultur gekoppelt. In dem Moment, da Natur zur Ressource wird, wird sie gleichsam dem Wertgesetz unterworfen. Forschung und Technik sollen dabei im Rahmen des Wertgesetzes zur effizienteren Nutzung der Natur als Ressource, zu einer profitableren Aneignung ihrer Gaben und dem Aufrechterhalten der Möglichkeit ihrer Ausbeutung beitragen.16

Interessanterweise ist also das naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse stets handlungsorientiert und zukunftsgerichtet und entwickelt sich dabei immer mehr oder weniger entlang an den Vorteilen und Interessen bestimmter Gruppen, am Nutzen zu einem bestimmten Zweck. Diese Erkenntnis ist wichtig und muss bei der Frage nach den Narrativen der Gegenwart und den Imaginationen von Zukünften berücksichtigt werden. Denn einerseits positionieren sich dabei die Naturwissenschaften durch ihren vermeintlich sachlich-rationalen Forschungsmodus als Hüter objektiver Wahrheiten, als Weltenentzauberer, die einer ordnungslosen Natur mit einer anordnenden und allgemeingültigen Logik begegnen. Andererseits aber gründet sich ihr Zugang zur Welt auf einer alten Denktradition der Trennung und Hierarchisierung, auf selbst erschaffenen und ebenso machtvollen Differenzen, durch die eine Handhabung der Natur als Objekt und Ressource erst ermöglicht wird. In diesem Sinne kann der Natur entgegengetreten werden, kann das Verhältnis von Mensch/Natur gestaltet werden. Wissenschaftliche Forschung und technischer Fortschritt sind reaktionsfähig und innovativ, sie können Lösungen für Probleme finden – Probleme, die aber zunächst definiert werden müssen. Hier zeigt sich wieder die Bedeutung von Narrativ und Imagination: Je nachdem, welche Geschichte erzählt, welche Probleme definiert werden, wird Zukunft unterschiedlich imaginiert, werden bestimmte Lösungen gesucht und gefunden, sollen bestimmte Szenarien herbeigeführt werden und bieten sich bestimmte Akteure für diese Aufgaben an.

Und genau hierbei gerät auch die besonders prominente Sprecher:innenrolle der Naturwissenschaften mit Blick auf die Erzählung der multiplen Krise der Gegenwart und der Imagination möglicher Zukünfte in den Fokus. Gefragt werden muss danach, wer das notwendige Wissen zum Erzählen der Geschichte, zur Imagination und Herbeiführung der Zukunft zur Verfügung stellt.

Wenig überraschend waren es Naturwissenschaftler, die den Begriff des Anthropozäns einführten, um damit den massiven menschlichen Einfluss auf das Erdsystem zu beschreiben. Die Nachweisbarkeit dieses Einflusses in den Sedimentschichten, der Atmosphäre, den Ozeanen, in belebter wie unbelebter Materie des Planeten gab ihnen Anlass dazu, vom Eintritt in ein neues, vom Menschen dominiertes Erdzeitalter zu sprechen.17 Und trotz heftiger Diskussionen über den Anfangspunkt oder die Benennung dieses neuen Erdzeitalters, wird dessen multiple Krise im allgemeinen Tenor doch an den erdsystemischen Materialitäten nachgezeichnet und, nicht zuletzt, am Klimawandel – als präsentesten Signifikanten – erkannt.18 So ergibt sich die dominante Sprecher:innen-Rolle der Naturwissenschaften im Anthropozän also aus dem Umstand, dass die vermeintlich zu behandelnden und zu untersuchenden Bereiche – Atmosphäre und Klima, Flora und Fauna oder chemische Stoffkreisläufen – klassischerweise alles Gebiete naturwissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis darstellen.

Gleichwohl wird der Begriff des Anthropozän mittlerweile diskursiv und disziplinübergreifend nicht nur in akademischen Kreisen, sondern längst auch in Kunst und Kultur behandelt.19 Dennoch treten nun, da die entzauberte Welt gerade auch aufgrund einer durch technische Innovationen ermöglichten und dem westlichen Wahn permanenten Wachstums unterworfenen Ausbeutung, Aneignung und Zerstörung der Natur aus den Fugen zu geraten scheint, die Naturwissenschaften neuerlich in den Vordergrund und positionieren sich als ebenso sachliche wie innovative Heilsbringer einer überforderten Weltgesellschaft. Vielerorts zeigt sich dies im Versuch, Hardwarelösungen für die multiple Krise zu finden;20 technische Innovationen dienen als Antworten auf Probleme, die zuvorderst an den erdsystemischen Materialitäten abgelesen und dann auch als erdsystemische Krisen erkannt werden.

Und zumindest mit Blick auf diese erdsystemischen Krisen wird vielerorts die prominente Erzählposition der Naturwissenschaften anerkannt, wird den Forschenden im Labor die legitime Sprecher:innenrolle zugewiesen, gelten ihre Narrative als die wahren, als faktisch und objektiv. Unter anderem zeigt sich dies auch in den politischen Maßnahmen, ihren Förderprogrammen und Nachhaltigkeitsinitiativen, als Versuch auf die multiple Krise im Anthropozän zu reagieren. Weil diese Krise von den erdsystemischen Materialitäten aus gedacht und auf die Form des Wirtschaftens samt dem massiven Verbrauch fossiler Rohstoffe zurückgeführt wird, gibt es unterschiedliche Bestrebungen, das Wirtschaften durch technische Innovationen hin zu einer ökologisch verträglicheren Form zu transformieren. Wenn durch die Form des Wirtschaftens die erdsystemischen Stoffkreisläufe gestört werden, das Klima sich wandelt, kurz: die Natur, bzw. der menschliche Zugang zu dieser Natur als Ressource und Objekt sich ändert, dann braucht es neue Macht- und Produktionsstrukturen, um der Natur begegnen zu können.21 Das heißt aber auch, dass der Kapitalismus als Modus des Wirtschaftens nicht in Frage gestellt, sondern lediglich auf neue Bereiche angewandt werden soll. Um die Produktivkraft, den Konsum und eine fortschreitende Akkumulation von Kapital zu erhalten, müssen neue Rohstoffquellen geschaffen und angeeignet, muss Natur durch wissenschaftliche Erkenntnis und technische Innovationen als zugänglich erhalten bleiben.

Somit wird Nachhaltigkeit häufig als Konzept verstanden, welches den Status Quo nicht nur kurzfristig, sondern auch zukünftig aufrechterhalten soll,22 wodurch die Programme einer ökologischen Modernisierung oftmals „[f]est verankert in Individualismus, liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft“ bleiben, dabei aber dennoch „die typischen Wertmuster und Strukturprinzipien spätmoderner Gesellschaften den veränderten Rahmenbedingungen ökologischer Grenzen“ anpassen sollen.23 In dieser Erzählung liegt ein Hauptaugenmerk auf den erdsystemischen Veränderungen, die bedeuten, dass das jahrhundertealte und funktionierende Verfahren der Aneignung und Ausbeutung der Natur gefährdet wird, dass die Naturbeherrschung neuer Formen von Wissen und Technik bedarf. In einer entsprechenden Imagination von Zukunft muss also den erdsystemischen Veränderungen durch Erkenntnis und Innovation begegnet werden: Unter veränderten klimatischen Bedingungen braucht es neue Formen der Landwirtschaft, andere Anbaumethoden. So der Verbrauch fossiler Roh- und Brennstoffe enden soll, bedarf es neuer Energie- und Rohstoffquellen. Zielsetzung ist, den steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln und Energie ökologisch-nachhaltig zu decken. Allerdings geht es auch darum, der sich im Mensch/Natur-Verhältnis ändernden Natur mit Innovationskraft neuerlich im alten Modus der Aneignung und Ausbeutung, der Kontrolle und Verfügbarmachung begegnen zu können. Abermals zeigt sich die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die technische Rationalität unter dem uneingeschränkten Diktat des Tauschwertes deformiert.24

Und dennoch liegt in diesem Narrativ der ökologischen Transformation des Wirtschaftens viel Hoffnung auf den Versprechungen der Bioökonomie, welche in den letzten Jahren „als eine Art Zauberformel für die Lösung vielfältiger Probleme präsentiert“25 und von der EU schon 2012 als „radikaler Wandel unserer Art zu produzieren und zu konsumieren bezeichnet“ wurde.26 Auch die deutsche Bundesregierung hat Ende des ihr eigens gewidmeten Wissenschaftsjahres 2020 die Bioökonomie noch einmal mit einem Strategiepapier bedacht: Ihr vorrangiges Versprechen ist dabei „ein auf nachwachsenden Rohstoffen basierendes Wirtschaftssystem“27, welches die aktuell fossile Rohstoffbasis sowohl in der Herstellung von Energie als auch anderer Arten stofflicher Produkte durch Biomasse zu ersetzen versucht.28 Lettow (2020) benennt hierbei anschaulich beispielsweise Schuhsohlen aus Pilzen oder Flugtreibstoff aus Algen.29 Für all dies braucht es naturwissenschaftliche Erkenntnis und technische Innovation. Nicht unumstritten setzt Letztere dabei maßgeblich auf die Genmanipulation von Leben. So können in den Forschungslaboren der Bioökonomie mittels der synthetischen Biologie „lebendige, sich selbst regenerierende Organismen“ erzeugt werden, die sich dann „entsprechend der gewünschten Kriterien gestalten und ökonomisch nutzen“ lassen.30 Damit aber steht die Bioökonomie auch „für eine neue Qualitätsstufe der wirtschaftlichen Verwertung der Natur und damit [für] eine Verabsolutierung des ökonomischen Denkens sowie eines industriell-technologisch geprägten Leitbildes.“31 An dem gesteigerten Modus der Verwertung der Natur, an dem technisch vermittelten menschlichen Zugriff auf eine als Ressource behandelte Natur, an der Gestaltbarkeit des Lebens durch Formen des Wissens und der Manipulation zeigt sich das oben angesprochene dichotome Denken der europäischen Wissensgeschichte: Nun, in den Forschungslaboren der Bioökonomie wird es neuerlich angewandt und wiederaufgeführt, um eine als nachhaltig (im Sinne der Erhaltung des wirtschaftlichen Status Quo) imaginierte Zukunft herbeizuführen. Es ist die alte Erzählung der Trennung von Natur/Kultur, eine Geschichte der hierarchischen Begegnung, der Ordnung und Unterordnung von Natur zum Zwecke der eigenen Bevorteilung, es ist ein Epos der Ausbeutung und des Profits – die menschliche Naturbemächtigung schreibt sich im Handlungsablauf fort, soll die Zukunft gestalten.

In diesem Sinne treten im Forschungslabor der Bioökonomie unterschiedliche Zeiten miteinander in Kontakt: Eine sich seit Jahrhunderten forttragende Form des Wissens, welche auf der Trennung von Natur/Kultur beruht, wird in der Gegenwart angewandt, um bestimmte Formen des Zukünftigen herbeizuführen. Doch nicht nur auf zeitlicher, sondern auch auf räumlicher Ebene zeigt sich erneut die vielschichtige Brückenfunktion des Labors als Heterotopie: Mit Blick auf die ethischen Diskussionen rund um Genmanipulation und der damit verbundenen Schaffung und Gestaltung von Leben lässt sich erkennen, dass das Forschungslabor ein umkämpfter Ort der Gegenwart ist. Konflikte und Diskussionen um die Patentierung genetisch modifizierter Natur ergänzen dieses Bild. Am Beispiel von genmanipuliertem Maissaatgut, welches widerstandsfähig gegenüber veränderten klimatischen Bedingungen und Schädlingsbefall sei, dabei aber auch höhere Ernteerträge erzielen soll, lässt sich zumindest ein (auch) an Profiten orientiertes Interesse der Forschung und Innovation erkennen. Um in diesem Beispiel zu bleiben: Wenn technisch-kulturell hervorgebrachter Mais dann auch noch als Ressource für Biokraftstoff verwendet werden soll, kann entlang der Diskussion von „Teller oder Tank“ ein Zielkonflikt der Bioökonomie nachvollzogen werden: Die Anbauflächen der Erde sind begrenzt und es sind diese planetaren Grenzen, die zu umkämpften Räumen der imaginierten Zukünfte werden. Wenn von einer wachsenden Weltbevölkerung ausgegangen wird, dann gibt es auch weltweit einen erhöhten Lebensmittel-, Energie- und Rohstoffbedarf. Sollte nun tatsächlich eine Transformation der Wirtschaft im Sinne der Bioökonomie stattfinden, wird eine gigantische Menge an Biomasse – und entsprechende Äcker, um diese zu produzieren – benötigt, um den Bedarf der Weltgesellschaft zu decken, wobei auch über „die extrem ungleiche Ressourcenbeanspruchung“ und „die globale Verteilungsdimension“32 dieser im Kapitalismus lebenden Weltgesellschaft nachgedacht werden muss. Gerhard befürchtet, „dass vor allem die Armen des Globalen Südens die Zeche für eine verstärkte Nachfrage nach Biomasse zahlen müssen.“33 Daher sind es nicht nur Fragen nach menschlichem Zugriff auf Natur und Leben, nach der Vormachtstellung Weniger durch Wissen und Patente, die in den Laboren der Bioökonomie verhandelt werden, sondern es ist auch ganz praktisch eine Frage danach, an welchen Orten, bzw. auf welchen Äckern dieser imaginierten Zukunft Biomasse wo, für wen und wofür produziert werden soll. Somit treten die umkämpften Räume der Gegenwart mit denen möglicher Zukünfte im Labor als Heterotopie in Verbindung.

So zeigt sich abermals, dass „die gesellschaftspolitische Rolle von Wissenschaft und Technologie im Sinne der Lösung von großen gesellschaftlichen Herausforderungen“34 zuvorderst technizistisch-innovativ interpretiert, im Modus kapitalistischer Interessen umgesetzt und ohne systemkritische Ambitionen weiterbetrieben wird. Außerdem ist erneut zu erkennen, dass die Frage, wer für wen welche Geschichte erzählt – und dabei Probleme identifiziert, Lösungen und Zukünfte imaginiert – unbedingt gestellt werden muss. Auch, wenn multiple Krise und Anthropozän die Menschheit an sich als geologischen Faktor kennzeichnen, fehlt diesem Diskurs jedoch eine differenzierte Sicht auf die Menschheit, eine Sensibilität dafür, dass nicht alle gleichermaßen an den erdsystemischen Krisen Verantwortung tragen, an Strategien des Umgangs mit dem Anthropozän partizipieren dürfen und/oder können und auch nicht alle im selben Maße von künftigen Veränderungen des Planeten betroffen sein, bzw. von den getroffenen Maßnahmen profitieren werden.

So erzählt der Narrativ einer grünen Ökonomie ausgehend von den sich ändernden erdsystemischen Materialitäten und unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit zwar von der Notwendigkeit zu handeln und Veränderungen herbeizuführen, doch entpuppt sich die so imaginierte Zukunft als ein „weiter so“ lediglich in einer anderen Farbe. Imaginiert wird ein „weiter so“, das vorrangig Innovation und Technik innerhalb des alten Dualismus Natur/Kultur nutzen möchte, um Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse in den kapitalistischen Mensch/Mensch und Mensch/Natur-Beziehungen aufrecht zu erhalten. Solche Hardwarelösungen entbehren dabei leider jeglicher Reflexion über diese schon so lange bestehenden Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse und der Bedeutung der ihnen zugrunde liegenden dichotomen Trennung von Natur/Kultur.

Allerdings werden gerade in neuen und anderen Erzählungen, durch Geschichten mit unterschiedlichen Handlungsabläufen, veränderten Formen des Wissens Möglichkeiten gesehen, der multiplen Krise der Gegenwart in einem veränderten Modus des Denkens und Handelns begegnen zu können. Da in vielen Ansätzen mitunter die Dichotomie von Natur/Kultur (nicht nur) für die Umweltprobleme der Moderne verantwortlich gemacht werden,35 bietet das Auflösen und Hinterfragen alter Dualismen großes politisches Potential36. In Anbetracht der multiplen Krise und durch Vorstellungen darüber, wo diese herrührt, welche Narrationen und Denkmuster ihr zugrunde liegen und in der diese Krise herbeigeführten Gesellschaftsform namens Kapitalismus so tief verankert sind, wird erkennbar, dass es nicht die entfesselten technischen und ökonomischen Kräfte sein können, nicht ein Fortschreiten und Verbreiten dieser Kultur sein kann, welche einzig Auswege aus der Krise aufzuzeigen vermögen.37 Die aus solchen Narrativen der Gegenwart hervorgehenden Imaginationen sind mit Blick auf ihre Genealogie zu hinterfragen.38 Um die Krisen der Gegenwart überwinden zu können, sind vielmehr „gesellschaftliche Veränderungen in Richtung einer „moralischen“, solidarischen, genossenschaftlichen Ökonomie gefordert“.39 Wenn die gegenwärtigen und globalen Krisendynamiken als ein kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsverhältnissen inhärentes Kernproblem aufgefasst, also als ein kulturelles Problem, als ein Problem der Denktraditionen erkannt – und nicht ausschließlich an erdsystemischen Materialitäten abgelesen – werden, dann ergeben sich aus solchen neuen Erzählungen auch andere Imaginationen von Zukünften, eröffnen sich Freiräume für die Gestaltung postkapitalistischer Zukünfte.40

So möchte auch die in diesem Text vorgenommene Erzählung mit einem hoffnungsvollen Ausblick schließen.

Denn letztlich geht es um den Umbau der kapitalistischen Industriegesellschaft im Weltmaßstab.41 Nun stellen aber Wissenschaft, Weltmarkt und Politik vom Westen dominierte Institutionen dar, die dem Rest der menschlichen und nicht-menschlichen Welt ihre Ordnungsentwürfe globaler Verhältnisse aufzwingen42 und dabei nicht erkennen können oder wollen, dass unser Lebensstil auf Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnissen beruht und unsere hierfür grundlegenden Denkkategorien – die Trennung von Natur/Kultur – keine ewig währenden Wahrheiten, sondern historisch bedingte sind.43 Daher müssen an den nichtinstitutionalisierten Orten, in kleinen Gruppen, in unterschiedlichen Räumen, eigene, diverse Geschichten erzählt werden, sodass auch die Imaginationen dessen, was herbeigeführt werden soll, sich von den Erzählungen der allzu dominanten Sprecher:innen, von den Narrativen eines kapitalistischen Hegemon unterscheiden. So müssen neue und vor allem herrschaftsfreie Ordnungsentwürfe entstehen, in denen die Beziehungen und Positionen von Mensch, Natur und Technik, von Wohlstand und gutem Leben, von dem Verhältnis belebter und unbelebter Materie und von Wissen überhaupt, umstrukturiert werden können und dürfen.44 Genau dafür ist es „dringen notwendig, gemeinsam und neu, quer zu historischen Differenzen und zwischen allen möglichen Wissensformen und Expertisen zu denken.“45

Daher gilt der letzte Hinweis dieser Erzählung einer gewissen chinesischen Enzyklopädie, welche Erwähnung in Borges (1966) Schrift „Die analytische Sprache John Wilkens“ findet und auch von Foucault (1974) im Vorwort zu „Die Ordnung der Dinge“ aufgegriffen wird.46 Sie soll den Lesenden als ein inspirierendes Beispiel eines Ordnungsentwurfes dienen, welcher zunächst befremdlich wirken, dadurch jedoch auch die Dringlichkeit der Hinterfragung der in einem selbst festgeschriebenen Ordnungen aufzuzeigen vermag:

„die Tiere, die sich wie folgt gruppieren:

a) Tiere, die dem Kaiser gehören,

b) einbalsamierte Tiere,

c) gezähmte,

d) Milchschweine,

e) Sirenen,

f) Fabeltiere,

g) herrenlose Hunde,

h) in diese Gruppierung gehörige,

i) die sich wie Tolle gebärden,

k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind,

l) und so weiter,

m) die den Wasserkrug zerbrochen haben,

n) die von weitem wie Fliegen aussehen“

(Borges, 1966)47


Biografie

Nils Mojem

Nils Mojem hat seinen Kombi-Bachelor in den Fächern Germanistische Linguistik und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin gemacht und studiert dort seit 2018 im Master Kulturwissenschaft. Er ist seit 2020 als studentischer Mitarbeiter am Zentrum für Technik und Gesellschaft der TU Berlin als auch am Institut Futur der FU Berlin tätig. Stets im Kontext nachhaltiger Entwicklung und sozial-ökologischer Transformation und Umweltveränderungen situiert, reizt ihn besonders eine Position im „Dazwischen“ – an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen und den Berührungspunkten von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

Unter der Haut der Stadt – Daniel Kuhnert und Joshua Guiness

Die Arbeit Unter der Haut der Stadt dokumentiert das Erleben infrastruktureller Hohlräume unter den Straßen Berlins, die Daniel Kuhnert und Joshua Guiness bei Expeditionen in die dunklen unterirdischen Gänge erkunden. Die literarischen Auszüge spiegeln dabei eine Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Erfahrung von Grenzüberschreitungen, die sie dabei durchlaufen.

„Ich sehe nichts, stehe auf einer Treppe, weiß nicht wie groß der Raum ist, von hinten Geräusche, mein eigenes Echo? Ok, ich bin alleine. Was ist das? Taubenkot? Menschenkot? Egal, die Füße rauf, es ist nur Erde, halb so wild, zur Ruhe kommen, umgucken, hier geht‘s nicht weiter.“

Im Innern von Betonbrücken, Autobahnpfeilern und Kanalisationsschächten verbirgt sich ein Netzwerk aus Hohlräumen. Die massiven Infrastrukturbauten unserer Städte sind hohl. Hunderttausende Kubikmeter umbaute Luft, eingeschlossen in Stahlbeton, bilden ein Patchwork losgelöster Interieurs ohne jeglichen Bezug nach Außen. Eine gänzlich unsichtbare Ebene der Stadt schlummert innerhalb ihrer festen grauen Materie vor sich hin. Diese unsichtbare Welt kommt einer Art Unterbewusstsein der Stadt gleich. Sie ist das, was per Definition immer unter der Oberfläche bleibt, deren Existenz nicht einmal wahrgenommen wird. Eine Welt, die nur Dunkelheit und Dreck beherbergt. Im Innern wohnt das Verdrängte, Vergessene, Unbekannte.

„Ich bin bedeckt mit Schmutz und Taubenkot. Um die Taubenskelette haben sich Maden gesammelt, die mittlerweile auch tot sind.“

Sie mäandrieren nomadisch umher. Sie durchqueren Beton, schneiden durch die gerasterte Substanz der Stadt und lösen aktiv ihre Barrieren auf, indem sie neue Passagen durch sie erfinden. Alle Ebenen der Stadt bespielen! Ihre weichen, fragilen Körper dienen ihnen als Instrumente der Erschließung: verbiegen sich, schmiegen sich dem Stein an, klettern, kauern und kriechen. Mittels Werkzeug werden sie zu Cyborgs. Das Überqueren physischer Barrieren ist hier auch das Überqueren des normativen Konstruktes dessen, was ein Körper kann, darf und wie er zu domestizieren ist. Die Betonhaut unserer Stadt markiert die Trennung der zivilisierten Gesellschaft und der feindlichen, unerschlossenen Kehrseite in ihrem Inneren. Beginnt man diese Haut als eine Schwelle zu begreifen, überschreitet der Körper das Sittliche, Ergonomische und setzt sich dem Feindseligen, dem Abgeschiedenen aus. Neue Räume benötigen neue körperliche Praktiken. Die Eroberung des Ungewissen ist immer auch ein Schritt ins Wilde, der den Körper in ein prekäres Umfeld versetzt – und manchmal unverhoffte Freizügigkeit gewährt.

„Meine Knie sind vom Kriechen wund. Hier sind mit Feuerzeug kyrillische Namen an die Decke geschrieben worden.“

Der Blick schärft sich. Sie scannen, filtern, kartieren. Hinterlassen Symbole, schaffen eigene Mythen. Man wird Tier: Mit geschultem Blick für die spezifischen Zeichen und Lücken in der Umgebung erschließt man sich ein Habitat. Dieses Immer-auf-der-Hut-Sein steht komplett im Gegensatz zum ruhenden Zustand, den uns das warme, sichere Wohnzimmer erlaubt. Alles bleibt gleich und doch sieht man mehr von der Welt – von dem in potenzieller Reichweite: Durch neue Referenzen der Wahrnehmung wird die Stadt größer. Wissensbestände wachsen und ermöglichen neue Handlungsspielräume, neue räumliche Praktiken, neue Routinen. So wie sich Stück für Stück das eigene Milieu ausdehnt, erweitert sich auch der mentale Möglichkeitsraum.

„Meine Augen tränen vom Staub. Trotz FFP2 muss ich husten.“

Staub und Feuchtigkeit. Das, was nicht ist. Die leblose Härte und der mineralisch kalte Geruch des Erdreichs, verschlungen von der totalen, referenzlosen Dunkelheit eines unendlichen Bunkers. Es ist im Sommer kühl, im Winter lau. Ein toter Raum ohne wahrnehmbare Fluktuation, in dem das Schwarz festgefroren im Raum hängt und Jahre im Stillen vergehen. Die Negation der Reizüberflutung der hochfunktionalen Gesellschaft: der Lichter und Farben, der Zeichen und Aufforderungen. Abgekapselt davon schärfen sich die Sinne und neue Dimensionen von Raum treten hervor. In der erblindenden Dunkelheit verschieben sich die sinnlichen Gewichtungen und der Mensch versetzt sich wieder in einen Zustand des Hellwachseins.

„Hier ist es so groß, dass jede meiner Bewegungen ein Echo auslöst, das ich einem nichtexistenten Anderen zuordne.“

Durch die Aneignung dieser Hohlräume wird Bedeutung geschaffen: Die abweisendste, inhumanste Umgebung wird plötzlich zu einem Milieu für das Leben gemacht – man überwindet seine eigenen Sitten. Hohlräume gewähren Unsichtbarkeit. Schutz vor den erwartungsvollen Augen anderer, Rückzug vor dem alles durchdringenden Netz der Überwachung, Ausnahme von den Zwängen zivilisatorischer Konventionen. All das schafft ein Innen für das, was von Außen nicht geachtet wird. In der kartierten, kontrollierten Stadt bleibt nichts dem Zufall überlassen. Der rationalisierte Funktionalismus kollidiert jedoch mit der Realität dieser Welt und gebärt dadurch Lücken, Risse, Geheimverstecke. An der Stelle größter Ausnutzung und Geschwindigkeit faltet sich die Oberfläche unserer gebauten Umwelt um sich selbst und umschließt dabei ungewollt Blasen. Das Netzwerk dieser Freiräume bildet eine Stadt in, unter und über der Stadt. Im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, dem allumfassenden, vor nichts Halt machenden Außen, bietet nur noch der Hohlraum im Inneren einen Moment der Stille. Im Auge des Sturms ist man frei. Ein Archipel des Widerstands schwillt bereits innerhalb unserer trägen Masse. Das Andere ist in uns.

„Mein Rücken schmerzt, die Decke ist zu niedrig. Das (einzige) Licht meiner Kopflampe wird schwächer.“

Alle Abbildungen: ©Daniel Kuhnert und Joshua Guiness.


Biografie

Daniel Kuhnert studiert im Master an der TU in Berlin Soziologie mit einem besonderen Interesse für Raum- und Organisationssoziologie. In seiner Freizeit ist er professioneller Flaneur.

Joshua Guiness ist Architekt, ausgebildet in Berlin, Madrid und Zürich. Derzeit liegt sein Interesse in der Entwicklung von Gegen-Narrativen zur herkömmlichen Lesart von Stadt und Raum, um bestehende Machtverhältnisse zu hinterfragen.

Ein Endlager für Kunst – Herr Clair Bötschi

Zwei Probleme, eine Lösung: die Planung eines Endlagers für Atommüll soll Kunstsammlungen entlasten, sowohl logistisch als auch finanziell. Eine große Idee, eigenwillig formuliert – Clair Bötschi erklärt wie es funktioniert! Purer Ernst oder Provokation? Künstlerischer Beitrag oder Projektidee?

Ein Endlager für Kunst

Ein Museum ist eine Heterotopie der Zeit. Es spiegelt die Kulturgeschichte wider und verhandelt kulturelle Relevanz immer wieder neu. Es speichert Zeit und bietet der Gesellschaft einen Raum zur Reflexion.

Das muss wohl in Zeiten von Foucault, der den Begriff Heterotopie prägte, gestimmt haben. Heute dagegen nähern sich Museen immer mehr der Norm des Zeitgeistes an. Relevanz wird durch den Markt der Aufmerksamkeit hergestellt. Die Ausstellungen werden bombastischer, größer und schneller. Mehr ist mehr. Ein Hoch auf das Wachstum, die Moral und den Zeitgeist.

Abb. 1: Von der griechischen Küste stammen die Wracks von Flüchtlingsbooten, aus denen der Künstler GuillermoGalindo seine Installation gemacht hat. (Bild © picture-alliance/dpa). Abbildungsnachweis: URL: https://www.hessenschau.de/kultur/documenta/highlights/der-sound-von-flucht-und-migration,gallindo-100.html (01.08.2021).

Museen und besonders Kunstmuseen sind nicht mehr Heterotopien und damit keine Gegenräume in einer Gesellschaft, die fortwährend auf Fortschritt und Wachstum setzt. Gerade der heutige Zwang, einen gesellschaftsrelevanten Beitrag zu leisten, wie es in der Zeitgenössischen Kunst zu beobachten ist und damit immer schnelleren moralisch-politischen Themen ein herzufallen, bietet nur einen oberflächlichen Raum der Reflexion und ist eigentlich nicht zu unterscheiden von einem Shopping-Center. Die Moden kommen und gehen und das, was relevant bleibt, wird ins Depot geschoben.

Wenn man den Begriff Heterotopie ernst nimmt und sich auf die Suche nach einem Gegenraum in der Gesellschaft macht, kann man diesen heute vielleicht am ehesten im Kunstdepot erkennen. Wer es schafft die sakrosankten Hallen zu betreten – dem eröffnet sich ein Ort mit einem eigenen Verständnis von Welt, Zeit und Geschichte. Kunstdepots sind Orte, die außerhalb des Zeitgeistes stehen und die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden.

