Fetisch und Pornotropika, 2024 – Sarah Gerdiken

HINWEIS: Dieser Beitrag enthält explizite, sexuelle Darstellungen. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Die künstlerisch-theoretische Arbeit Fetisch und Pornotropika, die im Rahmen der Abschlussarbeit Lilac Jerusalem 2023/2024 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart entstanden ist, befasst sich mit weiblich arabisch gelesener Sexualität im Stadtraum von Jerusalem. Das arabische Sexualitätsverständnis wurde durch westlich koloniale Fetischisierungsfantasien geprägt. Diese Fetische sind Vorstellungen, die im Rahmen von Fotografien und Zeichnungen in Europa vor allem Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Die arabische Frau wird in diesen Darstellungen übererotisiert und allein auf ihre Sexualität reduziert. Dass das arabische Sexualitätsverständnis von sich aus sehr farbenfroh und lebendig ist, wird in der Arbeit durch die Darstellungen des arabischen Bildbandes Der Parfumierte Garten aus dem frühen 15. Jahrhundert analysiert. Es sind Mechanismen des sog. “Orientalismus”, den Sarah in ihrer Arbeit sowohl textlich als auch grafisch herausgearbeitet hat, um auf stereotypische Frauenbilder aufmerksam zu machen.

Frauen wurden in der zentraleuropäischen Kunstgeschichte entweder als Sexgöttinnen gefeiert oder als Dämon:innen verschrien, als Held:innen auf ein Podest gesetzt oder rein mit der Mutterrolle assoziert. Der Orientalismus, also der eurozentristische Blick auf die Gesellschaft des arabischen Raums, schrieb der Sexualität von arabischen Frauen eine generelle Vorliebe für sadomasochistischer Praktiken, eine Faszination für das Markabre, sowie okkultische Handlungen zu. Inwiefern diese Vorstellungen das wirkliche Sexualitätsverständnis der arabischen Frau beeinflusst hat, untersucht der Text in drei Abschnitten.

Teil 1: Wie koloniale Fantasien den Sexualitätsdiskurs der arabischen Frau beeinflusst haben

Der europäische Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts hatte große Einflüsse auf die Sexualitätsdebatte der nicht-europäischen Frau. Diese imperialen Muster und den damit einhergehenden Missbrauch untersucht die simbabwisch-südafrikanische Gender- und Sexualitätsforscherin Anne McClintock 1995 in ihrem Buch Imperial Leather – Race, Gender and Sexuality. Ihrer Stellungnahme nach zu urteilen ist Gender hier also nicht nur eine Frage der Sexualität, sondern auch eine Frage der unterworfenen Arbeit und der imperialen Ausbeutung.1 McClintock geht auf die Strategien der Pornografisierung des weiblichen nicht europäischen Körpers ein und den sich aufbäumenden Kult der Domestizierung der Frau in Europa, der durch den Imperialismus auf die Kolonien angewendet wurde.

„Die Verweiblichung des Landes stellt ein rituelles Moment im imperialen Diskurs dar, da männliche Eindringlinge Ängste vor narzisstischer Störung abwehren, indem sie ein Übermaß an Geschlechterhierarchie als natürlich darstellen.“2

McClintocks Argumentation ist, dass sie im Feminismus mehr die Aspekte über Klassenzugehörigkeit, Race, Arbeit und finanzielle Möglichkeitsräume sieht, als die der Sexualität. Ihrer Meinung nach wurde die Sexualität der Frau durch den westlichen Imperialismus missbraucht, indem fetischisierende Praktiken zwischen einem zu erobernden Land und dem weiblichen Geschlecht gesetzt wurden. Insgesamt geht es um die generelle Verbindung von weiblichen Identitäten und der Idee der Versinnbildlichung von Nationalstaaten.

Abb. 1: Sexualisierte Fotographie einer verschleierten Frau aus Algerien, in: The Colonial Harem von Malek Alloula, 1986.
Abb. 2: Sexualisierte Fotographie von Frauen aus Algerien, in: The Colonial Harem von Malek Alloula, 1986.

„Gender ist hier also nicht einfach eine Frage der Sexualität, sondern auch eine Frage der unterworfenen Arbeit und der imperialen Ausbeutung; Race ist nicht einfach eine Frage der Hautfarbe, sondern auch eine Frage der Arbeitskraft, die durch das Geschlecht durchkreuzt wird.“

Durch die Darstellung des weiblichen Körpers anhand von Kartenmaterial des 19. Jahrhunderts veranschaulicht McClintock die patriarchalen Sichtweisen des Imperialismus. Ein Beispiel dafür ist eine Zeichnung des englischen Autors Sir Henry Rider Haggard in seinem Roman König Salomons Diamanten, in dem es um die Suche nach dem Schatz König Salomons geht. Der Autor ist ein Kind des viktorianischen Englands und natürlich selbst Produkt dieses patriarchal geprägten Herrschaftssystems.

Indem er eindeutig weibliche Geschlechtsmerkmale, z.B. anhand von „Sheba’s Breasts“, die als Bergkette dargestellt sind, auf seine Kartierung überträgt, abstrahiert Haggards Karte den weiblichen Körper als eine Geometrie der Sexualität, die durch die Technologie der imperialen Form gefangen gehalten wird.3 Ebenso begründet McClintock damit, dass in Haggards Karte die Diamantenminen gleichzeitig der Ort der weiblichen Sexualität (geschlechtliche Reproduktion), die Quelle des Schatzes (wirtschaftliche Produktion) und der Ort des imperialen Wettbewerbs (die Frage der Differenzierung von Race) sind.4

Abb. 3: Fotographie einer Frau die ihren Schleier ablegt aus Algerien, in: The Colonial Harem von Malek Alloula, 1986.

Die Darstellung von europäischem kolonialem Gedankengut ist in dem Sinne wichtig darzustellen, da diese Kräfte auch auf Jerusalem gewirkt haben. Haggard bedient sich, obwohl die Karte in Südafrika zu verorten ist, einem eindeutig biblischen Moment durch die Figur des Königs Salomon, der seinen Reichtum versteckt hat. Die eindeutige Fetischisierung des weiblichen Körpers in damaligem Kartenmaterial, zeigt sich auch durch die Darstellung von Monstern, Seeungeheuern, Kannibalen und Sirenen, gerade an Orten platziert, die man noch nicht erkundet hatte. Die Annahme, dass Sirenen als rein weiblich gelesen wurden greift auf ein altes biblisches Moment zurück. Die Frau wird als Hure Babylon, die die Hurerei als Mutter aller Sünden darstellt, gesehen und somit rein als Prostituierte reduziert.5

Auch die Bezeichnung „Jungfrauenland“ für unbekanntes Gebiet, war bis ins späte 19. Jahrhundert gängig. McClintock sieht hier eindeutig ein Scheitern des europäischen Wissens mit „Nicht-Wissen“ umgehen zu können und bezeichnet es ebenso als paradox, da man z.B. Kartendarstellungen dazu erhoben hat, eine gewisse Wissenschaftlichkeit zu generieren, diese aber stattdessen mit subjektiven Wahrnehmungen füllt. Oftmals wurde im viktorianischen England vom Mutter- und Jungfrauenland gesprochen, als dem Land was es zu erobern galt. So entstand, nach McClintock der Mythos des leeren Landes, in dem Frauen als Besitzgut betrachtet und die allgemeine indigene Bevölkerung als nichtexistierend gesehen wurden.6

„Nordafrikanische, nahöstliche und asiatische Frauen wurden nur allzu oft durch die Ikonographie des Schleiers eingeengt.“7

Als Beispiel hierfür sollten aus europäischer Sicht arabische Frauen in dem Sinne „zivilisiert“ werden, indem man sie vom Schleier lösen wollte, während man Subsahara-stämmige Frauen mit vor allem „britischer“ Baumwolle einkleiden wollte.

Abb. 4: Sir Henry Rider Haggard in König Salomons Diamanten, (1885) The Lay of the Land – Kartierung in Form eines weiblichen Körpers, in: McClintock, Anne, Imperial Leather – Race, Gender and Sexuality in the colonial contest, Routledge New York 1995, S. 13.

Teil 2: Sexualitätsverständnis der arabischen Frau

Der aus Tunesien stammende Soziologe Abdelwahab Bouhdiba, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt sich mit der Sexualitätsforschung im Islam auseinandersetzt, stellt die These auf, dass der Kolonialismus Zuträger für das Verschwinden der Sexualität im Islam war, da es zuvor eine offene, mit Selbsterfüllung verknüpfte Sexualität gab.8 Den heutigen Rückzug der Geschlechter und die Verlegung der Familie in den privaten Raum als Hauptaufenhaltsort, erklärt sich Bouhdiba durch die Reaktion der arabisch-muslimischen Gemeinschaft durch die von den Kolonialherren ausgehende soziokulturellen Entwicklungen und die daraus resultierende Verteidigung der wesentlichen Werte des Privatlebens.9 Er weist nach, dass Sexualität im Koran bei Frauen und Männern als gleichwertig aktiv gesehen wird und beide das Anrecht auf eine sexuelle Erfüllung haben.

Auch die türkische Menschenrechtsaktivistin und Psychotherapeutin Pinar Ilkkaracan bezieht sich in ihrem Artikel Women, Sexuality, and Social Change in the Middle East and the Maghreb auf Bouhdiba, indem sie Liebe und Sexualität im Islam so beschreibt, dass Lust und Verantwortung nebeneinander bestehen. Im Mittelpunkt steht ihre Beschreibung, dass der Islam anerkennt, hat, dass sowohl Frauen als auch Männer einen Sexualtrieb und ein Recht auf sexuelle Erfüllung haben. Ebenso erkennt der Koran auch an, dass Frauen ebenso wie Männer Orgasmen erleben dürfen. Sie argumentiert, dass im Gegensatz zur westlich-christlichen Kultur, in der muslimischen Kultur die weibliche Sexualität als aktiv anerkannt wird, eine Anerkennung, die bedrohliche Auswirkungen auf die koloniale Gesellschaft hat.10

Auf Bouhdiba beziehen sich bis heute verschiedene Historiker*innen in der Gender- und Sexualitätsforschung im arabischen Raum. So beispielsweise der israelische Historiker Dror Ze‘evi, der das gegenwärtige Nichtexistieren von Sexualität im Islam auf die Art und Weise erklärt, dass der Diskurs schon vor dem 19. Jahrhundert unterdrückt war und die koloniale Erfahrung dies nur verschärft hat.11

In seinem Artikel Hiding Sexuality – The Disappearance of Sexual Discourse in the Late Ottoman Empire beschreibt er, dass durch die kolonialen Einflüsse Europas zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts entsexualisierende Werte in den arabischen Raum geschwemmt wurden. Das bipolare Verständnis von Geschlechtern wurde z.B. in der Literatur neu verhandelt und auf stadtgesellschaftliche Räume wie Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Heime und Familien übertragen. Dies hatte vor allem Auswirkungen auf die Mittelschicht. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit des Osmanischen Reiches, wurde in Form von Gedichten und Kurzschriften am Sexualdiskurs teilgenommen, aber es wurde laut Ze‘evi verpasst, einen sich behaupteten Gegenentwurf zum europäischen Konzept zu entwickeln.

Ein Bespiel aus dieser Zeit kann das Erotikhandbuch The Perfumed Garden of Sensual Delights gesehen werden, welches durch die Übersetzung ins Französische 1850 auf ein großes Interesse im Europa des 19. Jahrhunderts stieß. Es beinhaltet neben Ratschlägen zum heterosexuellen Geschlechtsverkehr auch Hinweise, um Schwangerschaften frühzeitig zu erkennen und gleichgeschlechtlichen Sex zwischen Frauen. Im sich weiterhin entsexualiserenden Europa wurde diese Schrift exotisiert und wurde als Vorlage für sexuelle Fantasien gesehen. Trotzdem wurde Anfang des 20. Jahrhunderts ein Bild im arabischen Raum verstärkt, dass den Rückzug in den privaten Bereich, vor allem des weiblichen Geschlechts fordert, was man als Abgrenzung zur europäischen Kolonialisierung verstehen kann. Ze‘evi argumentiert, dass die Veränderungen im Sexualdiskurs in Europa nur das Ergebnis weitreichender sozialer, kultureller und politischer Veränderungen, einschließlich einer neuen Rolle der Frau im öffentlichen Raum, der Notwendigkeit einer stärkeren Kontrolle über die Bevölkerung, neuer Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit und neuer Vorstellungen von Privatheit waren.12

Abb. 6: Titelbild zu The Perfumed Garden of Sensual Delights / (dt.Der duftende Garten), Antoine Victor Edmond Joinville, dt. Des Sultans Lieblingsfrauen, 1841, Öl auf  Leinwand, 32 x 23,5 cm – arabisches Ehehandbuch, geschrieben im frühen 15. Jahrhundert, in: Richard Francis Burton: The Perfumed Garden of the Shaykh Nafzawi, Global Grey Books, (August 2023).

Teil 3: Orientalismus

Die Darlegung des arabischen Sexualitätsverständnisses führt zu der Frage, inwiefern westlicher Orientalismus die Wahrnehmung von Frauen im arabischen Raum und auch in Europa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beeinflusst hat. Das Wort „Orientalismus“ wird im europäischen Kulturkreis bis in die Gegenwart viel aber durchaus unbewusst verwendet. Dass es sich beim Orientalismus um ein vornehmlich westliches Gedankenkonstrukt handelt, das auf kolonialen Fantasien von Europäer:innen basiert, behandelt der amerikanische-palästinensische Literaturkritiker Edward Said, in seinem gleichnamigen Werk Orientalism.

Anhand von Analysen französischer und englischer „Abenteurerliteratur“ und der aufkommenden Verwissenschaftlichung des arabischen Raums in Form von “Orientalismusstudien” im 19. Jahrhundert, beweist Said eine strukturelle Unterdrückung und kulturelle Ausbeutung des europäischen Westens in Bezug auf den arabischen Raum. Seine Grundthese ist, dass mit der europäischen Besetzung des arabischen Raumes und der Bezeichnung des Orientalischen eine Hierarchisierung einhergeht, die den arabischen Raum als irrational, verdorben und kindlich präsentiert darstellt. Europa im Gegensatz wird als rational, tugendhaft, reif und letztendlich „normal“ angesehen.13 Die Differenz zwischen dem Vertrauten (Europa, der Westen, „wir“) und dem Fremden (der Orient, der Osten, „sie“), ist für Said eine der grundlegenden Annahmen für den aufkeimenden Orientalismusbegriff.

Die Sexualisierung des weiblich arabischen Körpers in Form von Literaturschriften und Illustrationen von Europäer:innen im 19. Jahrhundert hat nach Said auch dafür gesorgt, dass der arabische Raum generalisiert und mit perversen Fantasien assoziiert wurde. Orientalischer Sex wurde in Europa zur Massenware und in Literatur und Kunst als Zufluchtsort gesehen, um seinem eigenen grauen Alltag in Europa entfliehen zu können, ohne jemals im Orient gewesen zu sein.14

Dieser sexuelle Eskapismus wurde unterstützt durch Klischees wie Harems, Prinzessinnen, Prinzen, Sklaven, Schleier, Salben usw., die ein Kontrastbild zum europäisch steifen Sexualitätsverständnis zeichnen.15

Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821-1880)  trug laut Said durch seine theatralischen Beschreibungen des weiblichen Körpers z.B. in Werken wie Salammbô von 1861 dazu bei, dass der Orient als sexuelle Verheißung aber auch durch seine „Irrationalität“ als Gefahr gesehen wurde.16 Zusammengefasst wird die fiktive weibliche Hauptfigur Salammbô im Rahmen eines Söldneraufstandes in den ersten Punischen Kriegen in Karthago ihres „Schleierkleides“ bestohlen und stirbt am Ende des Romans auf mysteriöse Weise. Das Symbol des Schleiers ist hier nur ein Stilmittel für Flauberts Sexualisierung des weiblichen Körpers.

Said bestätigt wie McClintock die Theorie der Verinstitutionalisierung und des Verbietens des „freien Sex“ in Europa. Sex war mit rechtlichen, moralischen, ja sogar politischen und wirtschaftlichen Verpflichtungen verbunden.17

Die von Said angedeutete Selbstreferenzierung des Orientalismus im 20. Jahrhundert durch Klischees, Bezüge und wiederkehrende Merkmale begründet sich in Werken des italienischen Literaturkritikers Mario Praz aus einer Gemeinschaft von Autoren zu denen auch Flaubert zählte. Er ordnet sie einer Gruppe zu, die Bilder exotischer Orte, die Kultivierung sadomasochistischer Vorlieben, die Faszination für das Makabre, die Vorstellung von der Schicksalsfrau, die Geheimhaltung und des Okkultismus von Männern gegenüber Frauen erhalten.18

Während in Frankreich eine literarische Verarbeitung von Orientreisen in Form von Prosaerzählungen und Gedichten stattfindet, sind im viktorianischen England Übersetzungen aus arabisch-sprachigen Schriften von englischen Reisenden des Orients überliefert. Einer der Vertreter dafür war der Afrikaforscher, Orientalist und Politiker Sir Richard Burton.

Mit der Veröffentlichung Pilgerfahrt nach Medina und Mekka im Jahr 1853 und der Übersetzung aus Geschichten aus Tausend und eine Nacht. Gerade im ersterwähnten Werk betont er stets, wie er sich mit seinem westlichen Wissen in der Fremde behaupten konnte.19 Er behauptet, dass „Ägypten ein Schatz ist, den es zu gewinnen gilt“, dass es „die verlockendste Beute ist, die der Osten dem Ehrgeiz Europas bereithält, nicht einmal das Goldene Horn ausgenommen“.

Burton’s Übersetzung von Geschichten aus Tausend und eine Nacht ist mit Illustrationen des französischen Malers Edmund Dulac herausgegeben worden. Frauen werden in Klischees, sexualisiert, dämonisiert oder den Männern gegenüber meist durch unterwürfige Gesten dargestellt. Die folgenden eigenen angefertigten Collagen stellen Dulacs Ilustrationen und deren verschiedene Frauentypen dar.

Abb. 7: Eigene Collage aus Edmund Dulacs Illustrationen zu Stereotypen der arabischen Frau, die immer eine sexuelle, dämonisierende oder kümmernde Zuschreibung beinhalten.

Die Darlegung von europäischen kolonialen Strömungen im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden lokalen Verschiebung des arabischen Sexualitätsdiskurses stellt Gründe für ein gegenwärtigen Status Quo im arabischen Raum dar. Eindeutig ist, dass das 19.Jahrhundert ein Zeitraum war, in dem sich die orientalische Wahrnehmung auf die arabische Frau im europäischen Raum verstärkt hat. Said und McClintock liefern mit ihren Schriften Beweise dafür, dass Klischees und Vorteile über die Sexualität der arabischen Frau bis in die Gegenwart bestehen. Es ist essenziell, klischeehafte Darstellungen hervorzuheben, hinterfragen und aufzuarbeiten, um eine reflektierte Wahrnehmung voranzutreiben.


Biografie

SARAH GERDIKEN studierte Architektur in Stuttgart, Tallinn und Jerusalem und arbeitet in ihrer Praxis vor allem an der Schnittstelle zwischen feministischer Stadtplanung und Landschaftsarchitektur. Geprägt wurde diese Haltung unter anderem durch die Mitarbeit für das Studio Urbane Strategien, den Lehrstuhl Stadtplanung und Entwerfen der Universität Stuttgart, das Current Festival Kunst und Urbaner Raum, sowie aktuell für studio.erde in Berlin. Die Erforschung weiblich gelebter Sexualität in Stadträumen stellt für Sarah einen großen Themenschwerpunkt in ihrer Arbeit dar.

Zum Höhepunkt geschaukelt?, 2024 – Hannah Rathschlag

Die Schaukel avancierte spätestens im 18. Jahrhundert zur versteckten Metapher für Lust und Sex. Die vermeintlich unschuldige Darstellung schaukelnder Paare in üppig bewachsener Natur ist gespickt von erotischen Anspielungen und offenbart geschlechtsspezifische Dynamiken. Hannah Rathschlag nutzt die Analyse dieser zweideutigen Darstellungen als Ausgangspunkt für die Betrachtung später entstandener Werke von Kiki Kogelnik, Carolee Schneemann und Monica Bonvicini, die das Motiv der Schaukel in ihren Arbeiten wieder aufgreifen. Der kunsttheoretische Artikel hebt ebendiese drei Pionierinnen in ihrer jeweiligen Interpretation des „Zum-Höhepunkt-Schaukelns“ hervor und ordnet die Arbeiten Kogelniks und Schneemanns in den Kontext der Feminismus-Debatten der 1960er Jahren ein, um so das damit verbundene neue Verständnis von Sexualität zu beleuchten. Zugleich sollen Bonvicinis Liebesschaukeln einen Bezug zur Enttabuisierung von sexuellen Themen im 21. Jahrhundert herstellen und die Verlagerung der Sexschaukeln aus dem Privatraum in den öffentlichen Ausstellungsraum veranschaulichen.

Die innerhalb der Kunstgeschichte wohl bekannteste Szenerie mit einer Schaukel präsentiert sich in Jean-Honoré Fragonards (1732–1806) Les hasards heureux de l’escarpolette, besser bekannt als The Swing (ca. 1767–1768) (Abb. 1). Dank des Anschwungs durch einen älteren Mann, der oftmals als ihr Ehemann interpretiert wird, gerät die Dame auf der Schaukel dynamisch in eine vor- und zurückschwingende Bewegung, wodurch ihr Schuh ihrem Fuß in hohem Bogen entgleitet und ihre Gewänder sich durch den Luftzug aufbauschen. Die Aufmerksamkeit der Schaukelnden gilt jedoch dem erwartungsvoll vor ihr im Gebüsch liegenden Liebhaber, der seinen Blick unter den hochfliegenden Rock zwischen ihre gespreizten Beine richtet. In der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts stand das Schaukeln im Freien oft im Zusammenhang mit romantischen und erotischen Gefühlen und galt besonders in der vermeintlichen Abgeschiedenheit einer üppig bewachsenen Natur als ein beliebter Zeitvertreib zweier Liebenden.16 

Abb. 1: Jean-Honoré Fragonard, Les hasards heureux de l’escarpolette (The Swing), ca. 1767–1768, Öl auf Leinwand, 81,0 x 64,2 cm, London, The Wallace Collection. Abbildungsnachweis: Yuriko Jackall: „The Swing“ by Jean-Honoré Fragonard: New Hypotheses, in: The Burlington Magazine 166 (Mai 2024), Abb. 2.

Bei Fragonard ist die Rolle der dargestellten Frau von Passivität geprägt, da diese sich trotz ihrer kraftvollen, Anschwung holenden Haltung in einer Abhängigkeit befindet, in der sie dem Rückzug des hinter ihr befindlichen Mannes ausgeliefert ist. Dieser kann sie mit zwei an der Schaukel befestigten Seilen zurückziehen und ihre Bewegung auf diese Weise bewusst lenken. Zudem bestimmt er aktiv Höhe, Geschwindigkeit und die zeitliche Dauer des Schaukelns und übt so Kontrolle über die Schaukelnde aus. Die im Gemälde zur Schau gestellte Rollenverteilung aus passiver Frau und aktivem Mann kann ebenfalls metaphorisch als Verweis auf bestehende Machtverhältnisse und als Hinweis auf die Rollenverteilung, gesellschaftliche Normen und Restriktionen der weiblichen Sexualität innerhalb der damaligen häuslichen Sphäre gelesen werden.19 Dagegen weisen der losgelöste Schuh und der sich aufbauschende Rock, der auf ‚unanständige‘ Manier die Beine der Frau entblößt, auf ein aufbrausendes, sinnliches und spontanes Verhalten in der Liebe und damit auf eine vermeintlich sexuelle Freiheit und Lust der Schaukelnden hin. Die Skulptur des Amors im Bildhintergrund mit einem an die Lippe haltenden Finger, in Anspielung auf Étienne-Maurice Falconets L’Amour menaçant, verdeutlicht jedoch, dass sich diese Szenerie nur im Heimlichen zwischen den zwei Liebenden abspielt.20 Für beide Männer im Bild, Ehemann und Liebhaber, ist die Schaukelnde bei Fragonard Objekt der Begierde und wird sowohl von diesen als auch von den Betrachtenden mit voyeuristischen Blicken beobachtet. 

            Besonders im Rokoko entwickelte sich das Schaukeln zu einer Metapher für Lust und Sex.21 So steht auch bei Fragonard die Schaukel sinnbildlich für das erotische Flirten der Liebenden.22 Wenn auch die bildlichen Darstellungen von Schaukeln nach dem Schaukel-Boom im Rokoko in den folgenden Jahrhunderten etwas nachließen, so ist in künstlerischen Positionen des 20. und 21. Jahrhunderts wieder ein verstärktes Interesse an der Motivik des ‚erotisierten Schaukelns‘ festzustellen. Im Folgenden werden neben Arbeiten von Kiki Kogelnik23 (1935–1997) und Carolee Schneemann24 (1939–2019), die als künstlerische Auseinandersetzung mit der Women’s liberation movement zu verstehen sind, auch Werke von Monica Bonvicini25 (*1965) betrachtet, die jüngst das Schaukelmotiv neuartig in Ausstellungsräumen erlebbar und haptisch erfahrbar machte. 

Angekettetes Schwingen

Abb. 2: Kiki Kogelnik, Untitled (Swing), 1969–1970. Abbildungsnachweis: Antonia Wagner: Feminismus und Konsum, Dissertation, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Heidelberg 2020, S. 138.

Die österreichische Künstlerin Kiki Kogelnik griff das Schaukelthema in der Grafik Untitled (Swing) von 1969­–1970 (Abb. 2) auf. Die Grafik zeigt einen mit Ketten an einem Schaukelgestell befestigten Unterkörper, dessen gespreizte Beine nur fragmentarisch dargestellt sind und unterhalb der Oberschenkel in zur Befestigung dienenden Ösen enden. Diese Anbringung lenkt den Blick unverblümt auf Genital und After. Feine Linienschraffuren deuten Schamhaare an. Den Betrachtenden wird ein stern- bzw. blumenförmiger After entgegengestreckt, dessen Gestaltung stark den im unteren Bilddrittel auf der Wiese wild wachsenden Pusteblumen ähnelt. Solch eine Motivik zeigt sich auch in Kogelniks Grafik Swing in Central Park von 1970 (Abb. 3).26

Abb. 3: Kiki Kogelnik, Swing in Central Park, 1970, Acryl und Tinte auf Papier, 65,1 x 49,9 cm, Kiki Kogelnik Foundation. A-KHZH-2. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Wien 2023, S. 178; Kat. 104.

Hier hängen anstelle der üblichen, brettartigen Schaukelflächen vier fragmentierte menschliche Gesäße – in gleicher Gestalt wie bei Untitled (Swing) – an Ketten von einem Schaukelgestell herab und strecken den Betrachtenden After und Vulven entgegen. Scheinbar in ihrem Schwung erstarrt, sind die Gesäße in unterschiedlichen Höhen hängend dargestellt. Die verspielte Pusteblumenwiese ist verschwunden, wodurch die Szenerie durch die fehlende Bodenbepflanzung Kälte, Tristesse und eine unterschwellige Aggressivität ausstrahlt. Im Hintergrund befindet sich ein Gitter als Begrenzung und wiederum dahinter lassen sich dünne, geschwungene Umrisslinien von Hecken oder Bäumen erkennen. Der Gitterzaun im Hintergrund gibt dem erotischen Spielplatz seine räumliche Grenze. 

            Sowohl in Untitled (Swing) als auch in Swing in Central Park fehlen den Körperteilen Gliedmaßen. Auch fällt die Absenz anderer Menschen auf, die die Schaukeln anstoßen können. Die fragmentierten Körperteile sind in beiden Grafiken lediglich umrissene Silhouetten und erinnern in ihrer Darstellungsweise an Ausschneidefiguren oder Schablonen aus Modezeitschriften. Solche schablonenartigen Körper zum Ausschneiden können in Zusammenhang mit Kogelniks Arbeiten der 1960er Jahre gebracht werden, in denen das Motiv der Schere als Symbol des Haushaltes, aber auch als Waffe der Frau aufgegriffen wird. Der Körper wird dabei oft als formal-reduzierter Cut-Out gezeigt, so beispielsweise bei Kogelniks Hangings, bei denen es sich um Ausschneidefiguren aus bunter Plastikfolie handelt, die auf Garderobenständern hängen.27 Kogelniks Schaukeln hängen in Form von Körperteilen, losgelöst von den restlichen Gliedmaßen, an dem Schaukelgestell und werden somit ‚zweckentfremdet‘, indem sie als Schaukelbrett eingesetzt werden. Dadurch werden sie zu Objekten und wirken entmenschlicht. Kogelnik entscheidet sich zudem bewusst für die Präsentation von Unterkörpern, nämlich Gesäße und Hüften, die, anders als andere Körperteile wie Hände und Füße, geschlechtsspezifisch sind. Kogelnik offenbart Vulven und besonders den Anus deutlich und hebt damit die (weiblichen) Lustorgane hervor.28 Der Fokus auf die Repräsentation des Anus überrascht zudem. Während der Hintern in der Kunstgeschichte auf eine Tradition als erotisch-schönes Körperteil (wie bei der Aphrodite Kallipygos) zurückblicken kann, stellt die Repräsentation des Anus doch eine Seltenheit, beinahe ein Tabu-Motiv, in bildlichen Darstellungen dar.  

            Gleichwohl wirken die Gesäßschaukeln durch ihre Fragmenthaftigkeit, ihre harten Konturen und das ‚Angekettet-Sein‘ leblos, starr und objektifiziert.29 Die angeketteten, zerlegten und mit den Schenkeln nach oben zeigenden Gesäßschaukeln erwecken zudem Assoziationen zu Tierkadavern in einem Schlachthaus. Nebeneinander aufgereiht lenken sie den Blick direkt, beinahe aggressiv und brutal auf die sich öffnenden und zur Schau gestellten Körper. Der Mensch, ähnlich wie ein geschlachtetes Tier, wird auf den Körper und das Fleisch reduziert und zur (Massen-)Ware objektifiziert. In den 1960er Jahren wurden Frauenkörper in Medien und Werbung als Objekt zur Schau gestellt. Die Reduktion auf geschlechtsspezifische Körperteile in Swing in Central Park betont diese Kommerzialisierung und Objektifizierung von Frauen.30 Die weiblichen Körper, die hier wortwörtlich angekettet sind, können als Kritik an den starren Rollenbildern der Frau als Ehefrau und Mutter verstanden werden. Besonders die Referenz zum Spielplatz, auf welchem sich primär Mütter um ihre Kinder kümmerten, macht die Rollenreduktion der Frau in den 1960er Jahren besonders deutlich. Kogelniks Grafiken spielen mit ebendieser reduzierten Repräsentation und Rollenzuteilung von Frauen in der Gesellschaft. Die unverblümte Präsenz der gespreizten Vulven kann somit als Bildhaftigkeit weiblicher Lust gedeutet und als aktive, konsumierende Teilhabe von Frauen verstanden werden. Damit reiht sich Kogelnik in die beginnende Zweite Frauenbewegung der 60er Jahre ein.31

            Wer bewegt nun eigentlich die schaukelnden Gesäße? Obwohl die Schaukel bei Fragonard fremdgesteuert wird, könnte bei ihm die Schaukelnde theoretisch jederzeit abspringen. Kogelniks Körperfragmente hingegen sind angekettet und bereits mit den Ketten verwachsen. Ihnen fehlt jede Möglichkeit, sich selbst in Bewegung zu setzen. Sie werden von ihrer Umwelt bewegt und sind jeglichem Werkzeug zur Befreiung aus dieser Passivität beraubt. Möchte sich eine Person zum Schaukeln hinsetzen, so würde sie auf dem nackten, entblößten Schoß der Frau Platz nehmen. Auch wenn fraglich bleibt, ob diese Schaukeln zur Benutzung verfügbar sind, wird bei Kogelniks Grafiken ersichtlich, dass jeder potenzielle Schaukelakt ein Übergriff auf den festgebundenen, sich präsentierenden Körper wäre. Die zur Bloßstellung verdammten Gesäße legen daher Machtstrukturen und die Passivität der weiblichen Lust offen. Vulven und After werden zum frei konsumierbaren Objekt männlicher Lust. Womöglich will Kiki Kogelnik den Betrachtenden aber auch wortwörtlich einen Anstoß verpassen und aufzeigen, dass die weibliche Lust spielerisch – daher das Motiv und Medium der Schaukel – erlebbar ist und an die Frauen appellieren, ihre Körper selbstständig in Schwingungen und zum Höhepunkt zu versetzen.

Mit Schwung über die Leinwand

Abb. 4: Carolee Schneemann, Up to and Including Her Limits, 13–14. Februar 1976, New York, The Kitchen. Abbildungsnachweis: Performanceausschnitt, Foto: Sheiley Farkas Davis, in: Ausst.-Kat. Carolee Schneemann: Up To And Including Her Limits, New York (The New Museum of Contemporary Art) 1996, S. 1.

Kiki Kogelnik und ihre amerikanische Künstlerkollegin Carolee Schneemann verband neben der Ateliernachbarschaft in New York während der 1960er Jahre das Aufgreifen des Schaukelmotivs in ihrer Kunst.32 In Up to and Including Her Limits (1973–1976) (Abb. 4) bewegte sich Schneemann nackt, nur an einem Harness befestigt, über ausgelegtes Papier. Mit farbiger Kreide in der Hand zeichnete sie ihre Bewegungen unter und um sich nach, wobei ihre eigenen Schaukelbewegungen sie lenken und die Richtung für die Malbewegung bestimmen. So erschuf Schneemann ihre ‚kinetic paintings‘. Sie führte Up to and Including Her Limits neun Mal als Performance auf und beließ anschließend den hängenden Harness und die mit bunten Farbspuren versehene Wand- und Bodenfläche als Installation.33 Auch wenn das nackte Schaukeln an einen erotischen, pornografischen Akt erinnert, ist es doch eine spezifische Antwort auf den male gaze.34 Die Künstlerin sah die Absicht ihrer Performance nicht in der Befriedigung des männlichen Blickes, sondern als ein bewusstes Sich-Entgegenstellen. Mit Up to and Including Her Limits ist ihr Körper mehr als bloßes Objekt und entzieht sich der kunsthistorischen Tradition des passiven weiblichen Aktes als Objekt der Begierde von Männern.35 In ihren ‚kinethic paintings‘ wurde sie durch das schwingende Bewegen in ihrem schaukelnden Harness zur aktiven Produzentin von Kunst. Der Harness – ein Fetischaccessoire der BDSM-Szene („Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“) – ermöglicht, ähnlich einer klassischen Schaukel, ebendiese schwingenden Bewegungen. Die Befestigung an einem Seil machte es Schneemann zudem möglich, sich abseits der Vor- und Zurückbewegung in einem 360° Radius im Kreis zu bewegen. Sie musste sich nicht mit den Händen festhalten, sondern hatte diese frei zur Verfügung. Schneemann nutzte jeden Winkel, den sie innerhalb ihres Radius erreichen konnte, und streckte sich bei ihrer Perfomance, um auch an weit entfernte Maloberflächen zu gelangen. Diese dynamische Streckbewegung erinnert an den ausgestreckten Fuß der Schauklerin bei Fragonard und steht in ihrer freien Beweglichkeit in einem klaren Gegensatz zu den angeketteten Gesäßen Kogelniks.

            Schneemanns ‚kinethic paintings‘ sind vor allem als Antwort auf die hypermaskuline Szene der Action Painters zu verstehen – besonders als Gegenposition zu Jackson Pollocks (1912–1956) Drip Paintings, die von Kunstkritikern als Ausdruck männlicher Ejakulation gelesen wurden.36 Schneemann griff auf die Schaukel zurück, um das Kunstverständnis vom männlichen Künstler als Produzenten von Kunst durch ihr eigenes Kunstschaffen aus den Angeln zu heben, oder besser gesagt, in ihre eigene Angel zu hängen. Auch hier wird anhand des Schaukel-Motivs das Verhältnis von Aktivität und Passivität, wie auch bei Fragonard, eindeutig thematisiert. Anstatt bloß passives Objekt zu sein, bemächtigt sie sich selbst ihrer Schaffenskraft.37 Ihr Körper wird zum produzierenden Medium und sie dadurch, von diesem untrennbar, zur aktiven Produzentin.38

In Lack und Leder schaukeln

Wie auch Carolee Schneemann bedient sich Monica Bonvicini (*1965) in ihren Installationen einer Formsprache und Ästhetik aus der BDSM-Szene. Ihre ortsspezifischen Installationen wie The Fetishism of Commodity (2002) oder Never Again (2005) bestehen aus metallenen und ledernen Sexschaukeln und Hängematten, die die Besuchenden durch den eigenen Körpereinsatz in Bewegung setzen. 

Abb. 5: Monica Bonvicini, Never Again, 2005, verzinkte Stahlrohre, schwarzes Leder, schwarze Ledergürtel, verzinkte Ketten, Klemmen, 350 x 1600 x 1100 cm. Abbildungsnachweis: Foto: Rikke Luna; URL:  https://monicabonvicini.net/never-again-2/ (05.01.2024).

Bei Never Again (Abb. 5) wurden zwölf schwarze, lederne Liegen mit Stahlketten an einem aus Metallrohren bestehenden Gerüst nebeneinander hängend installiert. Einzelne Metallketten hingen dabei zudem von dem Gestell zum Boden herab. Der Mensch fehlt hier zunächst. Diese Leerstelle wird jedoch in der Interaktion mit den Besuchenden gefüllt. Bei Never Again, welches 2005 im Hamburger Bahnhof ausgestellt war und auch 2023 auf der Art Basel präsentiert wurde, konnten sich die Besuchenden in die Schaukelkonstruktionen legen.39 Auf diese Weise war es ihnen möglich, das glatte Leder während des Liegens am Rücken zu spüren und dem metallenen Klirren der Ketten zu lauschen. Während bei einer Schaukel zunächst an eine hölzerne oder an eine rote Plastikversion, befestigt an einfachen Seilen, gedacht werden mag, orientiert sich Bonvicini mit ihrer Materialienauswahl von glattem Leder und kaltem Metall bewusst an Sexschaukeln aus der BDSM-Szene.40 Zugleich wirken Bonvicinis Schaukeln aufgrund der hochwertigen Materialien sowie ihrer Präsentation im musealen Raum wie Möbelstücke oder Designobjekte und werden dabei ästhetisch aufgewertet. Bonvicinis Sexschaukeln erlauben durch die doppelte Verkettung nur eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Zugleich erinnert das wortwörtliche „Sich-in-Ketten-Legen“ an BDSM-Praktiken.41 Diese Assoziationen von inszenierter Bestrafung in sexuelle Praktiken wird bewusst hergestellt. Die Sexschaukel – als Hilfsmittel für das Lustspiel der Befriedigung – wird durch die Präsentation im Ausstellungsraum und durch das In-Aktion-Treten der Besucher*innen aus ihrem ursprünglichen Kontext genommen und zu einer Spiel- und Ruheoase umfunktioniert. 

            Die Schaukel erscheint daher als ein Medium, das Grenzen überschreitet und mit sozialen Konventionen bricht. Dies zeigt sich bei Fragonard an der Schaukelnden, die sich auf den Liebhaber hinbewegt und trotzdem von ihrem Mann immer wieder zurückgehalten wird. Bonvicini jedoch durchbricht Grenzen, indem sie die Sexschaukeln – sexualisierte Objekte des privaten Gebrauchs und Hilfsmittel intimer Sexfantasien – in die Öffentlichkeit verlagert und die Ausstellung zu einem Wohnzimmer und einer Spielwiese des Begehrens macht. Dadurch vermag Bonvicini einen sozialen, gemeinschaftlich erlebbaren und interaktiven Raum zu erschaffen, in dem das Vor-und-zurück-Schwingen zu einem massentauglichen Ausstellungsevent wird. Mit der expliziten Zurschaustellung von Sexualpräferenzen und den damit verbundenen Fetischobjekten provoziert sie Sehgewohnheiten eines konservativen und bürgerlichen Museumspublikums und bricht mit veralteten, starren Konventionen.42

Schaukel, Lust und Ekstase

Die Schaukel bzw. das Schaukeln lässt sich also als tradiertes Motiv in der Kunstgeschichte feststellen. Kiki Kogelnik griff die Schaukel im Medium der Grafik auf, Carolee Schneemann verwendete sie als Hilfsmittel in ihren Performances und Monica Bonvicini machte sie zu eigenständigen Designobjekten ihrer Installationen. Während die Schaukelnde bei Fragonard dem male gaze ausgesetzt ist, wenden sich die Arbeiten der drei Künstlerinnen gegen diese Betrachtungsweise des Schaukelns und verarbeiten das Motiv auf unterschiedliche Weise in feministischen Arbeiten. Bei Kogelnik scheinen die Gesäßschaukeln trotz fehlender Beine und damit ohne eigentlichen Anschwung zu schaukeln. Schneemann schwingt selbst nackt über die Leinwand, führt dabei Malbewegungen aus und bewirkt so ihr aktives Kunstschaffen. Bonvicini lässt schließlich die Ausstellungsbesuchenden auf den Sexschaukeln vor- und zurückschaukeln und diese können, um dem Schaukelvokabular treu zu bleiben, selbst zum Höhepunkt schaukeln. 

            All diese Arbeiten eint, dass sie stark mit Körperlichkeit, vor allem mit dem weiblichen Körper und dessen Objektifizierung, verbunden sind. Auch Bonvicinis zunächst menschenleere Installationen erwecken bei den Besuchenden das Bedürfnis, diese Leerstelle durch den eigenen Körper zu füllen und die Schaukeln in Bewegung zu setzen. Mit einem neuen Verständnis gegenüber der Auslebung von Sexualität und der Enttabuisierung sexueller Themen im Zuge der Feminismusdebatten seit den 1960er Jahren wird die Schaukel zur Projektionsfläche der sexuellen Emanzipation und Befreiung. Die Schaukel dient bei Bonvicini, Schneemann und Kogelnik, wie auch einige Jahrhunderte zuvor bei Fragonard, als Schauplatz, Austragungsort und symbolisch aufgeladenes Objekt, an dem das jeweils zeitgenössische Verständnis von Lust, Sexualität, Rollenbildern und sexueller Auslebung reflektiert wird. 


Biografie

HANNAH RATHSCHLAG hat Kunst- und Bildgeschichte und Klassische Archäologie in Berlin (Humboldt-Universität zu Berlin), Rom (Università Roma Tre) und München (Ludwig-Maximilians-Universität München) studiert. In ihrer Masterarbeit in Klassischer Archäologie widmete sie sich diversen Kopfbedeckungen in der antiken Bilderwelt. Ihre Kunstgeschichtsmasterarbeit mit dem Titel „Lively Mitchell im LIFE-Magazin. Abstrakte Expressionistinnen und ihre (Re-)Präsentation am Beispiel von Joan Mitchell“ untersuchte die zeitgenössische Rezeption Abstrakter Expressionistinnen unter Berücksichtigung genderperspektivischer und feministischer Methoden. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Antikenrezeption in der Kunst, sowie Fotografie und Malerei des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie war unter anderem in der Photothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München tätig. Seit Mai 2024 arbeitet sie als wissenschaftliche Volontärin am Historischen Museum der Pfalz in Speyer.

Nur gucken, nicht anfassen … Helmut Newtons „HERE’S LOOKING AT YOU“ von 1991. Über die ökonomisch-ästhetischen Strategien des Playboys und die Grenzen erotischer Fotografie, 2024/2025 – Niklas Koschel

Niklas Koschel untersucht in seinem Text Nur gucken, nicht anfassen … Helmut Newtons HERE’S LOOKING AT YOU von 1991 Über die ökonomisch-ästhetischen Strategien des Playboys und die Grenzen erotischer Fotografie die Grenzen und Möglichkeiten erotischer Fotografie. Ausgangspunkt seiner Analyse ist Helmut Newtons Serie HERE’S LOOKING AT YOU, die 1991 in der Januar-Ausgabe des U.S. Playboy veröffentlicht wurde. In seinem Text widmet sich Koschel der Konstruktion von Blicken, Machtverhältnissen und dem Einfluss ökonomischer Strukturen auf die Darstellung des Erotischen. Dabei verknüpft er kunsthistorische und medientheoretische Diskurse, um zentrale Fragen an die Darstellbarkeit von Sex und Erotik zu stellen.