Doch das Kunstdepot ist in Gefahr. Es wird zu einer immer größeren ökonomischen Belastung für die Museen. Gerade weil es eine Heterotopie ist – ist es nicht marktfähig und relevant. Zwar wird alle Jahre mal etwas Besonderes, fast Vergessenes im Kunstdepot gefunden und dann ans Licht geholt – aber über 95 % einer Sammlung liegt dauerhaft im Depot (Walter Grasskamp, Das Kunstmuseum, Eine Erfolgreiche Fehlkonstruktion, München 2016) und erblickt nicht mehr die Ausstellungsräume. Je nach finanzieller Ausstattung kümmern sich die Museen mal gut bis weniger gut um die kulturellen Hinterlassenschaften. So vergammelt langsam, aber sicher die Kunst und wenn nicht – verbraucht sie ungeheure Summen bei den einzelnen Institutionen. Da fleißig neue Kunst produziert und angekauft wird, gibt es ein immer größer werdendes Platzproblem. Wohin also mit dem teuren Edelmüll, wie die Wochenzeitung Die Zeit einmal titelte?

Abb. 2: Ausschnitt aus Teurer Edelmüll (Die Zeit, 21. April 2016). Abbildungsnachweis: URL: https://www.magazin-restkultur.de/teurer-edelmuell/ (30.07.2021).

Ein Endlager für Kunst ist die Lösung. Ein zentrales Depot für das künstlerische Erbe der Gesellschaft, um die Museen zu entlasten, die Depots zu leeren und einen wirklichen Gegenort, eine Mega-Heterotopie in der Kunst zu schaffen. Doch wo in Deutschland sollte dieses Endlager sein?

Wer sich mit Endlager-Suchprozessen auskennt, weiß, wie langwierig und schwierig die Suche nach einem sein kann. Deutschland sucht gerade ein Endlager für radioaktive Abfälle (Atommüll) und die Blockaden, Bedenken und Ablehnungen werden den Prozess auf Jahre hinziehen. Keiner will den Atommüll vor seiner Tür haben und das ist auch verständlich.

Abb. 3: Unbekannt/Joseph Beuys, Tag X, Plakat (Offsetdruck), 1984/85. Abbildungsnachweis: URL: https://www.bpb.de/apuz/333364/gorleben-als-kulturelles-erbe-die-anti-atom-bewegung-zwischen-historisierung-und-aktualitaet (30.07.2021).

Doch die Kraft der Kunst kann das ändern. Wie wäre es, wenn wir ein Endlager für Kunst und Atommüll zusammendenken würden und damit den bisherigen rein wissenschaftlich-technischen um einen kulturellen Prozess erweitern?

Durch die Kombination von radioaktiven Abfällen und Kunst ändert sich die Bedeutung und Ausstrahlung eines Endlagers. Das künstlerische und technische Erbe gilt es zu bewahren und nicht in Vergessenheit zu kippen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die Kommune oder Stadt, welche ein Endlager für Deutschland errichtet, einen Großteil der Kunstwerke, die schon jetzt nur in Depots liegen, von den anderen Bundesländern geschenkt bekommen würde – als kulturellen Ausgleich?

Das könnte einen Anreiz bieten, sich für ein Endlager zu entscheiden und würde zwei Endlagerprobleme lösen. Als Künstler und Ökonom befasse ich mich schon mehrere Jahre mit dieser Frage. Im Folgenden möchte ich die Region Stuttgart als erstes Endlager für Kunst und Atommüll vorschlagen und ihnen einen möglichen Standort anempfehlen.

Endlager Stuttgart

Am 28. September 2020 wurde der Zwischenbericht Teilgebiete von der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) veröffentlicht (https://www.bge.de/de/endlagersuche/zwischenbericht-teilgebiete/).

Ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Endlager für hoch radioaktive Abfälle in Deutschland und auch die Region Stuttgart – genauer der Stadtbezirk Bad Cannstatt ist mit dem sogenannten kristallinen Wirtsgestein (Granit und Gneis) noch im Rennen.

Abb. 4: Zwischenbericht Teilgebiete 2020 – Endlagerstandort in der Neckarvorstadt – Stadtbezirk Bad Cannstatt – Kristallinen Wirtsgestein (Orange). Abbildungsnachweis: Garmin, https://www.bge.de/de/endlagersuche/zwischenbericht-teilgebiete/ Interaktive Karte – Ausschnitt Baden-Württemberg, Stuttgart und Bad Cannstatt.

Zwar bemühte sich das Amt für Umweltschutz der Stadt Stuttgart zugleich um eine Untauglichkeitserklärung, es handle sich um ein Heilquellenschutzgebiet, aber fast jede Kommune, die in Deutschland betroffen ist, hat scheinbare Gründe gefunden, warum sie eben nicht geeignet ist. Das zeigt hervorragend die gesellschaftliche Haltung zu diesem Thema. Dabei hat Stuttgart neben den geeigneten geologischen Formationen auch die Human Resources zu bieten. Die Tunnelarbeiten von Stuttgart S21 sind fast fertig und es könnte somit zeitnah mit den ersten Bohrungen für ein Endlager begonnen werden. Die Karte vom Zwischenbericht Teilgebiete zeigt, wo der passende Untergrund ist. Stuttgart-Mitte, Zuffenhausen und Untertürkheim sind nicht geeignet. Ein perfekter Standort für das Endlager wäre der Stadtbezirk Bad Cannstatt, genauer das Gebiet des Kraftwerk Stuttgart-Münster in der Neckarvorstadt.

Schon jetzt ist das Kraftwerk ästhetisch ein Ort, wo Energie auf Gestaltung trifft. Die Architektur spricht eine brutale Sprache der Zeitlosigkeit. Die Travertinsäulen, die bestellt und nie abgeholt wurden, können in diesem Sinne auch als Symbol eines Gegen-Orts der Gesellschaft gesehen werden. Hier, zwischen Kraftwerk, Recycling-Hof und Travertinpark schlummert eine Heterotopie, die es aufzugreifen gilt und die durch das Ansiedeln des Endlagers ins Unermessliche vergrößert werden würde. Die Infrastruktur mit Straße, Fluss und Schiene (Eisenbahnviadukt) ist für ein Depot und Endlager perfekt. Hier könnten die Bergbauarbeiten zeitnah beginnen und der Schlund in das unterirdische Endlager würde sich öffnen. Später könnte die bestehende Kraftwerks-Architektur umgenutzt und umgebaut werden, sodass hier ein überirdisches Kunstdepot geschaffen werden würde.

Abb. 5: ENBW Heizkraftwerk Stuttgart-Münster. Abbildungsnachweis: URL : https://www.enbw.com/unternehmen/konzern/energieerzeugung/fossile-energie/standorte.html (30.07.2021).

Wichtig wäre dabei, dass der Ort an sich den Charakter von heute behält und nicht kulturell aufgewertet werden würde. Direkt hier könnte ein Endlager entstehen, welches eine wirkliche Heterotopie darstellt – kein totes urbanes Quartier wie überall sonst. Die Neckarvorstadt würde zum Endlager von Kunst und Energieerzeugung – genau dieser kreativen Gesellschaft.

Das Endlager in der Neckarvorstadt könnte aus drei Teilen bestehen. Der oberirdische Teil könnte als Kunstdepot genutzt werden. Von hier würden große Stollen in die Tiefe gehen zum zweiten Komplex, wo mittel und leicht radioaktive Abfälle gemeinsam mit Kunstwerken gelagert würden. Der dritte Teil des Endlagers wäre noch tiefer gelegen und würde Platz bieten für die 5000 Castoren mit dem hoch radioaktiven Abfall.

Abb. 6: Endlager Neckarvorstadt – Bad Cannstatt.

Dass dies gar nicht so abwegig ist, konnte ich 2019 auf einer künstlerischen Forschungsreise in das Zwischenlager Covra NV im niederländischen Vlissingen erfahren. Hier werden schon längst Kulturgüter und radioaktiver Abfall gemeinsam gelagert. Museen aus der Region können dies kostenlos beantragen und nehmen das Angebot gerne an. Denn sowohl der „Edelmüll“ als auch der radioaktive Abfall brauchen das Gleiche. Ein konstantes Klima, wenig Umwelteinflüsse und maximale Sicherheit. Während der radioaktive Abfall in Betonfässer gelagert wird, können die Kunstwerke dank des perfekten Klimas offen gezeigt werden. Was lässt sich daraus für Stuttgart lernen?

Es ist nicht nur möglich, Kunst und radioaktiven Abfall gemeinsam zu lagern, sondern wirtschaftlich sinnvoll. Dabei reicht es nicht das Museen kostenlos lagern können. Nein, das Stuttgarter-Endlager-Modell würde voraussetzen, dass sich die Eigentumsverhältnisse der Kunst ändern würden. Mindestens 50 % der Kunstwerke aus allen Depots in Deutschland, welche in öffentlicher Hand sind, sollten in das Eigentum der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) überführt werde. Das würde die Museen entlasten, die BGE zu einem der wertvollsten Unternehmen machen und das Endlager in der Neckarvorstadt zum größten Lager für Kunst in Deutschland. Natürlich müssten die anderen Bundesländer hierfür zusätzlich einen finanziellen Ausgleich schaffen, der die Erweiterung des Endlagers für Kunst ermöglicht und die dauerhafte und wiederkehrende Restauration der Kunstobjekte erlaubt. Wie genau das funktionieren könnte, ist noch offen. Klar ist, dass sich der Endlagersuchprozess durch die Erweiterung mit Kunst vereinfachen würde und eine Umsetzung wahrscheinlicher erscheint. Für den Atommüll sollten wir Verantwortung übernehmen – für die Kunst müssen wir das. Eine Gesellschaft, die das nicht einsieht – ist nicht zukunftsfähig. Stuttgart könnte als gutes Beispiel vorangehen und sich für ein Endlager bewerben. Worauf warten wir noch?


Biografie

Herr Clair Bötschi

Herr Clair Bötschi ist Künstler und Ökonom. Er arbeitet und forscht an der Schnittstelle von Kunst und Wirtschaft. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf einer künstlerischen Praxis, die ökonomische Strukturen nutzt, entwickelt oder verfremdet, um damit selbst Kunst zu produzieren. Daneben arbeitet er als Produktionsleiter für das Kunstfestival CURRENT– Kunst und urbaner Raum und hat sein Studio im Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart.

Über die normativen Rhythmen kollektiver Identität und ihrer Störung oder: Bedingungen der (Un)Sichtbarkeit von Kunst an Flughäfen – Imke Felicitas Gerhard

Der Text nimmt Kontrollrhythmen und Kunst an Flughäfen in den Fokus: automatische (Selbst)Disziplinierung und freiwillige Anpassung des eigenen Rythmus’ an den gläsernen Sicherheitsapparat Flughafen. Zentrum der Auseinandersetzung ist die Performance Safety Travelling von Nural Moser, bei der sie vor ihren Flugreisen eine Burka anzieht, ihre Verschleierung dokumentiert sowie Reaktionen darauf auf Instagram teilt. Ein Spiel der (Un)Sichtbarkeit wird eröffnet und diesem im Beitrag – kaum sichtbar im Hintergrund ablaufende – Ambient Art entgegengestellt.

Abb. 1: Art+Com Studios, Dance of the Clouds, 2018. 16 Elemente aus Aluminium, Algorithmisch in ihrer Choreographie gesteuert, Terminal 4, Changi Airport, Singapur. (Copyright: Art+Com Studios)
Abbildungsnachweis: Art+Com Studios, https://artcom.de/?project=petalclouds (04.06.2021).

Changi

Form, Bewegung, Licht und Musik, vereint in einer einzigen monumentalen kinetischen Installation im Flughafen von Singapur: Dance of the clouds – das sind sechs Skulpturen, aus jeweils 16 Elementen, die sich, in rhythmischer Korrespondenz stehend, harmonisch zu einer Gesamtinstallation vereinen. Mit Musik unterlegt, bewegen sich die Elemente zu einer algorithmischen Choreographie, die sie bisweilen sanft zu einem Wolken-Ensemble verbindet, um sie dann im nächsten Moment wieder zu zerteilen.1 Immer in Bewegung verändern sie den Raum, schaffen sie einen Raum, wie die Reisenden selbst, die sich, wie gespiegelt, so scheint es, unter ihnen rhythmisch bewegen, sich hier konzentrieren und dort wieder zerstreuen. Immer in Bewegung, wie Wolken eben. Ephemer. Vergänglich. Selten sind die kurzen bewussten Momente der Bewunderung für die Schönheit ihrer Formation, häufiger jedoch ihre Nichtbeachtung. Wolken oder Dance of the Clouds sind die ästhetische Bespielung des Hintergrunds, ist der Hintergrund selbst, der, weil er sich immer im Verhältnis zum Subjekt bewegt, sich dessen Wahrnehmung entzieht. 200 Meter lang, in imposanter Höhe platziert und dennoch kaum wahrnehmbar, weil sie mit dem Raum verschmelzen und dem Rhythmus, der diesen erzeugt.2 Wann wird Kunst am Flughafen dann aber sichtbar? – Wenn sie den Rhythmus dieses Raumes stört, ihn durchbricht? Tuguo’s Transit perfomances disturb given systems of order and reveal often invisible mechanisms of control […].“3 sagt Hans-Ulrich Obrist über Barthélemy Toguo, der mit seinen Performances an Flughäfen alles andere als unsichtbar bleibt, ebenso wie die Performance Safety Travelling der Künstlerin Nural Moser, die hier thematisiert werden soll. Wann nehmen wir Wolken wahr? Wenn sie sich verdunkeln und ein Gewitter aufzieht?

Exkurs: Panopticon?

„Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“4 Wenn Michel Foucault in seinem wohl prominentesten Werk Überwachen und Strafen die Funktions- und Wirkungsweise von moderner Macht beschreibt, dann „macht” er dabei etwas sichtbar, was sich trotz oder gerade durch seine Omnipräsenz, einer konkreten Wahrnehmung entzieht. Denn untrennbar von den Körpern, welche sie durchdringt und den Räumen, die sie besetzt, entzieht sich die von Foucault beschriebene Disziplinarmacht jeglicher Fixierung, jeglicher Lokalisier- und damit auch Sichtbarkeit. Eher verteilt als konzentriert, eher fluide als starr, eher intrinsisch als extrinsisch, oder: eher Individuum als König:in. Es ist die unsichtbare Mikrophysik der Macht, die die Individuen in den Räumen verteilt, sie in den selben diszipliniert und normalisiert und dabei, indem sie ihre Körper durchsetzt, ein Teil derselben wird.5 Macht ist dem Individuum, welches sich im Prozess der Disziplinierung erst subjektiviert, also nie äußerlich. Folglich wird es aber auch selbst zum Vehikel dieses Apparates, bestätigt und reproduziert in seinen täglichen Verhaltensweisen (unmerklich) das internalisierte Machtverhältnis.6 Anders formuliert: Indem das Individuum zum Subjekt wird (ein nie abgeschlossener Prozess), diszipliniert es sich selbst und gleichzeitig die es umgebenden Mitmenschen, mit denen es in Relation steht. Diese schmerzenden Unterwerfungsprozesse – wobei sich der Schmerz aus der Differenz zur Norm bedingt, sich also mal stärker, mal schwächer äußert – können nie losgelöst von den Räumen betrachtet werden, in welchen sich die Menschen bewegen und die zu ihrer Disziplinierung beitragen. Laut Foucault ist es die Anordnung des Klassenraumes, die Verteilung des Arbeiters am Fließband, die Architektur des Gefängnisses.7 Oder: der Aufbau des Flughafens?

Selbst unsichtbar, verteilt die Macht (dort) die Individuen im Raum, schafft Blickbeziehungen und koordiniert Bewegungen. Sie produziert den disziplinierenden Blick auf sich selbst und auf die/den Andere:n. Sie generiert die monotonen Rhythmen der Konformität. Die Macht, die sich selbst verbirgt, macht sichtbar:8 Das akzeptierte Normale und das sich widersetzende Abnormale.

Exkursion: Flughafen!

Der Flughafen: ein Ort, oder, um einen ähnlich prominenten französischen Theoretiker sprechen zu lassen, der Inbegriff eines, die Supermodernität charakterisierenden Nicht-Ortes (Marc Augé)9. Im Gegensatz zum (anthropologischen) Ort, der in klassisch soziologischer Definition als die Lokalisierung einer Kultur in Zeit und Raum 10 verstanden wird, ist der supermoderne Nicht-Ort im Gegensatz dazu geschichts- und identitätslos.11 Ein künstlicher, kein gelebter Ort. Ein Ort des Passierens, nicht des Verweilens – ein Ort der Anonymität und Einsamkeit.12 Meist ausgelagert in die Peripherie, losgelöst von Alltag und Gesellschaft, kontrastiert der Flughafen in seiner architektonischen Progressivität, in seiner Abstraktheit, in den Massen an Menschen, die er temporär beherbergt und bewegt, das Außen, welches er sich aneignet und zerstört.

Unwiederbringlich räumlich getrennt von jener, und doch als landschaftlicher Ausblick für sie/ihn behalten, überlässt sich die/der singularisierte und anonymisierte und doch in der dirigierten Masse geechote Reisende der temporären Haft in dem gläsernen Gefängnis, der Mobilität. Vielleicht nicht Gefängnis aber gefangen oder vielleicht auch nicht gefangen, aber festgesetzt. Stillstand. Lähmung. Warten. Zeit. Und gleichzeitig gelenkter Fluss, kontrollierter Rhythmus, koordinierte Bewegung, konzentrierte und von dort ausströmende Mobilität. Ein Knotenpunkt in einem dynamischen Netzwerk aus Verkehr, Handel, Kommunikation und Information mit direkter, Zeit und Raum negierender Verbindung zum nächsten seiner Art. Andere Nation, anderer Name, andere Landschaft, andere Zeit? Und doch irgendwie gleich: gleiche Kontrolle, gleicher Rhythmus, gleiche Anonymität, gleicher Starbucks.

Ankunft

Geleitet durch die, nicht weniger anonymisierenden, rigide lenkenden Straßensysteme, erreicht die/der Reisende den Flughafen, das temporäre Ziel, welches zugleich den Anfang bedeutet, der sich gerne mal verzögert. Durch die eigene Destination prädisponiert, gilt es die eine richtige Abfahrt zu nehmen, das Auto an einer spezifischen Stelle zu parken und den korrekten Terminal zu wählen. Progressiv, gläsern und leicht zeigt sich die Architektur von Flughäfen, die immer auch als Gradmesser des nationalen Fortschritts fungiert.13 Machtsymbolik, ohne konkrete Symbole? Die Architektur der Moderne, welche die Fassade als Bühne der Bedeutungskonstruktion, als applizierte Ideologie kritisiert und ihre Offenlegung verlangt, fordert eine ehrliche Architektur: Aufdeckung der Konstruktion, bestenfalls Preisgabe des Inhalts oder zumindest der Funktion.

Der Flughafen aus Glas ein Verrat? Illusion der Durchlässigkeit, des uneingeschränkten Zugangs, der Freiheit. Vielmehr Kontrolle, Identifikation, Überwachung. „In a way, the user of the non-place is always required to prove his innocence.“ 14 Gläserner als die Architektur ist das Subjekt, das sich sofort nach Betreten, rhythmisch von einem Punkt der Kontrolle – kurzer Stop in der freiheitlichen Konsumwelt – zum nächsten Kontrollpunkt bewegt, wobei es, vom indoktrinierten Sicherheitswahn getrieben, seinen Körper und seine Freiheit freiwillig der Überwachung überlässt.

Transit

Trans ire. Ort. Bewegung? Als eine Umgebung des Moments, beschreibt Marc Augé den Nicht-Ort, der einen von den identitätsbestimmenden Determinanten des Alltags temporär, durch die Anonymität des nur-dort-seins, befreit und einen paradoxerweise zugleich, auf eben dieselbe reduziert:15 Identität. Ticket, Name, Einwanderungsbehörde, Grenzkontrolle. Identifizierung. (Dis)approved. Abstrahierter Körper einer abstrakten Kontrolle, die auf Zahlen und Informationen basiert, auf den Daten des fragmentierten Körpers, auf dem biometrischen Code des Gesichts, den Papillarlinien des Fingerabdrucks, auf der völligen Durchsicht, die der Ganzkörperscanner gewährt. Mechanisch wird die Bewegung des/der Vorausgehenden adaptiert, sich ordentlich in Schlange gestellt, der Gürtel schon mal abgenommen, das Lachen eingestellt. Kooperation. Es ist der anonyme, normative Rhythmus der Kontrolle, der unterwirft: erzwungenes Stillstehen in der Schlange, dann ein erlaubter Schritt. Stop. Nochmal. Schuhe aus. Arme hoch.

Hyper-sichtbar – und wenn unauffällig, gleichzeitig unsichtbar sein. Es ist die anonyme Masse der Unauffälligen, die durch ein indirektes Vertragsverhältnis (solitary contractuality)16 Konformität unterschreiben und im Zuge dessen eine temporäre, kollektive Identität gewinnen. Und es ist dieser unsichtbare, aber allgegenwärtige Vertrag, dessen Sprache der Macht sich in den Körpern und in den Bewegungen der Subjekte codiert und deren Beziehung zueinander bestimmt. Der Nicht-Ort ist laut Marc Augé das Produkt dieser unausgesprochenen, aber rhythmischen, kontraktuellen Übereinkunft, deren Klauseln aus Anweisungen, Informationen, Nutzungshinweisen, Forderungen und Verboten bestehen.17

Rhythmus

„What is an ideology without a space to which it refers, a space which it describes, whose vocabulary and links it makes use of, and whose code it embodies? […]. […] what we call ideology only achieves consistency by intervening in social space and in its production, and by thus taking on body therein.”18

„Gestural systems embody ideology and bind it to practice. Through gestures, ideology escapes from pure abstraction and performs actions […].“19

Ewiges Werden, nie absolutes, abgeschlossenes Sein: der (soziale) Raum ist laut Henri Lefebvre, um einen dritten französischen Theoretiker zu zitieren, gleichzeitig (unabgeschlossenes) Produkt einer Vielzahl differierender Rhythmen und selbst Produzent dieser. Die aus diesen Prozessen hervorgehenden räumlichen Codes, deren Lesbarkeit und Umsetzbarkeit den Zugang zu einer spezifischen Gesellschaft/Gruppe bedingen, sind laut Lefebvre immer durchzogen vom unsichtbaren Code der Macht, der, indem er alle anderen räumlichen Codes subsumiert, sich selbst der Lesbarkeit entzieht.20

Vergnügen

Von den Pflichten einer, auf standardisierten Rhythmen basierenden, abstrakten Sicherheitskontrolle befreit (Duty-free jetzt?), schreitet die/der Reisende fort, auf ziemlich gelenkten Bahnen, angelockt von parfümierter Freiheit in ein sich verschließendes Inneres, das keine Reversion erlaubt. Kosmetika, dann ausgewählte Lebensmittel, exklusive Sonnenbrillen, Prêt à Manger. Wiederholung. Dann Kunst. 7000 ausgestellte Werke im Flughafen von Mumbai, mehr als 100 Kunstwerke in jenem von Seattle: Louise Nevelson, Frank Stella, Robert Rauschenberg. Dance of the Clouds. Ambient Art?21 Häufig korrespondierend mit der sie umgebenden leichten Architektur, zum Teil wie verwoben in diese, schweben großformatige Installationen namhafter Künstler:innen an internationalen Flughäfen und werden dabei so gut wie nie bemerkt. Fehlt den Kunstwerken die exklusive Präsentation? Bedarf es einer externen, es als Kunst ausweisenden, Rahmung – einem institutionellen Signifikanten? Ist es der Raum, der sie bezeichnet? Oder ist es vielleicht der Rhythmus, welcher die Rezeption bedingt? Jan von Brevern, dessen Einordnung von Kunst an Flughäfen als Ambient Art hier aufgegriffen wird, diagnostiziert sowohl eine veränderte Präsentation sowie Rezeption, die dem akzelerierten Zeitgeist aber vielleicht weitaus mehr entspricht als die anachronistisch anmutende, konzentrierte Versenkung, die das Museum, dessen Konzeption in den ästhetischen Diskursen des 19. Jahrhunderts reift, unverändert als Bedingung für eine erstrebte ästhetische Erfahrung einfordert.22 Nostalgie? – belegte doch eine Studie des Metropolitan Museum von 2001, dass die Verweildauer der Besucher:innen vor Werken im Museum im Durchschnitt nicht mehr als 30 Sekunden betrage.23 Mehr Ambient Art also? (In)direkt die Wahrnehmung hintergründig beeinflussen? Aber was, wenn der Hintergrund, den die Kunst inszenieren will, von Macht gestaltet wird? Der sukzessive Verlust, des als soziales Produkt verstandenen sozialen Raumes, ist laut Lefebvre Konsequenz eines homogenisierenden Kapitalismus, der abstrakte Räume, abstrakte Waren und ein abstraktes Subjekt schafft oder sie durch repetitive Rhythmen produziert. Augé (Non-Place) und Lefebvre (Abstract Space) zufolge sind es illusionäre Orte, die auf Wort und Zeichen und einer gewissen Übereinkunft basieren.24 Weniger als Befreiung aus der Kontrolle denn als deren modifizierte Fortsetzung ist der Konsumbereich des Flughafens zu verstehen, der die Reisenden rhythmisch beugt, konformiert und normalisiert. Und zugleich ist es das Subjekt selbst, dessen Körper und Wahrnehmung von Macht durchsetzt, diese rhythmisch reproduziert und sich dabei selbst diszipliniert. Rhythmischer Konsens (Vertrag) einer temporären, kollektiven (weißen) Identität. Ist Kunst am Flughafen – sind die Wolken in Changi – deshalb unsichtbar, weil sie mit diesem unsichtbaren sozialen Vertrag nicht brechen?

Störung: Safety Travelling

Post 9/11

Terror. Überwachung. Sicherheit. Freiheit. Totale Überwachung als Bedingung für Sicherheit. Sicherheit als Bedingung für Freiheit. Außerdem: Ausweitung des Sicherheitsbegriffs und dessen Beschlagnahmung durch eine weiße Definitionsmacht: Sicherheit, ehemals eng definiert als staatliche, nationale Sicherheit, die es militärisch gegen eine konkrete Gefahr nach außen zu gewährleisten galt, ist heute nicht mehr die Sicherheit des Staates, sondern des Individuums und sie wird nicht mehr national verstanden, sondern global. Abstrakte Risiken ersetzen eine konkrete Gefahr und verlangen nach einer permanenten proaktiven Sicherheitspolitik.25 (USA – War against terrorism.) Die angebliche Omnipräsenz der Risiken fordert die stetige (infinite) Ausweitung der Überwachung und eine Prävention, die sozialgestalterisch wirkt, also Gesinnungen und Lebensweisen beeinflusst.26

Abb. 2: Nural Moser, Performance Safety Travelling, Metamorphose auf Passfotos, 2017.
Abbildungsnachweis: Alia Lübben: Künstlerin Nural Moser: „Burka-Influencerin oder Staatsfeind Nummer Eins”, in: monopol, Magazin für Kunst und Leben, 12.11.2018, (04.8.2021). (Courtesy: Nural Moser).

(In)Security? Das Passieren des in der EU freiwilligen Ganzkörperscanners am Flughafen ist Ausdruck dessen. Safety Travelling heißt das Projekt der Künstlerin Nural Moser, die, indem sie sich am Flughafen mit einer Burka verschleiert und die gewaltvollen Reaktionen auf diese veröffentlicht, auf komplexe Machtstrukturen hinweist. Eine medial befeuerte Paranoia zeigt hier ihre gewaltvolle Wirkung. Moser ist das Außen, das „Fremde“. Sie ist „Gefährderin“ einer illusionären (weißen) Identität, die sich nur temporär und negativ, also durch die gemeinsame Ablehnung der Differenz und durch die Unterwerfung und Reproduktion unter die Rhythmen der Kontrolle bilden kann.

Als Eurhythmia bezeichnet Lefebvre das Zusammenspiel differierender, aber harmonierender Rhythmen. Und als Arrhythmia dessen Störung,27 die erst die Wahrnehmung der dominanten (ideologischen) Rhythmen erlaubt. Nural Moser stört durch (Un)sichtbarkeit. Sie entzieht sich den Rhythmen der Kontrolle und damit einer (westlichen) Macht, die ihre Gewalt in dem von ihr dominierten Feld des Visuellen (unter anderem Überwachung – Satelliten – Drohnen(krieg) – Werbung) entfaltet. Sie versagt sich also der Identifikation durch Überwachungskameras, rebelliert gegen einen durchsehenden Körperscanner und verweigert sich dem disziplinierenden Blick des Anderen. Durch den freiwilligen Akt des Verschleierns, wider der häufig vernommenen (westlichen) Kritik von links und rechts, die die Burka als Symbol der „Rückschritts” und der Unterdrückung verachten, ist es hier nicht ihr Körper, der „unterworfen” und „enteignet“ wird, sondern es ist der, im Namen der Sicherheit hergegebene, durchleuchtete, rhythmisch beherrschte, enteignete und abstrahierte Körper des Subjekts, auf den sie durch ihre Verweigerung aufmerksam macht. Bleibt andere, häufig kinetische Kunst am Flughafen im Gegensatz dazu meist deshalb unbemerkt, weil sie sich den unwahrnehmbaren, weil inkorporierten Rhythmen eines kontrollierenden Kapitalismus anpasst, und diese aufgreifend bestätigt?

Abb. 3: Nural Moser, Performance Safety Travelling, No body is free until the female body is free, 2017. Abbildungsnachweis: Alia Lübben: Künstlerin Nural Moser: „Burka-Influencerin oder Staatsfeind Nummer Eins”, in: monopol, Magazin für Kunst und Leben, 12.11.2018, (04.8.2021). (Courtesy: Nural Moser).

Ein Paradox zum Schluss: Nural Moser macht sich für eine (westliche) Kontrolle unsichtbar und erlangt dabei Sichtbarkeit. Störende Sichtbarkeit – keine anerkannte Sichtbarkeit. Anders formuliert: sie ist hypervisible.28 Wird ihr störendes, weil die kollektive, weiße Identität gefährdendes (Un)sichtbarsein jedoch als Kunst wahrgenommen, dreht sich das Verhältnis um: Die Störung hebt sich auf und Anerkennung stellt sich ein. Als Künstlerin identifiziert und akzeptiert wird das gewaltvolle Verhör eingestellt, der misstrauische Blick gesenkt und der Durchgang problemlos gewährt. Sie wird Teil der unsichtbaren Kunst an Flughäfen.

Alle Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung der Künstler:innen zur Verfügung gestellt.