Abb. 1: Playboy-Magazin, HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on
voyeurism, Januar 1991, mit Fotografien von Helmut Newton, entnommen aus: HERE’S LOOKING AT YOU – A masterturns his eye on voyeurism, in: Playboy, Jan. 1991, URL: https://www.iplayboy.com/issue/19910101, (Zuletzt abgerufen am: 15.06.2024), S. 86-93.
Abb. 2: Playboy-Magazin, HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on
voyeurism, Januar 1991, mit Fotografien von Helmut Newton, entnommen aus: HERE’S LOOKING AT YOU – A masterturns his eye on voyeurism, in: Playboy, Jan. 1991, URL: https://www.iplayboy.com/issue/19910101, (Zuletzt abgerufen am: 15.06.2024), S. 86-93.

Im Begleittext zu den insgesamt acht Fotografien der Fotostrecke HERE IS LOOKING FOR YOU – a master turns his eye on voyeurism (Abb. 1–4), die in der Januarausgabe 1991 im Playboy-Magazin erschien, heißt es verheißungsvoll: „Helmut Newton is a man in search of erotic emergencies. When we asked him if he would like to explore voyeurism – that most personal of photographic tasks – he responded with the images you find on these and the following pages.“43 In Auftragsarbeit des Playboys soll Helmut Newton dem Kerngeschäft des Magazins nachgehen und erotische Bilder produzieren, die sich mit dem Themenfeld voyeuristischen Sehens auseinandersetzen. Die inhaltlich unzusammenhängende Serie verhandelt verschiedene Formen und Situationen der Schaulust. In einem dichten Netz aus Blicken in und aus dem Bild heraus, porträtiert Newton hier Beziehungsweisen zwischen Fotograf, Betrachtenden und Modell. Den Abschluss der achtteiligen Fotoreihe bilden zwei Fotografien als inhaltliches Duo. Helmut Newton, der vor allem als Mode- und Werbefotograf tätig war, wiederverwertet hierfür bereits zwei Jahre zuvor entstandene Fotografien, die für die Publikation im Magazin adaptiert werden.44 Sie bilden den  narrativen Abschluss der Serie.

Abb. 3: Playboy-Magazin, HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on
voyeurism, Januar 1991, mit Fotografien von Helmut Newton, entnommen aus: HERE’S LOOKING AT YOU – A masterturns his eye on voyeurism, in: Playboy, Jan. 1991, URL: https://www.iplayboy.com/issue/19910101, (Zuletzt abgerufen am: 15.06.2024), S. 86-93.
Abb. 4: Playboy-Magazin, HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on
voyeurism, Januar 1991, mit Fotografien von Helmut Newton, entnommen aus: HERE’S LOOKING AT YOU – A masterturns his eye on voyeurism, in: Playboy, Jan. 1991, URL: https://www.iplayboy.com/issue/19910101, (Zuletzt abgerufen am: 15.06.2024), S. 86-93.

Während die vorangegangenen sechs Fotografien inhaltlich grundsätzlich lose verschiedene Darstellende in abweichenden Settings zeigen, sind in Video Man and Woman Videoed (Playboy) (Abb. 5) und Closed T.V. Circuit (Playboy) (Abb. 6) dieselben Protagonist:innen im selben Raum zu verorten.

Abb. 5: Helmut Newton, Video Man and Woman Videoed (Playboy), Januar 1991, Fotografie im Playboy-Magazin (USA), entnommen aus: Playboy-Magazin, HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on voyeurism, Januar 1991, mit Fotografien von Helmut
Newton, entnommen aus: HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on voyeurism, in: Playboy, Jan. 1991,URL: https://www.iplayboy.com/issue/19910101, (Zuletzt abgerufen am: 15.06.2024), S. 92.
Abb. 6: Helmut Newton, Closed T.V. Circuit (Playboy), Januar 1991, Fotografie im Playboy- Magazin (USA), entnommen aus: Playboy-Magazin, HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on voyeurism, Januar 1991, mit Fotografien von Helmut Newton,
entnommen aus: HERE’S LOOKING AT YOU – A master turns his eye on voyeurism, in: Playboy, Jan. 1991, URL:https://www.iplayboy.com/issue/19910101, (Zuletzt abgerufen am: 15.06.2024), S. 91.

Zudem versteht sich letztere Fotografie in unmittelbarer Nähe zu Video Man and Woman Videoed (Playboy) erzählerisch als Fortsetzung beziehungsweise beinahe als Antwort auf die in der zuvor präsentierten Fotografie gestellten Frage. Die insgesamt ohnehin nur lose thematisch zusammenhängende Fotostrecke und der offensichtliche Zusammenhang der beiden letzten Fotografien ermöglichen es, diese in näherer Analyse aus dem Gesamtzusammenhang zu lösen und separat behandeln zu können. In den finalen Fotografien setzt sich Newton nicht nur mit den Betrachtenden des Magazins sowie seiner eigenen, persönlichen Rolle als Fotograf auseinander, sondern scheint sich zwangsläufig auch mit den Problemen hinsichtlich der Grenzen und Möglichkeiten erotischer Fotografien per se zu beschäftigen, die zudem zu einer Reflexion der ökonomisch-ästhetischen Strategien des Playboys einladen. Im Mittelpunkt der zwei Fotografien über das Sehen, die Lust am Sehen und die Reproduktion des Gesehenen steht nämlich vor allem derAspekt der medialen Unerreichbarkeit dessen, was gezeigt wird.

HERE’S LOOKING AT YOU

Der schmale Zuschnitt der Fotografie von Video Man and Woman Videoed (Playboy) führt uns nah an den Vorgang einer erotischen Aufnahme heran. In einem abgedunkelten Raum zeigt sich eine grell ausgeleuchtete, bis auf helle Stöckelschuhe unbekleidete, schlanke Frau und ein über ihr stehender bekleideter Mann, der sie filmt. Die Frau befindet sich in der Pose eines Rückenstützes. Ihre Körperumrisse sind durch den deutlichen Kontrast zum Umraum scharf und kantig, ihre Haut makellos, fast brillant. Eine mögliche Anstrengung ist dem Model trotz der nahezu akrobatischen Pose nicht zu entnehmen. Den Kopf wirft sie ekstatisch in den Nacken und mit lasziver Miene und leicht geöffnetem Mund blickt sie direkt, fast fordernd, auf die Betrachtenden. Hinter der unbekleideten Frau erwächst aus dem Dunkel des Hintergrundes der bekleidete Mann mit Filmkamera in vorwärts gewandter Schrittstellung. Das Wechselspiel von Positiven und Negativen, das voyeuristische Sehen und das exhibitionistische Gesehenwerden als dramaturgische Einheit, scheint das augenfälligste Merkmal dieser Fotografie zu sein.45 Das umgebende Interieur der Szenerie intendiert einen Zeitsprung in die Vergangenheit und stellt einen deutlichen Gegensatz zu den Protagonist:innen dar. Deutlich markiert der abgebildete Raum eine Schwelle jenseits regulärer Alltagserfahrung und hindert weiter durch das ausgebrannte Fenster im Hintergrund an einem möglicherweise kontextstiftenden Ausblick.

In der Folgefotografie Closed T.V. Circuit (Playboy) erkennt man denselben Mann, dessen Erscheinung an Playboy-Gründer Hugh Hefner erinnert, nun in einen Samtmantel gehüllt vor einem Fernseher. Durch seine dicke Hornbrille im Havanna-Look blickt er auf einen Bildschirm, auf dem das zuvor durch den Videografen aufgezeichnete Bild der Frau zu sehen ist. Die Betrachtenden der Fotografie tun es dem Mann gleich. Sie blicken ihm, den sie nur aus dem Profil erkennen, über die Schulter, sodass ihr Blick nahezu frontal auf das unscharfe, von einem Röhrenraster durchzogene, televisionelle Abbild der Frau fällt. Der Mann steht so nah am Bildschirm, dass seine Reflexion auf der Mattscheibe wie ein drohender Schatten auf das Abbild der Frau fällt. Seine Hand berührt das Display in Höhe ihres Oberschenkels gerade so, dass der Blick auf den Intimbereich der Frau frei bleibt und förmlich unterstrichen wird. Von den Knien abwärts ist der restliche Körper der Frau vom wiedergegebenen Bildausschnitt abgeschnitten. Dies ändert die Wahrnehmung ihrer Persona drastisch. Nicht länger beständig und eisern im Rückenstütz verhaftet, liegt die Frau nun mit halb aufgerichtetem Oberkörper auf dem musterreichen Teppich. Erschien uns die Pose des Models im Vorgängerbild noch stark und selbstbewusst, wirkt sie aus dieser Perspektive durch ihre Körperhaltung eher verschreckt – fast so als wöllte sie vor der aufdringlichen Berührung und dem steinernen Blick des Filmemachers zurückweichen. Ihr Mund ist nun geschlossen, ob sie in Richtung Betrachtende oder Filmemacher blickt, ist nicht länger ersichtlich, die Mimik ist ausdruckslos. Das fordernde, laszive Moment ist ihrem Antlitz entwichen. Regungslos scheint das Gesicht nunmehr dem einer neutralen Hülle zu gleichen.

Das prekäre Moment fotografierter ‚Wirklichkeit‘

Die deutliche Bezugnahme in der Komposition von Video Man and Woman Videoed (Playboy) auf eine Filmszene aus Michelangelo Antonionis Blowup46 (Abb. 7a und b), bildet für die Analyse der Fotografie den motivisch zentralen Referenzpunkt. Deutlich wird gerade durch diese Bezugnahme, dass auch Newton die erotische Fotografie vor allem mit dem Diskurs um den referentiellen Charakter der Fotografie verknüpft und in Folge die Verlässlichkeit des indexikalischen Moments innerhalb der Fotografie eindrücklich infrage stellt.

Abb. 7a: Michelangelo Antonioni, Blowup, Shooting-Situtaion zwischen Thomas und Veruschka (1), a: Action Still bei Minute 9:11, b: ActionStill bei Minute 9:35 aus: Antonioni, Michelangelo (Regie): Blowup (Video-on-Demand, 111 min), WARNER BROS., Großbritannien/Italien, 1966.
Abb. 7b: Michelangelo Antonioni, Blowup, Shooting-Situtaion zwischen Thomas und Veruschka (1), a: Action Still bei Minute 9:11, b: ActionStill bei Minute 9:35 aus: Antonioni, Michelangelo (Regie): Blowup (Video-on-Demand, 111 min), WARNER BROS., Großbritannien/Italien, 1966.

Der Plot von Blowup dreht sich um Thomas, einen Modefotografen im London der 60er-Jahre, der während eines Streifzugs durch einen Park ein Paar fotografiert. Beim Vergrößern der Abzüge entdeckt er im Hintergrund eine Pistole, einen Mann im Gebüsch und schließlich die regungslose Leiche des Liebhabers unter einem Baum. Thomas glaubt Zeuge eines Mordes geworden zu sein, doch die Realität entzieht sich ihm immer mehr. Die entscheidenden Abzüge werden gestohlen und das verbliebene Bild der Leiche, durch die extreme Vergrößerung stark verfremdet, erinnert eher an ein abstraktes Gemälde als an eine dokumentarische Aufnahme. So besteht das Bild, das den Ausgang eines Verbrechens zu zeigen schien, nunmehr aus flirrenden Punkten und verwaschenen Flächen (Abb. 8).

Abb. 8: Michelangelo Antonioni, Blowup, Nur schwer erkennbares Blow Up, Action Still bei Minute 1:19:35, in: Antonioni,Michelangelo (Regie): Blowup (Video-on-Demand, 111 min), WARNER BROS., Großbritannien/Italien, 1966.

Als Thomas zurück in den Park geht, ist die Leiche verschwunden. Die Grenzen zwischen Realität und Illusion verschwimmen endgültig als er sich in der Endsequenz einem imaginären Tennisspiel anschließt, bei dem das Unwirkliche plötzlich greifbar scheint.

Zentral im Korpus der Fragen nach Wahrnehmung, Wirklichkeit und Wahrheit der Kamera steht in Blowup das Verhältnis von Zeichen zu Bezeichnetem. Der Film verhandelt dabei sowohl die Zeugenschaft analoger Fotografie auf der Ebene des Inhalts als auch die Zeugenschaft des Films auf der Ebene als rezipiertes Medium. Damit knüpft Antonioni an den für die Fotografie von Anbeginn so wesentlichen Diskurs um ihre Referentialität an. Aufgrund ihrer technischen Disposition wird dieser unter den darstellenden Künsten ein besonderes Verhältnis, eine direkte Kontaktbeziehung, zur außerbildlichen Realität nachgesagt.47 Aufgrund ihrer physikalisch-chemischen Funktionsweise, in der Licht durch die kleine Öffnung einer Blende über je variable Zeiträume auf ein lichtempfindliches Trägermaterial fällt und sich dort einschreibe, wird der Kamera eine unterschiedslose Wahrnehmung attestiert. Die fertigen Fotografien würden sich sodann durch einen beständigen, korrelativen Spurencharakter der abgebildeten Dinge auszeichnen. Im Wesentlich bedeutet das: Jede Fotografie beinhalte einen bildhaft analogen Verweis auf das, was war. Die Vorstellung, etwas habe sich auf dem lichtempfindlichen Träger analog, durch das fotografische Verfahren ‚eingebrannt‘, nachdem es faktisch vor der Linse stattgefunden und somit wahr sei, bestimmt auch von Beginn an die Faszination rund um den fotografischen Akt. Durch die medial inhärenten Konnotationen der Fotografie das Reale transportieren zu können oder zumindest auf dieses in direktem Zusammenhang zu verweisen, unterscheide sich beispielsweise auch Solomon-Godeau zufolge die erotische und pornografische Fotografie von vorangegangenen Formen erotischer Bildwerke wie Drucke oder Lithografien.48 Eine präzisere Analyse des aus der Piercschen Zeichentheorie entlehnten Begriffs der Indexikalität aber verdeutlicht, dass dieser in seiner maßgebenden Semantik einer diskursiven Überhöhung unterliegt und der Reiz erotischer Fotografie auch andere Gründe haben muss. Wie Miriam Lewandowsky und Martin Doll unabhängig voneinander aufzeigen konnten, ist Pierces Konzept des indexikalischen Zeichens rein technisch zwar zentral, aber nicht unmittelbar bedeutungstragend. Der Index wird erst durch die Interpretation zugänglich, da er auf einem logischen, nicht ästhetischen Kausalverhältnis beruht.49 Ohne Wissen über die Entstehungsbedingungen der Fotografie kann er nicht als solcher wahrgenommen werden. Während der Index die Einschreibung von Lichtdaten beschreibt, liegt die Verbildlichung und das Erfassen des Bilds im Bereich des ikonischen Sehens, das auf Ähnlichkeit beruht. Die Bedeutung des Zeichens ist also eine, die radikal abhängig vom Kontext seines Erfassens ist.50 So lässt sich zusammenfassend sagen, dass jedes Erkennen im Fotografischen ein Wiedererkennen ist und die nachgewiesene Präsenz noch lange nicht eine nachgewiesene Erscheinung beglaubigen muss.51 Das verdeutlicht auch Antonionis Spielfilm.

Erst in der inhaltlichen Verkettung von narrativen Codes kann das Bild des Fotografen in seiner Zeugenschaft aktiviert werden – ohne die Möglichkeit einer ikonischen Identifizierung hingegen bleibt es völlig nutzlos. Die Vergrößerung des Bildes gibt für den Protagonisten also nur vermeintlich Details her, da sie die Erzählung des Gesehenen stützt. Losgelöst vom Wissen um die Begegnung im Park und der persönlichen Sichtung der Leiche verweist die Fotografie auf nichts mehr, das ikonisch eindeutig zu erkennen ist. Indem sich Helmut Newton in seinem Rekurs auf Blowup explizit auf eine sexualisierte Szene bezieht, die am Anfang des Filmes steht, lässt sich das Prekariat des Indexikalen auch in Hinblick auf das Problem erotischer Fotografie anwenden. Die betreffende Szene, beginnend bei Minute 7:12, zeigt das Mode-Shooting zwischen dem Hauptcharakter und Veruschka, Gräfin von Lehndorf, einem bereits in den 60er Jahren äußerst bekannten, deutschen Model, das sich im Film selbst spielt. Die Szene, die als Filmstill vor isoliertem Hintergrund auch auf dem Filmplakat (Abb. 9, 7b) zu sehen ist, zeigt den Fotografen und das Model in einem zur sexuellen Handlung verklärten Akt des Fotografierens.52

Abb. 9: Filmposter, Blow-Up (GB/IT 1966. Regie: Michelangelo Antonioni), red style, 144
× 200 cm, entnommen aus: wikipedia.org, URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Blowup#/ media/File:Blowup_poster.jpg, (Zuletzt abgerufen am: 16.06.2024).

Auch wenn Helmut Newton, seinerseits Modefotograf, das Model vom Fotografen in abgewandelter Form – nämlich aus einer scharfen Profilachse und in stilisierter Form – ablichtet, ist die klare Bezugnahme nicht von der Hand zu weißen. Die relativierte Zeugenschaft fotografischer Prozesse durch Antonioni und die motivische Übernahme durch Newton wirft die Frage auf wie die erotische Fotografie alternativ oder zusätzlich wirkt, wenn nicht allein durch ihre Indexikalität und das damit reizvoll verbundene Versprechen einer unmittelbaren Nähe.

Linda Williams bietet – in Kritik an Solomon-Godeau – eine körperbezogene Alternative zur Beharrlichkeit des erotischen Bildes und sieht dessen Bedeutung in der „Verführungskraft“ der „[…] akuten körperlichen Empfindungen […]“53, die sie auf die körperliche Dimension optischer Apparate zurückführt.54 Die wissenschaftlichen aber auch unterhaltungstechnischen Entwicklungen des 19. Jahrhundert transformierten das Verhältnis von Subjekt und Welt, wobei das Stereoskop – besonders prominent – ‚das Blicken‘ in ein ‚ich blicke‘ wandelte und eine neue „körperliche Dichte des Sehens“55 schuf, wie Baudelaire es nannte. Williams spricht in diesem Kontext von einer „[…] neue[n] masturbatorische[n]‚körperlichen Dichte des Sehens‘“56, die nicht nur vom Bildinhalt, sondern von der körperlichen Erfahrung selbst geprägt ist. Das theatralisch entfernte und von den Betrachtenden distanzierte Verhältnis zum Objekt löst sich auf und stattdessen wird das Spektakel zu einem nahbaren und vor allem im körperlichen Feld der Rezipieren den verorteten Erfahrung. Erotische Fotografie erzeugt so eine leibliche Relation zwischen Betrachtenden und ihrem eigenen Körper.

Subjekt, Bild und Zumbildgewordenen

Das komplexe Seh-Spiel das Newton den Betrachtenden im Playboy vorführt, verhandelt sowohl seine künstlerische Praxis, die distributiven Organe des Playboys als auch die konkrete (Blick-)Position derer, die den Fotoessay im Playboy konsumieren. Die phänomenologische Verschränkung von Sehen und Gesehenwerden gilt spätestens seit Jacques Lacans berühmter Vorlesung Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse als zentrales Element einer Annäherung an die Verflechtung von Subjekt, Bild und Zumbildgewordenen.57 Für den Protagonisten, der sehnsuchtsvoll an der Mattscheibe seines Sony-TVs klebt, handelt es sich bei der Videowiedergabe um nicht weniger als seinen ganz konkreten, zuvor noch durch die massive Filmkamera kanalisierten, eigenen Blick. Helmut Newton scheint uns so vor Augen führen zu wollen, was den Reiz an der erotischen Fotografie ausmacht. Nämlich der eigene Blick, auf das eigens betrachtete Bild. Ob in der elektronischen Übersetzung im Fernseher, oder als Fotografie oder Video: Das eigentliche Interesse am erotischen Bild scheint ein Blick zu sein, der den jeweils Betrachtenden gehört und auf sie als Betrachtende zurückfällt. Damit führt Newton den Betrachtenden deutlich vor Augen, dass sie nicht nur sehendes Subjekt, sondern auch gesehenes Objekt sind. Das was Newtons Fotografie als blickendes Bild ausmacht, ereignet sich nicht allein durch den buchstäblichen Blick des fotografierten Models aus dem Bild heraus in Richtung Betrachtende. Andreas Cremonini macht hierfür, angelehnt an Jacques Lacan, auch auf den sprachgeschichtlichen Zusammenhang von Blick und Lichtreflexion, beziehungsweise Glanz und Glance aufmerksam, der konkret performative Ausmaße annehmen kann.58 Die Flüchtigkeit des Glanzes, der auf einen subjektiven Standpunkt verweise und ein Ereignis bezeuge, verführe den Blick. Der Glanz sei hierbei immer auf eine Ursache zurückzuführen und eröffne „[…] eine Art ‚Rein-Raus-Spiel‘: Der Bewegung des Eintauchens in die Tiefe des Glanzes antwortet eine Bewegung des Entgegenkommens des Lichts.“59 Es belebt das Bild und weiter das Empfinden der Betrachtenden. Der Glanz verstärkt das Bewusstsein für den eigenen Blick, initiiert es vielleicht sogar erst und begründe eine Art Emanzipation des angeblickten Objekts als Nun-Blickendes.60 Ausgelöst durch die abgebildete Lichtreflexion im Bild – den Glanz – durch das schimmernde Hersteller-Logo und die Spiegelung des Videografen als auch einer möglichen Reflexion der physischen Magazinseiten in den Händen der Leser:innen, wird das Bild belebt. Im Rezeptionsmodus des Magazins begegnen sich Motiv sowie Haptik und Materialität des Bildträgers, um ein reizvolles Prekariat zu erzeugen. Sie begründen den Reiz des Bildes, den Blick des Bildes auf einen selbst und den Schutz vor diesem Blick.

Im Wechselspiel aus Sehen und Gesehenwerden, wollen die Betrachtenden mit den Augen sehen, was das Bild scheinbar bereit ist zu zeigen; durch den auf sie selbst zurückgeworfenen Blick aber, wenn nicht in Gänze verdeckt, mindestens ausbremst.61 Durch eine„[…] Beobachtung von Beobachtungen […]“ 62, nehmen die Betrachtenden die Repoussoirfigur, die „playboy persona“63, also den Videografen im Typ Hugh Hefner, als dankbare Möglichkeit einer schützenden Distanz zum Anblick der Frau an. Zentral für das Geschäftsmodell des Playboys ist das Spiel mit dieser Projektion eines anderen, freizügigeren Junggesellenlebens und die Möglichkeit einer eskapistischen Imagination. Ziel war und ist es speziell männliche, heterosexuelle Leser an der vermarkteten playboy persona teilhaben zu lassen.64

Das Betrachten wird also aktiviert, irritiert und weiter installiert, fixiert. Das Bild hält die Betrachtenden im Bann. Im Playboy-Magazin führt uns Newton die Aktivierung der gierigen Gaze-Strategie als Geschäftsmodell vor Augen und lässt es zugleich zu, dass die Betrachtenden weiterhin am Bild teilhaben können – Die männlich adressierten Leser des Playboys sind hierbei Produkt und Produzierende zugleich. Dieser Schwebezustand ist ein zentraler Reiz erotischer Fotografie als auch essenzieller Teil der Strategie des Playboys. Zwischen Blick und Gegenblick finden sich die Betrachtenden ein, um an der dynamischen Schwelle zwischen Bann und Irritation etwas wie Schaulust zu verspüren. Zwischen dem fiktiven Ort der Fotografie und dem realen Ort der Betrachtenden befindet sich nämlich ein weiterer Ort. Dieser Ort scheint weniger ein konkreter Ort als vielmehr ein Zustand zu sein, der dennoch den eigentlichen Handlungsraum darstellt.

Der etwas Andere Raum

Newton fordert mit seinem komplexen Regime an Blicken und der Verhältnismäßigkeit von Bild zu Abbild die Konstituierung eines alternativen Raumangebots heraus. Im fortlaufenden Spiel aus ‚Rein-Raus‘, zeigt uns der Fotograf, dass sein Auftraggeber einen Ort beleben muss, der weder hier (bei den Betrachtenden) noch dort (im Bild) liegt. Die durch das Begehren initiierte und gebannte Struktur eines Betrachtungsmodus scheint in einem heterotopisch organisierten Gefüge Obdach zu suchen.65 Die Heterotopie bezeichnet in Abgrenzung zur Utopie und zur Topie einen Ort, der zwei sich eigentlich entgegenstehende Räume vereint. Diese Gegenräume sind Überlagerungen widersprüchlicher Inhalte, die auf eine gesellschaftliche Realität verweisen, in dem sie ihre Widersprüche repräsentieren, reflektieren oder negieren.66 Die Heterotopie vereint nicht nur divergente, faktische Räume und entgegenlaufende Zeitströme, sondern auch gegensätzliche Vorstellungen von Sitten oder Idealen. Wichtig ist zudem die Problematik ihrer Zugänglichkeit.67 Geschlossen und zeitgleich habe grundsätzlich ein jeder und jede Zugang, scheitere aber an einer konsequenten Teilhabe: „Die Heterotopie ist ein offener Ort, der uns jedoch immer nur draußen lässt.“68 Ihr Raum lässt Partizipation zu, ist aber auch qualitativ in sich geschlossen. Ähnlich geht es dem Videografen in Newtons Fotografien. Die Rezeption seiner eigenen Aufnahme stellt den zuvor aufgezeichneten Anblick zeitlich und räumlich in Distanz. Den Blick an ihren Bewunderer gewandt scheint die Frau zunächst erreichbar. Doch ihr zuvor lasziver Blick auf die Betrachtenden, die Vehemenz in ihrer Pose, der scharfe Kontrast ihrer nackten Haut, die sie zuvor noch zu tragen schien wie eine stählerne Rüstung, mutiert regelrecht in ein flirrendes, an bildlicher Schärfe stark eingebüßtes Zerrbild. Fast verschreckt weicht sie in Closed T.V. Circuit (Playboy) vor dem Fotografen zurück. Der ‚Zugang‘ bleibt dem Videografen letztlich verwehrt. „Jeder hat Zutritt, doch wenn man eingetreten ist, stellt man fest, dass man einer Illusion aufgesessen und in Wirklichkeit nirgendwo eingetreten ist“69, schreibt Foucault in Hinblick auf die Heterotopie. Gefangen im Closed T.V Circuit (Playboy) ist ihre beider Begegnung nun auf scheinbar ewig in der Berührung der Mattscheibe begrenzt.

Für das Playboy-Magazin liegt genau in dieser Begegnung, die in ihrer Berührbarkeit begrenzt ist, das Potenzial seiner ökonomischen Strategie. Paul B. Preciado beschreibt den Playboy als multimediale Maschinerie, die eine „erotische Fiktion“70 inszeniert. Über Villen, TV, Magazine und Print wird die Fantasie des modernen Bachelors als Kontrast zu traditionellen Haushalten vermarktet. Die Playboy-Villen dienen dabei als „[…] eine neue Maschine zur Produktion von Information, Lust und Subjektivität“71. Erotik wird ausschließlich medial vermittelt und forciert eine kontaktlose Handhabe. Preciado bezeichnet dies als „virtuelle[…] Lust“72 , ermöglicht durch Informationstechnologien, da der Sex – oder abgeschwächt Erotik –, den Hugh Hefner nämlich verkauft, ausschließlich im Rahmen der Übertragungskanäle von TV, Film und Fotografie stattfindet. Die Unfähigkeit von Berührung, die Newton in seiner Fotografie so eindrücklich darstellt, ist folglich Bedingung der vom Playboy produzierten Erotik-Welt. Lust und Ekstase sind hier Waren ökonomischer und machtpolitischer Systeme einer durchweg erotisierten, wenn nicht pornografisierten‚Nimmersatt-Gesellschaft‘. Dabei wesentlich: die „[…] Mangellogik des Begehrens […]“73, die sich aus der Entwicklung einer pharmakologischen und pornografischen Kommerzialisierung heraus begründe.74 Ein Begehren wird initiiert und sein Verfehlen gesichert, um dann aus diesem Mangel wieder ein Begehren zu wecken, das aufs Neue nicht – auf Dauer also nie – erfüllt wird.

Dieses Begehren versteht sich räumlich und weiß sich über die entkörperlichte, zweidimensionale Fläche einer Darstellung – hier explizit die erotische Fotografie – hinweg zu setzen. Dies erörtert auch Linda Hentschel durch die Begrifflichkeit pornotopischer Betrachtungstechniken und die damit einhergehende Überblendung weiblicher Körper mit medialen Räumen. Dabei überlagern sich die illusionierte Tiefe des Bildraums und die imaginierten Tiefen weiblicher Körperlichkeit. Linda Hentschel sieht hierin einen Zusammenhang zwischen zentralperspektivischer Raumdarstellung und der Lust am „[…]visuellen Eindringen in weibliche Körpertiefen“75. Der zentralperspektivisch erfasste weibliche Akt suggeriere durch die Öffnung der Bildfläche Einblicke in verborgene Räume und steht für eine Struktur des Blicks ein, der nach Macht, Erotik und das Streben nach Sichtbarkeit sinne. Beispiele wie Tizians Danaë (1555–56) (Abb. 10) zeigen, wie sexuelle Inhalte nicht allein metaphorisiert wurden, um explizite Darstellungen zu umgehen, sondern das Sehen ganz konkret durch die Öffnung der Bildfläche innerhalb des präsentierten Bildraumes sexualisiert werde. Die zentralperspektivischen Darstellungen, die das Bild als ein Bild in und aus der Tiefe verstehen, garantieren eine substituierende, metonymische Gleichschaltung der möglichen Penetration weiblicher Körperöffnungen.76

Tizian, Danaë, ungefähr 1555-56, Öl auf Leinwand, Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie, in:Humfrey, Peter: Tizian. The Complete Paintings, New York 2007, entnommen aus: Prometheus Bildarchiv, URL: https://prometheus.uni-koeln.de/de/ image/trier-0117ec6dc4544edac20247ca3f717f9d0782ac55, Quelle: Diathek online, Universität Trier, Fach Kunstgeschichte, (Zuletzt abgerufen am 16.06.2024).

In Venus mit Cupido und Orgelspieler (1545–48) (Abb. 11) zeigt sich dank Hentschels Analyse deutlich, wie der Blick der Betrachtenden vom geschlossenen Schoß der Venus in die Tiefe der dahinter liegenden Landschaft gelenkt wird wodurch die Bildtiefe eine imaginären Penetration garantiert.77

Tizian, Venus mit Cupido und Orgelspieler, ungefähr 1545-48, Öl auf Leinwand, 148 × 217 cm, Madrid, Prado, in: Pedrocco, Filippo: Tizian, München 2000 S. 220, Abb. 173., entnommen aus: Prometheus Bildarchiv, URL: https://prometheus.uni-koeln.de/de/ image/bochum_kgi-7ca8d4914fcacf8726d8d27fca6803981b5e1e73, Quelle:DILPS, Ruhr- Universität Bochum, Kunstgeschichtliches Institut, Ruhr- Universität Bochum, (Zuletzt abgerufen am: 16.06.2024).

Helmut Newton greift dies in Video Man and Woman Videoed (Playboy) auf: Während der Blick der Betrachtenden in das Bild auf den perfekt konturierten, strahlend, fast überbelichteten Frauenakt im Profil fällt, sieht der Kameramann bereits jetzt schon, was Newton den Playboy-Lesern in seiner folgenden Fotografie erst zu sehen geben wird. Der Kameramann fängt durch seine Kamera den weiblichen Akt frontal ein und blickt auf die mutmaßlich unverhüllte Vulva der Frau. So werden die Betrachtenden Zeuge dieser medialen Penetration. Im Gegensatz zu Tizians Gemälde aber scheitern sie zunächst an der eigenen visuellen Möglichkeit, die schier endlose Tiefe eines imaginierten Bildraumes als „[…] eine Entschädigung oder […] Äquivalent […] für den […] versagten Zugangzur weiblichen Körperöffnung – eine Art Safer Sex […]“78 anzunehmen. Auch wenn das im Unscharfen und dunkel gehaltene Interieur der Szenerie ein Sich verlieren im Umraum ermöglichen könnte, prallt der Blick der Betrachtenden regelrecht am ungehemmten Gegenblick des fotografierten Models ab. Ihr Blick, der den der Betrachtenden fängt und spiegelt, befördert die Konsument:innen des Playboys strikt wieder aus dem Bild heraus. Newton konstruiert so das Bild nicht als Einblick in die Tiefe einer aufgerissenen Welt, sondern als eine Art Spiegel. Der empfundene Blick auf die Betrachtenden, der aus dem Bild heraus, die Betrachtenden selbst zum Bild macht, verhindert zunächst den Zugang dieser und wird erst in der Folgefotografie aktualisiert. Aber auch das illusorische Öffnen der Körpergrenzen durch verhältnismäßig explizite Darstellungen wie Courbets Lorigine du monde (1866) (Abb. 12) ändert nichts am visuellen Scheitern einer imaginierten Penetration.

Gustave Courbet, L’Origine du monde (dt. Ursprung der Welt), 1866, Öl auf Leinwand, 46 × 55 cm, Paris, Musée d’Orsay, in: Archiv des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München, entnommen aus: Prometheus Bildarchiv,URL: https://prometheus.uni- koeln.de/de/image/artemis-b2b97029492beb751ab06a5ed035cbb67077c8ad, Quelle: ArteMIS, Ludwig-Maximilian-Universität München, Kunsthistorisches Institut, Ludwig- Maximilians-Universität München, (Zuletzt abgerufen am: 16.06.2024).

Es ließe sich vorstellen, Courbets Gemälde könne in etwa dem Blickwinkel des Kameramannes in der Aufzeichnung von Video man and woman videoed (Playboy) entsprechen und damit dem televisionellen Bild von Closed T.V. circuit (Playboy). Der Mangel, der sich aus dem Anblick ergibt, ist, dass die Betrachtenden trotz allem ‚draußen‘ bleiben. Den pornotopischen, bildsemantischen Ersatz eines Ein- und Ausblicks in eine Landschaft bei Tizian, der zur Komplizin des Pornografischen werde,79 oder das Genital in seiner buchstäblichen Sichtbarkeit bei Courbet, ersetzt Newton in gewissermaßen durch den in Closed T.V. circuit (Playboy) fluchtpunktartig zielgerichteten Blick auf den Fernseher. Seinerseits eröffnet dieses Medium einen illusionistischen Bildraum und führt die Betrachtenden in die Tiefen einer möglichen Pornotopie. Dabei ist der Fernseher nicht einzig Newtons Komplize in genau dieser Fotografie, sondern der Komplize einer gesamten Marketingstrategie. Als multimedial agierender Konzern weiß der Playboy nur zu gut televisionelle Technik zu nutzen und diese gar zum Mittelpunkt des Unternehmens zu machen. Die Medien, die der Playboy nutzt, sind dabei Scharniere, die der Welt der Betrachtenden eine endlose Imagination eröffnen.

Betrachten wir Closed T.V. circuit (Playboy), fällt auf, dass Newton uns den für die Betrachtenden beim Anblick der Produktion ersehnten und durch die Rezeption erhofften Blick auf das weibliche Genital versagt und den vom Playboy inszenierten ‚Zugang’ damit infrage stellt. Die eigentlich in ihrer Darstellungsart klassischerweise naturalistische Fotografie ist nicht in der Lage die visuelle Lust konkret befriedigen zu können. Das durch Pixel und Unschärfe durchzogene Bild (darin ähnlich dem aus Blowup) der nackten Frau resultiert in einer konträren Ansicht zu Video Man and Woman Videoed (Playboy). Die Frau wirkt nicht länger ‚willig‘, sie entzieht sich regelrecht den Avancen des Filmemachers. Stattdessen scheint es, als wolle sie dezidiert nicht zum Bild gemacht werden und als missfalle ihr die Idee dem erotisierenden Blick ausgesetzt zu sein. Entgegen dem multimedial inszenierten Versprechen des Playboys zeichnen sich pornotopische Techniken immer dadurch aus – eben gemäß Foucaults Heterotopien – ein längerfristiges Bewohnen des ‚Anderen Ortes‘ nicht zuzulassen. Jede Form visuellen Begehren scheint ausgehend von Closed T.V. Circuit (Playboy) an der Grenze einer Unerreichbarkeit zu scheitern – und gerade dadurch ad finitum bestehen bleiben zu können.


Biografie

NIKLAS KOSCHEL (*1999) ist Kunsthistoriker und Kurator. Er schreibt regelmäßig Texte für Ausstellungen, Kataloge und Kunstmagazine. Er ist Mitbegründer des Online-Magazins magazin53a und war zuletzt als Kurator für die Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst in Salzburg tätig. Zurzeit arbeitet er an einer Dissertation über Darstellungen körperlicher Transformation an der Schnittstelle von Spielfilm und Video-Performance.

Von Kirschen, Höschen und Post-Softporno, 2024 – Johannes Porwoll

Die schwedische Netzkünstlerin Arvida Byström polarisiert mit ihrer Kunst, die zwischen digitaler Kultur, girly aesthetic und Post-Softporno oszilliert. Als Digital Native navigiert sie sich selbstbewusst durch die Bilderlandschaft des Web 2.0 und benutzt wie selbstverständlich ebendiese Bilder, um immer wieder einen neuen Kontext bezüglich Sex und Fetisch, Körperbilder und Schönheitsideale des 21. Jahrhunderts herzustellen. Sowohl ihr Short-Form-Video Girl Dinner (2023), der die inhärent erotische Färbung des viralen Girl-Dinner-Trends transformiert und selbstbezüglich erotisiert,  als auch die Nacktbilder in ihrem Buchprojekt In the Clouds (2024), die von einer, auf sie trainierten Undress-AI erstellt wurden, kritisieren und negieren den Male Gaze, insbesondere in einem pornografischen und exploitativen Kontext. Byström eröffnet einen Diskurs über repressive Schönheitsideale in der digitalen Welt.

Hauptsache Pastell! Hauptsache Pink! Hauptsache Aesthetic! – Das geht wahrscheinlich zuerst durch den Kopf, wenn man den Instagram-Feed der schwedischen (Netz-) Künstlerin Arvida Byström sieht. Ihr Contentist mannigfaltig. Ob leicht abzeichnende Bräunungstreifen in der Form eines Bikinis, oder sich kräuselnde Gentitalhaare unter einem Stringtanga oder Konversation mit dem abgetrennten, aber dennoch funktionstüchtigen Kopf einer Sexpuppe. Klar ist, Byström polarisiert bewusst, klar ist auch, Byström will polarisieren.

Ihr extensives und diverses Oeuvre nur auf Instagram-Content zu reduzieren, wird ihr aber nicht gerecht. Ihre Kunst oszilliert zwischen Digital (Visual) Culture, „girly aesthetic“ und Post-Softporno. Durch ihren einzigartigen Stil schafft es Byström etablierte Bilder und Konzepte von Sex, Geschlecht, Körper- und Schönheitsidealen kritisch und subtil zu hinterfragen und auf eine ganz neue Art zu interpretieren. Als Digital Native navigiert sie sich selbstbewusst durch die Bilderlandschaft des Web 2.0, benutzt wie selbstverständlich ebendiese Bilder, um immer wieder einen neuen Kontext bezüglich Sex und Fetisch im 21. Jahrhundert herzustellen.

Das Short-Form Video Girl Dinner aus dem Jahr 2023, welches auf Instagram veröffentlich wurde, sowie das Buch In the Clouds, welches in Kooperation mit NUDA PAPER entstanden und verlegt worden ist und 2024 veröffentlicht wurde, sollen beispielhaft zeigen, welcher Techniken und Strategien Byström sich bedient.

Girl Dinner

Im frühen Sommer des Jahres 2023 entwickelte sich auf TikTok der virale Trend, in dem vornehmlich junge Frauen ihr übliches Abendessen präsentieren. Meist bestehend aus kleinen Portionen ihres Wohlfühlessens. Unterlegt sind diese Videos, wie auf TikTok üblich, mit einem dedizierten Sound. Auch Byström postet ein Short-Form Video, sie veröffentlicht es aber auch Instagram, mit dem Titel Girl Dinner.

In diesem Video sieht man Byströms untere Gesichtshälfte vor einem pastellrosanen Hintergrund als Close-Up ihres Mundes, dessen Lippen glänzen. Eine durchsichtige Flüssigkeit, vermutlich ihr eigener Speichel, rinnt ihr Kinn herunter. In ihrem Mund hält sie eine Kirsche zwischen ihren Lippen. Diese Kirsche ist ausstaffiert mit einem weißen Spitzenhöschen. Byströms Lippen umspielen die Kirsche, bis sie endlich zubeißt und den Stiel, an dem sie die Kirsche festgehalten hat, herauszieht. Der rote Saft der Kirsche läuft über ihre Lippen. Dann ist das Video beendet. Unterlegt ist das Video mit dem Intro von Shygirls Song Heaven.

Byström eignet sich den Girl Dinner Trend an und transformiert diesen. Sie folgt nicht den üblichen Konventionen des Trends, sondern bedient sich ausschließlich seiner Ästhetik. Zum einen wählt sie einen Sound der nicht typischerweise mit dem Girl Dinner Trend assoziiert wird, zum anderen bedient sie sich am Mukbang. Ein Videophänomen, welches ursprünglich aus Korea stammt und mittlerweile weltweit praktiziert wird. Der zentrale Punkt für einen Mukbang ist das Essen vor der Kamera. Byström zeigt offensiv den sinnlichen Akt des Essens, den Biss in die Kirsche.

Hinzu kommt, dass auf einer subkutanen Ebene alle Mukbangs sexuell aufgeladen sind, nicht nur durch den sinnlichen Akt des Essens, sondern auch durch das Spiel mit Voyeurismus und Feeder-Gainer-Dynamiken. In Girl Dinner übernimmt Byström die Ästhetik des Mukbangs in der Wahl der Musik und des pastellfarbenen Hindergrundes., und erotisiert, durch den Speichel an ihrem Kinn und das Close-Up auf ihren Mund lädt sie die Inszenierung des Bisses in die Kirsche erotisch auf.

Abb. 1: Arvida Byström, Peach 2016, Fotografie, o. M, o. O.

Es findet eine Subjekt-Objekt Umkehr80 statt. Die Künstlerin, das implizierte Subjekt, stellt sich in den Hintergrund, fragmentiert und anonymisiert sich und bewegt sich dadurch in die Rolle des Objekts. Die Kirsche hingegen, das implizierte Objekt, platziert im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wird zum Subjekt stilisiert. So, wie die Schuhe in Octave Mirabeaus Tagebuch einer Kammerzofe, so wird die Kirsche das Subjekt der Begierde und wird zum Fetisch. Die Ausstaffierung die Kirsche mit einem Spitzenhöschen unterstreicht die Rolle der Kirsche als Fetisch, da das Höschen eine erotisierte und sexualisierte Konnotation innehat. Es ist eine der unzähligen Referenzen Byströms. In diesem Fall referenziert sie ihr eigenes Oeuvre (Abb. 1). Oft sind es Pfirsiche, aber auch Kirschen, die in kleine Höschen gesteckt werden. Beides Obst hat gemeinsam, dass sie als Metaphern in sexualisierten Kontexten genutzt werden. Der Pfirsich steht für den Hintern. Kirschen stehen für die Brüste. Hinsichtlich der Konjunktion von Werktitel und Framing, verortet sie die Kirsche in die feminine Sphäre.

In the Clouds

Vom 13. Dezember 2023 bis zum 1. April 2024 hat Arvida Byström auf einer pornografischen Plattform, Nacktbilder von sich zum Verkauf angeboten und trat mittels Chats und Anrufen in Interaktion mit den Usern der Plattform. Byström hat allerdings keine echten Nacktbilder von sich verkauft, sondern hat diese vor Veröffentlichung von einer Undresss-AI erstellen lassen, auf Basis von bestehenden bekleideten Bildern. Aber ohne das Wissen ihrer Betrachter:innen ist sie nie selbst mit ihnen in  Kontakt getreten, sondern es geschah mittels der speziell auf Arivda Byström programmierte Arvia-AI. Diese Bilder sind gesammelt in einem Buch veröffentlich worden, samt Kommentaren von Usern und die Antworten der Arvida-AI. Vorangestellt sind den Bildern noch Texte von Slavoj Žižek, dem schwedischen Kritiker Carl Michael Edenborg und der Fan-Fic Autorin Olivia Kan-Sperling. Anders als bei Girl Dinner handelt es sich bei den Arbeiten von In the Clouds um explizite Bilder. Byström geht es nicht um plumpe, pornografische Darstellungen, sondern um die Verortung von pornografischen Bilderwelten.

Abb. 2: Arvida Byström, ohne Titel, 2024, Künstliche Intelligenz, o. M, Stockholm.
Abb. 3: Arvida Byström, ohne Titel, 2024, Künstliche Intelligenz, o, M., Stockholm.