Biografie

Imke Felicitas Gerhardt

Imke Felicitas Gerhardt studierte Politik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, wo sie momentan ihren Master in Kunstgeschichte abschließt. Der Fokus ihrer theoretischen Analysen liegt stets auf der Verschränkung von Machtverhältnissen und visuellen Regimen. Als Tänzerin ist es ihr dabei auch immer ein Bedürfnis, die Effekte dieser Verflochtenheit im Hinblick auf die Wahrnehmung und den Ausdruck des Körpers zu hinterfragen. Ihrem Interesse für Poesie geschuldet, versucht sich Imke Felicitas Gerhardt an einem experimentelleren akademischen Schreiben, da sie der Auffassung ist, dass Kritik nur eine Wirkung erzielen kann, wenn sie die Strukturen der Sprache und Kommunikation herausfordert, in der sich Ideologie versteckt.

-schaft – Barbara Posch

Seit 2018 entsteht die Fotoserie -schaft von Barbara Posch, in der sie Übergangsorte fotografiert. Das Bild wird kopiert, anschließend gedehnt, gestaucht oder gedreht und mit dem Ursprungsbild wieder zusammen gefügt. Diese sichtbare Manipulation erzeugt Gegenräume, verändert die ursprüngliche Funktion einzelner Elemente oder rückt Unscheinbares in den Vordergrund. Die Wahrnehmung und Erfahrung eines Ortes sind immer von der Perspektive und der Erinnerung geprägt: ein Flackern – Blickwechsel. Mit jeder Umformung und jeder Irritation wird ein Ort im Bild oder ein Bild im Ort neu erfahrbar.

Abbildungen: Barbara Posch, aus der Serie -schaft, Fotografie, digital nachbearbeitet, seit 2018.


Biografie

Barbara Posch

Barbara Posch studierte Visuelle Kommunikation an der Universität für Künstlerische und Industrielle Gestaltung in Linz und verfolgt nun ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München mit dem Schwerpunkt Skulptur und amorphe Materialien in der Klasse von Prof. Nicole Wermers. Sie beschäftigt sich im zwei- und dreidimensionalen sowie sprachlichen Bereich mit Skulptur-immanenten Fragen zum Konsturiert-Sein. Dabei steht die wechselseitige Bedingtheit zwischen dem Objekt, es umgebenden Raum und der Zeit im Fokus ihrer Arbeiten.

FIRST ASCENT – Schwäbischer Online Alb Verein

Das Ziel der Performance FIRST ASCENT war die erstmalige Erklimmung des Olympus Mons – dem höchsten Vulkan des Sonnensystems, der sich auf dem Mars befindet. Die Besteigung fand in Echtzeit im Keller der Stuttgarter Galerie Kernweine via Google Earth statt und dauerte insgesamt 99 Stunden, was vier Marstagen entspricht. Mit einem Mausklick legte das Kollektiv virtuell 1,5 Meter zurück, wobei sie digital eine magentafarbene Linie hinterließen. Die Verschränkung von realer und virtueller Welt steht bei der Aktion im Fokus und soll zur Reflektion über die Bedeutung und Funktion des Naturbegriffs anregen.

FIRST ASCENT
CLIMBING OLYMPUS MONS
21 KM HIGHT IN FOUR SOL
ON THE RED PLANET OF MARS 2019
PERFORMING/RECORDING AT
GALERIE KERNWEINE STUTTGART
FROM 22ND TO 26TH JANUARY

Das Ziel der Performance war die Erstbesteigung des Olympus Mons. Dieser ist der größte Vulkan und Berg des Sonnensystems und befindet sich auf dem Mars.

Mit einer Höhe von 21 Kilometern ist er fast zweieinhalb mal höher als der Mount Everest. Der Durchmesser des Schildvulkans beträgt 600 Kilometer, was ungefähr der Distanz Berlin-München entspricht.
Wir erklommen den Berg in Echtzeit via Google Earth.

Die Besteigung dauerte vier Sol. Sol ist ein Marstag.
Dessen Länge beträgt 24,39 Stunden. Vier Sol sind 99 Stunden. Die Aktion fand abgeschottet in Stuttgart im Keller der Galerie Kernweine statt.
Die Wegstrecke wurde live vor Ort programmiert. Zwischen Start und Gipfel hinterließen wir eine magentafarbene Linie.

Die Länge der Route zum Gipfel betrug 200 km. Dort ist die Caldera; ein
kesselartiger Gipfelkrater.
Via Mausklick wurden 2,20 m pro Sekunde zurückgelegt. Die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit betrug 8 km/h. Wir liefen pro Sol circa sieben Stunden und 50 km. An Sol 1 erreichten wir das Basiscamp, an Sol 2 das zweite Camp, an Sol 3 das dritte Camp und an Sol 4 den Gipfel.

Der Aufstieg erfolgte von Ostnordost. Dort befindet sich ein flach verlaufender Zugang hinauf zum Gipfel. Die restlichen Flanken sind begrenzt von bis zu 8 km hohen Steilhängen.
Die Aktion wurde via Twitch gestreamt.
Been there, done that!
mit:
Roland Batroff
Kai Fischer


Biografie

Schwäbischer Online-Albverein

Der Schwäbischen Online-Albverein geht performativ wandern – online und offline. So hinterlässt das Stuttgarter Künstler*innenkollektiv nicht nur Trampelpfade als ephemere Skulpturen, sondern erklärt ebenfalls Google Maps zu seiner digitalen Wanderkarte. Dabei verschränken sich analoge und virtuelle Welten und es entsteht ein Spiel aus Land Art und Cyber-Land Art, bei der die Realität nicht am Bildschirm endet.

Voyage Pathologique – Lisa Marie Schmitt

In der Videoarbeit Voyage Pathologique werden sechs Fälle der Psychologin Graziella Magherini auf poetische und teils humorvolle Weise charakterisiert. In ihrem Buch Le syndrome de Stendhal. Du voyage dans les villes d´art von 1979 beschreibt Magherini das Stendhal-Syndrom. Charakterisiert wird dieses durch Symptome wie Atemnot, Herzrasen und Hyperventilieren sowie Gefühle der Depersonalisierung, die allesamt von einer kulturellen Reizüberflutung hervorgerufen werden. Der Begriff dieser psychosomatische Störung bezieht sich auf den französischen Schriftsteller Stendhal und dessen Notiz zu seiner Reise durch Italien.

FRANZ
Il reste debout pendant de longues heures à admirer tableaux et dessins, « avec la tête et le cœur en flammes » Ses yeux voient « des couleurs jamais vues » et, dès le premier jour, il se sent bouleversé, déconcerté, désorienté par le flot des impressions chromatiques […].1

Stunden verbringt er dort, um Malereien und Zeichnungen zu bewundern, „den Kopf und das Herz in Flammen“. Seine Augen erblicken „nie zuvor gesehene Farben“ und vom ersten Tag an fühlt er sich durch den Überfluss an Farbeindrücken niedergeschlagen, verwirrt, desorientiert […].2

KAMIL
« Lorsque nous sommes ressortis, sur les marches, nous étions vidés, complètement privés d ́énergie, comme si en sortant de cette église nous étions aussi sortis des nous-même. […] et je crois qu’à ce que ce moment-là je pouvais avoir bien quarante de fièvre. […] Je me suis étendu par terre, et l’impression de sortir hors de moi, de me perdre, de me dissoudre, a persisté. […] »3

„Als wir hinaus auf die Treppen gingen, fühlten wir uns leer, vollkommen jeglicher Energie entzogen. Als ob wir mit dem Herausschreiten aus der Kirche, aus unseren eigenen Körpern herausgetreten seien und ich glaube in diesem Moment hatte ich ungefähr 40° Fieber. […] Ich habe mich auf den Boden gelegt und das Gefühl, meinen Körper zu verlassen, mich zu verlieren, mich aufzulösen, setze ich fort.“

RUTH
[…] Ruth s’est longuement arrêtée devant les œuvres du Bronzino, de Pontormo et de Raphaël. La jeune fille a d’abord ressenti des douleurs à la tête et à l’abdomen, on a cru à une appendicite […]. […] Elle répète sans cesse: « Please! Help me! Help me! »4

[…] Ruth blieb lange Zeit vor den Arbeiten von Bronzino, Pontormo und Raphael stehen. Die junge Frau hatte erst Schmerzen im Kopf, dann im Abdomen, wir dachten an eine Blinddarmentzündung […]. […] Sie wiederholte ohne Unterlass: „Please! Help me! Help me!“

ARIEL
« […] Ces couleurs, avec des touches de rose, ces personnages, sont typiques de Chagall. L’émotion continuait à monter et je ne pouvais plus la contrôler; j’étais là, face au tableau, et je sentais que je commençais à pénétrer à l ́intérieur. […] j’ai eu l’impression que les animaux de l’arche étaient un peu des compagnons d’adventure et de sauvetage. Noé aussi, je le connaisais bien. Alors j’ai eu un peu l’impression de m’envoler, moi aussi, en même temps que ces personnages qui se détachent de la terre en une légère lévitation. Je voyais la lune plus proche et j’avais l’impression de pouvoir l’atteindre. […] »5

„[…] Diese Farben mit leichten Rosatönen, diese Figuren sind typisch für Chagall. Das Gefühl wurde stärker und ich konnte es nicht mehr kontrollieren; Ich stand dort vor dem Gemälde und ich fühlte, dass ich begann, in das Bild einzudringen. […] die Tiere der Arche waren wie Begleiter des Abenteuers und der Rettung. Auch Noah, ich kannte ihn gut. Ich fühlte mich, als schwebte ich zusammen mit den Figuren, die sich leicht vom Boden abhebten. Ich sah den Mond so nah, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte ihn erreichen. […]“

LUCY
[…] aux Offices, elle a surtout été attirée par les salles qui – avec cette accumulation d’art religieux, scènes de la vie des saints, crucifixions du Christ, Vierges à l’enfant, anges dorés de l’Olympe chrétien – lui ont semblé autant de lieux sacrés. […] Elle dit être le fruit d’une réincarnation, elle affirme qu’une religieuse s’est incarnée en elle et que celle-ci est enterrée en Italie, dans un petit village d’Ombrie dont elle a oublié le nom; elle est sûre, dit-elle, de pouvoir arriver là-bas si nous la laissons enfin seule, en paix.6

[…] in den Uffizien fühlte sie sich besonders angezogen von den Sälen, die mit ihrer Ansammlung religiöser Kunst, Szenen der Leben der Heiligen, Kreuzigungen Christi, Jungfrauen mit dem Kinde, goldenen Engeln des christlichen Olymps, als solch heilige Orte erschienen. […] Sie sagt, sie sei die Frucht der Reinkarnation einer Nonne, die in Italien in einem kleinen umbrischen Dorf, dessen Namen sie vergessen hat, begraben liegt; sie ist sicher, sagt sie, dorthin zu gelangen, wenn wir sie in Ruhe und Frieden lassen.

MARTHA
Elle est hospitalisée en proie à une bouffée délirante, après une visite au Musée de San Marco où elle s ́est longuement arrêtée devant les fresques du Beato Angelico. Après cette visite, elle a commencé à exprimer une grande inquiétude: elle dit avoir appris à la radio que le diable devait apparaître ce jour-là à Florence. Et c’est ce même jour que les anges et les diables du Beato Angelico l’ont fait pénétrer dans un monde de conflit entre le bien et le mal. Entre la lumière et les ténèbres.7

Nach einem Besuch im San Marco Museum, wo sie sich lange Zeit vor Fresken Beato Angelicos aufgehalten hatte, wurde sie in einem Zustand des Wahnsinns in ein Krankenhaus eingeliefert. Danach äußerte sie sich mit großen Sorgen: Sie sagte, sie habe im Radio gehört, dass an jenem Tag der Teufel in Florenz erscheine und am selben Tag brächten die Engel und Teufel Beato Angelicos sie in eine Welt des Konflikts zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit.

Abb. 1-8: Lisa Marie Schmitt, Voyage Pathologique, 2018, Videostills, 14:24 Min.


Biografie

Lisa Marie Schmitt

Lisa Marie Schmitt schloss 2017 ihr Studium der Freien Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste Saar als Meisterschülerin von Prof. Georg Winter ab. 2018 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium an der Cité Internationale des Arts Paris. Dieses Jahr wird sie mit dem Stipendium für Kulturaustausch Berlin Global ein Projekt in Cluj-Napoca in Rumänien realisieren. Sie arbeitet medienübergreifend mit Film, Fotografie, Skulptur und Sprache. Ihre recherchebasierten Arbeiten verbinden häufig aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen mit dem Poetischen.

100% PURE LOVE – Emilija Tolj

100% PURE LOVE bedeutet absolute Authentizität, die im Falle nicht-sichtbarer Behinderungen besonders wirkungsvoll durch eine Umkehrung von innen nach außen erreicht werden kann. Wenn die Skulptur aus Tablettenblister auf dem Körper getragen wird, dann gleicht dies für Emilija Tolj einem Outing, das performativ stellvertretend für viele andere vorgenommen wird. Das geplante Filmprojekt soll intersektional betroffene Menschen sichtbar machen.

“Taking up space as a disabled person is always revolutionary.”
– Sandy Ho1

“If you are already an unconventional person, then do whatever you want because as much as people will try to hold you to certain standards, you already are not the standard, so just be yourself” – Julian Gavino2

“There is so much that able-bodied people could learn from the wisdom that often comes with disability. But space needs to be made. Hands need to be reached out. People need to be lifted up.” – A. H. Reaume3

Abbildungen: Auszüge Screenshots aus dem Video 100% PURE LOVE.

Weiterführende links: @rebirthgarments
https://vimeo.com/382025972

Blog von Talila A. Lewis:
https://www.talilalewis.com/about.html cripcamp the documentary trailer (ganze dokumentation auf netflix erhältlich)
https://www.youtube.com/watch?v=XRrIs22plz0


Biografie

Emilija Tolj

Emilija Tolj studiert Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart und erhielt dort das DAAD PROMOS-Stipendium. Eine wichtige Station war die School of 2020 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart, aus der sich das Kollektiv Bond_ASAP begründete. Im Rahmen der Arbeitsgruppe und darüber hinaus setzt sich Emilija Tolj mit den Arbeitsbedingungen und der Inklusion marginalisierter Menschen in der darstellenden Kunst und Architektur auseinander.

„Ein trübes Dunkelmanns-Gesicht?!“ Bertel Thorvaldsens Schiller-Denkmal in Stuttgart – Lisa-Marie Hinderer

Das erste Denkmal zu Ehren des Dichters Friedrich Schillers steht in Stuttgart. 1839 wurde es auf Initiative des Stuttgarter Liederkranzes von dem Bildhauer Bertel Thorvaldsen ausgeführt. Doch bei der Enthüllung des Denkmals war die öffentliche Reaktion – besonders die des Dichters Franz Dingelstedt – ablehnend: “Nein! […] Schiller der Denker ist das nicht!” Aber welche soziohistorischen Voraussetzungen für die Errichtung des Denkmals bedingen diese Kritik?

Der Schriftsteller Friedrich Wilhelm Hackländer hielt 1878 in seinem Werk Der Roman meines Lebens folgende Erinnerung an seinen Besuch in Stuttgart, bei dem er durch die Straßen der Stadt zum Schiller-Denkmal spazierte, fest:

„Hier war vor Kurzem das Standbild Schiller’s, von Thorwaldsen modellirt, enthüllt worden und man bewunderte damals noch ungetheilt die lebensvollen Formen des vortrefflichen Monuments, fand es auch nicht unpassend, daß der Dichter und Philosoph nachdenklich mit gesenktem Kopf dasteht, statt sich aus dem Anblick des Himmels Begeisterung zu holen; während es später Mode wurde, den berühmten Bildhauer darob in Wort und Lied zu verunglimpfen und die Statue des großen Dichters als verunglückt darzustellen.“1

Entgegen der Äußerung in diesem Auszug wurde dem Denkmal für Friedrich Schiller (1759–1805) von Bertel Thorvaldsen (1768–1844), das 1839 in Stuttgart enthüllt worden war2 (Abb. 1), bereits zu diesem Zeitpunkt kritisiert.

Abb. 1: Bertel Thorvaldsen (Ausführung von Wilhelm Matthiae), Schiller-Denkmal (Frontansicht – Blick vom Alten Schloss), 1839, Bronze, H. 386 cm, Schillerplatz, Stuttgart. Abbildungsnachweis: Fotografie von Autorin Lisa-Marie Hinderer.

Aber wie kam es überhaupt dazu, dass zu Ehren Friedrich Schillers – einem Dichter – ein Denkmal errichtet wurde, wenn zuvor nur Fürsten und Feldherren (!) in dieser Form gewürdigt wurden? Im 18. Jahrhundert wurde die Denkmalwürdigkeit einer Person nicht mehr an diese selbst, sondern an deren Verdienste für den Staat geknüpft. Daher konnten sich auch Individuen außerhalb des Herrschaftsbereichs durch den Verdienst auf anderen Gebieten, wie beim Beispiel Schillers der Dichtung, als denkmalwürdig erweisen.3 Dies hängt mit dem Genie-Gedanken4, der ebenfalls im 18. Jahrhundert aufkam, zusammen.

So errichteten Stuttgarter:innen zu Ehren des „unangefochtenen deutschen Lieblingsdichter[s]“5 Schiller ein Denkmal in dessen württembergischen Heimat. Die Initiative ging vom Stuttgarter Liederkranz aus, während die Ausführung der Schillerverein übernahm, der sich als Denkmalkomitee innerhalb des Stuttgarter Gesangvereins gebildet hatte und später davon löste. Den Bemühungen dieser Vereine ist es zu verdanken, dass das Denkmal Schillers in Stuttgart auf einem öffentlich zugänglichen Platz – dem Alten Schlossplatz, heute Schillerplatz – aufgestellt worden ist.6 Die Aufstellung eines Denkmals für einen Dichter war jedoch kein Einzelfall: Ernst Förster stellt bereits im ersten Satz seines Artikels Ueber die Errichtung neuer Denkmale in Deutschland im Kunstblatt vom 9. Mai 1839, dem Datum der Enthüllung des Schiller-Denkmals in Stuttgart, fest:

„[Dass] in unsern Tagen der Fall sich wiederholt, daß man sich vereinigt, verdienten Männern der Vorzeit oder ausgezeichneten Zeitgenossen ein öffentliches Denkmal zu setzen.“7

Nichtsdestotrotz handelt es sich beim Stuttgarter Schiller-Denkmal sowohl um das erste Dichterdenkmal in dieser Größe in Deutschland8 als auch um das erste deutsche Denkmal zu Ehren Schillers9, das zudem noch das erste öffentlich aufgestellte Denkmal in Form eines Standbilds auf hohem Podest in Stuttgart ist. Dies soll jedoch nicht zu der Annahme führen, dass das Denkmal durch seine Vorwegstellung auch dementsprechend nachsichtig in der öffentlichen Meinung akzeptiert wurde. Folgt man Hans-Ernst Mittig in seinem Aufsatz Über Denkmalkritik, so werden die Ansatzpunkte der Kritik, die die zeitgenössischen Rezipient:innen für das Denkmal fanden, diesem
lange entgegengehalten.10 Im folgenden Aufsatz steht deshalb nicht der Bildhauer Bertel Thorvaldsen im Vordergrund, sondern das Denkmal sowie dessen Auftragsgeschichte verbunden mit seinem Aufstellungsort Stuttgart. Denn gerade die soziohistorischen Voraussetzungen für die Errichtung des Denkmals bedingen dessen spätere Kritik im Kontext der Schiller-Rezeption Stuttgarts.

Vorgeschichte: Danneckers kolossale Marmorbüste Schillers und erste Denkmalgedanken

Die Entstehungsgeschichte des Schiller-Denkmals beginnt bereits im Jahr 1805, dem Todesjahr des Dichters. Nach dessen Tod fasste Johann Heinrich Dannecker (1758–1841), Stuttgarter Hofbildhauer und seit den gemeinsamen Tagen an der Hohen Karlsschule Freund Schillers, den Gedanken, seine lebensgroße Gewandbüste des Dichters aus den Jahren 1793/94 als kolossale Neufassung wieder aufzugreifen (Abb. 2). Diese erste Fassung der Büste entstand noch zu Lebzeiten Schillers und auf Anlass dessen ersten und letzten Besuchs nach seiner Flucht in Württemberg.11 Nach der Fertigstellung der Büste formulierte Dannecker, der die Büste 1794 an Schiller schickte, in einem Brief an diesen:

„Ich muß Dir aber auch sagen, daß Dein Bild einen unbegreiflichen Eindruk in die Menschen macht: die Dich gesehen, finden es vollkommen ähnlich, die Dich nur aus Deinen Schriften kennen, finden in diesem Bild mehr als ihr Ideal sich schaffen konnte.“12

Abb. 2: Johann Heinrich Dannecker, Friedrich Schiller, Kolossalbüste, 1805–1810, Carrara-Marmor, H. 87 cm, B. 44 cm, T. 31 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart, Inv.-Nr. P 693. Abbildungsnachweis: Staatsgalerie Stuttgart (Hrsg.): Staatsgalerie Stuttgart. Die Sammlung. Meisterwerke vom 14. bis zum 21. Jahrhundert, München/Stuttgart 2008, S. 147, Abb. 87.

Diese Äußerung über die fertiggestellte Büste, die den Dichter wahrheitsgetreu ganz nach dem Leben zeigen soll, steht dabei jedoch im Kontrast zur Idealisierung Schillers äußerer Erscheinung. So schreibt Veronika Mertens, dass zwar die Ähnlichkeit der Büste mit dem Aussehen des Dichters bewundert wurde, Dannecker mit seiner Skulptur aber „zugleich […] zutiefst dem klassizistischen Ziel, […] Wirklichkeit ideell zu überhöhen“13 entsprach – Dies bestätigt die Nachfrage. Denn Rolf Selbmann stellt darüber hinaus fest, dass schon mit der Fertigstellung der Büste zu Lebzeiten Schillers der Wunsch nach Vervielfältigung einsetzte.14 Durch Dannecker und dessen Nachfolge wurden zahllose Reproduktionen hergestellt, so dass die Büste nach Selbmann „die Vorstellung vom Aussehen Schillers unauslöschlich prägte“15. Nachdem Dannecker nun im Mai 1805 vom weimarischen Oberhofmeister Wilhelm von Wolzogen die Nachricht über den Tod Schillers erhalten hatte, verfasste er folgende Antwort, auf die in der Forschung häufig zurückgegriffen wurde:

„Schillers Tod hat mich sehr niedergedrückt. Ich glaubte die Brust müßte mir zerspringen, und so plagte mich’s den ganzen Tag. Den andern Morgen bei’m Erwachen war der göttliche Mann vor meinen Augen, da kam mir’s in den Sinn, ich will Schiller lebig machen, aber der kann nicht anders lebig sein, als colossal. Schiller muß colossal in der Bildhauerei leben, ich will eine Apotheose.“16

So zeigt Dannecker in seinem Brief an Wolzogen, dass der Idealisierung Schillers, die sich bisher im Erscheinungsbild der Büste widergespiegelt hat, nun der Wunsch nach Monumentalisierung des Verstorbenen folgt. Seit der Idee zur Kolossalbüste, die Dannecker im Jahr 1806 fertigstellte (Abb. 2), hatte er zudem den Plan, diese in ein Denkmal zu integrieren oder genauer gesagt, diese als Mittelpunkt eines Denkmal-Ensembles zu platzieren.17 Dieser Gedanken lässt sich neben einer Zeichnung Danneckers aus dem Jahr 1805 (Abb. 3) auch in seiner folgenden Äußerung erkennen:

„Den andern Tag, als ich die höchst traurige Nachricht von seinem Todt erhalten hatte, find ich Schillers Büste Colossal an und dachte der Schwab muß dem Schwaben und Freund ein Monument machen.“18

Abb. 3: Johann Heinrich Dannecker, Entwurf zu einem Schiller-Monument, 1805, Feder in Braun über Bleistift auf roh-weißem Büttenpapier, 43,4 x 34,2 cm, Deutsches Literaturarchiv Marbach/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar, Inv.-Nr. Gr. F. 93. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schiller in Stuttgart, Stuttgart (Landesmuseum Württemberg) 2005, S. 39, Abb. 9.

Jedoch sollte es nicht zur Ausführung eines Denkmals durch die Initiative des Bildhauers in der gemeinsamen Heimat Württemberg kommen: Dannecker sagte keiner der Entwürfe für ein Denkmal Schillers, die in den folgenden Jahren vorgestellt wurden, zu und so fand die Büste keine Aufstellung.19 Das berühmte Werk blieb dem Publikum jedoch nicht ganz vorenthalten. Besonders beim ersten deutschen Schillerfest im Jahre 1825 in Stuttgart, veranstaltet durch den Stuttgarter Liederkranz, wurde der Präsentation der Büste als ephemeres Denkmal große Bedeutung zugesprochen (Abb. 4).

Abb. 4: J. A. Mayer, Aufstellung der Schiller-Büste von Johann Heinrich Dannecker am 1. Schillerfest des Stuttgarter Liederkranzes am 9. Mai 1825 zum 20. Todestag des Dichters als ephemeres Denkmal, 1825, Lithographie,
Deutsches Literaturarchiv Marbach/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schiller in Stuttgart, Stuttgart (Landesmuseum Württemberg) 2005, S. 37, Abb. 11.

Schillerrezeption in Stuttgart: Der Stuttgarter Liederkranz und der Schillerverein

Der Stuttgarter Liederkranz, ein 1824 gegründeter Gesangverein, wurde laut Sylvia Heinje „schnell zum geistigen Mittelpunkt der Stadt“20. Seine Initiative war es, jährlich drei Feste zu veranstalten, unter anderem ein Fest zum „Andenken berühmter Geister“21 – Die Wahl fiel auf Friedrich Schiller. Das erste öffentliche Schillerfest feierte der Liederkranz dann im Jahr 1825 am 20. Todestag des Dichters. Hier wurde die Büste Danneckers als ephemeres Denkmal inszeniert (Abb. 4).22 Denn neben dem alljährlichen Fest zu Schillers Todestag hatte der Stuttgarter Liederkranz ebenfalls den Vorsatz in seine Statuten aufgenommen, „dem Dichter ein Denkmal in seinem Vaterland zu gewinnen“.23 Zu diesem Zweck wurde innerhalb des Liederkranzes ab dem 23. Mai 1825 eine Kommission formiert.24 Auf Grund von Differenzen und daraus resultierenden Streitigkeiten sollte sich diese Kommission später vom Liederkranz abspalten und den Schillerverein (oder auch Verein für Schiller’s Denkmal) bilden.25

Ausführung des Denkmals: Der Bildhauer Bertel Thorvaldsen

Es „sollte also etwas Großartiges errichtet werden, und in der That griff das Comité, um dieses ins Werk zu setzen, zu dem besten und vielleicht einzigen Mittel“26: Als erste Abordnung, die auf einem öffentlichen Platz ein Dichterdenkmal aufstellen wollte27, sandte der Liederkranz Mitglieder nach München, wo sich der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen 1830 auf seiner Reise von Rom nach Kopenhagen aufhielt.28 Am 30. Januar übermittelte diese Delegation dem Bildhauer ein Schreiben29 mit der Bitte, das Denkmal auszuführen (Abb. 5). Besonders interessant an diesem Dokument ist, dass Thorvaldsen eine genaue Vorstellung vom Aussehen des
Denkmals vermittelt wurde:

„In Rücksicht dessen, was von den Beiträgen Deutschlands zu diesem Zweck etwa zu erwarten sein möchte, hat der Verein beschlossen, daß der sprechend ähnliche, colossale Kopf des Unsterblichen von der Büste unseres Hofraths v. Dannecker dazu genommen und eine sitzende colossale Statue in Bronce oder aus Eisen, und im letzteren Falle bronciert, nach diesem Maßstabe gegossen werden soll.“30

Abb. 5: Brief vom Stuttgarter Liederkranz unter dem Vorstand Reinbeck an Thorvaldsen vom
30.01.1830. Abbildungsnachweis: The Thorvaldsens Museum Archives, m15 1830, nr. 12, URL:
https://arkivet.thorvaldsensmuseum.dk/documents/m151830,nr.12 (06.04.2021), CC BY-NC-ND 4.0 International.

Nachdem Dannecker als Bildhauer – wohl aus Altersgründen31 – nicht mehr in Frage kam, wandte der Verein sich an den „Phidias unserer Zeit“32, den in Rom lebenden Bildhauer Bertel Thorvaldsen, der zu den gefragtesten zeitgenössischen Bildhauer:innen in Europa zählte.33 Jedoch spielte die Schiller-Büste Danneckers bei den Auftraggebenden weiterhin eine wichtige Rolle und so wünschte man sich von Thorvaldsen, dass er eine Sitzfigur modellierte, die eine „Art Körpersockel“34 für die Büste darstellen sollte. Rolf Selbmann spricht hier von einem „lokalpatriotische[n] Rückgriff“35, der auf eine „monumentale Konservierung des gewohnten Schillerbilds“36 abzielt. Nach Katharina Bott war Thorvaldsen jedoch „ein zu eigenwilliger Künstler, als daß er Vorschläge von Auftraggebern berücksichtigt hätte“37. So überging der Bildhauer, der dem Verein am 20. Juni 1830 seine Zusage mitteilte, die Auflagen und vollendete 1835 einen 83,5 cm hohen Entwurf für das Denkmal (Abb. 6). Den Entwurf, der trotz der Abweichungen vom Vorschlag des Schillervereins38 ohne Änderungen akzeptiert wurde39, übergab Thorvaldsen seinem Schüler Wilhelm Matthiae (1807–1888), der seit 1828 in dessen Werkstatt in Rom mitarbeitete. Matthiae setzte den Entwurf in das Gipsmodell um, nach dem das Standbild gegossen werden sollte: Das originalgroße Gipsmodell wies nun eine Höhe von 3,91 m auf – doppelt lebensgroß.40

Abb. 6: Bertel Thorvaldsen, Friedrich Schiller, Entwurf für das Schiller-Denkmal, 1835, Gips, H. 83,5 cm, Thorvaldsens Museum, Kopenhagen, Inv.-Nr. A 138. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Nürnberg (Germanisches Nationalmuseum), Schleswig (Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf) 1991, S. 686, Abb. 8.31.

Das überlebensgroße Standbild stellt Schiller idealisiert mit einem muskulösen Körper, der sich durch die Kleidung abzeichnet, sowie breiten Schultern dar (Abb. 7). In seiner linken Hand hält er ein Buch, in das der Zeigefinger eingeschlagen ist, und seine Rechte fasst einen Schreibgriffel – stereotype Attribute, die den Dargestellten als Dichter identifizieren. Während die Linke mit dem Buch ausgestreckt am Körper anliegt, ist die rechte Hand vor diesem angewinkelt. Der rechte Arm rafft dabei einen langen Umhang, der über die rechte Schulter gelegt worden ist. Der lange, antikische Umhang, den der Dichter über seinem zeitgenössischen Kostüm trägt, lässt nur die Partie oberhalb der Brust und den linken Arm frei, während er den Rest des Körpers, besonders dessen Rückenansicht, großzügig und faltenreich umhüllt.

Abb. 7: Bertel Thorvaldsen (Ausführung von Wilhelm Matthiae), Schiller-Denkmal (Nahaufnahme | Frontansicht – Blick vom Alten Schloss), 1839, Bronze, H. 386 cm, Schillerplatz, Stuttgart. Abbildungsnachweis: Appelbaum, Dirk (Hrsg.): Das Denkmal. Goethe und Schiller als Doppelstandbild in Weimar (Edition Haniel), Tübingen 1993, S. 58, Abb. 8.

Das mit einem Lorbeerkranz gekrönte Haupt senkt der Dichter (Abb. 8). Das schmale, längliche Gesicht mit hoher Stirn und ausgeprägten Wangenknochen ist durch diese Gesichtszüge stark idealisiert. So schreibt auch Katharina Bott zur Physiognomie, dass diese weitgehend ins Stereotype ausweicht.41 Jedoch wirkt das Denkmal Schillers durch die in Falten gelegte Stirn und die nach unten gezogenen Mundwinkel nachdenklich. Ernst Förster, der die prägnanteste zeitgenössische Beschreibung des Denkmals lieferte, schrieb im Kunstblatt vom 21. Mai 1839: „[S]o sehen wir den lorbeerbekränzten Dichter über dem Volk, auf hohen Postament, zu uns hernieder oder in die Tiefe der eigenen Gedanken sich verlieren.“42 was uns zum Punkt der Denkmalkritik bringt.

Abb. 8: Bertel Thorvaldsen (Ausführung von Wilhelm Matthiae), Schiller-Denkmal (Nahaufnahme des Kopfes | Seitenansicht – Blick von der Alten Kanzlei), 1839, Bronze, H. 386 cm, Schillerplatz,
Stuttgart. Abbildungsnachweis: Fotografie von Autor:in MSeses (Pseudonym) über Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Schillerdenkmal_Stuttgart_Detail.jpg (06.04.2021), CC BY-SA 3.0.

„Vor Schillers Standbild in Stuttgart. An Thorwaldsen“ Zur Denkmalkritik43

Nachdem fünfzehn Jahre seit der Gründung des Stuttgarter Liederkranzes und 34 Jahre seit dem Tod Schillers vergangen waren, wurde das Denkmal am Tag vor Schillers Todesdatum am 8. Mai 1839 unter der Abwesenheit Thorvaldsens44 feierlich im Zentrum Stuttgarts enthüllt (Abb. 9) – und kritisch begutachtet. Als Ausdruck der zeitgenössischen Kritik spiegelt das daraufhin an Thorvaldsen adressierte Gedicht Vor Schillers Standbild in Stuttgart von Franz von Dingelstedt die Rezeption des Denkmals besonders eindrücklich wider:

„Altmeister Steinmetz aus dem Norden,
Moderner Phidias ohn‘ Athen, […].
Sag‘ an, wer dir die Macht verliehen,
In deine Werkstatt, an dein Maß
Ein göttliches Geschlecht zu ziehen,
Das deinem Meißel niemals saß? […]

Die Menschen machst du zu Kolossen?
Nein, den Giganten nur zum Zwerg! […]

Der erste Dichter solch ein Mucker,
Ein trübes Dunkelmanns-Gesicht?!

Wie? dieser Kopf- und Nackenhänger,
Der wie ein Säulenheiliger steht,
Wär‘ meines Volkes Lieblingssänger,
Der deutschen Jugend Urpoet?

Fremd blieb, o Däne, dir sein Wesen,
Sein Geist, o Künstler, dir zu hoch; […].
Ha! Schlimm genug, daß wir Lebendigen
Krumm wie dein Schiller stehn und gehn,

Daß wir, nachgebend dem Nothwendigen,
Statt in die Welt zur Erde sehn;
Den Todten war’s nicht so beschieden,
Und, fremder Mann, du weißt es nicht,
Dass ach! mit ihrer Größ‘ hienieden
Auch uns’res Volkes Größe bricht!“45

Abb. 9: Wenzel Pobuda nach Friedrich Bernhard Elias, Der achte Mai 1839 in Stuttgart, 1839, Lithografie, 13,9 x 21 cm, Deutsches Literaturarchiv Marbach/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar, Inv.-Nr. B 98.99. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schwäbischer Klassizismus zwischen Ideal und Wirklichkeit. 1770–1830. Zeichnen, malen, bilden (Bd. 1), Stuttgart (Staatsgalerie Stuttgart) 1993, S. 320, Abb. 251.

Stellvertretend für weitere kritische Auseinandersetzungen mit dem Denkmal wird bei Franz Dingelstedt deutlich, woran sich die Rezipient:innen hauptsächlich störten: Der Körperhaltung des Standbilds, insbesondere der gesenkten Haltung des Kopfes. Diese Kritik erklärt sich besser vor dem Hintergrund der Vorgeschichte des Denkmals, vor allem im Vergleich zu Danneckers Schiller-Büste. Durch die zahlreiche Vervielfältigung der Büste und deren Präsenz bei den öffentlichen Schillerfeiern des Stuttgarter Liederkranzes prägte diese die Vorstellung vom Aussehen Schillers tief. Thorvaldsen wurde zwar in dem bereits erwähnten Brief des Denkmalkomitees gebeten, den „sprechend ähnlichen, colossalen Kopf des Unsterblichen von der Büste unseres Hofraths v. Dannecker“46 zu nehmen und ergänzend dazu eine „sitzende colossale Statue“47 zu formen, setzte sich jedoch darüber hinweg. Dies wurde zwar vom Komitee ohne Änderungswünsche akzeptiert48, aber in der Rezeption des Schillerdenkmals zeigt sich jedoch, dass die Vorstellungen von Schillers äußerer Erscheinung divergieren – und somit die Werke Thorvaldsens und Danneckers konkurrieren. Besonders auffällig wird dies bei der Medaille, die zur Enthüllung des Denkmals geprägt wurde (Abb. 10). Auf der Seite – von der ausgegangen werden kann, dass es sich hierbei um die Vorderseite (!) der Münze handelt – findet sich eine Profilansicht der Büste Danneckers. Erst auf der vermeintlichen Rückseite der Münze wird das Standbild Thorvaldsens in Frontalansicht abgebildet. Der nach Bentivoglio49 „grämliche Mann da, kränklich, brütend in sich, weinerlich, leidend, gedrückt“50 steht dabei im Kontrast zur Büste Schillers, die ihren Blick weit in die Ferne richtet und den Dichter ganz nach dem Leben zeigen soll. Klaus
Fahrner formuliert diesbezüglich zugespitzt:

„Auf ihr [der Gedächtnismedaille] kontrastiert die ungebrochen apollinische Strahlkraft der Dannecker-Herme mit der kehrseitig unverkennbar den Kopf hängenden Statue, deren tendenziell resignative Züge dadurch umso stärker hervortreten.“51

Abb. 10: Ferdinand Helfricht, Medaille zur Enthüllung des Denkmals, 1839, Bronze, Ø 4,5 cm, Münzkabinett, Landesmuseum Württemberg, Stuttgart, Inv.-Nr. 721. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schiller in Stuttgart, Stuttgart (Landesmuseum Württemberg) 2005, S. 51, Abb. 6.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Die Frage nach der Angemessenheit.
Die Übernahme des Typus des Feldherrenstandbilds – eines ganzfigurigen Stand- statt eines Büstendenkmals für einen Dichter – geht einher mit der Übertragung des Würdeanspruchs dieses Denkmaltypus. Diese mit Tradition behaftete Darstellungsform bedient sich an einem Repertoire an Haltungen, die Gerd Reichardt52 als „zu Pathosformeln gewordene Posen“ bezeichnet. Thorvaldsen orientierte sich bei seinem Denkmalentwurf nicht an diesen Darstellungskonventionen, sondern richtete sich formal gegen eine pathetische Haltung. Er versetzte „seinen“ Schiller in eine genrehafte Situation, die dem Werk und der Bedeutung des Dichters in den Augen der bisher innerhalb dieses Textes angeführten Kritik nicht angemessen schien. Thorvaldsen griff die Frage nach der Darstellungsweise Schillers später auf und äußerte sich folgendermaßen:

„Es ist weit schwerer, als man gewöhnlich glaubt, das Standbild eines Dichters, oder sonst eines Mannes, der blos durch seinen Geist wirkte, aufzufassen. Die Figur muss leben, und doch die Ruhe ausdrücken, der Körper muss scheinbar ruhen, und das, was nicht wiederzugeben ist, der Geist, muss hervortreten.“53

Wie aus dieser Formulierung hervorgeht, hatte Thorvaldsen seine eigene Vorstellung davon, wie ein Standbild für eine Persönlichkeit, die sich durch ihre geistigen Leistungen auszeichnet, auszusehen hat. Durch die ruhige Haltung des Körpers versuchte er die angestrebte Konzentration auf den Geist und somit den Kopf zu bewirken. Weiter wird Thorvaldsen nach Egon Weyer formulieren:

„Ich denke, diese Statue […] wird wohl 300, wohl 500 Jahre stehen, und dann werden die Leute nicht mehr tadeln, warum ich dem Dichter keine übermütige und herausfordernde Haltung gegeben habe.“54

Jenseits des Bruches mit den Konventionen innerhalb der Denkmalplastik gelangt man an dieser Stelle wiederum – aber um den Kreis zu schließen – erneut an den im 19. Jahrhundert in Stuttgart omnipräsenten Johann Heinrich Dannecker. Die bisher untersuchte Kritik macht deutlich, dass es sich bei den ausgeführten bildhauerischen Darstellungen Schillers um Projektionen auf seine Person handelt. Während Thorvaldsen ein ruhiges, in sich gekehrtes Bild Schillers entwirft, reduzierte der Dichter Franz Dingelstedt Schiller auf dessen Sturm und Drang-Dramen und vermisst an Thorvaldsens Denkmal einen dynamischen Gestus. Weiterführend wurde Dannecker in den Augen der Zeitgenossinnen als Freund Schillers wahrgenommen55, während Dingelstedt Thorvaldsen wiederum als „fremden Mann“56 bezeichnet. Diese Auffassungen sind relevant, wenn man der Argumentation folgen möchte, dass die persönliche Nähe Danneckers zu Schiller Auswirkungen auf die Porträtähnlichkeit des Dargestellten hatte und durch die Arbeit vor dem lebenden Modell – bei der ersten Fassung der Schiller-Büste – authentischer wurde. Aber „‚[v]ollkommen ähnlich‘ wollte die Büste nicht mit der Person Schillers, sondern mit Danneckers Vorstellung von dem Dichter schlechthin sein“57. Thorvaldsen hingegen formt mit seinem Schiller-Denkmal einen Typus, der bewusst nicht an das vorherrschende Bild Schillers, das besonders in Stuttgart durch die Präsenz der Büste Danneckers geprägt war, anknüpft. Die Diskrepanz der Sichtweisen, wie Schiller nun dargestellt gehört, lässt sich abschließend vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Zuschreibungen – in dem Fall der Auftraggebenden, des Bildhauers und seiner Werkstatt sowie der Rezipientinnen – auf die Person Schiller verstehen. An diesen wurden die Bildhauerarbeiten Danneckers und Thorvaldsens einander unvereinbar bemessen.

Die Kritik an dem Denkmal und die damit verbundene Unzufriedenheit führten schlussendlich dazu, dass Stuttgart am Anfang des 20. Jahrhunderts insgesamt fünf Standbilder des Dichters besaß. Von diesen hat sich jedoch lediglich das Standbild Schillers von Adolf von Donndorf (1835–1916) im Oberen Schlossgarten aus dem Jahr 1909 erhalten.

Ausblick: Thorvaldsens Entwurf für ein Goethe-Denkmal in Frankfurt am Main

Betrachtet man Thorvaldsens weitere Arbeit im Bereich der Denkmalplastik, werden schnell die Parallelen zu einem Denkmal-Vorhaben in Frankfurt am Main sichtbar: Hier plante man seit dem siebzigsten Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), diesem auf einer Main-Insel einen Tempel zu errichten. Im Rundtempel, auf den man sich geeinigt hatte, sollte eine Büste Goethes, angefertigt von Dannecker nach dem Vorbild seiner berühmten Schiller-Büste, platziert werden.58 Dieses Vorhaben lief jedoch ins Leere. Erst nach dem Tod Goethes wurden die Pläne erneut konkreter – und auch Thorvaldsen sendete 1840 einen Entwurf ein, der in seiner Form eindeutig an das Schiller-Denkmal erinnert (Abb. 11). Von der Disposition des Körpers, auch der gesenkten Haltung des Kopfes, bis zur Stellung der Beine gleichen sich die beiden Modelle auf den ersten Blick beinahe vollkommen. Es lässt sich festhalten, dass Thorvaldsen mit dem Schiller-Denkmal eine Form für sich gefunden hatte, an der er trotz der Kritik am Stuttgarter Werk festhielt. Allerdings wendeten sich die Frankfurter:innen von Thorvaldsen ab und schließlich modellierte der bayerische Bildhauer Ludwig Schwanthaler (1802–1848) das Denkmal Goethes (Abb. 12). Schwanthaler griff – im Gegensatz zu Thorvaldsen – wieder zu tradierten formalen Lösung der Denkmalplastik.

Abb. 11: Bertel Thorvaldsen, Johann Wolfgang von Goethe, Entwurf für ein Goethe-Denkmal in Frankfurt am Main, ca. 1840, Gips, H. 69,5 cm, Thorvaldsens Museum, Kopenhagen, Inv.-Nr. A 140. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Nürnberg (Germanisches Nationalmuseum), Schleswig (Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf) 1991, S. 694, Abb. 8.37.

Erste Male in der Denkmalplastik?

Gerade vor dem Kontrast des später errichteten Goethe-Denkmals durch Schwanthaler (Abb. 12) zeigt sich, dass nicht Thorvaldsens Vorbild weiterentwickelt wurde, sondern – besonders im Hinblick auf die Haltung – wieder auf die Tradition des Fürstendenkmals zurückgegriffen wurde. Thorvaldsen schafft durch die Ablehnung der Übernahme formaler Traditionen einen neuen Typus innerhalb der Denkmalplastik. Doch gerade die Komposition, die sich immer noch durch die Form des Standbildes an herrschaftlichen Standbildern orientiert, wurde von Teilen der Rezipientinnen nicht als angemessen für Schiller empfunden. Die Differenz zwischen den Erwartungen der Betrachterinnen und deren an ein Denkmal gerichteten formalen Kriterien auf der einen und dem ausgeführten Standbild auf der anderen Seite, führte zu enttäuschten Reaktionen. Und auch wenn sich die Passant:innen auf dem Stuttgarter Schillerplatz heute wohl weniger an der Kopfhaltung Schillers stören, so ist die Thematik des Denkmalsetzens weiterhin gesellschaftlich aktuell. Im späten 19. Jahrhundert sprach man in Anbetracht der zahlreichen Errichtung von Denkmälern zu Ehren Schillers sowie anderer Personen im öffentlichen Raum von Denkmalwut.59

Abb. 12: Ludwig Schwanthaler, Goethe-Denkmal, 1841–1844, Bronze, Gallus-Anlage (Standort von 1952–2007, heute: Goetheplatz), Frankfurt am Main. Abbildungsnachweis: Bernhard Maaz: Skulptur in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg (Bd. 1). (Jahresgabe des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 2010), Berlin/München 2010, S. 108, Abb. 119.


Aus unserer gegenwärtigen Perspektive werden – zwar nicht im Speziellen an das Stuttgarter Schiller-Denkmal, sondern im globalen Kontext – zu Recht weitere Probleme der Denkmalplastik thematisiert. So lässt sich insbesondere bei einem revidierenden Blick aus unserer Gegenwart in die Vergangenheit die Frage stellen, wieso es neben Schiller und Goethe so wenige Frauen auf einen Sockel geschafft haben (Abb. 13)?

Abb. 13: Der Stuttgarter Schillerplatz am 9. März 2021, 8:30 Uhr. Die Protest-Stencils, die von Demonstrantinnen am 8. März – dem Internationalen Frauentag – am Podest des Schiller-Denkmals angebracht wurden, werden entfernt. Abbildungsnachweis: Fotografie von Autorin
Lisa-Marie Hinderer.

Biografie

Lisa-Marie Hinderer

Lisa-Marie Hinderer studiert Kunstgeschichte im Master an der Universität Stuttgart. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf der Skulptur und Plastik des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart mit besonderem Interesse für soziohistorische Kontexte. In ihrer Bachelorarbeit über Bertel Thorvaldsens Schiller-Denkmal in Stuttgart beschäftigte sie sich mit dessen Rezeption vor dem Hintergrund der Denkmalkritik im 19. Jahrhundert. Lisa-Marie Hinderer ist als freie Kunstvermittlerin für verschiedene Institutionen in und um Stuttgart tätig, arbeitet als Ausstellungsbetreuerin im Landesmuseum Württemberg sowie als Hilfskraft am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart.

Raumfahrt in der Kunst – die künstlerische Rezeption der Mondlandung 1969 – Anne Volk

Als Neil Armstrong 1969 als erster Mensch den Mond betritt, beendet er nicht nur den Wettlauf ins All, sondern erweitert damit ebenfalls den menschlichen Wirkkreis auf den Weltraum. Die Gründung des NASA Art Program hat vordergründig die künstlerische Rezeption von Ereignissen wie diesem zum Ziel, lässt aber ebenfalls Strategien der Heroisierung und Glorifizierung der Institution erkennen.

„Important events can be interpreted by artists to give a unique insight into significant aspects of our historymaking advance into space. An artistic record of this nation‘s program of space exploration will have great value for future generations and may make a significant contribution to the history of American art“.1

Erste Male beschränken sich normalerweise auf Gefühle und Ereignisse, die innerhalb der Erdatmosphäre stattfinden, doch die Mondlandung im Jahr 1969 überschreitet diese lokale Eingrenzung und erweitert den Ort des Geschehens auf den Trabanten der Erde. Aufgegriffen wird dieses Erste Mal nicht nur in den Massenmedien der Zeit, sondern auch innerhalb der bildenden Kunst. So etabliert die NASA bereits 1962 das NASA Art Program, das sich der künstlerischen Dokumentation der Fortschritte innerhalb der Behörde widmet, wie James E. Webb, NASA-Administrator und Begründer des NASA Art Program, oben erläutert.2 Neben der Apollo 11-Mission und deren Astronauten stehen auch die vorangegangenen und sich anschließenden Missionen im Interesse des Kunstprogramms.3 Gegenstand dieses Textes soll jedoch die künstlerische Rezeption der Mondlandung 1969 innerhalb des NASA Art Program bilden. Gleichermaßen soll damit auf die interessante Verbindung von Kunst und Wissenschaft aufmerksam gemacht werden, da sich das Kunstprogramm – zumindest in Deutschland – als weitgehend unbekannt herausstellt.

Rückblickend ist die Mondlandung wohl eines der fortschrittlichsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Hervorgerufen durch den Wettlauf ins All zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA und durch John F. Kennedys nationalem Ziel, einen Menschen in den 1960er Jahren zum Mond und wieder zurück zu befördern, erlangt das Sujet im Kontext der sogenannten Apollo 11-Mission große mediale Aufmerksamkeit.4 Neben dem Interesse an der Forschung ist die Machtdemonstration der beiden Weltmächte, die den globalen Systemwettstreit während des Kalten Krieges auf die Eroberung des Weltraums ausdehnen, ein wichtiger Bestandteil des Wettlaufs.5

Vier Jahre nach der Gründung der NASA 1958 wird das zugehörige Art Program etabliert.6 Intendiert wird dabei, dass die Werke des Kunstprogramms neben der großen Menge an fotografischem Material der NASA eine andere Sichtweise auf die Ereignisse liefern, dadurch eine bildende Funktion einnehmen und auch den nachfolgenden Generationen dienen sollen.7 Teilnehmende Künstler:innen waren verpflichtet, vor Ort angefertigte Zeichnungen aufzubewahren und dem Archiv der NASA zu übergeben, wodurch die Institution über das Œuvre verfügen konnte.8 So erhielten ausgewählte Kunstwerke Einzug in Ausstellungen der National Gallery of Art in Washington, D.C. wie Eyewitness to Space (1965) und The Artist and Space (1969), wobei letztere nach der Mondlandung stattfand. In den 1980er und 1990er Jahren wurde das Programm durch Hunderte von Auftragswerken ergänzt und der Bestand im Jahr 2008 in das neu gegründete Smithsonian National Air and Space Museum überführt.9 Diese Sammlung zeichnet sich durch Facettenreichtum hinsichtlich der künstlerischen Techniken als auch der Sujets aus, wobei alle Werke generell der Space Art zugehörig sind.10 Hinsichtlich des Wettlaufs ins All scheint eine propagandistische Absicht der USA und der NASA im Kunstprogramm nahezuliegen. Tracee Haupt vermutet, die Gründung des Programms würde auf Image-Gründen der Institution fußen und die Kunst als Vermittlungsinstanz zwischen Raumfahrt und Bevölkerung dienen, um Zweifeln und Ängsten hinsichtlich der Technik und des finanziellen Aufwands entgegenzuwirken.11 Dafür spricht der Standort des Smithsonian National Air and Space Museums, das sich unmittelbar neben dem Kapitol in Washington, D.C. befindet. Die dort ausgestellten Artefakte und Kunstwerke nehmen einen repräsentativen und bildenden Charakter zugunsten der USA ein.  

Abb. 1: Norman Rockwell, Astronauts on The Moon, 1966, Öl auf Leinwand, 162,2 x 101,9 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. NASA/ Art. 50 Years of Exploration, Washington, D.C. (Smithsonian National Air and Space Museum) 2008, S. 54.

Unter diesem Gesichtspunkt fällt auf, dass die Heroisierung von Astronaut:innen und erfolgreichen Ereignissen oft eine Rolle in den Arbeiten des NASA Art Program spielt. Die Erstmaligkeit der Mondlandung manifestiert sich wiederholt in der Rezeption der amerikanischen Flagge, die stellvertretend für Neil Armstrongs und Edwin „Buzz“ Aldrins Platzierung der Flagge auf dem Mond stehen kann und damit die amerikanische Vorherrschaft in der Raumfahrt gegenüber der Sowjetunion bezeugt.12 Diese Annahme wird durch Norman Rockwells (1894–1978) Gemälde Astronauts on the Moon (1966, Abb. 1) und Behind the Apollo 11 (1969, Abb. 2) bestätigt. In Astronauts on the Moon ziert die Flagge gemeinsam mit der Aufschrift UNITED STATES die Mondlandefähre des Raumschiffs zentral im Bild. Hier muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Gemälde das tatsächliche Ereignis der Mondlandung vorwegnimmt – es entstand schon im Jahr 1966 – und daher einen werbenden Charakter für das nationale Ziel innehat. Zudem dient das Gemälde dazu, den Betrachtenden eine Vorstellung zu vermitteln, wie das technische Ereignis später aussehen könnte und steht damit in der Tradition der Space Art. So ist es nicht verwunderlich, dass Astronauts on the Moon starke visuelle Ähnlichkeiten mit der tatsächlichen Mondlandung aufweist, die drei Jahre später stattfindet. Die Flagge an Neil Armstrongs linker Schulter (1. Person links) in Behind the Apollo 11 erinnert eher an ein reales, im Wind wehendes Star-Sprangled Banner als an einen der Aufnäher, die Astronaut:innen auf ihren Raumanzügen tragen.13 Der Hintergrund des Gemäldes ist in zwei Sphären teilbar. So befinden sich die Astronauten, dem dunklen Sternenhimmel nach zu urteilen, schon im Weltall. Die nach links aufsteigende Staffelung der Männer unterstützt die Vorwärtsbewegung hin zum Mond, der sich durch den hellen Schein an ihren Helmen andeutet.14 Über den anderen Personen lichtet sich der Himmel und am rechten oberen Bildrand sind Gebäude des Kennedy Space Centers sichtbar.15

Abb. 2: Norman Rockwell: Behind the Apollo 11, 1969, Öl auf Leinwand, 71,1 x 167,6 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. NASA/ Art. 50 Years of Exploration, Washington, D.C. (Smithsonian National Air and Space Museum) 2008, S. 64 – 65.

Die Personen in Behind the Apollo 11 sind im Profil dargestellt und können in verschiedene Gruppen unterteilt werden, die jeweils durch bestimmte Attribute gekennzeichnet sind. Laut dem Titel handelt es sich um Personen, die hinter der Apollo-11-Mission stehen und für deren Gelingen Verantwortung tragen. Gleichwohl stehen sie auch räumlich hinter den drei Astronauten Neil Armstrong, Edwin „Buzz“ Aldrin und Micheal Collins, die durch ihre Raumanzüge gekennzeichnet und am linken Bildrand positioniert sind.16 Durch ihre realistischen Gesichtszüge können sie zweifelsfrei identifiziert werden. Unter der Astronautengruppe reiht sich ihre Backup-Crew, die durch ihre unvollständige Bekleidung und ihre Positionierung im Gemälde ausgezeichnet ist. Durch die Einteilung in Gruppen und deren gestaffelte Positionierung hinter den Astronauten entsteht eine Hierarchie innerhalb des Gemäldes, die innerhalb mancher Gruppierungen fortgesetzt wird. So führt Armstrong als erster Mensch, der den Mond betritt, die Astronautengruppe als auch generell die Personen an. Ihm folgt Aldrin als zweiter Mensch auf dem Mond. Hinter den beiden steht Collins, der zwar der Mission zugehörig ist, jedoch im Kommandomodul des Raumschiffs auf die Rückkehr der beiden Astronauten wartet, statt selbst den Mond zu betreten.17

Im Zentrum ist eine Reihe von Männern dargestellt, deren Vorderster eine Kopfbedeckung trägt, die auf seine Tätigkeit als Wissenschaftler verweist. Die anderen Personen zeigen signifikante Gesichtszüge, die sie in manchen Fällen als spezifische Personen ausweisen. Inmitten dieser Gruppe und damit im Zentrum des Gemäldes lässt sich die Physiognomie des deutschen Raketenwissenschaftlers Wernher von Braun ausmachen. Der Mann rechts neben ihm kann als Kurt Debus, der ehemalige Direktor des Kennedy Space Centers, identifiziert werden. Die Gruppe setzt sich also aus administrativen Personen der NASA und wichtigen Wissenschaftlern des Raumfahrtprogramms zusammen. Vereinzelte Personen mit weißen Schutzhelmen zwischen den Gruppen repräsentieren, dem Logo der NASA nach zu urteilen, technische Mitarbeitende der Raumfahrtbehörde.

Die drei Frauen unten rechts deuten laut ihrer Physiognomie auf die Frauen der drei Astronauten der Apollo-11-Mission hin. Sie stehen hinter ihnen und blicken stolz zu ihnen hinauf, wodurch ihre Unterstützung visualisiert wird. Gleichwohl verweist ihre Darstellung auf ihren Status. Frauen sind hier als die rückenstärkende Instanz dargestellt, nicht aber als Partizipantinnen des Raumfahrtprogramms. So sind sie einerseits als Astronautinnen sowie als Künstlerinnen im NASA Art Program in der Minderheit und nehmen erst Jahre oder sogar Jahrzehnte später daran teil. Trotz der russischen Kosmonautin Walentina Tereschkowa, die schon 1963 und damit nur zwei Jahre nach Yuri Gargarin ins All fliegt, sind Astronautinnen in der Raumfahrt der 1960er Jahre unterrepräsentiert.18 So fliegt Sally Ride als erste amerikanische Frau 1983, also erst 21 Jahre nach dem ersten amerikanischen Mann, ins All.19

Neben Behind the Apollo 11 gehen aus Rockwells Teilnahme am NASA Art Program zwei weitere Gemälde hervor, die durch ihre Modernität des technischen Sujets im Kontrast zu seinen gewöhnlichen Illustrationen der alltäglichen amerikanischen Gesellschaft stehen.20 Dennoch schlägt sich vor allem der patriotisch anmutende Charakter, der viele seine Werke kennzeichnet, besonders in Behind the Apollo 11 nieder. Das Gemälde nimmt damit einen repräsentativen Charakter ein, der den Erfolg der Raumfahrtbehörde mit der Bevölkerung Amerikas verknüpft. Ebenso stützt das Logo der NASA, dessen Präsenz auf die Institution verweist, diese Annahme.

Neben Rockwells Werken existieren Darstellungen, die weniger inszeniert erscheinen und Einblicke in die Arbeit innerhalb der Raumfahrtbehörde liefern. Das Gemälde „The Eagle has Landed!“ von Franklin McMahon (1921–2012) thematisiert die Mondlandung aus einer anderen Perspektive (Abb. 3). Der Titel verweist auf den Moment, als Armstrong die bekannten Worte „the Eagle has landed“ ausspricht. Wie der Inschrift rechts zu entnehmen ist, wird gezeigt, wie der Astronaut die Mondlandefähre verlässt und als erster Mensch den Mond betritt. Links daneben ist ein komplexer Bildschirm dargestellt, der die Mondoberfläche zeigt.21 Im Vordergrund sind wissenschaftliche Mitarbeiter der NASA zu sehen, die gespannt das Geschehen beobachten. Ein Kameramann und eine Überwachungskamera dokumentieren die Situation. Das Gemälde eröffnet den Betrachtenden einen interessanten Einblick in das Geschehen und lässt uns den Moment aus der Perspektive der Mitarbeitenden erleben. Zwar liegt der Fokus auf dem Astronauten Neil Armstrong, dennoch ist seine Person kaum detailliert abgebildet. Ein kleines und dennoch wichtiges Detail befindet sich am rechten Bildrand: eine eingerollte amerikanische Flagge, die der Künstler in die Darstellung integriert. Sie kann, wie zuvor erläutert, auf Armstrongs Platzierung der Flagge auf dem Mond referieren –  eine Handlung, die auf den dargestellten Moment folgt. Aus einer dokumentarischen Fotografie wird zwar ersichtlich, dass die eingerollte Flagge während des Moments tatsächlich vor Ort war und nicht vom Künstler hinzugefügt wurde, dennoch handelt es sich um eine bewusste Entscheidung, das Detail in das Gemälde zu integrieren (Abb. 4). 22 Genauso hätte McMahon den Bildausschnitt weiter nach links verschieben können, um mit einem größeren Ausschnitt der Mondoberfläche mehr technische Informationen in sein Gemälde aufzunehmen. An dieser Stelle ist zu überlegen inwiefern die Werke des Kunstprogramms einen Mehrwert gegenüber Fotografie und Video erbringen, denn sowohl das Kunstwerk als auch die Fotografie fangen die Stimmung der Beteiligten ein und liefern einen Einblick hinter die Kulissen.