In the Clouds greift sie kritisch Körperbilder und Schönheitsideale auf. Die Undress-AI ist auf normschöne, dem Male Gaze unterworfene Körper trainiert. Diese werden von Byström reproduziert (Abb.2). Die Subversion findet statt wenn sie ihr Buch mit AI-Fragmenten abschließt. Bilder, auf denen ihre Kleidung mit dem Körper verschmilzt (Abb.3), sie mehr als nur zwei Brüste hat (Abb.4) oder ihr Körper in auf diverse Weise verdreht und verrenkt ist (Abb.5). Oder, um es mit den Worten von NUDA zu sagen: „[…]images that the AI has fucked up in different ways, challenging ideas of what’s hot and what’s not.“81

Abb. 4: Arvida Byström, ohne Titel, 2024, Künstliche Intelligenz, o.M., Stockholm.
Abb. 5: Arvida Byström, ohne Titel, 2024, Künstliche Intelligenz, o. M. Stockholm.

Daran lässt sich sehr gut festmachen, wie Byström Konzepte von Pornografie hinterfragt, kritisiert und transformiert. Sie stellt diesen künstlich verzehrten Körpern den normschönen, aber ebenfalls künstlichen Körpern gleich und eröffnet einen Diskurs über repressive Schönheitsideale einer Cis-Hetero Male Gaze Pornografie. Ein Diskurs der auch von den Denker:innen des Post Pornografie bearbeitet wird. So zum Bespiel Eric Pussyboy:

„To me, post-pornography means being able to engage in explicit representations of sex without the primary goal of being arousing. Post-pornography comes from a queer feminist positioning that is aware of the political dimensions of sex imagery and narratives […] or the exclusion from the realm of desirability and sexuality of people with disabilities.“82

Byström bedient sich mit In the Clouds dem Konzept von Eric Pussyboy, mit seiner Definition zu Post-Porno. Denn In the Clouds will die Künstlerin nicht sexuell erregen. Es muss als eine Subversion des Male Gaze und von männlicher Begierde verstanden werden. Wenn Georg Seeßlen schreibt, dass männliche Kontrollfantasien des Digital Age gegenüber Frauen im virtuellen Raum ausgeübt werden, dann ist In the Clouds die Rebellion dagegen.83 Es wird eine Unterwerfung unter männliche Kontrollfantasien vorgetäuscht, die aber durch die Offenbarung der Künstlichkeit der Bilder umgedreht, da der Mann in Wirklichkeit keine Kontrolle über die Frau, in diesem Fall die Künstlerin, ausüben konnte. Byström eignet sich die Technik der Kontrolle, das Deep-Fake84 an, benutzt sie an sich selbst und entzieht sich dadurch der männlichen Kontrolle. Durch die Befreiung vom Male Gaze und von dem Zweck sexuelle zu erregen, kann sich die Künstlerin mit komplexeren Fragen beschäftigen. Die Grenzen von künstlich und authentisch verschwimmen zunehmend. Ist die an Byström trainierte Arvida-AI nicht auf ihre eigene Art authentisch? Reicht es, wenn Nacktbilder für authentisch gehalten werden, auch wenn sie in Wirklichkeit künstlich sind? Es verschwimmen aber auch die Grenzen von Geschlecht. Ist auf den von der Undress-Ai generierten Bildern denn überhaupt noch eine Frau zu sehen?

Man muss auch die Medialität näher betrachten. Durch das Medium des Buches, wird das digitale Sujet in eine analoge Welt gesetzt. Das Buch verortet sich in einer intimen Umgebung, was auch dadurch betont wird, dass In the Clouds von einem Piercing verschlossen wird.

Rückbeziehend zur Post-Pornografie lässt sich sagen, dass Eric Pussyboy in seinen Ausführungen in expliziterer Pornografie verankert bleibt. Analog zu seinen Gedanken, und den Post-Porno-Grundsätzen, formuliert nach Tim Gregory, lässt sich das Konzept Post-Porno um die Soft-Porno-Komponente erweitern. Dadurch lässt sich es sich auch auf Girl Dinner anwenden. Denn so, wie die Post-Pornografie für Gregory nicht für „the pleasure of the spectator, but about the exploration of sex“85 steht, ebenso steht bei Girl Dinner das Ergründen und begreiflich machen von Fetisch an erster Stelle.

Sie nutzt zeitgenössische Techniken, wie künstliche Intelligenz, beispielsweise in In the Clouds, schafft dadurch neue Möglichkeiten Körper neu zu definieren. Durch zum Beispiel stark verdrehte Körper, die nicht als normschön wahrgenommen werden, um diese dann in einem Post-Porno Kontext zu verorten. Sie erweitert die Diskussion um Sex im 21. Jahrhundert, durch eine Auseinandersetzung mit Fetischen, wie sie in Girl Dinner zu sehen ist. Die relevante Rolle des Internets und seiner spezifischen Ästhetik in Byströms Verhandlung von Sex und Fetisch, Körperbilder und Schönheitsidealen läuft analog zu der Prominenz, die das Internet in der Verhandlung dieser Themen in der Gegenwart einnimmt.


Biografie

JOHANNES PORWOLL studiert im 2- Fach-Master Kunstwissenschaft und Transkulturalität und Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. In den gleichen Fachbereichen verfasste er bereits eine Arbeit zum Werk von Carrie Mae Weems mit dem Titel: „Snow white, you black bitch, and don’t you forget it!!!“ Black Hair und Intimität im Werk von Carrie Mae Weems. Seine Schwerpunkte liegen auf der Gegenwartskunst mit einem besonderen Augenmerk auf Medienkunst, digitale Kunstwissenschaft und Transkulturalität. Johannes Porwoll war zudem als freier Mitarbeiter am Josef Albers Museum Quadrat Bottrop tätig.

Representation of Asexuality in Queer Art – an exemplary discussion, 2024 – Franziska Selina Latz

Das dem folgenden Artikel zugrundeliegende Paper entstand im Zusammenhang des Kurses „Where is the queer in queer art“ am Heidelberg Centre for Transcultural Studies (HCTS), das die Unebheitheit der Repräsentation von Queerness in der Kunst verdeutlichte. Gleichgeschlechtliche Intimität oder Partnerschaft in Kunst auszudrücken, ist zwar verhältnisweise selten, aber konzeptuell nicht unvorstellbar. Deutlich komplizierter wird das Ganze dann, wenn es sich um eine Form von Queerness handelt, die oft durch die Abwesenheit von sexueller und/oder romantischer Anziehung definiert wird. Wie funktioniert Queerness ohne Sex? Und wie lässt sich die Abwesenheit von etwas künstlerisch darstellen? In ihrem finalen Paper macht es Franziska Selina Latz zu ihrem Anliegen, sich mit Repräsentation von Asexueller Kunst oder vielmehr des Fehlens derer, zu beschäftigen.

1 Introduction: Furthering Discourse around Asexuality in Queer Art

During an investigation of queer art, it becomes apparent that while the LGB (Lesbian, Gay, Bisexual), maybe even the T (Trans), come up frequently, seldomly, can representation of the QIA+ (Queer, Intersex, Asexual, and more) be found in art or even in scholarly discourse. Therefore, this paper aims to further insights into the A of the queer community and its representation regarding quantity and quality within the field of queer art. Oftentimes, asexuality is understood as a ‘lack’ of sexual attraction. In relation to art, the question emerges how it would be possible to represent something that is absent. This inquiry will be dissected and complicated, its problematic implications discussed, and Laia Abril’s multimedia work, the Asexuals project, will be analysed in detail and debated in context of scholarly approaches to queerness and asexuality. The project consists of a collection of videos and stills showing asexuals who were interviewed regarding their intersecting experiences of sexual identity and integration into society. The project was published and immediately republished online in 2012-2013 on multiple websites, among them first Vimeo and online curatorial sites. 

To determine the representational value of Abril’s project, I will consider a foundation of theories alongside asexuality terminology. In the first, theory-based section of the paper, the terminology of asexuality will be cleared before then continuing to introduce further ideas crucial to queering social theories. Here, Annemarie Jargose, Sara Ahmed and Kristina Gupta will be given centre-stage. Additionally, ideas of discussing representation as suggested by Stuart Hall will be considered. Zooming out onto the field of asexual representation, or the lack thereof, as criticised by British activist Yasmin Benoit, contextualisation is provided 86 before then commencing the small-scale analysis of Abril’s project as a rare representative of its kind. Though various aspects of Abril’s work will prompt more questions than answers, it finally proves a piece of much appreciated representation that furthers the discourse around asexuality within and beyond the field of queer art. 

2 Main part: Asexuality and its Representation in Queer Art

2.1 Theory and Discourse around Asexuality

To first establish a common ground and basic understanding of the highly intricate theory of asexuality and all its nuances, a brief introduction to the concept and the interrelated key terms is required. To achieve this, I will rely on different queer theorists, among them Kristina Gupta, Annemarie Jargose and Sara Ahmed. Additionally, definitions as found in public discourse, i.e., queer internet forums and educational websites, such as thetrevorproject.org or https://asexuality.org, will be considered, as they constitute a central space for discourse. 

Beginning with the concept of ‘Asexuality’ itself, it can be determined that it is commonly described by members of the asexual community as “a sexual orientation or identity characterised by a lack of sexual attraction to other people”.87The term ‘lack’ in its insinuation of something being amiss, will receive a platform for discussion in the further course of analysis. At this point, however, I first suggest exploring further correlative concepts within the community. 

To investigate the subject matter in an organised manner, I will follow the spectrum notions in order as presented on the asexual pride flag as shown here (Figure 1).88 

Fig. 1: Asexual Pride Flag.

The black on top is the representative colour for the part of the community identifying as completely asexual, in the sense as explained above. The grey denotes the more variable interpretations within the spectrum.

They are usually summarised under the term greysexual which creates space for people who experience sexual attraction so rarely that they feel at home in the head label of asexuality. Among grey sexual orientations specific notions like demi-sexuality are placed. An identification as demi-sexual usually implies a rare experience of sexual attraction and this only in case of strong or complex emotional bond with the subject of desire. The white part is said to represent partners who may or may not identify as asexual themselves which in turn has the potential to create tension in a relationship comprised of partners with differing sexual needs. Finally, the purple part of the flag represents the aspect of community among all the different lived realities of asexuality.89 Furthermore important to note is that similar to other queer and non-queer circles, a variety of attitudes towards sex is differentiated. It is commonly spoken of interpretations such as sex-favourable, sex-indifferent and sex-repulsed. Those then play a crucial role in the character of relationships and hold the power to influence the previously mentioned tensions between partners majorly.90

One last basic idea that is common and very central to the network of identification and has come up time and again in personal communication with members of the community, is the differentiation of romantic from sexual attraction.91Romantic attraction can similarly be expressed in a range of variants, among them e.g., hetero-, homo-, bi-, pan- or aromantic identities. Similar to sexual attraction, of which asexuality is one form, a free identification anywhere on the scale of romantic attractions is possible and commonly diverting from asexuals’ sexual attraction. While it is a regular occurrence for individuals to identify as asexual and aromantic, usually referred to as AroAce, there are just as well all different combinations, e.g., asexuals identifying as hereto-, homo- or pan-romantic. This system is frequently depicted as two separate scales – also mentioned by one of the members of the asexual project – the scale of romantic attraction and the scale of sexual attraction ranging from zero (asexual, aromantic) desire to one hundred (pansexual, panromantic) attraction to all gender identities. – The numbers here in in this case indicate nothing more or less than opposing ends of the spectrum and no findings of any statistical significance. – Those diverse and inventive approaches aptly illustrate the point that Annemarie Jagose made in Queer Theory when stating that “Since queer’s opposition to the normative is its one consistent characteristic, it has the potential to invent itself endlessly, reformulating whatever knowledges currently constitute prescribed understandings of sexuality”.92

Zooming now out to contextualise asexuality within the greater framework of queer theory, as part thereof in society, and within the concept of orientation per se, Sara Ahmed’s theories can function as a foundational basis. Here, her approach to reconsider the term ‘lack’ as encountered previously in Gupta’s definition with its negative connotations suggesting emptiness and nothingness proves valuable. In “Orientations: Toward a Queer Phenomenology” Ahmed suggests that “[i]f orientation is a matter of how we reside in space, then sexual orientation might also be a matter of residence, of how we inhabit spaces, and who or what we inhabit spaces with”.93 Continuing this train of thought, I deduce that rather than an orientation away from ordinary forms of desire towards a void, I see a deliberate orientation towards non-sexual aspects of life. From the same work of Ahmed, further questions arise that aid the quest for a theoretical approach towards queerness and, specifically, asexuality. When considering asexuality as a deliberate orientation towards non-sexual aspects of life, then “[w]hat does it mean for sexuality to be lived as oriented?” and “[w]hat difference does it make what or who we are oriented toward in the very direction of our desire?”94

Answers to those questions can be found in the close examination of asexuality as identity and as orientation. As seen before “[o]ver the past 15 years, a number of people have come together in online communities to define asexuality as a sexual identity category”.95 The diverse lived realities of this conceptualisation find expression under and beyond the various labels provided under the umbrella term. Approaching the subject matter now from the perception of asexuality as a sexual orientation, we are presented with new impulses. Sara Ahmed states that “[w]e can reconsider how one becomes straight by reflecting on how an orientation, as a direction (taken) toward objects and others, is made compulsory, recalling Rich’s model of “compulsory heterosexuality”.96 And that we should do. Erasing the possibility of orienting away from the norm, the void, or whatever term – all of them bearing questionable implications of their own – I choose and replace it with the concept of deliberate orientation towards something else, orientation received a compulsory character. Compulsory sexuality as introduced by Kristina Gupta, is a concept that relates back to Adrienne Rich’s concept of compulsory heterosexuality which Ahmed similarly mentions in her considerations of queer phenomenology.97 In this tradition “[h]eteronormativity is a hegemonic system of norms, discourses, and practices that constructs heterosexuality as natural and superior to all other expressions of sexuality”.98 It is unsurprising that therein desire is oftentimes conflated with sexual desire. However, the same happens in Ahmed’s theorisations. Hence, the concept of compulsory sexuality as introduced by Gupta and considerations catering specifically to asexual means and desires are highly valuable. The former theory is problematic not only for asexual individuals but also for heterosexual people as it bears strong links to a heavily biased perception of masculinity. Gupta now postulates that this regulates the behaviour not only of those, who identify as asexual but of all people and that, hence, society’s definition of the norm must be tied to the sexual, not necessarily entirely to the heterosexual. Gupta applies the concept to 

“describe the assumption that all people are sexual and to describe the social norms and practices that both marginalize various forms of non-sexuality, such as a lack of sexual desire or behavior, and compel people to experience themselves as desiring subjects, take up sexual identities, and engage in sexual activity.”99

In this context, two issues are emphasised substantially. Firstly, the struggles of queer individuals to navigate the challenges and inflexible patterns of society, and secondly, the dual effort for the asexual community to find space within the queer community and the greater framework of society. In light of the marginalisation, is seems unsurprising just how difficult it is to find representation, specifically in the form of art for this branch of the queer spectrum. 

Before continuing to the art analysis, let me briefly establish a common definition of representation. Though it is a word employed casually, it can be fleshed out into a concept that will prove valuable for later analysis. Relying on Stuart Hall, a few theoretical facets require specific introduction. First, it is noteworthy that representation is no passive by-product of existence but described as an active process of meaning-making.100 Within this process, meaning is constantly en- and decoded which implies not only active participation on the sender’s side, but also on the receiver’s side.101 The produced meaning has a certain influence on the portrayal of specific groups and thereby contributes to their ideology in a certain way meaning that, simultaneously, reality is constructed through representation, not just the other way around.102 Moreover, there is no such thing as the one true meaning as in representation, we always find a case of polysemy. Due to power implications, some interpretations emerge as more dominant than others.103 In the same way, this dominance can enforce binaries and present certain subjects of representation as different or other.104 While this theory is universally applicable, it conveniently contributes to furthering research for asexual representation. 

British activist Yasmin Benoit criticises representation in every form to be lacking for the asexual community. In the article “Asexuality: The Misunderstood Identity” Benoit urges that „[t]he lack of discourse on asexuality within the queer community often leaves asexual people feeling marginalised and misunderstood. Our experiences are valid and deserve to be included in the broader LGBTQ+ narrative“.105 We have to realise, however, that finding representation proves much more difficult than perhaps imaginable at first glance. To base this claim, a brief overview of the journey to finding sources and suitable material for an art-based analysis of asexual representation will be shared. The difficulty presented therein, does not only denunciate the quantity but also the accessibility of artworks. The question of quality shall be our concern at a later point. 

The usual online search was not sufficient to find a suitable object of study in the first place. At least, it required much more persistence and flexibility to locate artworks. While a great number of doodle-style drawings showed – rather a variant of ‘low art’ – nearly no ‘fine art’ was traceable. Despite the great variety of digital, online art community pieces available, it was a process of great difficulty to produce a result that could even offer as much as a caption. Having then found Laia Abril’s multimedia work, the Asexuals Project, deeper research again, proved challenging. Though officially published and republished, and apparently exhibited in galleries, the project was near undetectable on the artist’s website.106 Furthermore, all traces and connections to galleries and links to e.g., Facebook pages proved expired, invalid or were not even findable at all. Moreover, all attempts at contacting the artists stayed fruitless. The only few sources available were online curational magazines, and articles in popular magazines linked to her work.107 108 After weeks of research, the – presumably – full project could be retrieved from Vimeo, a platform that itself often limits access to registered members.109 While the difficulty of this process of retrieval was to some degree discouraging, it simultaneously sparks curiosity about the intention and reasoning for the maintenance of a low profile. Moreover, how does it impact the project and its success? Before turning to these issues, a detailed examination of the retrieved artwork is needed and will be given subsequently. 

2.2 Laia Abril’s Asexuals Project

Narrowing the focus down now, the found object of study, Laia Abril’s multimedia web documentary, the Asexuals Project, requires a detailed introduction. The Catalan artist, born in Barcelona in 1986 who is a research-based artist and editor working with photography, text, video, and sound, comprised her work of a series of video-based interviews with one trailer of six minutes combining sections of many of the ethnically diverse interviewee’s single interviews and multiple stills. In this project, asexual people are interviewed about their sexuality, describing their lives, difficulties or joys in experiencing their sexuality, hopes for the future and retellings of past stories. This analysis will be based on the below selection of stills as published alongside the trailer on the online curatorial website a Curator.110

Fig. 2: Stills from Laia Abril’s Asexuals Project.

In the subsequent description and analysis, the stills will be the main sources considered. However, they will be scrutinised in the context of the video material. For this reason, the reader is advised to consult the trailer as linked here and in the references.111

The first figure from the left as shown in Figure 2 is depicted sitting on a stool with fingers interlaced. We detect a slight slouch in the posture and an outfit consisting of a red sweater, black top, and blue jeans. The person with short black hair seems to be bearing a serious, contemplative, almost sad face and is positioned in front of a tiled, blue-grey-painted background with many spots of shadows. The source of light appears to be a spotlight on the person in a rather unnatural tone. The colours are contradictorily quite natural and strong. The overall mood of the still seems serious and emanates a feeling of loneliness or seclusion. The person’s orientation is slightly behind the camera, i.e., not the viewer, and thereby contributes to this aura. 

The second figure (Figure 2) is presented in a similar setting. Again, we find a person in the middle ground sitting, this time on a bed, with their hands folded together in a slightly slouched position. They are wearing a black shirt and blue jeans and have a bald head. Alike the first figure, we see a rather serious, contemplative, or even sad-looking face while the person is even more facing away from the camera and looking into the distance. The bed that constitutes the background is similarly shadowy and dark, but the bedding is brighter, and a yellow pillow and dotted blue duvet can be spotted in the darkness. Especially since the colours here are less vibrant overall, an equally lonely, secluded mood is conveyed. Due to the bed setting, a different, less formal and a little more intimate sentiment can be perceived. 

The third still (Figure 2) diverts from this pattern and shows a person standing upright in an outdoor setting. The background depicts grass, trees and what appears to be a park in the near distance, while in the far distance houses are distinguishable. The figure is portrayed in beige trousers and a lightly muted white, pink and blue striped jumper. Their long, light brown hair falls onto their shoulders and similarly to the first two figures, the gaze is shifted and reaching beyond the camera. Overall, the mood seems less dark and enclosing due to the open setting, but the rather cool colour-scheme still fabricates an air of seclusion and distance. 

Moving on now to the interpretation of especially the reoccurring elements, the darkness, shadows and thereby produced serious mood may be employed to emphasis the documentary purpose of the work. It may be a depiction of the struggles of asexuality in a heteronormative society and even in queer culture, as we have seen before. It might, however, also be a sign of intimacy of the individual in seclusion and a representation of an undisturbed, quiet space of calmness. 

The suggested sadness might be utilised to show loneliness and underline the shared stories of failed relationships and desires for heteronormative wishes that are more difficult to realise due to asexuality. The accompanying slouch and missing eye contact might represent a lack of confidence or weariness resulting from those stories. It might, however, contrarily portray a scene of comfortability in this secluded space, meaning that there is no need to present in an impressive way. This interpretative claim is supported by the depiction of the people in ordinary setting, without flashy outfits and partially surrounded by personal objects, in the sense of transmitting a picture of normal people. While, unfortunately, artist interpretation is rare to consult, Abril is quoted stating her aim to depict asexuals as looking “like any person”.112

Further, knowledge gained from the context of other queer art can be employed, such as e.g., the photo exhibition Queer Heroes in Focus presented as part of the Heidelberg Queer Festival.113 Contrastingly to Abril’s work, many of the photos there exhibit people in less natural colours, fuller backgrounds and open and confident body language. The mood is, generally, much lighter and more fun poses are chosen, oftentimes depicting the models smiling following an agenda of empowerment. In contrast, Abril’s depiction of the queer subjects stands out as very serious and tainted with sad undertones which incites the question whether this was a deliberate choice by the artist to underline the documentary character of her work, emphasise the negative experiences shared by the interviewees mainly or if it is a case of biased, prejudiced representation by the artist. 

The question remains still after contextualising this project within her artistic oeuvre. Abril’s works commonly depict people oftentimes in more active settings and in a candid style that contrasts the static posing in this project. For reference, please consider the enclosed example, (Figure 3).114  

Fig. 3: Laia Abril’s Femme Love.

Generally, touch and physical connections are shown in her people-focused works. This proves especially interesting, when considering the purple tint chosen for the trailer that resembles the purple component of the asexual flag which in turn represents community. It seems that an intriguing tension between solitude and community is created – here, deliberately leaving her dark, conceptual pieces that do not focus on people aside. The interpretation of the stills with aid of artist statements, reference to other queer art, and the artist’s oeuvre hence still leaves us with the question of the work’s representational intention and subsequent success. In the final section, a concluding discussion of this very question is to follow under employment of queer theory and theory of representation as introduced before. 