Abb. 3: Franklin McMahon: “The Eagle has Landed!”, 1969, Wasserfarben auf Papier, 55,9 x 76,2 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Hereward Lester Cooke und James Dean: Eyewitness to Space. Paintings and Drawings related to the Apollo Mission to the Moon. Selected with a few Exceptions, from the Art Program of the Nation Aeronautics and Space Administration (1963 to 1970), New York 1971, S. 226.
Abb. 4: Das Kontrollzentrum während der Landung von Apollo 11, Fotografie, 1969.  Abbildungsnachweis: James Donovan: Apollo. Der Wettlauf zum Mond und der Erfolg einer fast unmöglichen Mission, München 2019, S. 72.

James Wyeths (*1946) Firing Room (1969) ruft einen ähnlichen Eindruck hervor. Das Kunstwerk gibt den Blick auf einen großen Raum frei, in dem viele Personen an diversen Computern und Bildschirmen arbeiten. Sie wenden den Betrachtenden den Rücken zu (Abb. 5). Die Details in der Darstellung nehmen zum Hintergrund hin immer weiter ab, bis die Köpfe der Personen nur noch durch dunkle Flecken zwischen ihren Bildschirmen angedeutet sind. Bunte Punkte verweisen auf diverse Lämpchen und Knöpfe, wie sie am Arbeitsplatz rechts im Vordergrund erkennbar sind. Der Raum verschwimmt nach hinten zu einer dunklen Masse, ein Exit-Schild leuchtet im Hintergrund und hebt sich davon ab. Generell wirkt das Gemälde um einiges beruhigter als die Atmosphäre, die McMahon in „The Eagle has Landed!“ einfängt. Der abgedunkelte Raum, der eigentlich nur aus Maschinen besteht, lenkt den Blick auf die Arbeitenden. Gegensätzlich zu Rockwells Behind the Apollo 11 entsteht durch die Perspektive auf die Personen eine gewisse Anonymität, wodurch sie, wie bei McMahon, nicht identifizierbar sind. Sie können in ihrer repräsentativen Funktion höchstens mit den anonymen Arbeiter:innen mit Helmen zwischen den bekannten Persönlichkeiten bei Rockwell gleichgesetzt werden. Durch ihre Arbeit, die nicht in der Öffentlichkeit steht, treten sie neben den oftmals heroisierten Astronaut:innen in den Hintergrund. Kunstwerke wie „The Eagle has Landed!“ und Firing Room zeigen die Arbeitsatmosphäre auf und offenbaren den Betrachtenden einen Bereich, der für die Ausführung der Raumfahrtmissionen elementar ist. Auch wird hier noch einmal mehr bewusst gemacht, dass hinter einigen repräsentativen Charakteren eine große Menge an Mitarbeitenden steckt, die die Raumfahrt erst ermöglichen. Anders als bei Rockwell oder McMahon werden in Firing Room weder bestimmte Personen noch Institutionen durch Symbolik aufgegriffen und es findet keine patriotische Werbung statt.

Abb. 5: James Wyeth: Firing Room, 1969, Wasserfarben auf Papier, 45,7 x 63,5 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Hereward Lester Cooke und James Dean: Eyewitness to Space. Paintings and Drawings related to the Apollo Mission to the Moon. Selected with a few Exceptions, from the Art Program of the Nation Aeronautics and Space Administration (1963 to 1970), New York 1971, S. 195

Robert Rauschenberg (1925–2008) nutzt eine andere Form der Dokumentation, indem er mit Hilfe seiner für ihn typischen Technik mehrere Abbildungen collagenhaft in seinen Lithografien vereint. Aus seinen Beobachtungen vor Ort und dem Zugriff auf das Fotoarchiv der NASA entsteht zwischen 1969 und 1970 die Stoned Moon Series, deren Gegenstand die Mondlandung ist. Die Serie umfasst insgesamt dreiunddreißig Lithografien und wird im Gemini G. E. L. in Los Angeles hergestellt.23

Abb. 6: Robert Rauschenberg: Local Means (Stoned Moon), 1970, Lithografie, 82,2 x 110 cm, New York, Robert Rauschenberg Foundation. Abbildungsnachweis: Robert Rauschenberg Foundation New York, URL: https://www.rauschenbergfoundation.org/art/artwork/local-means-stoned-moon (20.09.2020).

Die Lithografie Local Means (Stoned Moon) von 1970 ist dieser Serie zugehörig und zeigt den Start der Rakete im Zentrum, umgeben von Ausschnitten der Landschaft um das Cape Canaveral (Abb. 6). Die Collage ist in verschiedene Ebenen gegliedert, die sich gegenseitig überlagern und durch bemalte Stellen ergänzt werden. Der weiße Grund ist mit organisch geformten blauen Flächen und dunkelgrauen bis schwarzen Elementen technischer Sujets, wie Details aus Fotografien der Rakete auf der Startrampe (links), des Starts selbst (mittig) und eines Reihers (rechts), bedeckt. Rauschenberg verbindet das technische Sujet mit der Natur, die den Raketenstart umgibt und erstellt damit eine fast poetisch anmutende Kompilation. Die Raketen stehen parallel zu der Darstellung des Reihers, der sie sogar in der Größe leicht überragt und in der Inszenierung besonders der Rakete neben ihm gleicht. Beide Objekte sind von Wasser und Pflanzen umgeben und recken sich senkrecht in die Höhe. Eine Assoziation der Rakete mit dem flugfähigen Tier liegt hier nahe.24 Auch zuvor nutzt Rauschenberg diesen Vergleich. In seinem Stoned Moon Book schreibt er über den Start der Rakete:25

„On a grassy hill seeing for the first time perched

Apollo projecting calm, quiet and upright.

[…]

The bird’s nest bloomed with fire and clouds.

Softly. Largely and slowly and silently

Apollo 11 started to move up.

Then it rose being lifted on light.

Standing mid-air it began to sing happily“26

Rauschenberg assoziiert die wolkenförmige Explosion während des Raketenstarts mit dem Nest eines Vogels und beschreibt die Rakete nach ihrem Start als fröhlich singend. Dieser Vergleich entspricht einem Euphemismus des Donnerns und Dröhnens eines Raketenstarts und übersetzt das technische Sujet in die Natur, wodurch die scheinbar in der Luft stehende Rakete durch die Ähnlichkeit mit dem Habitus eines Vogels poetisiert wird. 

Local Means taucht in derselben Anordnung auch in seinem früheren, oft rezipierten Werk Sky Gardens (Stoned Moon) von 1969 auf (Abb. 7).27 Der Fokus liegt hier auf einer Konstruktionszeichnung der Saturn 5-Rakete, die für die Mondlandung eingesetzt wurde. Sie erstreckt sich über das ganze Bild und mag für das lange horizontale Bildformat ausschlaggebend sein. Die rote Farbe, die die Rakete umgibt, lässt sich zusammen mit dem oberen blauen Bildteil mit den Farben der amerikanischen Flagge assoziieren. Unterstützt wird dieser Vergleich durch die rot-weiß gestreiften Elemente links im Bild, bei denen es sich wahrscheinlich um den wallenden Stoff von Fallschirmen handelt. Im Vergleich zu den oben betrachteten Beispielen wird die Flagge so auf eine indirekte Art und Weise in das Kunstwerk integriert.

https://www.rauschenbergfoundation.org/sites/default/files/styles/zoom/public/images_artwork/69.E009.jpg?itok=RgDubsVw&slideshow=true&slideshowAuto=false&slideshowSpeed=4000&speed=350&transition=fade

Abb. 7: Robert Rauschenberg: Sky Gardens (Stoned Moon), 1969, Lithografie, 226,7 x 106,7 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. NASA/ Art. 50 Years of Exploration, Washington, D.C. (Smithsonian National Air and Space Museum) 2008, S. 75

Eine genaue Betrachtung von Sky Gardens hilft dabei ein Element von Local Means identifizieren zu können. In beiden Lithografien ist eine runde Plakette zu erkennen. Während das Motiv in der letzteren Darstellung nur leicht zu erahnen und an manchen Stellen übermalt ist, lässt die genauere Ausführung bei Sky Gardens Rückschlüsse auf die Identität des Objekts zu. Die runde Scheibe trägt oben die Inschrift FROM PLANET EARTH und unten das Datum JULY 1969 und stellt die Plakette der sogenannten Apollo-11-Goodwill-Botschaften dar. Dabei handelt es sich um eine Silikon-Scheibe von der Größe eines 50-Cent-Stücks, die auf dem Mond hinterlassen wurde und Aussagen von Führungspersönlichkeiten aus 73 Ländern der Welt enthält. Die Nachrichten wurden um das Zweihundertfache verkleinert und auf die Plakette geprägt, sodass sie auf der Scheibe lediglich kaum sichtbare Punkte bilden.28 Aufgrund dessen ist eher von einer symbolischen Intention auszugehen. Die beiden Lithografien bestehen aus vielen verschiedenen Komponenten der Apollo-11-Mission, der auch die Plakette zugehörig ist.

Betrachtet man Rauschenbergs Lithografien im Vergleich mit Werken wie Firing Room, wird deutlich, wie unterschiedlich vermeintlich dokumentarische Darstellungen über dasselbe Ereignis sein können. Während Wyeth das Raumfahrtprogramm aus der Perspektive der wissenschaftlichen Mitarbeiter präsentiert, ist Rauschenbergs Darstellung direkt auf die Bestandteile der Mondlandung fokussiert. So gehen die Lithografien der Stoned Moon Series über eine reine Momentaufnahme hinaus und liefern einen Eindruck des Ereignisses der Mondlandung in seiner ganzen Komplexität. Die künstlerische Inszenierung übersteigt dabei die dokumentierende Fotografie in ihrer ästhetischen Kraft.

Das NASA Art Program, das auch heute noch besteht, existiert nun in einer anderen Form und ist inaktiver als in den Jahren um die Mondlandung. Zwar haben sich seitdem die Techniken und Möglichkeiten der Dokumentation stets weiterentwickelt, dennoch ist auch heute noch der künstlerische Blick auf das Thema der Raumfahrt von Relevanz. Circa sechzig Jahre nach der Gründung des Programms ist es wünschenswert, dass im Kontext vorangeschrittener Forschung auch das Kunstprogramm neuen Zuwachs erhält und Künstler:innen Zeug:innen weiterer Erster Male werden können, wie beispielsweise von der möglichen Marslandung, die sich nach und nach abzeichnet. 

Der Astronaut Michael Collins verweist auf ein Problem der künstlerischen Rezeption in den astronautischen Wissenschaften, das auch beim Ersten Mal der Mondlandung 1969 besteht.

„So far, artists have remained stuck on the ground […]. I am looking forward to the day when the artists will be able to look out of the astronauts window, and share the breathtaking view […] the artist must join the astronaut in space […]”.29

Es bleibt zu hoffen, dass in der Zukunft Künstler:innen die Möglichkeit bekommen, ihren Arbeitsraum auf das Weltall auszudehnen und dadurch eine neue, noch interessantere Verbindung von Wissenschaft und Kunst resultieren kann.


Biografie

Anne Volk

Anne Volk studiert Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, wobei ihr besonderes Interesse sozialen Zusammenhängen und gendertheoretischen Aspekten innerhalb der Kunst gilt. In ihrer Bachelorarbeit mit dem Titel Das NASA Art Program. Raumfahrt in der Kunst zwischen Dokumentation und Heroisierung beschäftigte sie sich mit Glorifizierungsstrategien innerhalb der NASA.

Isolation – Cinyi Joh

In der malerischen Serie Isolation verarbeitete die Künstlerin zunächst ihre persönliche und private Beklemmung angesichts des Lockdowns im Frühjahr 2020. Sie portraitierte zunächst sich selbst, dann ihren schulpflichtigen Sohn. Als Inspirationsquelle kamen die Erlebnisse ihres Umfelds hinzu und größere Formate entstanden mit der Rückkehr ins Atelier. Die Gemälde zeigen menschliche Köpfe die räumlich eingeschränkt und eingeengt wirken. Aufgelöst sind die Figuren mit verzerrter Mimik in Glasbausteinen oder technischen Elementen, die an Fernseher und Smartphone erinnern.

Abb. 1: Cinyi Joh, fern_hören, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 50 x 65 cm
Abb. 2: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Papier, 50 x 60 cm
Abb. 2: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Papier, 50 x 60 cm
Abb. 4: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Papier, 50 x 60 cm

Abb. 5: Cinyi Joh, ich sehe was, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 50 x 65 cm
Abb. 6: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 45 x 60 cm
Abb. 7: Cinyi Joh, ohne Titel, 2020, Ölfarbe auf Leinwand, 55 x 62 cm

Abb. 8: Cinyi Joh, Arbeiten im Atelier, 2020, Fotoaufnahme, 55 x 62 cm

Biografie

Cinyi Joh

Cinyi Joh studierte zunächst Grafikdesign und Architektur in Taiwan. 1999 schloss sie mit einem Diplom in Architektur an der Universität Stuttgart ab, wo sie seitdem lebt und arbeitet. Seit längerer Zeit setzt sie sich zudem intensiv mit dem Medium Malerei auseinander. Seit vergangenem Jahr vertieft sie dies durch ein Studium an der Staatlichen Akademie für Bildende Künste Stuttgart. Cinyi Joh setzt sich in ihren Arbeiten mit Bildhaftigkeit und Räumlichkeit auseinander. Dafür ist die Frage nach dem Umfeld der menschlichen Figur für die Künstlerin bedeutend und sie verhandelt den Zustand der Selbstentfremdung.

Der Selbsterhaltung überlassen – Nora Manthei

Die Arbeit Der Selbsterhaltung überlassen umfasst kurze Beobachtungen der Künstlerin. Auf visueller und sprachlicher Ebene beschreibt sie autobiografisch angelegt flüchtige Kontakte. Man nimmt an anderen Realitäten teil, die dem*der unbestimmten Protagonist*in fremd scheinen und identifiziert sich damit. Es entsteht eine Spannung zwischen Einfühlung und Abgrenzung, Inklusion und Isolation. Die Ich-Perspektive und die Kamera-Einstellung begeben sich in die Rolle der Voyeuristin. Die Vergänglichkeit der Bilder kann analog zur Unfähigkeit über den kurzen Kontakt hinaus zu gehen gelesen werden.

PLÄDOYER ÜBER DIE ABWESENHEIT

Es ist kurz nach halb acht und ich sitze in der Tram, die voll besetzt ist mit morgendlichen Pendler*innen. Einige von ihnen halten Pappbecher oder Thermoskannen mit Kaffee in den Händen. Die Fensterscheiben sind beschlagen und die Heizung ist viel zu warm eingestellt. Während ich eine Nachricht in mein Handy tippe, geht ein junger Mann sehr schnell an mir vorbei und murmelt: „Das kann doch nicht sein… 8… 9… 10 von euch starren auf eure Handys.“ Er geht immer wieder die Länge der Tram nach auf und ab und hält sein Plädoyer über unsere Abwesenheit. Einige Leute haben – wie ich, das Handy weggesteckt. Fühlen sich ertappt. „Alter, auch wenn ich keine 3… 4… 5 Euro habe, bin ich trotzdem reicher als ihr.“ Dabei starren fast alle betreten auf den schneematschbesprenkelten Boden. Nach ein paar Augenblicken, in denen der Mann hin- und her tigert, heben einige ihre Köpfe, schauen sich gegenseitig an und fangen an zu schmunzeln – sie bilden eine Einheit, versuchen aus dieser Situation zu entfliehen. Sie können nicht aussteigen, sie müssen zur Arbeit, zum Kindergarten, zur Schule fahren. Und ich sitze neben diesen Menschen, fühle mich feige und stumm, weil ich auch nicht aussteigen kann, um der Situation zu entgehen, weil ich auch auf mein Handy geschaut habe, weil ich diesem Mann nicht folge bei seinem energischen Hin- und Hergehen, weil er die Wahrheit sagt, obwohl er dabei verrückt aussieht, weil seine Hose um seine Beine schlackert und man seine schmutzige Unterhose sehen kann, weil die Menschen in dieser Tram sich entschieden haben ihn zu ignorieren und weil ich, während ich dort saß, schon an diesen Text dachte.

TIEFDRUCKGEBIET MIT MÄNNLICHEM VORNAMEN

In der Nacht hat es gestürmt. Äste, Blätter und der Müll aus den gelben Tonnen, die umgekippt sind, liegen vereinzelt auf der Straße. Ich gehe früh am Morgen mit dem Hund über die Kreuzung, die zur Zeit wegen Gleisbauarbeiten gesperrt ist. Die Baustellenabsperrungen liegen wie Hindernisse bei einem missglückten Hürdenlauf auf dem Asphalt. Es ist immer noch sehr windig. Irgendwo kann man Metall knallen hören. Ein jugendlicher Mann spricht mich an und fragt nach dem Weg. Ich verstehe den Straßennamen nicht – weil er stark nuschelt – und schüttele den Kopf. Ich will schon weitergehen, als mir einfällt, welche Straße er meinen könnte. Er kommt ein paar Schritte zurück und zieht einen Zwanzig-Euro-Schein aus der Tasche. Auf dem Geldschein ist der Name der Straße mit blauem Kugelschreiber notiert. An den ausgefransten Rändern hängen ein paar weiße Krümel. Ich erkläre ihm den Weg und gehe weiterin die andere Richtung.

WARTEN

Es fühlt sich an wie drei Sonntage hintereinander. Sie haben die Heizung im Fernsehraum hochgedreht. Die Frau am Tisch mir gegenüber, fragt mich, ob auch Deutsche mitfahren würden. Draußen im eingezäunten Garten ist eine Bank. Neben der Bank steht ein Haltestellenschild mit dem aktuellen Busfahrplan. Ich sage, ich kenne mich nicht aus mit Autorennen, aber bestimmt fahren auch Deutsche mit. Ich trinke aus der Tasse mit dem dünnen Kaffee und schwitze in meinen Pullover.

DISPLAYS IM DUNKELN

Vor Kurzem habe ich im Radio einen Beitrag über ein wissenschaftliches Projekt zur Erforschung des Paarungsgesangs der Nachtigall gehört. Die männliche Nachtigall lockt das Weibchen mit seinem Gesang, der bis zu 200 verschiedene Strophen umfasst, vom Himmel, da diese später als die Männchen aus dem Süden eintreffen. Die Bürger*innen wurden aufgerufen mittels einer speziell entwickelten App die Gesänge aufzuzeichnen, um zu untersuchen, ob es regionale Dialekte unter den Nachtigallen gibt. Wenn ich abends spazieren gehe, dann kann ich eine Nachtigall in einem großen Gebüsch singen hören. In diesem Gebüsch treffen sich oft Menschen, die sich Crystal Meth auf den Displays ihrer Smartphones durch die Nase ziehen. Wenn man die leuchtenden Handydisplays im Dickicht nicht sehen würde, wüsste man nicht, dass sie dort sind. Ich sehe sie nie hinein- oder hinausgehen.

ICH HABE MEINEN EID GEBROCHEN

Der Türöffner summt und ich betrete das Wohnhaus. Meine Schuhe hinterlassen nasse Flecken auf den bunten Fliesen. Ein Mann Ende vierzig öffnet die Tür der Erdgeschosswohnung. Der Reißverschluss seiner Hose steht offen und die ebenfalls geöffnete Gürtelschnalle klingelt ganz leise, wenn er sich bewegt. Er nimmt das Paket für seinen Nachbarn entgegen und unterschreibt mit der linken Hand in ordentlicher Schreibschrift. Herr Triebfürst fragt, ob er Post bekommen hat. Aus der Wohnung dringen gedämpft Fernsehergeräusche und heiße, muffige Luft lässt meine Brillengläser beschlagen.

SCHAUM

In der Oberstufe habe ich einen Sommer lang als Barkeeperin in einer Diskothek gearbeitet. Das war eine Zeit, als Flatrate-Saufen noch angesagt war und wir viele Eiswürfel in die Gläser füllen sollten, um an Alkohol und Energydrinks zu sparen. Einmal im Monat gab es eine Schaumparty. Ich zog meine Gummistiefel zur Arbeit an und musste darauf achten, dass kein Schaum über die Theke schwappte. Je später der Abend wurde, desto überschwänglicher betätigte der DJ die Knöpfe der Schaumkanone. Die nackten Oberkörper der jungen Männer glänzten frisch rasiert im bunten Discolicht, während sie die jungen Mädchen mit ihren Mascara verschmierten Gesichtern von hinten antanzten. Vor der Theke auf einem Barhocker saß ein Mädchen rittlings auf dem Schoß eines Jungen. Ich konnte nur ihre Köpfe und Hälse und die wippenden Bewegungen sehen, alles andere war vom Schaum verborgen. Als ich gegen acht Uhr morgens die Diskothek verließ und meine Gummistiefel auszog, hatte ich einen roten Ausschlag an den Beinen, dort wo die Gummistiefel meine Haut nicht bedeckt hatten.

Abb. 1-7: Nora Manthei, aus der Serie, DER SELBSTERHALTUNG WEGEN, analoger Handabzug, 30 x 40 cm, 2018

Biografie

Nora Manthei

Nora Manthei studierte Bildende Kunst an der Bauhaus Universität in Weimar, der Burg Giebichenstein in Halle und der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Sie lebt und arbeitet in Leipzig.

In ihrer prozesshaften und medienübergreifenden Herangehensweise spielen das Zweifeln und Transformieren eine zentrale Rolle. Seit 2017 arbeitet sie vermehrt mit der Verbindung von Text und visuellen Medien, für die sie den Begriff Alltagsarchäologie verwendet. Wichtige Schlagworte sind für sie Distanz, Eintauchen und Entfremdung

Isolation als Hierarchisierungsprinzip im Historiengemälde des 18. Jahrhunderts – Shanice Page

Der Text hinterfragt zunächst den Begriff der Isolation und schlägt den Begriff der Micro-Isolation für ein subtiles Hierarchisierungsprinzip in Historiengemälden des 18. Jahrhunderts vor. Die bedeutende Rolle des*der Protagonist*in wird herangezogen um die Funktion der Hierarchisierung in Historiengemälden für ihre Narration zu erklären. Die Micro-Isolation des*der Protagonist*in wird als Lesehilfe verstanden, die den Betrachtenden die Komposition des Werks offen legt.

„Isolation: Absonderung, Getrennthaltung [von Kranken, Häftlingen o. Ä.]; Vereinzelung eines Individuums innerhalb einer Gruppe; Abkapselung einer Gruppe inner- halb eines sozialen Gefüges; […]“1

Nach der Definition des Dudens beinhaltet das Wort Isolation implizit Wörter wie Absonderung, Getrennthaltung oder Abkapselung. Der Begriff bekommt innerhalb des sozialen Gefüges unserer Gesellschaft eine negative Konnotation dadurch, dass wir ihn mit Ausgrenzung gleichsetzen. Im Duden scheint Isolation nur dann zu bestehen, wenn sich eine einzelne Person komplett von einer Gruppe abwendet. Das Wort besitzt eine gewisse Absolutheit in ihrer Bedeutung. Doch gibt es auch eine positiv besetzte Isolation? Oder so etwas wie Micro-Isolation?

Natürlich gibt es die romantischen Vorstellungen von Wanderern in einsamen Landschaften, welche die Reflexion anregen und oft religiös oder poetisch aufgeladen sind. Caspar David Friedrichs (1774–1840) Mönch am Meer ist ein solches, ruhiges Bild, welches uns eine Figur in Rückenansicht kontemplierend an einem düsteren Ufer zeigt. Der Mensch erscheint klein und machtlos vor der Urgewalt der Natur und dennoch haben die Bilder Friedrichs etwas beruhigendes, da sie uns von einer Einheit des Menschen mit der Natur berichten. Diese Art der Isolation entspricht der Definition des Dudens, dadurch, dass die Figur auf der Leinwand getrennt von der Menschheit abgesondert erscheint. Doch können wir auch von Isolation sprechen, wenn wir uns Historienmalereien des 18. Jahrhunderts anschauen? Die Pluralität der Figuren auf der Leinwand würde in erster Instanz gegen die Verwendung des Begriffes sprechen. Doch, so möchte ich argumentieren, dass sich gerade in dem Format der Historienmalerei die Isolation in weniger offensichtlicher Form verbirgt.

Die Historienmalerei in Frankreich wurde infolge der Theoretisierung und der Literarisierung des Kunstgeschehens im 17. Jahrhundert durch die Académie Royale de Peinture et Sculpture als die höchste Kunstgattung auserkoren. Es wurde argumentiert, dass für die Darstellung einer Erzählung auf der Leinwand besonderes Wissen nicht nur über die Techniken der Malerei, sondern ebenso über den Inhalt der literarischen Quelle nötig war. Als Leitspruch galt das Horazsche Ut Pictura Poesis (Wie die Malerei so die Poesie) und der so zum Pictor Doctus erhobene Historienmaler war angehalten, den entscheidenden Moment der Erzählung in seinem Werk mithilfe eines*r Protagonist*in darzustellen.2 Die Historienmalerei orientierte sich allerdings nicht nur an der Literatur sondern darüber hinaus an der Geschichtsschreibung. Der Rückgriff auf diese erlaubte es der Malerei, Ciceros Diktum Historia Magistra Vitae (Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens) und damit eine erzieherische Aufgabe für sich in Anspruch zu nehmen.3 Das wiederzugebende Ereignis musste bedeutsam und auch für spätere Generationen vorbildlich sein. Die Gattung erfuhr, ähnlich wie die Literarisierung, gleichzeitig eine sukzessive Politisierung und avancierte zu einem der bevorzugten künstlerischen Mittel politischer Selbstdarstellung. Hierfür war natürlich besonders der Held wichtig, für dessen Hervorhebung die Malerei vielfältige Formen entwickelte, die eine deutliche Hierarchisierung des Bildpersonals erlaubte. Die klassische Form einer solchen Hierarchisierung ist die Dreieckskomposition, an deren Spitze die inhaltlich zentrale Person gezeigt wird.4

Die Betonung des*r Protagonist*in war von entscheidender Bedeutung, denn um diese*n Protagonist*in sichtbar und erkennbar zu machen, musste die Figur hervorgehoben werden. Diese Hervorhebung geschah meist durch eine detailliertere Ausmalung oder eine zentrale, gesonderte Position der Figur. Der*die Protagonistin wurde dem entsprechend isoliert, folglich kann Isolation im Historiengemälde als eine Sonderstellung der Figur beschrieben werden. Da in dem Wort Isolation jedoch eine gewisse absolute Erwartung liegt, werden im Folgenden die subtilen Kennzeichen als Micro-Isolation bezeichnet. Micro-Isolation beschreibt die Strategie, dem*r Betrachter*in die Hierarchie der Figuren, durch die Hervorhebung und somit malerischer Ausgrenzung, vor Auge zu führen. Um die Form der Micro-Isolation herauszuarbeiten wird das Werk Lever du Soleil von François Boucher (1703–1770) herangezogen (Abb. 1). Bei dem Werk handelt es sich um einen Karton, welcher als Vorlage für das endgültige Kunstwerk, eine Tapisserie, diente. Es wurde 1753, sein Pendant Coucher du Soleil jedoch schon ein Jahr zuvor, vom Künstler gefertigt und beide Werke hängen heute im Grand Staircase der Wallace Collection in London. Bei der Herstellung von Tapisserie galt, dass die Szenen, die darzustellen waren gut ausgestaltet werden mussten, damit die Herstellung erfolgreich verlaufen konnte. Große einfarbige Flächen sollten vermieden werden, da sie im Wandteppich lediglich wie leere Stellen Stoff erschienen. Ebenso war es wichtig, dass die Darstellung lebendig wirkte, gleichzeitig durfte sie aber weder von der Hauptfigur ablenken noch so überfüllt sein, dass sie nur noch an ein wildes Muster aus Farbe und Form erinnert.5

Abb. 1: François Boucher, Lever du Soleil, 1753, 321 x 270 cm, London, Wallace Collection. Abbildungsnachweis: Ingamells, John: Die Wallace Collection London, München 1990, S. 88.

Die Szene des Kartons Lever du Soleil ist eine Darstellung aus Ovids Metamorphosen, in der beschrieben wird, dass aus dem Fluss Oceanus, welcher die Erde umrundet, jeden Tag Apollo mit seinem Sonnenwagen aus den Wogen steigt und über den Himmel fährt. Bei Sonnenuntergang kehrt er zurück und sinkt mitsamt seines Wagens wieder in die Tiefen des Meeres zurück. Oceanus lebt als Personifikation zusammen mit seiner Frau Tethys und ihren Söhnen, den Tritonen und ihren Töchtern, den Oceaniden, im Fluss in den Apollo aufsteigt und wieder absinkt wenn seine Tagesfahrt über den Himmel vorüber ist.6

Das Werk zeigt im unteren Bildteil die wogenden Fluten des Flusses und öffnet sich nach oben hin zu einem wolkenverhangenen Himmel. Das Blau des Himmels ist nur an einer Stelle zu sehen, an der die Wolken kreisförmig aufreißen und wie bei dem Auge des Sturms einen Ausblick auf die helle Dämmerung erlauben. In den Wogen tummeln sich mehrere Figuren, links und rechts sind jeweils zwei Tritonen abgebildet. Sie halten große Muscheln in den Händen und lauschen dem Rauschen und Echo des Meeres. In den Wellen sind links zwei Delphine7 aufgetaucht. Sie haben rubinrote Augen und Nasenflügel sowie besonders große Köpfe, die sie über das Wasser halten und schaukelnd dahin treiben.8 Im mittleren Teil gehen die Gischt-gesäumten Wellen in dichte graue Wolken über. Ein Mann, Apollo, steht aufrecht und neigt sich leicht in die Mitte. Als Betrachter*innen sehen wir ihn in Untersicht, ein Eindruck, der durch die Neigung seines Körpers noch betont wird. Er schaut nach seinem Sonnenwagen, welcher gerade aus dem Gewässer und den Wolken hervordringt. Nur ein kleiner Teil ist von der Quadriga zu sehen, doch die Pferde werden schon am Zügel von einer Frau, Tethys, herbeigebracht. Wir sehen Tethys in Rückenansicht, sie wendet jedoch ihren Oberkörper, sodass ihr Gesicht im Profil zu sehen ist. Sie wendet sich Apollo zu, der beinahe bereit ist seine Fahrt anzutreten. Lediglich seine Schuhe werden ihm noch von zwei Frauen gebunden und eine dritte reicht ihm eine Harfe. Von Apollo geht die Helligkeit und ein Leuchten aus, das alle anderen Gegenstände im Bild in ein helles Licht hüllt.