3 Conclusion: The representational value of the Asexuals Project

In light of the insights gained through art analysis and theoretical considerations, a subjective evaluation of the work’s value outstanding. Thinking back now, especially to the theory of representation as an active process of meaning-making, the title Asexuals Project seems interesting and raises the question whether it thereby pushes a narrative of interpreting a specific mood as related to a certain sexual orientation. Calling the work a project implies an active, ongoing process with a specific aim in mind-style nature. Therefore, it may give it an air of a work in progress, something ‘half-baked’ which in turn may diminish its authoritative value. The intention behind the work and the specific poses, setting and interview statements chosen – hence, the decoded meaning – is difficult to assume due to the sparsity of information and framing material available. All the more, can the idea of polysemy be retrieved from the project. To name just one example that emerged during the still’s interpretation: the discrepancy between the dark setting and slouched positions as sign of sadness in loneliness or, contradictorily, as comfort in seclusion. Those approaches then also vary depending on their contextualisation within the video content. Statements in favour of both ways of interpretations can be retrieved for different pictures. As the dominant tone of the trailer is, however, the depiction of struggles to fit into a (heteronormative) society, the interpretation becomes tendentious. In this exhibition of struggles, we almost automatically find a strong sense of ‘othering’ of the subjects. The binary that emerges is counteracting the aim stated explicitly by the artist of presenting asexuals as ‘normal people’.  

Here, the question emerges whether Abril’s shaping of this ideology by portraying the individuals as part of a certain group is challenged by her position as an outsider of the binary she creates. Again, this might pose a degrading threat to the representational value of the work. This positioning in addition to the missing fervour that we might deduce from the way this project was swept under the rug and most traces vanished, sheds a questionable light on the sincerity of the representational attempt. In terms of meanings to decode, they are thereby potentially overshadowed by feelings of confusion. While the basic approach and much of the uttered content holds the power to move the audience, the inconsistencies and breaks within the project generate mixed feelings, and even annoyance. Despite its educational approach which is emphasised by the documentary-style setting and methodology, vital points of education are missed. Without consulting additional resources, it is impossible to receive education on e.g., the intricate terminology and existing concepts of gender and identity within the asexual community. However, if we concede that the main aim of the work is the transmission of the emotional, then the documentary style chosen seems an unfavourable choice. Another medium or different staging could shine a better light on the chosen topic. Overall, the project seems to be combining a variety of fruitful approaches in a manner so convoluted though that it complicates the decoding of representation. 

Reflecting now back on the paper and the insights gained, let us return once more to the research question posed in the beginning. A brief dive into queer theory and asexuality terminology has set the foundational framework within which the analysis of Laia Abril’s Asexuals Project was conducted. It became obvious, especially in reliance on theory of representation as suggested by Stuart Hall, that the quality of representation in her work is dubious and that it exhibits valuable insights but simultaneously presents questionable approaches and framing. However, we need to acknowledge the work itself as an inducement for furthering discourse around asexuality within the queer community and beyond it. Their representation is, as was argued by activists and scholars, lacking not only in the field of queer art. 

The applied crossover of theoretical approaches and art analysis proved fruitful for this cause of retrieving information about this particular intersection of societal affairs and issues of artistry: asexual art and asexual lives. Dealing with the research question in this narrow manner was beneficial for the depth of the research. It would, however, prove interesting for further studies in in this field to widen the scope, comparatively considering additional forms of representation and keeping the scholarly discourse active in this continuously evolving field of study. 

4 References

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‘Fotoausstellung: Queer Heroes in Focus | Karlstorbahnhof e.V.’ <https://www.karlstorbahnhof.de/news/fotoausstellung-queer-heroes-in-focus/> [accessed 12 August 2024]

Gupta, Kristina, ‘Compulsory Sexuality: Evaluating an Emerging Concept’, Signs: Journal of Women in Culture and Society, 41.1 (2015), pp. 131–54, doi:10.1086/681774

———, ‘Gendering Asexuality and Asexualizing Gender: A Qualitative Study Exploring the Intersections between Gender and Asexuality’, Sexualities, 22.7–8 (2019), pp. 1197–1216, doi:10.1177/1363460718790890

Hall, Stuart, ‘Encoding/Decoding’, in Culture, Media, Language: Working Papers in Cultural Studies, 1972-79, ed. by Stuart Hall, Dorothy Hobson, Andrew Lowe, and Paul Willis (Hutchinson, 1980), pp. 128–38

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Jagose, Annamarie, Queer Theory (New York University Press, 2009)

‘Laia Abril’, Vimeo <https://vimeo.com/user4542639> [accessed 12 August 2024]

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‘Laia Abril: Asexuals’, aCurator <https://acurator.com/blog/2014/08/laia-abril-asexuals.html> [accessed 12 August 2024]

Latz, Franziska Selina, ‘Franziska Latz in Conversation with Anon.’, 2024

Rich, Adrienne, ‘Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence’, in The Lesbian and Gay Studies Reader, ed. by Henry Abelove, Michele Aina Barale, and David M. Halperin (Routledge, 1980), pp. 7–24

Robinson, Brandon Andrew, ‘Heteronormativity and Homonormativity’, in The Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies (John Wiley & Sons, Ltd, 2016), pp. 1–3, doi:10.1002/9781118663219.wbegss013

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‘The Asexual Visibility and Education Network | Asexuality.Org’ <https://asexuality.org/> [accessed 1 July 2024]

‘Understanding Asexuality’, The Trevor Project, 2024 <https://www.thetrevorproject.org/resources/article/understanding-asexuality/> [accessed 16 August 2024]


Biografie

FRANZISKA SELINA LATZ ist Masterstudentin am Heidelberg Centre for Transcultural Studies (HCTS) der Universität Heidelberg und absolviert derzeit einen Auslandsaufenthalt an der Seoul National University (SNU). Ihr wissenschaftlicher Fokus liegt auf kulturvergleichenden Analysen zwischen Europa und Ostasien, insbesondere im Bereich „Society, Economy, and Governance“. Ihre Forschungsinteressen umfassen neben politischen und wirtschaftlichen, besonders gesellschaftliche Verflechtungen in transkulturellen Kontexten.

Pigs, 2024 – Vanessa Ruckh

Pigs zeigt zwei weiblich gelesene Personen, deren Gesichter von Schweinemasken verdeckt sind, während sie sich gegenseitig berühren. Die Arbeit thematisiert den sexualisierenden und zugleich verurteilenden Blick der Gesellschaft, der Individuen auf ihren Körper reduziert und sie ihrer Identität beraubt und setzt sich dem entgegen. Durch das Tragen der Masken verlieren die dargestellten Personen ihre Individualität und werden symbolisch zu Nutztieren degradiert.
Die Arbeit verweist auf historische Praktiken der Disziplinierung, insbesondere auf die im Mittelalter verwendeten Schandmasken, die als Bestrafung für als unangemessen empfundenes Verhalten von Frauen eingesetzt wurden. In diesem Kontext hinterfragt Pigs Mechanismen sozialer Kontrolle und Normierung sowie die fortwährende Stigmatisierung und Objektifizierung weiblicher Körper.

Vanessa Ruckh, Pigs, 2024.

Biografie

VANESSA RUCKH schloss im vergangenen Jahr ihr Studium an der Kunstakademie Stuttgart als Kommunikationsdesignerin ab und lebt derzeit in Berlin. Sie ist Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und widmet sich einem Projekt, das sich auf die Sichtbarmachung von Sexismus konzentriert. Zuvor veröffentlichte sie das unabhängige Heft Sex Zine, in dem Beiträge von Betroffenen sexistisch motivierter Übergriffe veröffentlicht wurden. Im Laufe ihrer künstlerischen Praxis hat sich die Fotografie immer mehr als zentrales Medium ihres Ausdrucks etabliert.

#7 Editorial

Issue #7 Dark

Die aktuelle Ausgabe von frame[less] widmet sich dem universellen Phänomen der Dunkelheit, das tief in die menschliche Psyche und Kultur eingebettet ist. Dunkelheit kann zunächst einmal sehr simpel als die Abwesenheit von Licht verstanden werden. Diese Definition und die damit einhergehende Gegenüberstellen von hell und dunkel wirf jedoch auch viele metaphorische Bedeutungen hervor. Während Helligkeit und Licht oftmals mit positiven Gefühlen assoziiert werden, gehen mit der Vorstellung von Dunkelheit oftmals düstere, melancholische und negativ behaftete Assoziationen einher. Diese Konzepte, die mit der Vorstellung von Dunkelheit einhergehen, werden seit Jahrhunderten künstlerisch erkundet.

Besonders deutlich in Szene gesetzt wird dieser Kontrast bei barocken Stillleben. Dort trifft die maximale Schwärze des Hintergrundes auf die hell erleuchteten, naturalistisch dargestellten Gegenstände im Vordergrund. Eine bedeutungsvoll aufgeladene Komposition, die sowohl auf religiöse Zusammenhänge verweist als auch auf die irdischen Gegensätze des Lebens zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse aber auch Leben und Tod.

Die Unabbildbarkeit des Todes führt innerhalb künstlerischer Darstellungen zur Substituierung dessen durch dunkle Farbtöne oder zur Darstellung als Personifikationen in Form düsterer Gestalten und Fabelwesen. Die Dunkelheit birgt damit sowohl Faszination als auch Schrecken – für manche mehr als für andere. Sie ist die Nacht, die uns verunsichert, in der wir uns verlieren können, aber auch der Raum, in dem wir uns selbst finden. Das Dunkle kann Schutz bieten, Räume ermöglichen, die im Tageslicht den gesellschaftlichen Konventionen nicht standhalten würden.

Eindringliche Text und Bild-Arbeiten veranschaulichen aber auch die beklemmende Realität, in der Frauen* kontinuierlich der Gefahr vor sexuellen und verbalen Übergriffen im nächtlichen öffentlichen Raum ausgesetzt sind und stellen die drängende Frage nach dem Wegsehen, Weghören und Wegwischen als Schutzmechanismus vor dem Abgrund menschlichen Verhaltens.

In dieser Ausgabe werden unter anderem die oft unsichtbaren, aber äußerst bedeutenden Prozesse beleuchtet, wie sie beispielsweise bei der Entstehung und Weiterführung von Archiven stattfinden. Rassistische und diskriminierende Mechanismen werden aufgedeckt, die historische Dokumentationen und die damit verbundene Geschichtsschreibung beeinflussen und Karikaturen und Fotografien zur Kolonialgeschichte in deutschen Schulbüchern untersucht. 

Doch werfen wir auch einen Blick auf die künstlerische Bedeutung von Licht und Dunkelheit und ihre Rolle zur Erzeugung von einzigartigen visuellen und atmosphärischen Effekten.Es wird deutlich, dass Dunkelheit, als sowohl bedrohliches als auch kathartisches Element eingesetzt wird, als Leerstelle und Endpunkt oder in Verbindung mit Licht als Ausgang für sich formende Prozesse fungiert. Dabei zeigt sich auch, dass das Dunkle nicht nur als Symbol für alles Düstere, sondern als Ausdruck von Eleganz, Klarheit und Ruhe betrachtet werden und zu Selbstreflexion anregen kann. 

Issue #7 von frame[less] widmet sich den Auseinandersetzungen mit dem Thema in Form von wissenschaftlichen Textarbeiten und künstlerischen Beiträgen, die verschiedene Facetten und Interpretationen von Dunkelheit beleuchten.

Left in the dark, 2024 – Anina Göpel

Anina Göpels Projekt LEFT IN THE DARK setzt sich mit Karikaturen und Fotografien zur Kolonialgeschichte in deutschen Schulbüchern auseinander, die teilweise rassistische, diskriminierende und stereotype Vorstellungen vermitteln. Die Arbeit unternimmt den Versuch einer Auseinandersetzung mit den Darstellungen, ohne diese dabei abzubilden. Ausgangspunkt für die Arbeit ist das theoretisch-künstlerische Forschungsprojekt BLACK NOISE / WHITE NOISE von Dieter Daniels, Angelika Waniek und Frederike Moormann an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, bei dem sich die Studierenden mit Aspekten der Kolonialgeschichte beschäftigten.

Anina Göpels Projekt LEFT IN THE DARK setzt sich mit Karikaturen und Fotografien zur Kolonialgeschichte in deutschen Schulbüchern auseinander, die teilweise rassistische, diskriminierende und stereotype Vorstellungen vermitteln. Die Arbeit unternimmt den Versuch einer Auseinandersetzung mit den Darstellungen, ohne diese dabei abzubilden. Ausgangspunkt für die Arbeit ist das theoretisch-künstlerische Forschungsprojekt BLACK NOISE / WHITE NOISE von Dieter Daniels, Angelika Waniek und Frederike Moormann an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, bei dem sich die Studierenden mit Aspekten der Kolonialgeschichte beschäftigten.

Bei der Recherche zu den Geschehnissen in Südwest – und Ostafrika zum Ende des 19. Jahrhundert, wird deutlich, dass die Dokumentation seitens der Kriegsverbrecher zum Teil unter einer Decke von Euphemismen und Umschreibungen liegt. Christoph Kamissek zeigt in seiner 2014 erschienen Biografie von Lothar von Trotha, das verzerrte Selbstverständnis des Generalleutnants (1848-1920). Trotha beschreibt die deutsche Kriegsführung, die 1904 zum grausamen Tod von ca. 65.0000 Hereros und Namas führte als „rücksichtslose Tapferkeit“. Dies argumentierte er mit seiner bekannten und genauso unfassbaren Aussage: „Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, daß sie nur der Gewalt weichen.“ Die deutschen Kriegsverbechen auf diesem Gebiet seien nach Throtha als „Erschließung und Erforschung des Landes“ zu verstehen – alles unter dem Begriff der „Expansions- und Abenteuerpolitik“.111

Derartige geschichtliche Verzerrungen scheinen bis heute nicht abgeschlossen zu sein. Dies zeigt sich auch bei einem Blick in die Schulbücher. Kessete Awet beschäftigt sich in seiner Publikation von 2018 mit der Darstellung der Subsahara Afrikas im deutschen Schulbuch. Nach seinen Angaben werden hier Kolonialherren zum Teil als Siedler:innen bezeichnet. Ebenso wie in den Aussagen von Generalleutnant Lothar von Trotha ist auch in den Schulbüchern von dem gesamten Kontinent „Afrika“ die Rede, sodass Stereotype und eine monoperspektivische Sichtweise eher verstärkt statt abgebaut werden.115

Da sich der Artikel von Kessete Awet nur auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen bezieht, wurden für das Projekt LEFT IN THE DARK noch sechs weitere Schulbücher aus unterschiedlichen Bundesländern und Schularten betrachtet und selbst analysiert (siehe Liste am Ende). In einem Geschichtsbuch für Brandenburger Gymnasien von 2017 wird die „Unterjochung“ der Völker der Verbreitung der europäischen Zivilisation gegenübergestellt und die Bilanz des Kolonialismus widersprüchlich erklärt. Den Gymnasiast:innen werden die hegemonialen, rassistischen und verbrecherischen (post-)kolonialen Strukturen hier als historisches Phänomen mit Vor- und Nachteilen vermittelt. Inhaltsabschnitte im bayerischen Geschichtsbuch für Realschulen von 2003 lauten „Der ‚Wettlauf‘ um Kolonien.“, „Grundlagen und Motive imperialistischer Politik.“ oder „Afrika- Ein Kontinent wird verteilt.“. Die im Geschichtsbuch für bayrische Gymnasien von 2020 zu findende Definition des Imperialismus betrachtet diesen sehr neutral mit ausschließlich dem negativen Aspekt des Rassismus: „Grundlegender Begriff Imperialismus: Streben von Staaten nach weltweiter politischer Machtausdehnung und wirtschaftlichem Einfluss im ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jh., z.B. durch die Gründung von Kolonien, dabei spielten auch religiöses und kulturelles Sendungsbewusstsein sowie rassistische Einstellungen eine Rolle.“ 

Gemeinsam mit dem Grundkurs Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig wurden die sechs Schulbücher analysiert und problematische Inhalte gekennzeichnet. Dabei stieß einem Kommilitonen vor allem ein Bild ins Auge, das er als verletzend und unangemessen empfand. Im Geschichtsbuch (2020) für bayerische Gymnasien wurde im Inhaltsverzeichnis neben dem Kapitel „Imperialismus und Erster Weltkrieg“ eine Karikatur ohne kontextuelle Beschriftung eingesetzt, die rassistische und zynische Aussagen enthält. Sie zeigt weiße Männer, die auf ihrem Rücken Menschen mit landestypischer Kopfbedeckung oder schwarzer Haut auf einen Berg mit der Aufschrift „Zivilisation“ tragen. Darunter steht in englischer Sprache der Titel: „Die Bürde des weißen Mannes“. 

Aufgrund dieser Eindrücke legte sich der Fokus der eigenen Projektarbeit auf den Einsatz kolonialer Bilder in Schulbüchern. Die Geschichtsbücher zeigen alle mehrfach Fotos gefesselter Hereros neben weißen Kolonialherren oder entwürdigende Illustrationen von diskriminierten Bevölkerungsgruppen. Aber auch aktuelle Abbildungen zeigen schwarze Personengruppen oft in ärmlichen Verhältnissen neben weißen Menschen in einer helfenden oder lehrenden und erhabenen Position. Man sieht schwarze Kinder halb bekleidet oder in stereotypierter Bekleidung und Bemalung. Eine Bildüberschrift lautet: „Ungewollt schwanger?- Aufklärungsbemühungen in Afrika.“ Die Abbildung eurozentristischer und rassistischer Inhalte führt zur Reproduktion hegemonialer Strukturen und zu Stigmatisierung. Deshalb wird in dieser Arbeit untersucht, woher diese Bilder kommen und wer darüber verfügen darf. Die Recherche ergab, dass unterschiedliche Archive als Quelle dienten, die alle eine Gemeinsamkeit teilen: ihr europäischer und meist kommerzieller Hintergrund. Genutzte Bildagenturen wie gettyimages -„Storytelling, das bewegt“116 oder mauritius images -„pictures your vision“117 werben mit ihren bis zu 180 Millionen „frischen, kreativen und aktuellen Motiven aus den Bereichen Travel, Nature, Lifestyle und People“118 und darunter befindlichem „historische[n] Bildmaterial mit dokumentarischem Charakter“. Eine Quelle wurde in den Schulbüchern besonders häufig verwendet. Dabei handelt es sich um das europäische Unternehmen ullstein bild -“Leuchtturm für Zeitgeschehen & Zeitgeschichte“119 , welches unter dem Dach der Axel Springer Syndication GmbH steht.

Mit der Umsetzung der Recherche in ein künstlerisches Projekt, stellte sich die Frage, wie der unreflektierte und zum Teil kontextlose Einsatz kolonialer Bilder kritisiert werden kann, ohne das Material selbst zu reproduzieren. Dafür werden die sechs Schulbücher in einem schwarzem Umschlag ausgestellt und von innen verklebt, sodass man sie nicht öffnen kann. Dahinter ist eine Karte installiert, die die Bildbeschriftungen und Quellen des kolonialen Bildmaterials aufzeigt. 

An der Hochschule für Grafik und Buchkunst wurden die Ausstellung präsentiert, welche sich mit Bildern aus unserer Vergangenheit und unserem Alltag im Allgemeinen beschäftigt. Dabei werden die Betrachter:innen dazu aufgerufen, sich mit erlernten Bildern und ihrer persönlichen, visuellen Prägung auseinanderzusetzen. 

An der Hochschule für Grafik und Buchkunst wurden die Austellung präsentiert, welche sich mit Bildern aus unserer Vergangenheit und unserem Alltag
im Allgemeinen beschäftigt. Dabei werden die Betrachter:innen dazu aufgerufen, sich mit erlernten Bildern und ihrer persönlichen, visuellen Prägung aus-
einanderzusetzen.  © Anna Göpel
 © Anina Göpel

AUSBLICK: Methodisches Verfahren zur Auswertung eines Kolonialbildes von Kokou Azamede

Da koloniale Bildinhalte fest integrierter Bestandteil unserer Gesellschaft sind und uns immer wieder begegnen werden, ist es sinnvoll sich mit ihrer Betrachtung auseinander zusetzen. Dafür gibt der Germanist und Historiker Kokou Azamede eine wichtige Orientierung. Er doziert an der Universität Lomé in Toto und forscht im Bezug auf die Dekonstruktion des imperialen Blickes und die defizitäre Kontextualisierung von Kolonialbildern. Werden zum Beispiel ein „Kolonialherr“ und ein afrikanischer Arbeiter zusammen gezeigt, wird zumeist nur die erste Person namentlich genannt und die zweite in generellen Stereotypen präsentiert. Bilder von Afrikaner:innen, die von Europäer:innen gemacht wurden, erzählen zumeist verzerrte Stereotype einer kolonialen Exotik. Zu einer sensiblen Präsentation des Materials gehören nach Azamede nicht nur historische, sondern auch soziale und kulturelle Hintergrundinformationen. Zudem entwickelte er ein methodisches Verfahren, um Kolonialbilder sinnvoll und diskursiv zu reflektieren. In dem Schema liest man zunächst die schon bestehenden Informationen zu dem Kolonialbild, dann beschreibt man die Person(en), Objekte und deren Umgebung auf dem Bild. Erst danach wird der Inhalt auf Basis der vorherigen Schritte interpretiert oder kommentiert. Die Interpretation erfolgt auf Grundlage der Lebensgeschichte der Personen, der dort lebenden Tiere, der benutzten Dinge, der Landschaft, der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und/oder politischen Umgebung, in denen das Bild aufgenommen wurde. Dabei soll der Kommentar wie eine Antwort auf Fragen formuliert sein, die sich durch die Bildbeschreibung stellen lassen. Außerdem kann er sich mit persönlichen Vorurteilen und dem postkolonialen Einflüssen auf die eigene Wahrnehmung auseinandersetzen.120

SCHULBÜCHER BEISPIELE

  • Entdecken und verstehen – Geschichtsbuch – Realschule Bayern – 9. Jahrgangsstufe – 2003
  • Menschen-Zeiten-Räume – Arbeitsbuch für Gesellschaftslehre – Differenzierende Ausgabe NordrheinWestfalen – Band 2: 7./8. Schuljahr – 2013
  • Menschen-Zeiten-Räume – Arbeitsbuch für Gesellschaftslehre – Differenzierende Ausgabe NordrheinWestfalen – Band 3: 9./10. Schuljahr – 2013
  • Forum Geschichte – Neue Ausgabe – Gymnasium Bayern – 8. Jahrgangsstufe – 2020
  • Horizonte – Geschichte für Gymnasium in Berlin und Brandenburg – Schülerband 9 – 2018
  • Geschichte und Geschehen 7/8. Ausgabe Gymnasium in Berlin und Brandenburg – 2017

Biografie

ANINA GÖPEL ist ausgebildete Lehrerin für die Fächer Pädagogik, Psychologie und Kunst. Derzeit ist sie als Kunstlehrkraft am Gymnasium tätig. An der Hochschule für Grafik und Buchkunst ist sie im Zweitstudium Medienkunst eingeschrieben. Ihre Forschungsinteressen liegen im Verlernen hegemonialer Strukturen und der Entwicklungspsychologie. Dabei nutzt sie für ihre künstlerische Praxis neben dem artistic research und der konzeptuellen Installation auch digitale Medien wie 3D-Drucke und Videoarbeiten.