Über ihm fliegen zwei Putten aus der Bildmitte hinaus und ziehen einen Schleier mit sich, welcher die nun beendete Nacht darstellt. Sie falten die Schatten zusammen und öffnen den Himmel für die Sonne. Auf ihrer Höhe sind zwei weitere Putten zu sehen, welche mit einem Pfeil und Blumen hantieren. Sie sind nach rechts gerichtet hin zu einer Frau, deren Kleid aus mehreren Schichten von Tüchern, voluminösen Falten formt. Diese Frau stellt Aurora dar, wie an ihrem Kopfschmuck, einem Diadem mit dem Morgenstern, zu erkennen ist. In ihren Händen hält sie ebenfalls Blumen und entfaltet diese zu den ersten rosigen Strahlen des Tages.9

In erster Instanz würde das Wort Micro-Isolation nicht auf das Werk Lever du Soleil von Boucher zutreffen, da sich auf der Bildfläche reichlich Figuren befinden. Gleichzeitig ist das Werk exemplarisch für die Definition einer Micro-Isolation. Die wichtigste Stelle im Werk ist im Historiengemälde der*die Protagonist*in. Dadurch, dass durch die Micro-Isolation die wichtigste Stelle im Werk markiert wird, wird gleichzeitig der malerische Vorsatz offenbart. Denn es ist davon auszugehen, dass die wichtigste Stelle im Werk, die mit der Micro-Isolation hervorgehoben wird, auch der Schlüssel im Verständnis des Kunstwerk liegt. Die Figur bekommt eine Doppelfunktion, indem sie durch die Micro-Isolation innerhalb des Werkes die Handlung steuert und gleichzeitig dem*r Betrachter*in das unterliegende Muster der Komposition aufzeigt, in dem ihre isolierte Sonderstellung das Vorhaben des Künstlers unterstreicht.

Das Werk Bouchers baut sich um die Hauptfigur Apollo, dem Protagonisten der Erzählung auf. Er steht als einzige Figur aufrecht, wobei das restliche Bildpersonal in verschiedenen Posen um ihn liegt oder schwebt. Sein Inkarnat leuchtet am hellsten und erweckt den Anschein, als würde es tatsächlich Licht abstrahlen, da die Figuren um ihn von seinem Glanz erhellt werden. So sind zum Beispiel die Arme der Nymphe, die Apollo eine Harfe reicht heller erleuchtet als ihre restliche Haut. Farblich begegnet uns das Werk ebenfalls mit einer eindeutigen Betonung Apollos. Das Werk ist hauptsächlich in Blau und Grüntönen gehalten, die sich von der typisch rosigen Haut des 18. Jahrhunderts abhebt. Lediglich das Tuch, das sich um Apollos Körper windet ist von einer kräftigen roten Farbe.

Das Werk ist in der Komposition und der Farbigkeit nach Roger de Piles (1635–1709) Theorie zum Chiaroscuro, dem Hell-Dunkel, visualisiert. Demnach sollten Bilder den visuellen Eindruck einer konkaven oder konvexen Leinwand erschaffen, sie führen also den Blick in die Bildmitte und saugen den*die Betrachter*in förmlich in das Werk hinein.10 Das Licht, die Schatten und die Farben sind so angelegt, dass sie diesen Eindruck hervorrufen und verstärken. In seinem theoretischen Diskurs verhandelt de Piles seine Grundsätze an einer Weintraubenrebe und einzelnen Weintrauben. Bei einer einzelnen Weintraube sind die dunkelsten Stellen jene, an die gar kein Licht dringt und je weiter zur Lichtquelle man sich neigt, desto heller zeigt sich die Weintraube. Mit der Rebe verhält es sich ein wenig anders, da es nicht nur die individuellen Schatten der einzelnen Trauben gibt, sondern vielmehr einen Kollektivschatten den die Rebe wirft. In der Malerei sieht de Piles also vor, dass es Bereiche des Lichts, des Schattens und des partiellen Schattens geben muss.11 Diese perspektivische Theorie zur Darstellung von Licht und Schatten kann in dem Werk Bouchers wiedergefunden werden. Die Leinwand erzeugt einen konkaven Eindruck, welcher direkt hinter der Apollfigur angelegt ist. Die Wolken auf denen er steht reißen an seinem Knie auf, sodass der blaue Himmel hinter seinen Oberkörper zum Vorschein kommt. Der konkave Eindruck und der helle Himmel unterstreichen abermals die Betonung Apollos als Lichtquelle.

Die Figuren in dem Werk sind so aufgebaut, dass sie den Strudel nach innen unterstreichen. Um Apollo und Tethys sind die Nereiden, Tritonen und Amoretten in grazilen Formen und Posen dargestellt und schauen auf Apollo, als die Hauptperson im Bild und beschreiben so einen vorgefertigten Weg für das Auge des*r Betrachter*in.12

Die Micro-Isolation legt die Komposition für den*die Betrachter*in offen und kann demnach als Lesehilfe des Werks verstanden werden. Die Isolation der Figur vom restlichen Bildpersonal funktioniert dabei in ähnlicher Weise wie bei Werken wie der Mönch am Meer. Obgleich die Isolation im Historiengemälde des 18. Jarhunderts in unauffälliger Form, der Micro-Isolation auftritt, entspricht sich die Funktion: Die Identifikationsfigur wird durch die Komposition hervorgehoben.

Biografie

Shanice Page

Shanice Page studierte Kunstgeschichte an den Universitäten in Frankfurt am Main und Hamburg. Ihre Masterarbeit widmete sie der Inszenierung familiärer Verbundenheit in der Herrscherrepräsentation der spanischen Bourbonen. In ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich besonders mit der Malerei Spaniens und Frankreichs des 18. Jahrhunderts und Hierarchisierungsstrukturen in Historiengemälden.

Eine Frage des Framings. Francis Bacon und die Narrative der Pandemie – Julia Schaake

Der zweiteilige Essay untersucht die unterschiedlichen Narrative der aktuellen Coronapandemie und vergleicht sie mit den von Susan Sontag an Tuberkulose und Krebs zugeschrieben Eigenschaften der Erkrankten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend auf die Kunst ausgeweitet. Am Beispiel Francis Bacons erörtert die Autorin, unter Einbeziehung der Theorien Gilles Deleuze, die Folgen auf die zeitgenössische Wahrnehmung der Gemälde. Dabei wird der Isolation in den Werken eine zentrale Rolle zugeschrieben.

Abb. 1: Dan Perjovschi, Social Distancing, 2020, schwarzer Marker auf Papier, 29,7 x 21 cm, aus: Virus Diary Series. Abbildungsnachweis: Günzel, Ann-Kathrin: Dan Perjovschi. Gespräch über die Auswirkungen der Corona-Krise, in: Kunstforum International Bd. 268, Juni–Juli 2020, S. 234–245, hier S. 237.

Ob sich COVID-19 schon bald in die Riege der großen Krankheitsmetaphern einreiht, wie sie am Beispiel von Tuberkulose (TB) und Krebs von Susan Sontag 1978 in Illness as metaphor1 beschrieben wurden, kann in der Kürze der Zeit wohl noch nicht abschließend beurteilt werden. Naheliegend ist jedoch, dass die derzeit grassierende Pandemie, wie vielleicht kein historisches Ereignis zuvor, global mit social distancing und einem Gefühl der Isolation und Einsamkeit assoziiert wird. Eine Vielzahl zeitgenössischer Künstler:innen, darunter z.B. Dan Perjovschi mit seinen Virus Diary (Abb. 1), greifen diese Stimmung in ihren Kunstwerken auf. Dass die Pandemie jedoch auch Einfluss auf die Rezeptionsästhetik bereits bestehender Kunstwerke haben kann, wird deutlich, wenn man sich Werken wie den Seated Figures von Francis Bacon zuwendet, deren Motive, Formen und Techniken bislang unabhängige, nunmehr jedoch – wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird – an COVID-19 gebundene, Eigenschaften aufweisen. Doch was sind diese spezifischen Eigenschaften der Pandemie, welche Narrative bildet sie heraus und was bedeutet all dies für unser Verhältnis zur Kunst? Im Dialog mit Literatur- und Kunsttheorie sucht der folgende Essay Antworten auf diese Fragen. In Rückbezug auf Susan Sontag werden dafür zunächst die Narrative von Krebs und Tuberkulose behandelt, um in der Folge Rückschlüsse über die gegenwärtig zirkulierenden Narrative von COVID-19 zu ziehen. Die Konsequenzen dieser neuen Erzählungen auf die Rezeptionsästhetik schon bestehender Kunstwerke werden daraufhin am Beispiel von Gilles Deleuzes Logique de la Sensation,22 seiner Monographie über die Malerei Francis Bacons, dargelegt. Denn wie sich in der Auseinandersetzung mit Deleuze und Francis Bacons Self-Portrait herausstellen wird, haben jene Elemente, die Deleuze einst als anti-narrativ bezeichnete, durch die Narrative der Pandemie an neuer Bedeutung gewonnen.

Vom Krankheitsbild zum Sprachbild: There’s a killer on the road

Ob mysteriösen Ursprungs oder weitestgehend erforscht, Krankheiten provozieren mit ihren jeweiligen Symptomen, Risikogruppen und räumlichen wie auch sozialen Konsequenzen, spezifische Bilder – nicht umsonst ist vom Krankheitsbild die Rede. Dass diese Bilder zu moralisierenden Sprachbildern führen können, wird besonders deutlich, wenn man an die Verklärung und Ästhetisierung von TB während der Romantik3 oder an die wiederkehrende metaphorische Verwendung des Tumors oder der Krebszelle in politischen Reden denkt.4 In Illness as metaphor untersucht die Essayistin und Publizistin Susan Sontag (1933-2004) diese spezifische Entwicklung von Krankheits- und Sprachbildern am Beispiel von TB und Krebs.5 Eindringlich plädiert sie für einen besonneneren, weniger an moralische Urteile gebundenen, sprachlichen Umgang mit Krankheiten:

„Nothing is more punitive than to give a disease a meaning – that meaning being invariably a moralistic one. Any important disease whose causality is murky, and for which treatment is ineffectual, tends to be awash in significance. First, the subjects of deepest dread (corruption, decay, pollution, anomie, weakness) are identified with the disease. The disease itself becomes a metaphor. Then, in the name of the disease (that is, using it as a metaphor), that horror is imposed on other things. The disease becomes adjectival. Something is said to be disease-like, meaning that it is disgusting or ugly. In French, a moldering stone facade is still lepreuse.”6

So polarisierend Sontags Kritik am metaphorischen Gebrauch von Krankheiten in der Folge ihrer Publikation 1978 auch aufgenommen wurde7, so eindeutig scheint auch ihre Beobachtung, dass Krankheiten spezifische Narrative zugeschrieben bekommen und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Ruft man sich internationale Schlagzeilen der Tagespresse aus den letzten Monaten ins Gedächtnis, wird klar, dass die Produktion spezifischer Narrative und Bilder für COVID-19 schon längst in vollem Gange ist. Der Guardian spricht vom „Job-killer of the century“,8 der Spiegel tauft COVID-19 die „Seuche der Einsamkeit“,9 die MIT Technology Review vergleicht die Pandemie mit einer Zitterpartie russischen Roulettes10 und erkrankte Personen werden in nahezu allen Medien als Opfer betitelt. Sprachlich trägt das Virus längst das Gesicht ein:er Profikiller:in – der Rückzug in die Einsamkeit und selbstgewählte Isolation scheint nicht nur in Romanen und Filmen eine der sinnvollsten Schutzmaßnahmen zu sein. Auch in unserer aktuellen Lebensrealität bieten die eigenen vier Wände und die soziale Isolation die effektivsten Schutzmaßnahmen gegen das Killervirus. Dies stellt in vielerlei Hinsicht ein Novum im Vergleich zu den noch von Sontag beschriebenen Krankheitsbildern dar. Denn wenngleich Krebs lange Zeit einem vergleichbaren metaphorischen Gebrauch unterlag und noch immer unterliegen mag,11 unterscheidet sich das Framing der von Sontag untersuchten Krankheiten wesentlich von der aktuellen Pandemie. So wurde Krebs- oder Tuberkulosepatient:innen ein spezifischer Charakter und Lebensstil zugeschrieben, durch den die Krankheit mitverschuldet wurde12 Diese, von Sontag zurecht problematisierten, Zuschreibungen scheinen in der heutigen Situation jedoch nicht mehr zu greifen. Krebspatient:innen, so Sontag, wurde lange Zeit unterstellt, sie würden ihre Emotionen reprimieren, hätten sich einem schädlichen westlichen Lebensstil hingeben und damit ihre Krankheit mitverursacht.13

Ein vergleichbares Phänomen lasse sich auch im Falle von TB erkennen. Entsprechend Erkrankte wurden jedoch als melancholische Künstler:innen und Freigeister gerühmt, die durch die Intensität ihrer eigenen Gefühlswelt und erschwerten Lebensbedingungen – denn im Gegensatz zu Krebs galt TB als Erkrankung der Armen – von der Krankheit zu früh in den Tod gerissen wurden.14 TB und damit verbunden selbst der Tod, hätte somit bereits in der Romantik eine starke Ästhetisierung und Romantisierung erfahren. Wie man den Gemälden Edvard Munchs ebenso entnehmen könne, wie den Romanen James Joyces oder Stendhals, wurde das fiebrige und fragile Erscheinungsbild der Tuberkulosekranken schnell als neue Mode von der Bohème und Aristokratie aufgegriffen.15 Es galt als chic von einer Krankheit befallen zu sein, die lange Zeit als Folge eines zu leidenschaftlichen Lebens aufgefasst wurde.16 Bleiben wir bei der Killermetapher, so haben Krebs und TB als Mörder:innen in den Augen Sontags damit ein ganz klares, wenn auch gegensätzliches, Opferprofil: Krebs schlägt bei den vermeintlichen Gewinner:innen des Kapitalismus zu. Besonders gefährdet sind eben jene, die ihre Emotionen unterdrücken und einem ungesunden Leben im Überfluss nachgehen.17 TB, so die romantisierte Sichtweise, suche jene freien Individuen heim, die in Armut leben und sich mit Leidenschaft der Fülle ihrer Emotionen hingeben.18

Im Gegensatz dazu könnte man COVID-19 als unberechenbare Mörder:in aus der Feder des Schriftstellers Bret Easton-Ellis’ beschreiben, der:die zunächst ungeachtet vom individuellen Lebensstil, Charakter und Herkunftsort, jede Person gleichermaßen zur Zielscheibe erklärt und attackiert. Die Opfer von COVID-19 scheinen damit gesichtslos, sie zeichnen sich durch keine signifikante Gemeinsamkeit aus. Zwar stellen ältere Generationen eine besondere Risikogruppe dar, doch kann es ebenso junge Leute treffen. Die finanziellen Belastungen erfolgen wiederum global und erfassen untere Einkommensklassen ebenso wie höhere. Wer jedoch mit einem blauen Auge davon kommt oder aber in den physischen oder finanziellen Tode gerissen wird, hängt in der Folge neben der individuellen physischen Verfassung insbesondere von den länderspezifischen Ausbeutungs-, Herrschafts- und Ausschließungsmechanismen ab. „The virus alone does not discriminate, but we humans surely do, formed and animated as we are by the interlocking powers of nationalism, racism, xenophobia, and capitalism”19 konstatiert in diesem Zusammenhang die Philosophin Judith Butler. Doch was hat all das nun mit Kunstwerken zu tun, die bereits lange Zeit vor der Pandemie entstanden sind? Ein Blick auf die Gemälde Francis Bacons kann Aufschluss geben.

Abb. 2: Francis Bacon, Triptych Inspired
by The Oresteia of Aeschylus
, 1981, Öl auf Leinwand, jedes Panel 198 x 147,5 cm, Oslo, Astrup Fearnley Museet. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Bacon en toutes lettres, Paris (Centre Pompidou) 2019, S. 24f.

Eine ungeahnte Vertrautheit. Die Malerei von Francis Bacon

Der Maler Francis Bacon (1909-1992) zählt wohl zu den bekanntesten britischen Künstler:innen des vergangenen Jahrhunderts. Im letzten Jahr wurde unter dem Titel Bacon en toutes lettres dem Spätwerk des Künstlers eine große Einzelausstellung im Centre Pompidou in Paris gewidmet. Eines dieser dort erst kürzlich ausgestellten Werke, das Triptych Inspired by the Oresteia of Aeschylus (Abb. 2), erzielte Ende Juni diesen Jahres einen Rekordsumme von 84 Millionen US Dollar auf einer virtuellen Sotheby’s Auktion.20 Die daraus ablesbare Begeisterung für Bacons oftmals verstörende Gemälde scheint auch in Zeiten der Krise ungebrochen. Doch was ist es, was Menschen an den grotesken Figuren des Malers so fasziniert? Die eindringlichen, verfremdeten Körper in Bacons Gemälden sind meist alleine. Der Maler positioniert seine Figuren oft in einem eng begrenzten, abstrakten, geradezu bühnenartigen Raum, der ein Gefühl des Eingesperrtseins hinterlässt und doch stets heimische Züge aufweist. In diesen Räumen begegnet man seinen Figuren wartend, sitzend, stehend, urinierend, penetrierend; aber nahezu niemals draußen in der Natur oder Stadt. Eine ungeahnte Vertrautheit kann die Rezipient:innen beim Betrachten der Bilder erfassen – dieses isolierte Verharren im wohnlichen Ambiente wirkt beinahe wie ein Spiegel der aktuellen Lebenssituationen. Eine solche Rezeption steht jedoch im diametralen Gegensatz zu dem, was lange Zeit als essenzielles Wesensmerkmal von Bacons Malerei beschrieben wurde.

Von der Isolation zur Sensation – und zurück zur Narration

In seiner, dem Maler 1981 gewidmeten, Monographie Logique de la Sensation geht der Philosoph Gilles Deleuze (1925-1995) am Beispiel von Bacons Gemälden Fragen der Repräsentation nach. In intensiver Auseinandersetzung mit Bacons malerischer Technik, seinem Bildaufbau und -sujet entwickelt er den Begriff der Sensation als ästhetische Kategorie, die in Bacons Werken Ausdruck finde und sich auf das direkte sinnliche Empfinden der Betrachter:innen beziehe.21 Bacons Malerei der Sensation, so Deleuze, sei eine Malerei, die sich vom Paradigma der Repräsentation losgesagt habe und sich nicht länger einem reinen Abbildrealismus oder der Darstellung narrativer Handlungen verschrieben habe.22 Der Bruch mit der Repräsentation kann für Deleuze dabei über zwei Wege erfolgen: den der Abstraktion oder den des Figuralen.23 Bacons Malerei sei dem zweiten Weg zuzuordnen. Doch um sich zugunsten des Figuralen von den Narrativen und Klischees zu befreien, die sich bereits über Jahrhunderte hinweg in die Leinwände und die darauf abgebildeten Figuren eingebrannt haben, müsse jegliche illustrierende Tendenz zunächst unterbunden werden24. Für Deleuze führt der leichteste Weg zum Figuralen dabei über die Isolation der Figuren.25 

In Bacons Gemälden befinden sich die Figuren zumeist alleine auf ihre eigene Existenz zurückgeworfen. Doch die Isolation der Figuren erfolgt mitnichten nur durch die Unterbindung sozialer Begegnungen. Selbst seine Paarbilder, in denen oft gewaltsam wirkende, sexuelle Interaktionen zum Bildsujet gemacht wurden, weisen isolative Züge auf. Den Grund dafür erkennt Deleuze in der Kontur. Sie agiere als isolierende Instanz, welche die Figuren in einen runden, rechteckigen oder ellipsenförmigen, leeren Raum, in eine geschlossene, abstrakte Welt frei von Signifikanten, einsperre; sie auf eine Bühne stelle und als eine Art Ikone von der Außenwelt und Rezipient:innenschaft abgrenze.26 Darüber hinaus spricht Deleuze auch der materiellen Struktur der Gemälde eine isolierende und damit zentrale Rolle für den Bruch mit der Repräsentation zu:

„Die materielle Struktur rollt sich um die Kontur zusammen, um die Figur zu umfangen, die die Bewegung mit all ihren Kräften begleitet. Eine äußerste Einsamkeit der Figuren, eine äußerste Einschließung der Körper, die jeden Zuschauer ausschließt: Die Figur wird zur Figur nur durch diese Bewegung, in der sie sich einschließt und durch die sie eingeschlossen wird.“27

Demnach krümme sich die materielle Struktur der Farbe um die Kontur; sie sperre die Figur mitsamt all ihrer Kräfte ein – und ihre Betrachter:innen aus. Doch dieses Eingesperrtsein der Figur führe nicht etwa zu einer Bewegungslosigkeit; im Gegenteil, sie lenke den Fokus auf die unsichtbaren, prozessierenden Kräfte und Bewegungen des Körpers, die nun unmittelbar auf die Betrachter:innen einzuwirken drohe. Da die Vorstellung von Körpern jedoch seit jeher eng mit Bedeutungszuschreibungen verknüpft sei, genüge diese isolierenden Elemente nach Deleuze nicht, um die Narration final zu zerschlagen. Aus diesem Grund habe Bacon in seinem Bestreben Leinwände und Bildsujets von ihren eingeschriebenen Vorbildern zu lösen, neben der Isolation die radikale Deformation von Körpern betrieben.28 Die Körper machen den Eindruck aus sich selbst entweichen zu wollen, wobei ihre unsichtbaren Kräfte wie in einer Art Krampf aufeinandertreffen und wieder auseinander streben. Sie scheinen ihre von Organen strukturierte Form aufzugeben, sich in der Intensität des Fleisch- und Nervengewebes aufzulösen und damit in einen unbewussten, gewissermaßen vorgeschichtlichen Körper überzugehen, den Deleuze in Anlehnung an Antonin Artaud auch als organlosen Körper29 bezeichnet. Jene, von narrativen Zusammenhängen losgelöste, Zuspitzung und Zurschaustellung der kontraktierenden, prozessierenden Kräfte des organlosen Körpers mündet für Deleuze schließlich in der unmittelbaren, geradezu gewaltvollen, visuellen Empfindung, die als Sensation direkt auf die Zuschauer:innenschaft übergreife und zur einzigen Realität von Bacons Malerei, zum unmittelbar erfahrenen Faktum des organlosen Körpers, werde.30

Nach Deleuze führen Bacons Techniken der Isolation und Deformation also zu einer radikalen Abkehr von Narration und Repräsentation, die es ihm ermöglicht die Sensation, das heißt die unmittelbaren Kräfteeinwirkungen auf Fleisch und Nerven seiner Figuren, in ihrer gesamten Intensität erfahrbar zu machen. Doch kann die Gleichung: Isolation der Figur = Ausschluss von Narration und Repräsentation in einer Zeit überhaupt noch aufrecht erhalten werden, in der vielen Betrachter:innen beim Anblick einer isolierten Figur im wohnlichen Ambiente die aktuelle Lebensrealität in den Sinn kommt? Dient Isolation noch als probates Mittel, um die Bildung von Narrativen im Keim zu ersticken oder ist sie nicht schon längst von der Pandemie als Teil ihrer Erzählung einverleibt worden?

Abb. 3: Francis Bacon, Self-Portrait, 1973,
Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm, Paris, Collection Claude Bernard. Abbildungsnachweis: Leiris, Michael: Francis Bacon. Full Face and in Profile, Barcelona 1983, Abb. 92.

Betrachtet man aus heutiger Perspektive Bacons Self-Portrait (Abb. 3) aus dem Jahr 1973, so scheint das Narrativ der Pandemie – die notwendige Selbstisolation zum Schutz vor einem:r willkürlichen Killer:in – bereits Einfluss auf die Rezeption zu nehmen und Deleuzes Gleichung zu entkräften. Das Gemälde zeigt eine männliche Figur alleine im wohnlichen Ambiente eines Innenraums, augenscheinlich eine Privatwohnung. Keine soziale Interaktion, keine Handlung ist zu erkennen. Ebenso wie es Einigen sicher zum Höhepunkt des Lockdowns ergangen ist, scheint auch der Protagonist des Ölgemäldes völlig auf sich selbst und seinen Körper zurückgeworfen zu sein. Das Alter Ego Bacons sitzt auf einem Stuhl in einem leicht abgerundeten Innenraum mit Parkettboden. Eine ellipsenförmige Kontur umschließt die sitzende Figur, exponiert sie auf eine Art Bühne. Die Raumkonstruktion verdeutlicht die Isolation der Figur; sie lenkt den Blick auf den Körper. Ein klaustrophobisches Gefühl setzt ein. Die Konturen und Körperumrisse changieren zwischen harten Umrissen und weichen Übergängen, doch dort wo Gesicht und Hände klar umrissen sein sollten, lösen sie sich in dynamischer Bewegung auf. Die Gesichtszüge verschwimmen, klare Gesichtskonturen, Mimik, ja der gesamte Kopf, lösen sich in einem dynamischen Kräftespiel auf. Ebenso wie die Opfer der Pandemie im Narrativ frei von Charakterzuschreibungen sind und eine anonyme, gesichtslose Masse bilden, erscheint auch die Figur Bacons anonym, gewissermaßen befreit von individuellen Merkmalen. Ganz wie Deleuze es beschreibt, wird der Körper als ein Aufeinandertreffen prozesshafter Kräfte dargestellt. Fleisch- und Nervengewebe scheinen sich zu winden und den Körper zu deformieren. Die Intensität des Körpers ergreift die Figuren in Bacons Œuvre ebenso willkürlich, wie das Virus die Körper seiner Opfer. Alles was bleibt, ist in beiden Fällen das körperliche Empfinden. Doch entgegen der Annahme von Deleuze, die Figuren Bacons seien durch die Deformation und Isolation vor narrativen Zusammenhängen geschützt, scheint es, als würde die auf die Betrachter:innen übergreifende Sensation – das unmittelbar empfundene Faktum des Körpers – aus heutiger Perspektive gerade dann, wenn es sozial isolierte Personen erfasst, Erfahrungen und Empfindungen mit COVID-19 widerspiegeln. Die ehemals leeren Signifikanten erhalten im Kontext des Virus aus zeitgenössischer Sicht neue Bedeutungszuschreibungen und entfalten bis dato unbekannte Lesarten. Darunter auch diese: Ein Mann sitzt isoliert von Freunden und Bekannten untätig alleine zuhause. Zu seinen Füßen liegen die verschiedenen Zeitungsartikel, die ihn über die neuesten Entwicklungen der Pandemie informieren. Eine beklemmende Stimmung greift um sich. Allein auf sich gestellt, nimmt die Angst körperliche Züge an. Ob das Virus bereits im eigenen Körper auszubrechen droht? Bacons Figuren avancieren durch das Narrativ der Pandemie zu ungeahnten Identifikationsfiguren der heutigen Krisenzeit – und steigern damit möglicherweise ihren Marktwert, wie die erfolgreiche Sotheby’s Versteigerung nahelegt.

Biografie

Julia Schaake

Julia Schaake arbeitete nach ihrem Bachelor in Kunstgeschichte in der Marketingabteilung der SCHIRN. Währenddessen schrieb sie für das hauseigene Magazin der Kunsthalle. Aktuell setzt sie ihr Studium im Master an der Goethe-Uni in Frankfurt fort. Seit Juli ist Julia als Redakteurin des Second Nature Labs im Rahmen des NODE20-Festivals tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf zeitgenössischer Kunst und Ausstellungen, die an der Schnittstelle zu Naturwissenschaft und Technologie operieren. Darüberhinaus interessieren sie die vielfältigen Interferenzen zwischen Kunst, Literatur und Theorie.

Speaking to the City – Denise Lee und Margarita Valdivieso

Speaking to the City ist eine Komposition aus einem dreiteiligen Video, Fotografien und einem Essay. Aufnahmen verschiedener urbaner Räume Weimars werden von einem Dialog zwischen den Künstlerinnen begleitet, der die Wahrnehmung der Stadt aus der Perspektive zweier Migrantinnen beleuchtet. Die Gegensätze zwischen privater und öffentlicher, historischer und moderner Architektur, wurden durch einen Wechsel zwischen Totalen und Nahaufnahmen von Gebäuden und Orten filmisch umgesetzt. Sie finden eine Analogie in den Erinnerungen über die Stadt und ihre menschlichen Beziehungen, von denen die Protagonistinnen, im Format eines Interviews, aber auch teils theatralisch inszeniert, berichten. Durch die sehr körperlichen Fotografien wird das, durch den Lockdown verstärkt empfundene Gefühl der Entfremdung und Mangel an Intimität auf einer weiteren, persönlichen Ebene reflektiert. In Verbindung mit dem Text stellt die künstlerische Arbeit einen Zusammenhang zwischen dem öffentlichen, städtischen Umfeld, dem Innenraum sowie dem eigenen Körper her und kommuniziert die Bedürfnisse, die durch soziale und architektonische Einschränkungen unerfüllt bleiben. 

Video 1 (Klicke auf die Abbildung zum abspielen des Videos)

Abriegelung hat so viele verschiedene Bedeutungen, wie es Orte und Menschen gibt. Die vernetzte Natur der Welt von heute bedeutet, dass wir die Kämpfe und Triumphe jeder Stadt sehen und fühlen, doch die physische Distanz bedeutet, dass wir nur unsere eigene Realität vollständig verarbeiten können.

Eine gedankenlose Berührung kann als Gewalt an unserem Körper empfunden werden. Unbekannte Körper auf der anderen Straßenseite, die sich einander immer näher und näher kommen, fühlen sich wie eine Bedrohung für die Gemeinschaft an.

Die Worte fließen weiterhin unaufhörlich zwischen den Menschen und zwischen den Entfernungen im virtuellen Raum, aber was wir jetzt vermissen, sind die Momente, die wir damit verbringen nichts zueinander zu sagen, während wir so viel sagen, indem wir einfach die selbe Körperlichkeit bewohnen.

Video 2 (Klicke auf die Abbildung zum abspielen des Videos)

In ihren eher chronischen Momenten hat mich die Last der Einsamkeit gelehrt, an meine Grenzen zu gehen. Sie hat mir gesagt, wenn ich zu bequem und selbstgefällig geworden bin, und mich daran erinnert, dass Veränderungen und Erfahrungen nicht immer passieren, sondern manchmal gemacht werden müssen.