Gräuel, 2024 – Susanne Franz

HINWEIS: In diesem Beitrag geht es um sexualisierte Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Die Installaton Gräuel stellt die drängende Frage nach dem Wegsehen, Weghören und Wegwischen als Schutzmechanismus vor dem Abgrund menschlichen Verhaltens. Sie verwendet eine vielschichtige künstlerische Codierung, um das Unfassbare greifbar zu machen, um ein Hinsehen zu ermöglichen, ein Zusammenzucken, ein möglicherweise flüchtiges Verstehen – jedoch ohne Trost zu bieten. Sie setzt sich mit der Flut von Nachrichten, Artikeln, Tweets, Videos und Bildern auseinander, die die Gräueltaten der Hamas-Terroristen dokumentieren und unsere alltägliche Routine durchbrechen. Nachts, in der Dunkelheit unserer Gedanken, kehren sie zurück: die unfassbaren Worte, die unerträglichen Satzfragmente, die trotz ihrer Unbegreiflichkeit in unser Gedächtnis eindringen.

Beim Betreten des abgedunkelten Ausstellungsraums zieht zu allererst ein weißes, schmuckloses Leinenkleid die Aufmerksamkeit auf sich. In der Mitte des Raumes an transparenten Schnüren angebracht, scheint es fast geisterhaft kurz über dem Boden zu schweben.

An der Wand dahinter ist ein kleinformatiges Ölgemälde zu sehen, das ein schwarz weiß Portrait einer jungen Frau zeigt. Mit der Erwartungshaltung der Betrachtenden brechend ist es kopfüber angebracht. Das Bild ist einem Zeitungsartikel entnommen, der über die Gräueltaten der Hamas berichtet.

Das Ölportrait zeigt die junge Frau noch vor den brutalen Übergriffen – sie ist nicht als Opfer dieser Brutalität abgebildet, allerdings ist ihr Abbild durch die Umkehrung desorientiert und entrückt.

Auf dem Boden angebracht – als Stolperfalle, Irritation – eine Metallplatte, auf der ein Zeitungsartikel aufgezogen ist, der das Schweigen über die Sexualverbrechen der Hamas thematisiert.

Im Flüsterton legt sich über die Szenerie ein Klagteppich aus Wort- und Satzfragmenten von Augenzeugen, welche die schroffe, kaum zu ertragende Realität ihrer Erfahrung im vertraulichen Flüsterton vortragen.

es sind die nachrichten, artikel und tweets, videos und bilder, immer wieder  bilder, die von den gräueltaten der hamas-terroristen berichten und die  alltäglichkeit und routine durchbrechen. gelesen, schockiert den kopf  geschütteln, dann versucht zu vergessen

doch nachts,  

in der dunkelheit der gedanken, 

kommen sie wieder die nicht-fassbaren wörter, die nicht zu ertragenden  satzfragmente, die sich ob ihrer u-n-b-e-g-r-e-i-f-l-i-c-h-k-e-i-t einen weg in das  gedächtnis verschaffen 

massaker an frauen und kindern, blutige unterwäsche,  

enthauptung von säuglingen, das böse, kein entkommen,  

verstümmelungen, mit nägeln und anderen gegenständen in  den genitalien, geschundene körper, hunderte, sexualisierte  gewalt, akribisch geplant, noch während der terrorist sie  

vergewaltigte, schoss er ihr in den kopf, abgeschnittene brüste,  abgetrennte genitalien 

verbrechen gegen die menschlichkeit  

menschen 

gegen menschen. menschen? 

das wegsehen, weghören, wegwischen als schutz vor diesem abgrund  menschlichen verhaltens?  

eine künstlerische codierung, um auszuhalten, um ein hinsehen zu  ermöglichen, ein zusammenzucken, ein glauben, vielleicht. kein trost.

karina 19., öl auf leinwand, 40 x 30 cm, 2024 
Kleid, Leinen, 2024.

Biografie

Geboren 1980 in Altenburg, studierte SUSANNE FRANZ Bildende Kunst und Geschichte an der Universität Leipzig (2000–2006). Sie arbeitete als Museumspädagogin für die Tübke-Stiftung Leipzig und als Galeristin in der Galerie Koenitz, Leipzig. Seit 2017 ist sie freischaffende Künstlerin und Kuratorin in Freiburg im Breisgau. Auszeichnungen und Stipendien umfassen ein Artist-in-Residence-Stipendium im Künstleratelier Nr. 5, Magdeburg (2023), sowie ein Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung für einen Aufenthalt in Warschau und Krakau, Polen (2004). Sie war Preisträgerin der Biennale für junge Kunst in Thüringen (2005). Zu ihren jüngsten Ausstellungen zählen „Im Osten zunehmend bewölkt“ (2023, Kunststiftung Siebeneichler, Altenburg), „Warten auf den Valentinstag“ (2022, dieHO-Galerie, Magdeburg), und das digitale Performance-Projekt „Missverstehen Sie mich richtig“ (2021–2020).

Queere Lebenszeichen. Eine Analyse von Barbara Hammers Vital Signs (1991), 2024 – Marius Hoffmann

Themen der Sterblichkeit, Lebendigkeit, Trauer, aber auch Zuneigung werden in Barbara Hammers Kurzfilm Vital Signs (1991) durch eine abstrakte Montage aus einer Vielfalt an technischen und motivischen Bildern wirksam. Marius Hoffmann veranschaulicht in seiner Untersuchung, wie dieses Kunstwerk die Gefühle um den Tod nicht scharf von denen des Lebens trennt. Stattdessen legt es sie als etwas miteinander verwobenes, gar verqueertes offen. Denn es ist die unverforene, lesbisch-queere Ausdrucksstärke des Werkes, welche den Tod nicht als Spektakel präsentiert, sondern als komplexe Erfahrung anknüpfbar macht.

Vor leuchtend blauen Steintreppen tanzen ein Skelett und ein Mensch einen langsamen Walzer. Der Mensch beäugt das Skelett liebevoll, während dessen weißer Hochzeitsschleier im Wind ihrer Bewegungen weht. Ihre Körper sind geisterhaft ummantelt, sie sind von dem eigenen Abbild ihrer selbst überblendet. Im Hintergrund rauscht Satz Eins der Solovioline von Camille Saint-Saëns‘ Danse Macabre (1874). Bei dieser wunderlichen Komposition handelt es sich um die ersten sieben Sekunden des experimentellen Kurzfilms Vital Signs (1991) der US-amerikanischen Künstlerin Barbara Hammer (Abb. 1). Darin widmet sie sich über 09:41 Minuten dem Themenkomplex um Krankheit, Tod und Trauer. Sie tut dies auf populärkultureller und philosophischer, aber in erster Linie persönlicher Ebene.

Abb. 1: Barbara Hammer, Vital Signs, 1991, 16 mm Schwarzweiß- und Farbfilm mit Ton auf Video, New York, Electronic Arts Intermix. Bildrechte mit freundlicher Genehmigung durch Karl McCool: Courtesy of the Estate of Barbara Hammer and Electronic Arts Intermix (EAI), New York.

Zusammenschnitte von intimen Szenen zwischen der Künstlerin und ihrer innerfilmischen Skelett-Partnerin alternieren mit Aufnahmen aus Krankenhäusern, Ausschnitten von Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour (1959), Material, das an Röntgenbilder erinnert, sowie Zelluloid-Folien, bedruckt mit Auszügen aus Michel Foucaults Die Geburt der Klinik (1963). In diesem Aufsatz verfolge ich die These, dass Vital Signs ein künstlerischer Kurzfilm ist, der zeigt, wie die meist im Dunkeln bleibenden Gefühle um Tod und Trauer kaum vom Leben und der Freude daran zu trennen sind. Statt einer Unterscheidung werden sie als miteinander verwoben, gar verqueert offengelegt: die unverfrorene, lesbisch-queere Ausdrucksstärke von Hammers Vital Signs, präsentiert den Tod nicht als Spektakel, sondern macht ihn als komplexe, menschliche Erfahrung anknüpfbar. Den Begriff queer verwende ich wie Natascha Frankenberg ihn beschreibt, als einen Begriff, dem das Potenzial der Kritik an normativen Strukturen und der Forderung nach deren Aufbruch innewohnt.1 Zunächst widme ich mich dem Medium Film und zeige mittels Laura Mulveys Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image (2006) und Barbara Hammers eigenem Essay zur Politik der Abstraktion (2018), weshalb es sich durch die inhärente Verknüpfung von Lebendigkeit und Tod dazu eignet, menschliche Erfahrungen mehr als nur darzustellen. Dann werden exemplarische Ausschnitte aus Vital Signs daraufhin untersucht, wie sie Leben und Tod in das Bewegtbild bringen, wozu Sarah Kellers Auseinandersetzung mit Barbara Hammers Arbeitsweise, Gesamtwerk und Erbe – Barbara Hammer. Pushing Out of the Frame (2021) – das Fundament bildet. Um abschließend das Politische dieses experimentellen Kurzfilms zu reflektieren, bietet Judith Butlers Feststellung in Gewalt, Trauer, Politik (2005) den Hintergrund, indem sie betont, dass die „[…] Orientierungslosigkeit der Trauer […] den Ausgangspunkt für ein neues Verständnis bilden [kann; MH], wenn die narzißtische [sic!] Sorge der Melancholie in Berücksichtigung der Verletzbarkeit von anderen umgemünzt werden kann.“2

Lebenszeichen 1 – Film und Rhythmus

Binnen Sekunden, nachdem das tanzende Paar auf der kolorierten Bildfläche erscheint, schneidet das Bild zu einem schwarzweißen Filmausschnitt, in dem ein Krankenhausbett den Flur entlang geschoben wird. Der akustische Danse Macabre wird durch das Flirren eines Tonbandes unterbrochen; lediglich ein unregelmäßiges Krächzen ist zu vernehmen. Mit schnellem Schnitt erscheint wieder das tanzende Paar und nach mehreren Runden des Walzers setzt auch das Musikstück klangvoll wieder ein. Sodann erscheint in weißen Lettern auf schwarzem Grund der Titel: Vital Signs – er zittert, als würde er projiziert werden.3

Schon in diesen ersten Sekunden ist zu erkennen: wir haben es hier mit einer Montage zu tun. Der 16mm Film ist auf Video zu sehen – eigentlich ist es sogar das Digitalisat dieser Übersetzung, auf welches ich mich beziehe.4 Die spezifischen Ästhetiken dieser verschiedenen Filmtechnologien schreiben sich in die Bilder von Vital Signs ein – sei es das Korn und das Ruckeln der 16mm-Aufnahmen von Krankenhausbetten, oder die langsame Zeilenschreibung, die sich beim Laden der digitalen Bilder im Film nachverfolgen lässt, wie es in den 1990er Jahren der Fall war. Es erscheint daher wie eine bewusste Entscheidung der Künstlerin, diese verschiedenen Ästhetiken zusammenzubringen. Sie machen den Kurzfilm als eine Montage sichtbar. So werden die fließenden Muster der Faszination, wie sie aus dem Mainstream Kinofilm noch heute bekannt sind, filmisch-strategisch unterbrochen und der zeitweilige Verlust des Selbstempfindens der Betrachtenden in einer störungsfreien Narration verhindert.5 Sie bleiben auf das Medium zurückgeworfen. Eine solche Strategie nutzt Hammer, um die Aktivität ihres Publikums beizubehalten und Interpretationen zu fordern, statt zu liefern.6

Für die Themen von Vital Signs ist dies von besonderer Bedeutung, denn wie Laura Mulvey beschreibt, sind Lebendigkeit und Tod inhärente Eigenschaften des Mediums Film, haben sie sich doch entlang seiner technischen Entwicklung aus der analogen Filmfotografie in die Ästhetik des Mediums eingebrannt.7 Das analoge Bewegtbild betrachtet sie daher als rhythmisierte Wiederbelebung der in die Zelluloidframes eingeschriebenen Personen und Erinnerungen, welche durch die Inbetriebnahme des Projektors auf eine Geschwindigkeit von zum Beispiel 24 Bildern pro Sekunde ermöglicht wird.8 Das Digitalbild, auf welches ich mich hier letztendlich beziehe, ist wiederum nicht auf einen chemisch-indexikalischen – das heißt spurenbasierten – Abdruck der Vergangenheit zurückzuführen, sondern mehr auf eine technologische Umwandlung des Abbildes von Lebendigem vor der Kamera in einen digitalen Code. So entsteht bei dem Screening von Digitalfilm erst auf der Projektionsfläche ein Bild; dieses scheint nicht durch den Körper der Filmrolle hindurch, sondern wird unaufhörlich durch computergesteuerte Pixel zusammengesetzt. Wird das Screening beendet, so verschwindet das Bild gänzlich. Was diese unterschiedlichen technischen Bilder im Dispositiv des institutionellen Filmscreenings vereint ist, dass ihr auf die Leinwand geworfenes Bild aus Lichtwellen besteht, die sie mit dem Projektionsapparat zu einem Korpus verbinden.9 Im Falle von Vital Signs‘ Digitalisat muss der Korpus des Films also etwas anders gedacht werden als bei einer physischen Filmrolle oder Videokassette. Wenn die Projektion des Digitalisats endet, verbleibt kein physisch mit Bildern beschriebener Filmkörper zurück – eine DVD oder ein USB-Stick weisen keine analog sichtbaren Spuren des Films mehr auf. Deshalb ist Vital Signs existenziell an die Illusion des Indexikalischen auf der Projektionsfläche gebunden.10 Für Mulvey bedeutet diese Illusion des Lebendigen des Films zugleich, dass er am Ende verstirbt.11 Vital Signs ist demnach also nur so lange lebendig, wie der Film tatsächlich läuft; die Bilder sind dessen eigene Lebenszeichen.

Dass das Medium Film in seiner eigenen Ästhetik stets mit der Vergänglichkeit von Zeit selbst verknüpft ist, macht den Film zu einem Instrument, das die Vergänglichkeit von Momenten – und damit menschlicher Existenz – erfahrbar macht.12 Dieses Instrument wendet Barbara Hammer vielfältig an, wenn sie die Strategie der Montage wählt, bei dem unterschiedliche filmtechnische Bilder zusammenkommen. In ihrer Montage ergeben die filmtechnischen Spezifika, wie die Materialität der Zelluloidbilder oder das ‚Laden‘ der Digitalbilder, einen ästhetischen Rhythmus, der dem Fluss der Bilder selbst gleicht. Sie machen das Vergehen von Zeit beim Betrachten erfahrbar. Es überrascht an dieser Stelle nicht, dass Hammer für ihre experimentelle Arbeitsweise mit Film festhält, dass Form und Inhalt untrennbar sind.13 Während sie in ihren frühen Arbeiten der 1970er Jahre die Kamera wie ein Auge verwendet hat, um lebensnahe lesbische Repräsentation auf der Ebene des Bildes zu schaffen, verfolgt sie ab den 1980er Jahren abstrakte Formen des Filmens, um die Ausdrucksfähigkeit tiefer Emotionen im Film zu erforschen.14  In Vital Signs – eine Arbeit aus den 1990er Jahren – kommen diese Motivationen zusammen. Sarah Keller beobachtet bei Vital Signs, dass ihre Strategien aufeinandertreffen. Ein Beispiel dafür ist der medium close two-shot: eine Nahaufnahme zweier Figuren von Schulter bis Scheitel, der charakteristisch für Hammers intime Repräsentation von lesbischen Paaren aus den 1970ern ist; sie trifft auf den oft durch Farbigkeit auffälligen split screen. (Abb. 2).15 Zudem bedient sie sich der Technik des multicoloring, sowie der Verwischung und Verdopplung von Aufnahmen, die sie mit den Worten Kellers zu einem Mosaik der Bedeutungen montiert; das Bindemittel dieser ästhetischen Strategien und dem visuellen Inhalt seien die Fragen der Mortalität.16

Abb. 2: Barbara Hammer, Vital Signs, 1991, 16 mm Schwarzweiß- und Farbfilm mit Ton auf Video, New York, Electronic Arts Intermix. Bildrechte mit freundlicher Genehmigung durch Karl McCool: Courtesy of the Estate of Barbara Hammer and Electronic Arts Intermix (EAI), New York.

Lebenszeichen 2 – Knochen, Musik, die Klinik und das Spektakel um den Tod

Rufen wir uns das Bild des tanzenden Paares – ein Skelett und ein Mensch – wieder in Erinnerung, wird schnell deutlich, wie Hammer den Ton für die Rezeption der beiden als Paar setzt, dessen intime Beziehung von dem Thema Tod gezeichnet ist (Abb. 1). Zuerst ist es das Skelett, das eine lange Tradition als mitunter vergeschlechtlichte Personifikation des Todes selbst referiert. Als blasse Frau, mit zugekniffenen Augen und dunklem Gewand beschreibt beispielsweise schon Cesare Ripa die Personifikation des Todes in seiner Version der Iconologia von 1645; darüber abgebildet ist ein Stich, der ein knochiges Wesen in schwerem Gewand mit Menschenmaske zeigt.17 Dass das Skelett als mitunter weiblich gelesene Personifikation des Todes verstanden werden kann, hat also Tradition.18 Jedoch entgegen einer solchen traditionsreichen Stereotypisierung des trägen und kränklichen Todes, setzt Hammer bereits in den ersten Sekunden dem Tod einen weißen Schleier auf und versetzt die Figur durch den Walzer mit einer menschlichen Figur in Bewegung. Diese kann ebenso weiblich gelesen werden. Es ist Barbara Hammer selbst, die eine Vermählung mit dem Skelett vollzieht. Hammer trägt ein lockeres dunkles Sakko und hat die rotbraune Kurzhaarfrisur in alle Richtungen gestylt.

Das Skelett wird hier durch den Schleier zwar als Partnerin inszeniert, es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es weder zeichnerisch animiert ist noch anderweitig eine Illusion der eigenständigen Bewegung besteht. Es bewegt sich lediglich durch Hammers Interaktion; die lebendige Erscheinung ist von ihrer Zuwendung abhängig. Diese Passivität des Skeletts könne als strategische, humoristische Enttäuschung der Erwartungshaltung einer romantischen Zweisamkeit seitens der Betrachtenden begriffen werden.19 Vielmehr ist es aber der morbide Humor, der sich aus der Differenz dieser beiden Figuren ergibt, der die Verknüpfung von zwischenmenschlicher Romantik und dem Tod herausfordert. Dieser Humor wird im Verlauf der Bildsequenzen in denen Hammer mit dem Skelett interagiert deutlicher, so scheitert sie beispielsweise daran, das Skelett mit Spaghetti zu füttern.20 Sogar die Aufnahmen ihrer lustvollen Interaktionen begleitet dieser morbide Humor.21  Hetero- (und homo)normative Vorstellungen von Liebe – darunter die Idealisierung der Ehe als Inbegriff des Glücks, gar des Lebens selbst – fungieren in der westlichen Gesellschaft als existenzielle Marker eines glücklichen Lebens.22 Wenn auch die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA erst 2015 bundesweit für zulässig erklärt wurde,23 scheint Barbara Hammer schon 1991 diese Vorstellung durch ihre morbid-humoristische Inszenierung des ungleichen, freimütig queeren Ehepaares auf den Arm zu nehmen. Sie reiht sich damit in einen regen Austausch der Queer Theory über die Auswirkungen der Normativität von gleichgeschlechtlicher Ehe ein.24

Hammers Queering des heteronormativen Charakters der Ehe innerhalb der westlichen Gesellschaft wird durch die in Vital Signs immer wieder einsetzenden (und vor dem ersten Höhepunkt abbrechenden) Violine des Danse Macabre (1874) pointiert. Das Stück basiert auf einem Gedicht von Henri Cazalis, welches zuerst 1872 durch Saint-Saëns vertont und dann 1874 als reines Musikstück umgeschrieben wurde; darin beschreibt der Text die sexuelle Hingabe zweier vermutlich verstorbener, heterosexueller Menschen aus unterschiedlichen Klassen im Dunkel der Nacht und in der ausformulierten ‚Gleichheit‘ im Tode.25  In Vital Signs inszeniert die unaufhörliche Wiederholung des Anfangs und Abbruchs dieses musikalischen Totentanzes die Verknüpfung von Leben und Tod, die nicht aufgelöst werden kann. Rufen wir uns in Erinnerung, dass das Skelett von der Zuwendung Hammers abhängig ist, wird klar, dass letztendlich sie durch ihre Zuneigung als treibende Kraft die Narration einer romantischen Beziehung in Vital Signs aufrechterhält, ohne dabei einer typischen narrativen Erfüllung von Zuneigung in gegenseitiger Zuwendung oder endgültigem Tod nachzugeben. Im letzten Drittel der Montage kehrt das tanzende Paar wieder auf den Bildschirm zurück. Hammer, die das Skelett auf beiden Armen trägt, geht in die Knie und die Worte „For when she dieth“26 werden dem Bild überblendet. Selbst hier gegen Ende der Narration des Tanzes bleibt durch die Koexistenz der beiden Körper vieldeutig, ob und weshalb nun das Skelett verstirbt, oder stattdessen über den Kontext ihrer Beziehung die Sterblichkeit des lebendigen Körpers thematisiert wird. 