Ich fand mich selbst auf der Suche nach Gesellschaft, die die Einsamkeit nicht wirklich linderte; Gesellschaft, die am Ende oberflächlich und manchmal sogar schädlich war, indem ich versuchte, den Menschen nahe zu kommen, um die Einsamkeit für den Augenblick loszuwerden. Ich musste lernen mit meiner Einsamkeit im Frieden zu sein.

Vielleicht hat uns die Einsamkeit manchmal in verletzliche Positionen gebracht, aber die Lektionen, die wir aus diesen Situationen lernen, lehren uns weiterhin die feine Balance zwischen Verletzlichkeit und Sicherheit.

Video 3 (Klicke auf die Abbildung zum abspielen des Videos)

Bildcredits: Denise Lee & Margarita Valdivieso, Speaking to the City, 2020 ©Denise Lee & Margarita Valdivieso

Biografie

Denise Lee & Margarita Valdivieso

Denise Lee ist in den USA geboren, wuchs in Hongkong auf und verbrachte eine prägende Zeit in Taiwan. Zurzeit studiert sie an der Bauhaus-Universität Weimar und beschäftigt sich mit Oral History, dialogbasierten Interaktionen, dem Zustand der Städte, seltsamen Intimitäten, Wissensaustausch und Raumbildung. Vor den Hintergründen öffentlicher Kunst, postkolonialer Studien und Möbeldesign schafft und fördert sie physische und nicht-physische Räume für Kontakt und Dialog. Dies tut sie stets mit der Absicht, die Barrieren und Missverständnisse abzubauen, die an der Aufrechterhaltung hierarchischer Strukturen mitschuldig sind.

Margarita Valdivieso ist bildende Künstlerin und derzeitige MFA-Kandidatin an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihr kreativer Prozess findet im Bereich der Fotografie statt. Sie hat an nationalen und internationalen Ausstellungen teilgenommen, wie z.B. Close Up in der C/O Berlin photography foundation, Misse Connections in der Fountainhead gallery, Miami und Clay Street Press in Cincinnati. Marga- rita ist Teil der Native Agency und ihre jüngste Veröffentlichung ist Further II von der Fotobus Society. Derzeit lebt und arbeitet sie zwischen Deutschland und Kolumbien.

IsoLoosion – Adolf Loos‘ „Das Schlafzimmer meiner Frau“ – Xenia Mura Fink

Anhand des Schlafzimmerentwurfs von Adolf Loos für seine Ehefrau wird die Rolle der Frau in der Wiener Moderne verhandelt. Das Schlafzimmer wird sexuell aufgeladen und gleichzeitig mit einem Käfig verglichen. Dabei wird eine Analogie zwischen dem Taktilen und dem Weiblichen gezogen und Loos‘ Abneigung gegenüber dem Ornament hinterfragt. Die Autorin arbeitet ein wiederkehrendes Muster in dem Zurschaustellen von Loos‘ Angebeteter heraus. Loos’ Raumgestaltungen können dabei Machtstrukturen herstellen und eine Imagination bedienen.

Der Tastsinn ist in einer Zeit, in der die COVID-19-bedingte soziale Distanzierung gefordert wird, zur neuen Grenzlinie avanciert, oder wie Paul B. Preciado feststellt: „The new frontier is your epidermis.“1 Zu Beginn der Epidemie waren wir davon abgeschreckt, jede potenziell kontaminierte Oberfläche zu berühren. Auf jeden Fall ist das Streifen von Menschen an öffentlichen Orten zu vermeiden (da das Bewegen durch letztere sich nicht vermeiden lässt) und physischer Abstand zu halten. Dies hat zur Folge, dass es zur Zeit keine freundschaftlichen oder vertrauten Umarmungen und Küsse zwischen guten Bekannten mehr gibt, keine neugierigen Berührungen einer Oberfläche, zur Erforschung eines Materials, der Haut oder der Kleidung von jemandem, mit dem man nicht verpartnert ist oder mit dem man nicht zusammenlebt. Und immerzu: Berühren Sie nicht Ihr Gesicht – oder das Ihres Gegenübers (bevor Sie nicht Ihre Hände gründlich gewaschen haben)! Plötzlich ist der körperliche Kontakt eines:einer Fremden nicht mehr eine rüde Begegnung auf der Straße und unerwartete Nähe, weder ein Moment der Kontingenz noch der Belästigung, sondern potenziell gefährlich. Berührung ist plötzlich zum Privileg der Gebundenen und derer geworden, die als Familie oder im häuslichen Verbund zusammenleben. Zu einer Zeit, in der wir immer mehr auf das subtil personalisierte, massenmediale Visuelle fixiert sind, brachte das Coronavirus nicht nur die Bedeutung von Gemeinschaft und Bewegungsfreiheit, sondern auch von physischer Nähe zum Vorschein. Wenn wir in Isolation leben, was bedeutet das für das taktile Empfinden? Wird dieser Sinn verstärkt oder eher verkrüppelt?

Abb. 1: Adolf Loos, Das Schlafzimmer meiner Frau, (Fotograf:in unbekannt). Abbildungsnachweis: Kunst. Halbmonatsschrift für Kunst und alles Andere, Österr. Verlagsanstalt, Heft 1 (1903), S. 13.

Das Phantasma Schlafzimmer

Als ich zu ersten Mal das schwarzweiße körnige Foto des Schlafzimmers sah, welches Adolf Loos 1903 für seine erste Ehefrau Lina entworfen hatte, war ich gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Auf der Abbildung (Abb. 1) ist der blaue Filzteppich als solcher nicht zu erkennen, nur helle amorphe Oberflächen. Ein weißer langhaariger Pelz bedeckt den Boden und kriecht das Podestbett halb hoch, weiße, in Falten fallende Vorhänge bedecken die Wände und Möbelstücke. Was bedeutet dieses Zimmer? Wie ist es zu bewerten? Es ließ mich an das Raumschiff in Roger Vadims Film Barbarella denken, an ein himmlisches Bordell-Zimmer, eine perverse Spielwiese. Faszinierend, und dabei vollkommen unhygienisch. Die Reinigung der Angorafelle, die das Bett am Boden einrahmen, konnte um 1900 nur mittels Teppichstange und Teppichklopfer erfolgen, was sadomasochistisch anmutet – ganz zu schweigen davon, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass Loos diese Aufgabe je übernommen hat. Das weiße Angorafell erinnerte mich an James-Bond-Bösewicht Blofeld, der in den ersten Filmen der Serie nie als ganze Figur gezeigt wurde, stattdessen in Close-Ups, eine weiße Perserkatze streichelnd.
Es stoßen verschiedene Themen aufeinander: Loos entwarf ein Zimmer für seine Frau, welches einerseits eine selbstbezogene Intimität, die die Welt außen vor lässt, zum zentralen Motiv erhob, andererseits sie von der Wahrnehmung der Außenwelt isolierte. Das Zimmer wirkt durch die Prominenz von Textur auf sämtlichen Oberflächen erstickend, gleichzeitig entrückt aus Zeit und Raum und fern von Status. Loos war für mich der Architekt stilprägender Bauten, die mir gefielen, und ich hatte mich mit seinem polemischen Text Ornament und Verbrechen auseinandergesetzt. Erst kürzlich befasste ich mich mit seiner Biografie, und dadurch mit dem Gerichtsverfahren gegen ihn wegen „Schändung sowie Verführung zur Unzucht“.2 Er hatte 1928 mehrere acht- bis zehnjährige Mädchen unter dem gesellschaftlichen Vorwand, sie für ein Austauschprogramm kennenlernen zu wollen, in seine Wiener Wohnung gelockt. Zuerst fragte er bei einem männlichen Modell der Akademie der Künste an, ob er ein Kind als Modell zum Aktzeichnen empfehlen könne, woraufhin dieser seine Tochter zu Loos schickte. Das Mädchen wurde wohl aufgefordert weitere Gleichaltrige mitzubringen, die Loos nackt zeichnete, ihnen Fotografien nackter Kinder zeigte, sie zu gegenseitigen Berührungen aufforderte und sie schließlich sexuell berührte, bzw. sie auffordert ihn zu berühren. Er wurde nur wegen Verführung zur Unzucht schuldig gesprochen und aufgrund von ihn bevorteilenden Charakterzeugen ohne weitere Haftstrafe entlassen – die Untersuchungshaft war hier angerechnet worden. Das Wissen über diesen Aspekt der Person Loos, über Vorkommnisse, die 25 Jahre nach der Realisierung des Schlafzimmerentwurfes stattfanden (wobei ähnliche Missbrauchssituationen sich auch schon vorher zugetragen haben könnten) lässt diese Betrachtung nicht unberührt. Ich möchte versuchen, mich mit diesem Wissen, oder trotz dieses Wissens, über diesen Raum als Vorstellungsraum auseinanderzusetzen, über das, was er für mich über Sinne, Sinnlichkeit, Sexualität, Raum und Enge, psychischer und physischer Beklemmung aussagt. So verschränkt sich in diesem Text, die im Werk selbst liegende Ambivalenz und meiner Lesart derselben mit meiner ambivalenten Haltung zu der Frage, ob man Autor und Werk getrennt voneinander betrachten kann. Der junge Loos hatte sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts durch journalistische Texte über Architektur, Kunst und Design einen Namen gemacht. 1899 wurde er mit der Innengestaltung des Café Museums in Wien beauftragt. Sofort gingen die Künstler des benachbarten Secessionsgebäudes dort ein und aus. Das revolutionär schlichte Interieur brachte ihm große Sichtbarkeit; es folgten viele Aufträge im Bereich der Innenarchitektur. Adolf Loos erarbeitete sich seine Karriere über viele Jahre ausschließlich mit der Gestaltung bürgerlicher Wohnungen und Geschäfte. „Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die Jahrhundertwende im Jugendstil. Allerdings scheint er, seiner Ideologie nach, die Vollendung des Interieurs mit sich zu bringen. Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel. Der Individualismus ist seine Theorie“,3 schreibt Walter Benjamin. Loos lehnte das modische Ornamentale, wie zum Beispiel im Werk Otto Wagners oder des gleichaltrigen Josef Hoffmanns, ab. Doch das Potenzial der Innenarchitektur zur Präsentation des wohlhabenden, ästhetisch gebildeten Bürgers – und damit als empfehlende Visitenkarte – war ihm bewusst. Die Tätigkeit als Gestalter von Wiener Wohnungen diente ihm als Entwicklungsfeld für seinen später gereiften Raumplan, den er erst als Hochbauarchitekt vollends verwirklichen konnte. Als Loos 1903 die Realisierung seines Entwurfs Schlafzimmer meiner Frau in Peter Altenbergs Zeitschrift Kunst. Halbmonatsschrift für Kunst und alles Andere vorstellte, stand er an der Spitze der architektonischen Avantgarde Wiens. Die Veröffentlichung ist eine Selbstdarstellung, denn Loos präsentierte hier einen Entwurf ganz frei von Kompromissen zugunsten eines:einer Auftraggeber:in.

Loos macht das Intime unverhohlen öffentlich, er inszeniert es. Die Betitelung im Magazin verleiht den Anschein von Authentizität, während die spärlich erklärenden, in Versalien gesetzten Unterzeilen eine selbstbewusste Nonchalance vermitteln: „WEISSE TÜNCHE / WEISSE VORHÄNGE / WEISSE ANGORAFELLE“4. Die weißen Vorhänge, günstig und wirkungsvoll, sind an einfachen umlaufenden Kupferrohren angebracht und umfangen den Raum. Der Stoff verbirgt nicht nur Praktisches wie Schränke, sondern auf Augenhöhe auch Wände und Fensteröffnungen. So ist dieses Schlafzimmer nicht mehr ein Raum in einer Wohnung, der Menschen und Gebrauchsgegenstände beherbergt, sondern er wird in einen Vorstellungsraum verwandelt, bei dem die Realität und das Tageslicht nur wage von außen durchschimmern. Der gesamte Raum wird zum Himmelbett.

Irene Nierhaus liest den Raum als imaginäre Braut, in dem die Absenz und Präsenz der weiblichen Sexualität erst durch den Mann konstituiert wird. Die Beziehung von Loos zu seiner Frau sei von einem Frauenbild bestimmt, welches von einer aus Lust und Askese konkurrierenden Ambiguität bestimmt wird, die als letztendlich unvereinbarer Gegensatz gedacht wurde.5 Das Zimmer wird zur Manifestation unergründlicher Sehnsüchte: Eine ätherische Höhle mit einem altarhaften Podestbett. All das, was Loos auf das Ornament projizierte – Degeneration, Amoral, Kleinbürgerlichkeit, Verschwendung – wollte er unterbinden, er schrieb dagegen an;6 doch das Sinnliche, besonders in seiner fetischistischen Facette, kriecht aus seinen Entwürfen hervor. „Die transluzide Zartheit des weissen Stoffes verweist auf Schleier und der auf das Hymen. […] Die Felle hingegen deuten auf ‚natürlich‘ Wucherndes, das – ins Weiss verharmloste – Triebhafte und das endlos Uterine.“7

Das Taktile als das Weibliche

So ist das Haar, der Pelz, die Haut und vor allem die Vorstellung davon, etwas, wo Perverses, Raffiniertes und Archaisches zusammentreffen. Inge Stephan schreibt über Erinnerungen, die im Haar schlummern: Sie „reichen in eine mythische Zeit zurück, in der die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier noch fließend und der Geruchssinn der Leitsinn war.“8 Das weibliche Haupthaar eröffnet kulturhistorisch ein weites Assoziationsspektrum. Wenn ich an die Bilderwelt um 1900 denke, den Höhepunkt des Symbolismus, kommen mir sofort Gustav Klimts Wasserschlangen I und II sowie Goldfische in den Sinn: Gemälde, die schöne, im Wasser treibende Frauen abbilden, nackt, aber von ihren tentakelgleichen Haaren umgeben – oder gleich Franz von Stucks Die Sünde, in dem die bläulich-weiße Schönheit von Haaren und einer riesigen Schlange eingerahmt wird. Christina von Braun erläutert, wie die Frau in der Kunst des fin de siècle als Projektionsfläche und Verkörperung männlicher Sexualität dient, ihr aber keine eigene selbstbestimmte Sexualität zugesprochen wird.9 Die einwickelnden, in die Tiefe herabziehenden Haare der Nixen und Undinen verweisen auf das Überthema der femme fatale. „Zu den am häufigsten ein fetischistisches Fluidum ausstrahlenden Teilen des Kopfes gehört das Haar“10, konstatiert der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Das Haar bei Loos ist jedoch nicht lang und ornamental, und als weißer Angorapelz in seiner Symbolik weniger eindeutig. Nichtfigürlich und amorph, steht hier nicht der optische Reiz im Vordergrund, sondern der taktile.

Der Pelz und der Vorhang im Faltenwurf sind beides Materialien, welche die Oberfläche, die sie bedecken, indem sie nach außen, in den Raum gestülpt wird, stark vergrößern – und damit das Potential für Berührung. Derrida führt (sich auf Jean-Luc Nancy beziehend) aus, dass „berühren“ immer die Berührung einer Grenze darstellt. Grenze bedeutet hier nicht nur die Oberfläche; selbst wenn man das Innere von irgendetwas berührt, tut man es, indem man dem Punkt, der Linie oder der Fläche, der Begrenzung eines nach außen exponierten Körpers folgt, die zum Kontakt angeboten wird.11 Karen Barad zufolge ist die Berührung dieser Grenzen niemals rein und unschuldig, denn sie ist nicht von einem Spannungsfeld der Differenzbeziehungen zu trennen.12 Als Berührung einer Begrenzung, ist sie unweigerlich ein Übertritt – der willkommen sein kann oder nicht.

Den Ton-in-Ton-Effekt der hellen Oberflächen, das Verbergen von Form und Funktion der Möbelstücke und der Verzicht auf eine Strukturierung ziehen Objekte und Raum optisch zusammen, was einen Effekt der Unschärfe ergibt. Das Schlafzimmer wird zu einer textilen Höhle. Bei der Gestaltung von Interieurs war Loos bestrebt, dass die Funktion von Gegenständen offenbar ist, indem Möbel tradierte und lesbare Formen besitzen. Die Gestaltung dieses Zimmers steht im klaren Gegensatz zu den übrigen Räumen seiner Wohnung, deren Einrichtung funktional und klar ist. Das Amorphe und Texturierte des Schlafzimmers ist einzigartig in Loos’ Werk, und erstaunlich angesichts seiner Kampagnen gegen eine – in seinen Augen – verschwenderische, ornamentalen Feminisierung der zeitgenössischen Kultur.13 In einem kurzen Text erläutert Georges Bataille, wie das Formlose in einer Welt, die immerzu nach einer Form verlange, als Begriff abwertend verwendet werde: Was es bezeichne, habe keinerlei Rechte und werde zerquetscht wie eine Spinne oder ein Regenwurm. Weiterhin, dass Akademiker („hommes académiques“) erst glücklich seien, wenn das Universum eine Gestalt annehmen würde; denn zu sagen, dass das Universum nichts ähnle und nur formlos sei, komme der Aussage gleich, dass es so etwas wie eine Spinne oder ein Auswurf sei.14

Trotz aller Ästhetisierung verweist die Verortung des Weiblich-Konnotierten im Formlosen auf das Erhabene, welches potentiell immer ins Abjekte, ins Abstoßende abkippt. Welche Grenzen werden dabei überschritten (die des „guten Geschmacks“, die vom Mädchenhaften zum Animalischen oder von einem Frauenbild zu einem anderen), aber vor allem: Wessen Grenzen werden übertreten?

Ein Apparatus, um das Wuchernde festzuzurren

Während Loos das Schlafzimmer seiner Frau zum Fetisch machte, der die Anwesenheit dieser darin nicht benötigte, so ließ sein Freund Oskar Kokoschka einen Fetisch in Form einer Frau anfertigen, die ihn verlassen hatte. Einige Jahre nachdem die Beziehung zu Alma Mahler zu einem Ende gekommen war, gab er bei der Bildhauerin Hermine Moos eine Puppe in Auftrag. In Briefen erklärte und skizzierte Kokoschka die gewünschte Beschaffenheit der Puppe, der er Erinnerungen an Körperteile und Wunschvorstellungen des Objektes seiner Begierde zuordnete. “Liebes Frl. Moos, ich sandte Ihnen gestern durch meinen Freund Dr. Pagel eine lebensgroße Darstellung meiner Geliebten, welche ich Sie bitte recht getreu nachzuahmen und mit dem Aufgebot Ihrer ganzen Geduld und Sensualität in Realität umzuschaffen.”15 Weich wie ein Pfirsich soll die Oberfläche sein – Hermine Moos bezog die Puppe mit einem Plüsch. (Abb. 2)

Abb. 2: Henriette Moos, Hermine Moos mit Puppe, 1919, Oskar Kokoschka Zentrum, Wien.
Abbildungsnachweis: Kokoschka, Oskar: Briefe I. 1905–1919 (Hg.: Olda Kokoschka und Heinz Spielmann), Düsseldorf 1984, o. S.

Zwar forderte der Auftraggeber sie dazu auf, ihre Sinnlichkeit bei der Interpretation seiner Entwürfe einzusetzen, doch aus weiteren Umschreibungen ist herauszulesen, dass er sich eine Art von Sexpuppe gewünscht hatte. Als Kokoschka die Puppe erhielt, schriebt er ihr entsetzt: „Die äußere Hülle ist ein Eisbärenfell, das für die Nachahmung eines zottigen Bettvorlegerbären geeignet wäre, aber nie für die Geschmeidigkeit und Sanftheit einer Weiberhaut, wogegen wir doch immer die Täuschung des Taktgefühls in den Vordergrund gestellt hatten.“16 Vielleicht war es die Machart der Puppe, die ihn enttäuschte, doch möglicherweise war ihm, mit der Realisierung seines Wunsches konfrontiert, die Perversion des Unterfangens erst bewusst geworden. Die Alma-Puppe zauberte nicht die eigenwillige Alma Mahler herbei. Kokoschka malte jedoch ein Alma-Porträt mit der Puppe als Modell und ein Selbstporträt mit Puppe (dazu wohl unzählige Zeichnungen) und inszenierte sich mit ihr, indem er Besuch in Gesellschaft der Puppe empfing und öffentlichkeitswirksam mit ihr als Begleitung auftrat. Schließlich betrieb er eine Art Exorzismus von seiner Alma-Puppen-Obsession, indem er sie bei einer Party im Garten köpfte und mit Rotwein übergoss. Diese Geschichte ist bekannt, auch weil Kokoschka sich damit brüstete – die der Hermine Moos wesentlich weniger.17 Kokoschka gab die Erstellung der Puppe in Auftrag, in der Hoffnung, sich selbst von der physischen Manifestation seiner Fantasie überzeugen zu lassen. In der Anleitung, die er Moos schickte, war das Haptische äußerst wichtig, er wollte die ehemalige Geliebte wieder fühlen und halten. Es hat den Anschein, als wäre die Beauftragung selbst, das Heraufbeschwören von Erinnerung und Fantasie zur Beschreibung und schließlich die Kommunikation mit Moos erregend für ihn gewesen. Ihren vier erhaltenen Fotos nach zu urteilen, hat Moos mit der Puppe ein eigenes Kunstwerk geschaffen, welches Kokoschka das Sinnlich- Ungeheuere seines Begehrens vor Augen führte.

Loos und Kokoschka materialisierten ihre erotischen Obsessionen bezeichnenderweise nicht (nur) als pornografisches Bild, sondern dreidimensional und taktil anregend. Eine Puppe, die man nach belieben manipulieren kann; ein heimischer Raum, in den man eindringen kann. Benjamin schreibt in Das Passagen-Werk: „Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist um so dringlicher, als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar.“18 Farès el-Dahdah bedient sich des Begriffes der „Junggesellenmaschine“ als Bezeichnung für einen Apparatus der Verführung, „a machine idly waiting for some force to make it work.“19 Auf Loos und Kokoschka übertragen, ist die Kraft, die den Apparatus zum funktionieren bringt, nicht die Verführbarkeit von Lina oder Alma, sondern die durch das Begehren hervorgebrachten Phantasmen.


1974 stellt die Schweizer Künstlerin Manon Das lachsfarbene Boudoir aus, ein intimes Environment, welches vorgeblich ihr Schlafzimmer darstellte. Die Wiederauflage der Arbeit 2006 im Swiss Institute New York schildert Andrea Kirsch wie folgt: „[S]he placed the entire contents of her maximalist and erotically-charged bedroom on display[…]; a satin and fur-covered bed at its center was surrounded by mirrors and every square centimeter of the room was covered with objects to indulge touch, taste, smell, sight, and that most erogenous organ, the mind; among the stuff which crowds the space are Colette’s novels, plastic lingams, seashells displayed vertically to emphasize their distinctly vaginal apertures, jewelry and clothing strewn about, a left-over plate of oyster shells, pictures of people she admires“20. Manon kreiert die Kunstfigur Manon, deren häusliche Umgebung sie in Kunst verwandelt der Öffentlichkeit präsentiert.

Der fiktiv-private Raum erinnert in seiner textilen Struktur Lina Loos’ Schlafzimmer. Manon treibt dessen Charakteristika jedoch durch den Überfluss anspielungsreicher Requisiten auf die Spitze. Hier inszeniert sich die Künstlerin als sexuelle Person, indem sie Klischees weiblicher Erotik appropiiert und als Ausstattungsobjekte versammelt. Bereits der Titel der Arbeit nimmt eindeutig Bezug auf das Boudoir des 18. Jahrhunderts, einen eher kleinen, jedoch elegant eingerichteten Raum, bei dem es sich um „einen Ort weiblicher Selbstdarstellung und nicht um ein männlich kontrolliertes Serail21 handelt. Die Herrin des Boudoirs bestimmt, wer hier Eintritt findet. Sie ist auch für die Innenausstattung zuständig.“22 Die charmant inszenierte Unordentlichkeit der Toilette war ein beliebtes Motiv in den modischen Gemälden der Zeit; verführerische Anspielungen finden sich in den kostümgeschichtlichen Begriffen des Negligé oder Déshabillé wieder. Einerseits wird das Boudoir als Sphäre definiert, an dem sich die sexuelle Macht der Frau entfalten durfte, und gleichzeitig zum Inbegriff von moralischer Dekadenz, welche die Liebe zum Verborgenen und Privaten auf die Spitze trieb.23 So ist das Boudoir ein Raum, der weiblich konnotiert ist, und in dem Frauen Gestaltungsfreiheit, ja gar Macht, zugesprochen wird, gleichzeitig ein Ort, der aufklärerischen, moralischen und gesellschaftlich fortschrittlichen Werten entgegensteht.

In Loos’ Zimmer trifft das Klaustrophobische des Rokoko-Boudoirs auf einem avantgardistischen Minimalismus; das Ungezähmte und das Abjekte werden in der Gestaltung kontrolliert. Es gibt drei Oberflächen in Loos’ Schlafzimmer, die nicht textiler Natur sind: die horizontalen Flächen der Nachttische und der Kommode. Diese scheinen mit Glasplatten belegt zu sein. Die aufgeräumte Strenge auf diesen einzigen benutzbaren Oberflächen und die ganzheitliche Reduktion macht deutlich, dass es sich bei Loos’ Schlafzimmer nicht um ein Boudoir handelt, trotz der erotischen Aufladung, die es mit dieser Art von Raum gemein hat. Es entspricht bei näherer Betrachtung eher dem oben erwähnten Serail. Die Vorhänge erinnern plötzlich an einen Stoff, den man über einen Käfig hängt, um eingesperrte Vögel ruhig zu stellen.

Isolation des Objektes der Begierde

„Un homme cultivé ne regarde pas par la fenêtre; sa fenêtre est en verre dépoli; elle n’est là que pour donner de la lumière, non pour laisse passer le regard.“24 Beatriz Colomina führt mit diesem Wortzitat Loos’ (nach Le Corbusier in seinem Buch Urbanisme) den Gedanken ein, dass in Loos’ Entwürfen oftmals Möbel oder Spiegel die Fenster blockierten oder Vorhänge Blicke versperrten.25 Darüber hinaus veranschaulicht sie, wie Loos vor allem im Haus Moller (1927) und der Villa Müller (1930) mittels Durchgängen, Öffnungen und variierender Höhen der Stockwerke den Blick leitet. Weiterhin wird der Körper im Raum skopophilisch eingerahmt, also die Schaulust, das Vergnügen am Sehen fördernd, was durch strategisch gesetzte Durchblicke noch gesteigert wird.

Der spekulative, nie realisierte Entwurf eines Hauses für den 22-jährigen Tanzstar Josephine Baker ist nicht nur äußerlich radikal (schwarze und weiße Marmorplatten sollten in horizontalen Streifen die Fassade bedecken), sondern vor allem in der Konzeption des innenliegenden Swimmingpools. Eine Galerie sollte parallel zu den beiden Längsseiten auf dem Niveau des Beckens gebaut werden; an einer der kurzen Seiten war ein Petit Salon geplant. Diese Flanierräume wurden mit Fenstern zum Inneren des Pools erdacht. Von einem Oberlicht beleuchtet, wäre die schwimmende Baker dadurch wie in einem Schaufenster – oder einer aquatischen Peepshow – ausgestellt; durch die Reflexionen auf der Innenseite der Pool-Fenster wären Außenstehende, ähnlich dem Effekt eines halbdurchlässigen Spiegels, kaum sichtbar. „The inhabitant, Josephine Baker, is now the primary object, and the visitor, the guest, is the looking subject. The most intimate space—the swimming pool, paradigm of a sensual space—occupies the center of the house, and is also the focus of the visitor‘s gaze.“26

Sowohl das Schlafzimmer von Lina Loos als das Haus „für“ Josephine Baker hat Loos zur Befriedigung seines eigenen ästhetischen wie erotischen Begehrens entworfen. Das Bild der schwimmenden Josephine Baker bereitet zwar Genuss, aber ruft nach Colomina auch die Kastrationsangst hervor, die vom „Anderen“ ausgeht: die Frau im Wasser als nicht fassbar und unkontrollierbar. Eine Strategie, diese Bedrohung zu verdrängen, ist die Fetischisierung.2727 Es zeichnet sich ein klares Bild der Frau ab, die Loos als Geliebte suchte: Tänzerisch-beweglich, selbständig-intelligent (seine drei Ehefrauen haben sich journalistisch betätigt und ihn zum Teil finanziell unterstützt), und beinahe gleichbleibenden Alters.2828 Als Objekt der Begierde wird die sehr junge, attraktive Frau verallgemeinert und exotisiert.29 Hirschfeld spricht von einer Teilanziehung oder partieller Attraktion, die bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und solche körperlicher Natur ausüben – und, Krafft-Ebbing zitierend, vom „individuelle[n] Fetischzauber“.30

Loos wurde nie von Baker mit einem Entwurf beauftragt, so kann man diesen als anzüglichen, wenn auch hochästhetischen, Fanbrief eines Verehrers lesen.31 El-Dahdah interpretiert das Bauwerk als imaginäre Verlängerung von Loos’ Tastsinn, um ihren abwesenden Körper begehren zu können.32 Ähnlich wie beim Schlafzimmer für Lina Loos ist die imaginierte Bewohnerin trotz ihrer Abwesenheit präsent: Man antizipiert als Betrachter:in des Raumes das Auftreten der Figur: Das Wunschbild einer nackten, schwimmenden Baker wird erzeugt, ebenso das einer sich räkelnden Lina Loos. Sowohl das Wasser als auch das Angorafell berühren den Körper auf imaginäre Weise.

Schlafzimmer und Verbrechen

Und dann stellt sich die Frage, welche Haltung wir zu den hinterlassenen Werken von einem verurteilten Sexualstraftäter einnehmen. Denn so sehr mich das ästhetische Universum des Schlafzimmers innerhalb des Loos’schen Gesamtwerks anregt, es als Ausgangspunkt für weitere Gedankengänge zu nehmen, so wenig ist es von der Hand zu weisen, dass dieser Raum, von eindeutig sexueller Natur, kaum vom Wissen um Loos, dem mutmaßlich Pädophilen, zu entwirren ist. Nicht nur wegen der sinnlich-erotischen Konnotation, die dieses Schlafzimmer besitzt.

Das Schlafzimmer im Allgemeinen ist ein mehrdeutiger Raum: Einerseits eine Stätte des Schlafes und der Ruhe, andererseits ein privater Bereich, in dem – im Gegensatz zu den öffentlichen und repräsentativen Räumen einer Wohnung – Nacktheit und Sexualität erlaubt sind und erlebt werden. Mit dem idiosynkratischen Schlafzimmer für seine erste Frau baut Adolf Loos ein Psychogramm, in dem er seine Vorstellungen von Geschlechtlichkeit Skulptur werden lässt. Die kupferne Vorhangstange umschreibt losgelöst von einem Bezug zur Architektur einen Raum im Raum. Das Haarige-Pelzige ist formal indifferent, unheimlich und dabei dem Tastsinn schmeichelnd. Das Podestbett kann als ein Altar der weiblichen Sexualität interpretiert werden, doch Anbetung ist hier nur eine Variante von Kontrolle. Die Vorhänge bedecken die Fenster nicht in voller Höhe und ermöglichen dadurch eine Blickachse von schräg oben in das Zimmer hinein. Sie lassen tagsüber ein gestreutes Licht in den Raum, aber verhindern knapp über Augenhöhe den Ausblick. Als Tageslichtraum konzipiert, steht die Frau darin, von der Zeit entrückt, in ebenmäßigem Schein gebadet, zur Verfügung.

Mit dem Wissen um Loos’ Gerichtsverfahren und die dadurch offengelegten Aussagen von Mädchen im Alter zwischen acht und zehn Jahren, sind die Vorhänge als Sichtblenden vor dem Außen zu lesen, um etwas zu verstecken. Sie dienen dazu, Geheimnisse zu bewahren, Taten, die nicht an das Licht der Öffentlichkeit dringen sollen, zu verbergen. Vielleicht wollte 1903 der noch lange nicht bestrafte und möglicherweise noch nicht tätig gewordene Loos etwas vor sich selbst verschleiern. Das Loos-Zitat „Das haus sei nach außen verschwiegen, im inneren offenbare es seinen ganzen reichtum“33 liest sich, wie auch das Schlafzimmers für Lina Loos, nach der Lektüre der Gerichtsakte, anders.

Dieser Raum, in den ich sinnlich-taktile Alternativen zu den Theorien des Blicks einziehen lassen wollte, ist ein Raum, in dem das Außen verdrängt wird, wo wahrscheinlich schon ein Vierteljahrhundert vor dem Fall Loos die Bedürfnisse anderer unterdrückt wurden – ein Schlafzimmer der Isolation. Isolation gibt die Möglichkeit zu kontrollieren, manipulieren, missbrauchen. Isolation lässt die Grenze zwischen dem eigenen und dem fremden Körper verschwinden. Isolation entzieht den Bezugsrahmen. Isolation sensibilisiert, wie eine Augenbinde, vielleicht kurzzeitig die Sinne, die auf die Nähe ausgerichtet sind, wie Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn; doch letztlich führt sie zu einer Desorientierung und einer Abstumpfung.

Biografie

Xenia Mura Fink

Xenia Mura Fink studierte an der Burg Giebichenstein in Halle, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und der Universität der Künste Berlin, wo sie 2009 ihr Studium als Meisterschülerin abschloss. Seit 2017 hat sie einen Lehrauftrag für Zeichnung an der Burg Giebichenstein. Außerdem promoviert sie an der Bauhaus Universität in Weimar. In ihrer künstlerischen Forschung bewegt sie sich im Spannungsfeld der Figuration, des Begehrens und des Blicks vor dem Hintergrund feministischer Diskurse. Die Zeichnung ist in ihrer Praxis das zentrale Medium. Xenia transformiert Zitate und Gesten aus der visuellen Kultur zu etwas Neuem, das jenseits des Formats geschieht.

Abb. 3: Xenia Mura Fink, Venus In Furs, 2020, Tinte auf Bristolkarton, 32 x 47 cm.

Poesie der Isolation bei Angelo Morbelli. „Il Natale dei rimasti“ von 1903 – Alexander Schuhbauer

Die Bilder des um 1900 arbeitenden, italienischen Künstlers Morbelli könnten in der Darstellung isolierter Menschen im Altersheim nicht aktueller sein. Morbelli verfolgt jedoch keine dokumentarische Strategie, um auf Missstände seiner Zeit aufmerksam zu machen, sondern er erhebt Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie.

„Niemand sollte im Alter allein sein, dachte er. Aber das ist unvermeidlich.“1

Eine Handvoll alter Männer, die sich in einem kargen Saal zusammengefunden haben. Die langen Reihen aus Holzbänken und Pulten sind größtenteils leer, wenngleich sie den Raum ganz und gar einnehmen und gewiss dutzenden Menschen Platz bieten würden. Einige der Männer ruhen oder schlafen im Sitzen, ein anderer wärmt sich stehend am Kamin. Niemand spricht, man hält Abstand zueinander. Es ist Winter, und so wurden Kissen auf die Bänke gelegt, die Anwesenden tragen außerdem zur Schiffermütze passende Paletots. Auch das einfallende Sonnenlicht wird inmitten dieser ruhigen, handlungsarmen Szene bisweilen als willkommene Wärmequelle begrüßt.

Abb. 1: Angelo Morbelli, Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 62 x 111 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.  Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853–1919, Mailand (GAM) 2019, S. 54.

Dieser erste Absatz könnte „in den jetzigen Zeiten der sozialen Distanz“2, wie es im Call zu vorliegendem Text heißt, ohne weiteres eine Szene aus einem zeitgenössischen Pflegeheim beschreiben. Schließlich häufen sich seit Ausbruch der sogenannten Corona-Pandemie, die besonders Italien in diesem Frühjahr schwer trifft, auch Berichte über die Isolation von Senior:innen in Pflegeeinrichtungen. Doch der einleitende Abschnitt beschreibt ein Gemälde des italienischen Malers Angelo Morbelli (1853 – 1919): das 1903 entstandene Il Natale dei rimasti (dt. Weihnachten der Zurückgebliebenen, (Abb. 1).3 Für die fünfte Biennale von Venedig gemalt, zeigt die Szene das Pio Albergo Trivulzio, eine noch heute bestehende Einrichtung für Senior:innen in Mailand, am Weihnachtstag.4

Es ist längst nicht das einzige Mal, dass Morbelli das Trivulzio als Sujet wählt. Im Laufe seiner Karriere entstehen über dreißig Ölgemälde, dazu Pastelle, Zeichnungen, Skizzen und Fotografien des Heims.5 Im Natale zeigt Morbelli dessen lavorerio, den Arbeitsraum.6 Das Gemälde ist Teil einer Serie von Weihnachtsbildern. So zeigen auch Giorno di festa al luogo Pio Trivulzio (1892, Paris), eine gleichnamige Version in Monza (1903, Collezione Roberto Pancirolli) sowie Un Natale! Al Pio Albergo Trivulzio (1909, Turin) einsame, alte Männer, die sich – im Abstand zu den wenigen übrigen Figuren im Bild – in einem der Arbeitssäle des Heims eingefunden haben, wo sie jedoch selbst zu Weihnachten nicht besucht werden.

Diese Fixierung auf ein Bildthema wirkt sich unweigerlich auf die Rezeption Morbellis aus. Bereits ein Jahrzehnt nach seinem Tod feiert ihn ein Nachruf, publiziert in der Stampa an Heiligabend 1929, als „pittore dei ‚vecchioni‘“7, Maler der Alten. Zuschreibungen dieser Art finden sich noch heute. Für David Gilmour, dessen populärwissenschaftliches Buch Auf der Suche nach Italien unlängst wieder in deutscher Übersetzung aufgelegt wurde, gilt Morbelli zum Beispiel als „der einfühlsame Chronist der Alten und Einsamen“8

Was Gilmour mit dem Attribut des Einfühlsamen zu beschreiben versucht, nämlich dass es Morbelli in Bildern wie dem Natale um mehr geht als die bloße Dokumentation einer Altenheimsituation um 1900, wurde von Zeitgenossen des Künstlers im Begriff der Poesie gefasst. Carlo Carrà zum Beispiel, demzufolge Morbelli ein beinah kultisches Verhältnis zur eigenen Kunst pflegte, erinnert sich lobend: „Particolarmente nei disegni dei vecchioni egli [Morbelli, Anmerkung des Verfassers] riesce a precisare la sua peculiare effusione umana e poetica.“9 Auch die Kunstkritik seiner Zeit hat immer wieder auf das Poetische in Morbellis Bildern verwiesen. Der Kritiker Ugo Ojetti schreibt im Anschluss an die Biennale 1903, Morbelli habe noch nie so „poeticamente evidente“10 gemalt und attestiert den dort gezeig- ten Bildern einen „soffio lirico“, einen lyrischen Hauch, der in der Stille der Szenen begründet liege. 11 Der Turiner Literat Enrico Thovez bezeichnet seine Bilder als „scene composte con poesia di luce“12, und auch Morbelli selbst bedient sich des Poesiebegriffes, etwa wenn er in seinen Aufzeichnungen, der zwischen 1912 und 1917 entstandenen Via Crucis del Divisionismo, Poussin paraphrasiert: „I colori nella pittura sono come i versi nella poesia“13 Nicht zuletzt trägt auch der Bilderzyklus auf der Biennale, in dessen Kontext das Natale dei rimasti zu sehen ist, den Titel Poema della vecchiaia, Gedicht vom Alter.14 Anhand des für diesen Zyklus zentralen Natale soll im vorliegenden Text also gezeigt werden, dass Morbelli das Leben, das er im Pio Albergo Trivulzio beobachtet, nicht bloß dokumentiert, sondern im Sinne der Kunst poetisiert. Dabei ist der Begriff der Poetisierung zwar als die künstlerische Durchdringung eines Themas, keinesfalls jedoch als dessen pittoreske Verharmlosung zu verstehen. Im Sinne Kerstin Thomas’, die ähnliches bei Georges Seurat beobachtet, zielen Morbellis Poetisierungsstrategien vielmehr auf „eine Manifestation gesellschaftlicher Wirklichkeit oder ‚Welt‘“15 ab.

Il Natale dei rimasti (1903)

Für seinen Beitrag zur Biennale von Venedig wählt Morbelli ein markantes Querformat. Er zeigt den grün getönten und schmucklosen lavorerio, der von ebenso einfachen Reihen aus Holzbänken und zugehörigen Pulten bestimmt wird. Diese laufen perspektivisch auf den in Schatten getauchten Hintergrund zu.16 Was Kerstin Thomas über Georges Seurats Ein Badeplatz, Asnières und Pierre Puvis de Chavannes’ Heiteres Land schreibt, gilt auch hier: „gedämpfte Stille statt lärmenden Trubels, Innehalten statt bunten Treibens, Dauer statt Flüchtigkeit.“17 In diese stille Szene bricht Tageslicht durch jenseits des Bildraums liegende Fenster, fällt auf die Bänke und Pulte des Vorder- und Mittelgrundes und erzeugt klare Helldunkel-Kontraste. Besonders anhand der hellen Partien offenbart sich Morbellis Maltechnik. Als Maler, der sich dem Divisionismus verschreibt – jener Malweise, die sich durch das Teilen (dividere) reiner Farbpigmente und ihren getrennten Auftrag in feinen, komplementärfarbigen Pinselstrichen zum Zweck größtmöglicher Leuchtkraft auszeichnet –, versetzt er die Bildoberfläche in einen flimmernden Zustand der Vibration (vibrazione).18 Daraus erwächst ein „Gefühl des Uneindeutigen“19. Zusammen mit der überaus raffinierten Lichtregie Morbellis und seinem Gespür für Komposition wird schnell der Eindruck untergraben, dass wir hier die bloße Dokumentation einer alltäglichen Szene in einem Pflegeheim sehen. Allein durch den Weihnachtsbegriff im Bildtitel hebt Morbelli das Dargestellte aus der Sphäre des Alltäglichen heraus.

Das Bild zeigt fünf männliche Figuren, die, wie eingangs erwähnt, nicht miteinander kommunizieren. Zwei der Männer sitzen nur schemenhaft erkennbar im Halbdunkel des Hintergrundes, wo sich ein dritter am einzigen Kamin im Raum wärmt. Das Augenmerk der Betrachter:innen liegt indes auf den beiden Figuren im Vordergrund, die vom einfallenden Sonnenlicht getroffen werden. Der Mann in der Bildmitte sitzt gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen vor einem nicht näher bestimmten Gefäß. Der weiße Schnurrbart unterstreicht sein Alter, ansonsten zeigt Morbelli keinerlei Interesse an physiognomischen Details. Der hintere der beiden Männer im Vordergrund ist genauso gekleidet und scheint zu schlafen, während Arme und Kopf auf dem Pult vor ihm ruhen. Die uniforme Kleidung der Bewohner, so Lara Pucci, erlaube es dem Künstler aufzuzeigen, „wie sich unterschiedliche Lichtverhältnisse auf unsere Farbwahrnehmung auswirken“20. Sie führt anschaulich aus: „Was im Schatten als schlammiges Grünbraun erscheint, verwandelt sich in den von der Sonne beschienenen Bereichen in ein goldenes Beige.“21 Betrachtet man die Kleidung des Mannes und die Pulte im Vordergrund aus der Nähe, fällt auf, dass dieser Effekt durch das Nebeneinandersetzen feinster, abwechselnd grüner und roter Pinselstriche gelingt (Abb. 2).

Abb. 2: Il Natale dei rimasti, Detail. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 53

Zudem steigert das Beimengen von Weiß in den sonnen- beschienenen Partien die Leuchtkraft (luminosità) des Gemäldes. Wenden wir uns dem Bild nun wieder als Ganzem zu, offenbart sich in Morbellis Lichtregie noch eine andere Qualität. Vor dem Hintergrund des Weihnachtsbegriffs im Bildtitel, der der Szene inhärenten Ruhe, der gefalteten Hände und der gebeugten Haltung der Figur im Vordergrund vermag das Licht die Assoziation eines Sakralraums hervorzurufen, auf dessen Bank- und Pultreihen sich zudem der kreuzförmige Schlagschatten der Fenstersprossen abzeichnet. Morbellis Zeitgenoss:innen teilten diese Assoziation offenbar. Enrico Thovez schreibt irrtümlich über das Bild, es zeige uns eine Kirche mit betenden Männern.22Diese in ihrem Kern durchaus treffende Beobachtung Thovez’, die ihn dennoch zu dem vorschnellen Schluss verleitet, Morbelli zeige uns anstatt eines Arbeitsraumes einen Sakralraum, ist bis in die Kunstgeschichte der Gegenwart hinein präsent. Im aktuellen Sammlungskatalog der Ca’ Pesaro – das Bild ist seit der Biennale 1903 im Besitz der Stadt Venedig – ist die Rede von der „proiezione di una croce, determinata dall’ombra degli infissi della finestra su uno dei banchi che sembra trasformato in un ‚altare‘ per il vecchio chino in un silenzio soraccoglimento.“23 Gleichwohl ist die hier getroffene Formulierung vorsichtiger, heißt es schließlich, das Pult wirke (sembra) wie ein Altar. In der Tat liegt dem Natale trotz seines einschlägigen Titels kein sakrales Sujet zugrunde, das klar zu benennen wäre. Schließlich können alle Bildelemente, die Thovez dazu veranlassen, von einer Kirche zu schreiben, auch profan gedeutet werden. Dass Zeitgenossen wie Thovez oder Calzini, der wiederum die „santa vecchiaia“24 der Figuren Morbellis beschreibt, dennoch gerade den sakralen Charakter der Szene betonen, muss andernorts begründet liegen – jenseits traditioneller Ikonografie. Meines Erachtens zeichnet sich das Bild durch die ihm inhärente Stimmung aus – nach Thomas ein poetisches Mittel, das hier eine sakrale Note erhält.25 

Morbelli ist also kein Maler, der schonungslos die zweifelsohne gegenwärtigen Probleme in einem Pflegeheim, wie Krankheit oder Tod, aufzeigt. Seine Figuren sind alt und einsam. Nur in Details, wie im Motiv des Mannes am Ofen, der uns als Versatzstück bei Morbelli immer wieder begegnet, wird indes angedeutet, dass sie frieren. Zudem tragen sie, durchaus angemessen für einen späten Dezembertag in Norditalien, Paletots. Das Gemälde schreit nicht auf, wie eine der ausgemergelten „mad women“26 in Telemaco Signorinis Bild des San Bonifacio-Heimes in Florenz (Abb. 3).

Abb. 3: Telemaco Signorini: La sala delle agitate al Bonifazio, 1865, Öl auf Leinwand (?), 66 x 59 cm, Venedig, Ca’ Pesaro, Galleria Internazionale d’Arte Moderna.
Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. MORBELLI 1853– 1919, Mailand (GAM) 2019, S. 4.

Oder wie es Luciano Caramel fasst: „Morbelli non guarda ai vagabondi, agli esclusi, alle vittime. Non v’è intenzionalità di denuncia, né di protesta.“27 In dieser Hinsicht treffend erscheint auch der Titel des gesamten Zyklus: Poema della vecchiaia. Auch hier, bezogen auf die Titelwahl, könnte man mit Caramel folgern: Non v’è intenzionalità di protesta. Dazu passen sowohl die „abitudini borghesi“ des Künstlers als auch seine Herkunft aus einer Familie von Kleingrundbesitzer:innen im piemontesischen Colma di Rosignano bei Casale Monferrato, einer Weinbauregion.28

Offenbar zielt Morbelli in seinem ruhig flimmernden Bild der Alterseinsamkeit auf einen größeren Zusammenhang „des menschlichen Daseins, der ‚conditio humana‘“29, wie es bei Annie-Paule Quinsac heißt. Diese These ist eng mit dem Begriff der Dauer verwoben. So schreibt Kerstin Thomas über Georges Seurat, dieser habe es sich zur Aufgabe gemacht, „sowohl ein Chronist seiner Zeit zu sein als auch ein Kunstwerk zu schaffen, das die Essenz dieser Zeit für die Dauer festhält“30. Auch der sechs Jahre ältere Morbelli entwickelt meines Erachtens malerisch-poetische Strategien, die auf Dauer zielen. Nicht ganz zufällig überschreibt er seine Via Crucis del Divisionismo mit dem leicht abgewandelten, hippokratischen Aphorismus ars longa vitae brevis – die Kunst ist lang, das Leben kurz.31 

Abb. 4: Angelo Morbelli: Schizzi al volo, fol. 45, 1901–02, Bleistift auf Papier, 9 x 13,5 cm, o. O. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Tra realismo e divisionismo, Turin (GAM) 2001, S. 30.
Abb. 5: Fotografia dell’Archivio Morbelli con la stanza più volte effigiata nei suoi quadri, ca. 1901-02. Abbildungsnachweis: Aurora Scotti: Un pit- tore per il Trivulzio. Angelo Morbelli, in: 200 anni di solidarietà milanese nei 100 quadri restaurati da Trivulzio, Martinitt e Stelline, hg. v. Paolo Biscottini, Mailand 1990, S. 151–156.

Um diese These zu stützen lohnt es sich, den Arbeitsprozess am Natale dei rimastinachzuzeichnen. Am Beginn dieses Prozesses stehen bei Morbelli Skizzen, die er Schizzi al volo nennt, wobei der Zusatz al volo – im Sinne des flüchtigen Duktus einer Skizze – augenblicklich bedeutet. Eine seiner Skizzen für das Natale zeigt eine in suchender Linie schraffierte männliche Figur mit charakteristischer Schiffermütze und Paletot, die mit verschränkten Armen den Kopf in Richtung einer miniaturisierten Frauenfigur unterhalb des Pultes vor ihm senkt. Diese scheint indes einer anderen Sphäre zugehörig. Die Bleistiftzeichnung in den Maßen 9 x 13,5 cm, die einem kleinen Skizzenbuch für die Jackentasche entsprechen, zeigt das Ausschnitthafte des Entwurfes. Dennoch weisen die Kreuzschraffuren, etwa am Kragen, bereits in Richtung der divisionistisch-vibrierenden Malweise des ausgeführten Bildes (Abb. 4). Hinzu treten Fotografien, derer sich Morbelli seit den 1880er-Jahren bedient.32 Unter den Künstler:innen, Intellektuellen und Literat:innen, die das Landhaus der Morbellis im Monferrato besuchen, ist auch der Fotograf Francesco Negri, dem es 1885 zum ersten Mal gelingt, das Cholera-Bakterium zu fotografieren.33 Unter dem Eindruck Negris richtet sich Morbelli eine Dunkelkammer in seinem Atelier in der Villa Maria ein.3434 Scotti veröffentlicht zwei Fotografien, die sie passend zu den Schizzi al volo in die Jahre 1901 und 1902 datiert (Abb. 5). Die hier abgebildete Aufnahme zeigt den nun bereits bestens bekannten lavorerio, ausgestattet jedoch mit den 1898 neuinstallierten Heizkörpern.3535 Das fertige Ölbild macht deutlich, dass Morbelli an diesen Umbauten kein Interesse zeigt. In der Fotografie, rechts oben an der Wand, ist zudem noch der Schriftzug FUMARE zu lesen, der wohl zu dem Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE gehört, der uns in einer quadrierten Vorzeichnung zum Natale begegnet (Abb. 6). Diese datiert aus dem Jahr 1902 und markiert den nächsten Schritt auf dem Weg zum ausgeführten Ölgemälde. Auch hier handelt es sich um eine Bleistiftzeichnung, allerdings in den monumentalen Maßen von 96 x 170 cm. Rechts unten liegen Zylinder, Mantel und Gehstock auf einem Pult, in der Bildmitte hängt eine Lampe von der Decke und links des Kamins ist das erwähnte Schild mit der Aufschrift VIETATO FUMARE, Rauchen verboten, angebracht. Vergleicht man dieses Blatt mit der ebenfalls quadrierten Pastellzeichnung (nicht abgebildet), die das Ölbild unmittelbar vorbereitet, sind diese Details verschwunden. Morbelli schreibt dazu:

„Col subordinare tutto il quadro ad un’unica e complessa visione, non preoccu- pandosi dei singoli dettagli del vero, e col divisionismo serrato ai colori puri per lecose vicine, ecco le due chiavi!? (Via Crucis, §55)“

In Morbellis Wendung des subordinare tutto […] ad un’unica e complessa visione, ohne sich in veristischen Details zu verlieren, klingt eine Einschätzung Mario Morassos an. Der Chefredakteur der Gazzetta di Venezia erkennt in Morbellis Poema della vecchiaia eine

„universalità a cui perviene la rappresentazione del Morbelli. Egli è penetrato così addentro nella costituzione, nella essenza dei suoi tipi, dei suoi vecchi e delle sue vecchie, ne ha sentito così distintamente il battito del cuore stanco, il ritmo della vita lenta, ne ha osservato così acutamente sotto tutti gli aspetti le pose inerenti alla loro grave età , alla loro condizione […] che non solo egli ci ha dato una riproduzione vera ed evidente di quiei tali vecchi raccolti in quell’ospizio, ma ha potuto altresì fare di ognuno di essi un tipo rappresentativo e di ogni scena lo schema generale di ogni vecchiaia […].“36

Diese künstlerische Strategie der universalità kann mit Morbellis Anspruch, Gemälde zu harmonisieren, in Einklang gebracht werden (vgl. Via Crucis, §17). Im ausgeführten Bild übermalt er gar noch die Figuren am linken Bildrand der Pastellzeichnung, wie Poldi mittels Infrarotreflektografie nachgewiesen hat.37 Die einzig verbliebenen dettagli del vero sind das nicht näher bestimmbare Gefäß vor der Figur in der Bildmitte, ein Schrank rechts im Hintergrund und der Kamin. Dass dieser für Morbelli ebenfalls entbehrlich ist, zeigt indes ein kleines Ölbild, das sich heute in der Collezione Roberto Pancirolli in Monza befindet (Abb. 7).

Abb. 6: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1902, Bleistift und Conté auf Papier, 96 x 170 cm, Privatsammlung. Abbildungsnachweis: Teresa Fiori (Hg.): Ar- chivi del Divisionismo, Bd. 2, Rom 1968, S. 28.

Dennoch geht Morbelli nie so weit, aus seinen Räumen ein beliebiges Altenheim zu formen. Der Begriff des Wahren steht mit seinen Poetisierungsstrategien also keineswegs im Widerspruch. Das verbindet ihn mit Zeitgenossen wie Seurat.38 Die bewusst gesteuerte Wiedererkennbarkeit der Trivulzio-Räume führt dazu, sie als etwas persönlich Vertrautes wahrzunehmen, zugleich führt das poetische Mittel der universalità zu deren Verallgemeinerung.39 Eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Quelle ist ein Brief Morbellis an seinen Freund und Kollegen Giuseppe Pellizza aus dem Jahr 1901, in dem er schreibt:

„Ho subito una tremenda illusione al Pio Trivulzio! tutto fu restaurato imbiancato sino al delirio, sparí quel giallume d’antico che armonizzava così bene col costume e incartapecorite faccie dei ricoverati!! i muri i plafoni tutto fu odiosamente imbiancato, disposizione banchi, cambiata, insomma un disastro […].“40

Morbelli missfallen also einige Veränderungen am Palast, in dem das Pio Albergo Trivulzio untergebracht war.41 Verschwunden sei der Gelbton der Wände, der Morbelli zufolge mit der Kleidung und den faltigen Gesichtern der Bewohner:innen harmoniert habe, die Mauern und Decken seien in einem hässlichen Weiß gestrichen und die Anordnung der Bänke geändert worden. Wütend schließt er mit den Worten: un disastro, ein Desaster. Offenkundige Fehler in der Groß- und Kleinschreibung, ausgelassene Wörter und doppelt gesetzte Ausrufezeichen untermauern seinen Ärger.

Der Brief an Pellizza zeigt, dass Morbelli in den Räumen des Trivulzio vor den Renovierungsarbeiten, die letzten Endes mehr Platz und damit eine vermeintlich höhere Lebensqualität für dessen Bewohner:innen bedeuten, eine Stimmung erkennt, die er für bildwürdig erachtet, während er später die sterilen weißen Innenräume herabwürdigt. Diese Haltung zu Veränderungen, die den Bewohner:innen zum Vorteil gereichen sollen, lässt den Schluss zu: Morbelli liegt mehr am Beobachten einer konkreten Stimmung und an der Entwicklung malerisch-poetischer Strategien, um diese ins Bild zu setzen, als an einer dokumentarischen Sicht auf die Situation im Heim oder gar am Anprangern derselben. Besonderes Interesse zeigt Morbelli dabei an der Isolation der Menschen im Trivulzio. Dies wird bei einem Schulterblick auf das zwei Jahre nach dem Natale entstandene Triptychon Sogno e realtà (dt. Traum und Wirklichkeit, nicht abgebildet) deutlich. Darin macht der Künstler von den Charakteristika des Bildträgers Gebrauch, um Frau und Mann gemäß den Bestimmungen der Heimverwaltung voneinander zu trennen. Insgesamt gilt für viele von Morbellis Trivulzio-Bildern, für die das Natale stellvertretend steht: Figuren werden – auf der Ebene der Komposition – voneinander getrennt und – bei gleichzeitiger Wiedererkennbarkeit des Trivulzio – aus ihrer Zeit heraus isoliert, indem Morbelli Details wie Heizkörper, Deckenlampen oder Verbotsschilder im Laufe seines Arbeitsprozesses aufgibt und das Endergebnis, das fertige Ölbild, mit seiner typisch-vibrierenden Malweise umfängt. Damit erhebt er Isolation in den Stand einer künstlerischen Poetisierungsstrategie. Vor diesem Hintergrund wünschenswert wäre, doch dies nur als Ausblick, das hier mittels des Poesiebegriffs angeschnittene Verhältnis Morbellis zur Literatur zu beleuchten. Schließlich treffen Gedichte aus dem Umfeld des Malers, wie Giovanni Cenas Vecchiaia sterile aus der Sonettsammlung Homo von 1907, einen ganz ähnlichen Ton wie dessen Bilder: „Chè solo augusta è la vecchiezza cinta / d’opere e di memorie, che s’adagia / benedicendo nell’eterna pace.“42

Abb. 7: Angelo Morbelli: Il Natale dei rimasti, 1903, Öl auf Leinwand, 35 x 55 cm, Monza, Collezione Roberto Pancirolli. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. Angelo Morbelli. Il poema della vecchiaia, Venedig (Ca’ Pesaro) 2018, S. 85.

Biographie

Alexander Schuhbauer

Alexander Schuhbauer machte seinen Master Abschluss in Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart. Bereits im Bachelor Studium setzte er seinen Forschungsschwerpunkt auf italienische Kunst der Moderne und entwickelte – auch durch sein Nebenfach Germanistik – sein Interesse an Text-Bild-Korrelationen. Die Verbindung dieser beiden Interessensfelder zeigt sich deutlich an der Thematik seiner Masterarbeit mit dem Titel Poesie des Alters: Angelo Morbelli malt das Pio Albergo Trivulzioin Mailand. Zwischen 2016 und 2019 hatte er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie bei Hans Dieter Huber an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart inne.

mulch – Helen Weber

Das gesprochene Wort hat im Vergleich zum geschriebenen Text abweichende Qualitäten und Wirkungen: Wir können die Augen schließen und unsere Vorstellungskraft walten lassen. Die Stimme ist stets gekoppelt an ein Individuum. Sie vermittelt eine Stimmung und eröffnet Beziehungsgeflechte – auch zum Zuhörer. Die Stimme kann während eines Textes variieren, sich von der Handlung distanzieren oder Nähe zulassen.

Jetzt schwingt die Stimme isoliert in einem unklaren, kontextfreien Raum – nur der Titel regt Assoziationen zu einem möglichen Setting an. Wie fühlt sich dieser Mulch an, wie riecht er, dämpft er unsere Schritte? Auch zeitlich ist das Geschehen zunächst schwierig einzuordnen. Handelt es sich um eine mittelalterliche Jagd oder ist es ein Ausschnitt aus dem aktuellen Zeitgeschehen? Die romantische Vorstellung der einsamen Jagd bricht mit der Realität.

Biografie

Helen Weber

Helen Weber studierte Bildende Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, davon ein Semester in Istanbul. Sie arbeitet individuell und kollektiv zwischen Innen- und Außenraum. Sie ist Teil des Schwäbischen Online-Albvereins, des kollektiv_mitteperformance und ROSANNAWIDUKIND. Sie wirft sich mit feldforscherischem Anspruch in Kontexte, woraus Videoinstallationen, Interventionen, Skulpturen und Texte entstehen. Seit Längerem gilt ihr Interesse den Widersprüchen des „Deutschen Waldes“, einer ideologischen Spielwiese voll Identitätsphantasien zwischen Survival, Volkstum und Naturschutz.