Im Gesamtverlauf von Vital Signs folgen mehrere Sequenzen dem Bild von Intimität, das direkt nach der Titelkarte des Films etabliert wird. Noch bei schwarzem Bild leitet eine Stimme aus dem Off ein: „Say… something; something fell off the… uh… ventilator, and it‘s starting to make those sounds…“.27 Bei der Hälfte des Satzes erscheint ein Standbild im medium close two-shot in welchem Hammer auf mehreren, unterschiedlich kolorierten Bildebenen ihren Kopf auf der Schulter des Skeletts ablegt, dieses liebevoll anblickt, oder sich zu einem Wangenkuss reckt (Abb. 2). Am Schlüsselbein des Skeletts prangt ein ausgefranster Papierfetzen mit der Aufschrift „Something Wild.“28 Deutlich ist, dass das Skelett durch das Schriftstück als Something identifiziert wird. Hammers Zuneigung drückt sich in ihrer vervielfachten Körpersprache aus, wobei die Vervielfachung dazu führt, dass binnen weniger Sekunden der Einblick in einen längeren erzählerischen Zeitraum gewonnen werden kann. Während im ersten Filmstill dieser Art noch die Unterschiedlichkeit der Figuren dominiert, so scheint mit der Zeit diese Differenz zu verschwinden. Es folgen immer wieder weitere Standbilder dieser Art, die eine multikolorierte Vielbildlichkeit aufweisen. Häufig zeigen sie gleiche Körperteile des Skeletts und Hammers nebeneinander und/oder bildtechnisch überlagert. So wird ein Vergleich zwischen dem lebenden und dem ‚toten‘ Körper suggeriert, wobei auf Dauer auch ihre Gemeinsamkeiten auffallen. Anders formuliert: es scheint, als böte sich ein Einblick in das Innere des Körpers dar (Abb. 3). Die Montagen lassen die Grenzen zwischen beiden Körpern verschwimmen und ermöglichen damit die Wahrnehmung, dass sie durch mehr als ihre Interaktion verbunden sind.

Abb. 3: Barbara Hammer, Vital Signs, 1991, 16 mm Schwarzweiß- und Farbfilm mit Ton auf Video, New York, Electronic Arts Intermix. Bildrechte mit freundlicher Genehmigung durch Karl McCool: Courtesy of the Estate of Barbara Hammer and Electronic Arts Intermix (EAI), New York.

Tatsächlich ist Vital Signs Teil eines experimentellen Filmtrios. Dem Film von 1991 gehen die Filme Sanctus (1990) und Dr. Watson’s X-Rays (1990) voraus, in denen Hammer auf unterschiedliche Weise der Erforschung des Körper-Inneren durch Röntgenbilder auf die Spur geht. Während sie in Sanctus (1990) mit dem found footage Material der Cinefluography (bewegte Röntgenbilder) von James Sibley Watson und Sydney Weinberg arbeitet, geht sie in Dr. Watson’s X-Rays (1990) der Entstehung und der medizinischen sowie ästhetischen Motivation dieses Materials auf experimentell-dokumentarische Weise auf den Grund.29 Wenn sie zuvor noch das bewegte Röntgenbild selbst in ihren Film eingearbeitet hat, nähert sie sich bei Vital Signs seiner beweisartigen Ästhetik auf experimentelle Weise und erweitert sie um zeitgenössische Referenzen. So zeigt sie multikolorierte Bilder von Knochen neben und über Bilder von Körpern; sie erzeugt schattenhafte Körperumrisse und -überblendungen; eingesetzte Papierfragmente oder digitale Textfelder mit Worten wie Epidemic liefern medizinische Kontextualisierungsansätze, bleiben jedoch uneindeutig. Hammer reproduziert eine medizintechnologische Ästhetik der 1990er Jahre, indem sie die schrittweise Zeilenschreibung beim Laden digitaler Bilder auf Röhrenbildschirmen abbildet.30

Diese Ästhetik wird hervorgehoben, indem Aufnahmen aus der Klinik, in welcher Hammers Vater verstarb mit den Körperbildern intervenieren (Abb. 4).31 Während Assoziationen zu den Bedingungen um den Körper und dessen Sterblichkeit im klinischen Kontext gefördert werden, verstärken die Hammers früherem Realismus entsprechenden Krankenhausaufnahmen die Lebensnähe des Films.32 Auf der Tonspur werden diese Bilder neben dem fortwährend unregelmäßigem Danse Macabre-Fragment auch durch technisches Rauschen und Piepen, sowie einer eintönigen Stimme begleitet, die Zahlen wie medizinische Werte eines Körpers aufsagt. Das unablässige Alternieren der verschiedenen Motivgruppen macht eine völlige Auflösung der hier angeführten Untersuchungen zu einem abgeschlossenen Narrativ durch die Betrachtenden jedoch unmöglich. 

Abb. 4: Barbara Hammer, Vital Signs, 1991, 16 mm Schwarzweiß- und Farbfilm mit Ton auf Video, New York, Electronic Arts Intermix. Bildrechte mit freundlicher Genehmigung durch Karl McCool: Courtesy of the Estate of Barbara Hammer and Electronic Arts Intermix (EAI), New York.

Lebenszeichen 3 – Verletzlichkeit menschlicher Existenz

Neben der persönlichen Referenz auf den Verlust ihres Vaters, finden sich in der Montage von Vital Signs weitere Bilder, die Anschlüsse an kulturelle und gesellschaftliche Geschehnisse des späten 20. Jahrhunderts ermöglichen.33 Sie decken weitere Marginalisierungen der Körper in Vital Signs – wie es die lesbische Beziehung zwischen dem Skelett und der Künstlerin offenkundig bereits tut. Einerseits überträgt Hammer Auszüge von Michel Foucaults Die Geburt der Klinik (1963) auf Zelluloidfilm und bringt diese mittels Durchleuchtung in das digitale Bild. Textstellen in denen Foucault die Sichtbarkeit von kranken Körpern beschreibt hebt sie hervor, indem sie den Film um die Worte herum zum Beispiel aussticht; an anderer Stelle schwärzt sie den umliegenden Text und spart lediglich die Passage in der Foucault die Verknüpfung von Krankheit und Spektakel beschreibt aus.34 Für Sarah Keller zeigt dies die Verarbeitung von theoretischem Wissen um die diskursive Konstruktion von gesunden Körpern, während im Zuge dessen erkrankende Körper zum Spektakel würden.35 Auf dieselbe Weise bringe Hammer mit der Schrift Foucaults, der selbst an einer HIV-Infektion verstorben ist, auf doppelte Weise die Macht der medizinischen Institution über die Bestimmung von zu rettenden Körpern ins Bild, ohne ausschließlichen Bezug auf die AIDS-Epidemie.36 Dass Hammer im Abspann eine Widmung an ihren verstorbenen Vater John Wilbert Hammer, sowie die verstorbenen Curt McDowell (befreundeter queerer Filmemacher) und Vito Russo (befreundeter queerer Autor) offenbart – beide Letzteren starben infolge einer HIV-Infektion – betont die Verschränkung von historischem und persönlichem Erleben des Todes vielfältig marginalisierter Körper, sowie die Trauer um diese.37

„Verlust und Verletzbarkeit ergeben sich offenbar daraus, daß [sic!] wir sozial verfaßte [sic!] Körper sind: an andere gebunden und gefährdet, diese Bindungen zu verlieren, ungeschützt gegenüber anderen und durch Gewalt gefährdet aufgrund dieser Ungeschütztheit“38, schreibt Judith Butler zur politischen Kondition des Körpers. Hammers Filmzitate aus Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour (1959) stellen eine populärkulturelle Verbildlichung und damit das inszenierte Spektakel von Kriegsopfern dar – ihre latente Bedeutungsebene ist die der Gewalt. In Hiroshima, mon amour sind die hospitalisierten Körper der Japaner:innen nicht nur durch Krankheit marginalisierte Körper, sondern auch narratorisch marginale Figuren, welche schlicht der Entwicklung der Geschichte der französischen Hauptfigur dienen, wobei die Hospitalisierungssituation Ausdruck ihres Opfercharakters sei, so Sandrine Sanos.39 Dass sich Hammer bei dem Zitieren aus diesem Film nahezu ausschließlich auf diese Körper konzentriert, hebt ihre Verletzung durch Gewalt, ihre Verletzbarkeit hervor. So blickt zum Beispiel eine japanische Frau, die in Folge des Atombombenabwurfs über Hiroshima im Krankenhausbett sitzt, von ihrem Buch auf und schaut direkt in die Kamera; sie konfrontiert.40 Judith Butler verfasst, dass die Wahrnehmung und Anerkennung der Verletzbarkeit von Körpern kein selbstverständlicher Akt sei – wie könne sonst kriegerische Gewalt ethisch gerechtfertigt werden – deshalb aber sei die durch Sprache oder andere Handlung ausgeführte Anerkennung von Verletzbarkeit ein unerlässlicher Akt für die Anerkennung des Menschlichen.41 Einen solchen Akt der Anerkennung vollzieht Hammer in Vital Signs und macht sie durch ihren experimentellen Kurzfilm vielfältig sichtbar, darüber hinaus wahrnehmbar und anschlussfähig.

Es zeigt sich, dass es nicht nur die Körper der Künstlerin und des Skeletts sind, welche die Konventionen um zwischenmenschliche Erfahrungen von Zuneigungen und Tod herausfordern – also queeren – sondern bereits das Medium des Experimentalfilm selbst macht diese inhaltliche Thematik von Mortalität auf vielfache, verquickte und insbesondere unabgeschlossene Weise erfahrbar. Da Sichtbarkeit von schweren und komplexen queeren Lebenserfahrungen als (historische) Ressource für eine queere Gemeinschaft dienen, plädiert Heather Love in ihrem Aufsatz Compulsory Happiness and Queer Existence (2007) für ihren Erhalt.42 Indem Barbara Hammer in Vital Signs das beschriebene Mosaik an persönlichen, popkulturellen und historischen Bildern um die Themen Liebe, Körper, Tod und Trauer eröffnet, schafft sie eine solche Ressource. Es ist besonders zu betonen, dass sie dabei merklich von ihrer eigenen lesbischen Lebenserfahrung ausgeht und diese in den Kurzfilm einfließen lässt. Tod und Trauer werden gleichwertig der Zuneigung als Teil der menschlichen Erfahrung von Leben inszeniert, wobei queere und marginalisierte Körper in den anschlussfähigen Motivgruppen explizit und – erinnern wir uns an den morbiden Humor – unverfroren eingeschlossen werden. 

Eingangs zitiert stellt Judith Butler in Gewalt, Trauer, Politik (2005) fest, dass die „[…] Orientierungslosigkeit der Trauer […] den Ausgangspunkt für ein neues Verständnis bilden [kann; MH], wenn die narzißtische [sic!] Sorge der Melancholie in Berücksichtigung der Verletzbarkeit von anderen umgemünzt werden kann.“43 In Anbetracht dessen, dass die experimentelle Montage in Vital Signs stets zu einem Abbruch und Neustart von Narrationen um Tod und Trauer führen und die Betrachtenden mit dem Vergehen der Zeit ohne klare Orientierung zurücklassen, wird aktive Reflektion unumgänglich. Anders lässt sich eine Frage wie Was bedeuten diese Fragmente (für mich)? nicht erschließen. Essenziell ist dabei jedoch, dass die Bilder von romantischer Liebe, intimer Zuneigung, Krankheit und Tod miteinander immerzu verwoben werden. Keine zeitliche Abfolge lässt sie zu einer kongruenten Narration verbinden. Die stete Wiederholung der Motivgruppen, sowie die immerzu mögliche technische ‚Wiederbelebung‘ der Bilder über den Neustart des Films sind die (Un)Konstanten, welche Reflexionen über die Vielschichtigkeit der menschlichen Erfahrung darbieten. Dem Verständnis von Butler und Love entsprechend ist Vital Signs daher eine Ressource für die Reflektion über die Vielfalt an verletzlichen, menschlichen Existenzen. Ihre verletzlichen alternierenden Rhythmen sind die titelgebenden Vital Signs.

Biografie

MARIUS HOFFMANN studiert seit 2022 Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Ruhr-Universität Bochum, wo er zudem als wissenschaftliche Hilfskraft im musealen Bereich und der Forschung mit einem Schwerpunkt in der Kultur- und Geschlechtergeschichte arbeitet. An der RUB beschloss er zuvor seinen B.A. in Kunstgeschichte und Medienwissenschaften mit einer Arbeit zu Fluidität als Identitätsverhandlung in der Performance-Kunst von caner teker. Zurzeit lassen ihn Thematiken der institutionalisierten Identitäts- und Erinnerungspolitik nicht los. Erst im Mai 2024 erschien sein kritischer Aufsatz Modus Kontaktzone: die Neuerfindung des GRASSI Museums für Völkerkunde zu Leipzig in GA2. Kunstgeschichtliches Journal für studentische Kritik und Forschung.

Fußnoten

  1. Vgl.: Natascha Frankenberg: Wann und wo wird queerer Film gewesen sein? Keine Coming-Of-Age Geschichte, in: Dagmar Brunow und Simon Dickel (Hrsg.): Queer Cinema, Mainz 2018, S. 198-218, hier: S. 200.  ↩︎
  2. Judith Butler: Gewalt, Trauer, Politik, in: dies (Hrsg.): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main (2005 [2004]), S. 36-68, hier: S. 47. ↩︎
  3. Siehe hierzu: 00:00-00:28 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  4. Für die Verfügbarkeit des Digitalisats danke ich Karl McCool von der Electronic Arts Intermix, in deren Archivbeständen die Arbeit verortet ist. Siehe hierzu URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  5. Ich setze hier das projizierte Screening im dunklen Kinosaal als Rezeptionsraum für Vital Signs, wie zum Beispiel bei einem institutionellen Filmscreening im Museum oder einem Filmfestival voraus, da dies den Regelfall für die Rezeption von Hammers Filmen darstellt. Und so zitiere ich hier in Anlehnung an den Kinofilm Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino, in: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, 4. Auflg. Stuttgart 2001, S. 389-408, hier: S. 395. Weiterführend zum kinematografischen Dispositiv – dem Rezeptionsrahmen des Kinofilms gilt: Jean Baudry: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Robert F: Riesinger (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte (Film und Medien in der Diskussion 11), Münster 2003, S. 41-62, besonders S. 45, Fußnote 3. ↩︎
  6. Vgl. Barbara Hammer: Politik der Abstraktion, in: Dagmar Brunow und Simon Dickel (Hrsg.): Queer Cinema, Mainz 2018, S. 219-225, hier: S. 224. Das englische Original erschien erstmals 1993 als The Politics of Abstraction in: Martha Gever, Prathiba Parmar und John Greyson (Hrsg.): Queer Looks: Perspectives on Lesbian and Gay Film and Video, New York 1993, S. 70-75. ↩︎
  7. Vgl.: Laura Mulvey: Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London 2006, S. 17 f. ↩︎
  8. Vgl.: ebd. ↩︎
  9. Vgl.: Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 5. Aufl., Stuttgart: 2012, S. 43. Zum Begriff Dispositiv: Vgl.: Baudry 2003, S. 42-45. ↩︎
  10. Vgl.: Mulvey 2006, S. 67. ↩︎
  11. Vgl.: ebd., S. 68-71. Die Bedeutung der Pausierung in Mulveys Theorie führt an dieser Stelle zu weit. Jedoch verfasst Maria Walsh eine interessante Kritik an Mulveys Herangehensweise, der an dieser Stelle bedacht wird, aber leider nicht weiterverfolgt werden kann. Sie schreibt: „Curiously, Mulvey’s thesis in Death 24x a Second, whereby the viewer can now subject cinematic time to delay, resurrects fetishism [herv. MH] as a new and radical mode of spectatorship. […] the ramifications of proffering fetishism as a new mode of spectatorship and claiming that spectatorship itself is feminized in the resurgence of the still image in the digital need to be thought through a bit further.” Maria Walsh: Against Fetishism: The Moving Quiescence of Life 24 Frames a Second, in: Film Philosophy 10.2 (2006), S. 1-10, hier S. 3-4; URL: http://www.film-philosophy.com/2006v10n2/walsh.pdf (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  12. Vgl.: Mulvey 2006, S. 67. ↩︎
  13. Vgl.: Hammer 2018, S. 222. ↩︎
  14. Vgl.: Hammer 2018, S. 222 f. Für eine vollständige Übersicht des sich über fünf Dekaden entwickelnden Gesamtwerks von Barbara Hammer siehe auch: Sarah Keller: Barbara Hammer. Pushing Out of the Frame (Queer Screens), Detroit 2021. ↩︎
  15. Vgl.: Sarah Keller: Barbara Hammer. Pushing Out of the Frame (Queer Screens), Detroit 2021, S. 104. ↩︎
  16. Vgl.: ebd., S. 104 f.  ↩︎
  17. Vgl.: Cesare Ripa: Iconologia del cavalier Ripa. Ultima Impressione, Venedig 1645, S. 423; URL: https://archive.org/details/iconologia00ripa/page/n493/mode/1up (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  18. Ich mahne hier an, dass das Skelett abgesehen von dem kulturell kodierenden Schleier kaum ohne weiteres lesbare Marker von Geschlechtsidentität aufweist, die nicht in der Interaktion zwischen beiden angelegt sind; es lohnt sich an anderer Stelle weiterzuverfolgen, inwiefern das Skelett auf diese Weise das Thema Geschlechtsidentität in Vital Signs von einer binären und essentialistischen Vorstellung lösen könnte. ↩︎
  19. Vgl.: Keller 2021, S. 105. ↩︎
  20. Vgl.: ebd., Siehe hierzu: 04:54-05:09 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  21. Siehe hierzu: 05:36-05:40 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  22. Vgl.: Heather Love: Compulsory Happiness and Queer Existence, in: New Formations. A Journal of Culture / Theory / Politics 63 (2007), S. 52-64, hier: S. 53 f. ↩︎
  23. Vgl.: O.A.: Supreme Court legalisiert Homo-Ehe für alle, URL: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-06/hoechstes-us-gericht-erklaert-homo-ehe-landesweit-fuer-zulaessig (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  24. Hierzu kann Folgendes als weiterführendes Beispiel des Diskurses betrachtet werden: Michael Warner: The Trouble with Normal. Sex, Politics and the Ethics of Queer Life, Cambridge 2000. ↩︎
  25. Vgl.: Sabine Ehrmann-Herfort: Totentanz im 19. Jahrhundert,  URL : https://www.mgg-online.com/article?id=mgg16151&v=1.0&rs=id-93351e1d-5d2a-b304-cde9-38ae1597532b
    (letzter Zugriff 05.05.2024). Für den Gedichttext siehe: Henri Cazalis: Zig et Zig et Zig, la Mort en cadence, URL: https://oxfordsong.org/song/danse-macabre (letzter Zugriff 05.05.2024). ↩︎
  26. Übersetzung MH: „Denn wenn sie stirbt.“ Siehe hierzu: 07:24-07:42 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  27. Übersetzung MH: „Sag… etwas; etwas falle von dem… uh… Ventilator herab, und es fängt an diese Geräusche von sich zu geben.“ Siehe hierzu: 00:22-00:28 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  28. Übersetzung MH: „Etwas Wildes.“ Siehe hierzu: 00:25 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  29. Vgl.: Keller 2021, S. 94-103. ↩︎
  30. Siehe hierzu beispielhaft: 03:31-04:05 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  31. Vgl.: Keller 2021, S. 105. ↩︎
  32. Siehe hierzu beispielhaft: 02:41-02:51 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  33. Vgl.: Keller 2021, S. 105. ↩︎
  34. Siehe hierzu beispielhaft: 00:55-01:00 Min. und 01:16-01:22 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  35. Vgl.: Keller 2021, S. 105. ↩︎
  36. Vgl.: ebd., S. 106. ↩︎
  37. Vgl.: ebd., S. 105.  ↩︎
  38. Butler 2005, S. 37. ↩︎
  39. Vgl.: Sandrine Sanos: ‘My Body was Aflame with His Memory’: War, Gender and Colonial Ghosts in Hiroshima mon amour (1959), in: Gender & History Band 28/Heft 3 (2016), S. 728–753, hier: S. 740+742 f, https://doi.org/10.1111/1468-0424.12247 (letzter Zugriff 05.06.2024).  ↩︎
  40. Vgl.: Keller 2021, S. 104. Siehe hierzu : 00:28-00:30 Min. von Barbara Hammer, Vital Signs, 1991 kolorierter Film von 16 mm auf Video, URL: https://www.eai.org/titles/vital-signs (letzter Zugriff 05.05.2023). ↩︎
  41. Vgl.: Butler 2005, S. 60 f.  ↩︎
  42. Vgl.: Love 2007, 62 f. ↩︎
  43. Butler 2005, S. 47. ↩︎

Die Nacht: Der Tod als Leerstelle bei Ferdinand Hodler, 2024 – Mika Hannes Denke

In seinem Aufsatz schlägt Mika Hannes Denke einen alternativen Blick auf Ferdinand Hodlers 1890 entstandenes Werk Die Nacht vor, welcher die Unbestimmtheit der verhüllten Gestalt des Todes nicht zu negieren versucht, sondern von dieser ausgeht und mit ihr arbeitet. Unter Heranziehung verschiedener Beispiele des Sujets bezieht er sich dabei auf die Ebene der Deutung der Darstellung, welche die Integrität der Leerstelle bewahrt und stellt Hodlers Auseinandersetzung und Verbildlichung des Todes als für moderne, wissenschaftlich gesinnte und weniger streng gläubige Betrachtende, denen der Tod in weniger visuell definierter Art begegnet, als besonders zugänglich und Identifizierbar heraus. 

Abb. 1: Ferdinand Hodler: Die Nacht, 1889/90, Öl auf Leinwand, 116 × 299 cm, Kunstmuseum Bern, in: Ausst.-Kat. Ferdinand Hodler, Berlin (Nationalgalerie, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz) 1983. S. 4f. 

„Sie ist nicht ein Gegenstand mir gegenüber, sie umhüllt mich, sie durchdringt alle meine Sinne, sie erstickt meine Erinnerungen, sie löscht beinah meine persönliche Identität aus.“118

–  Maurice Merleau-Ponty über die Nacht

1890 schuf der Schweizer Maler Ferdinand Hodler das erste seiner Schicksalsbilder, einer Reihe von in Format und Thematik monumentalen Gemälden. In Die Nacht (Abb. 1) thematisiert Hodler den Tod, nicht intim und dokumentarisch, wie er es 20 Jahre später, mit den Porträts seiner sterbenden Partnerin Valentine Godé- Darel tun sollte, sondern überpersönlich und überzeitlich. 

Im ans Panorama grenzenden Querformat erstreckt sich eine helle Steinlandschaft durch das Gemälde. In diesem sind schlafende Menschen, einzeln oder in kleinen Gruppen, insgesamt acht an der Zahl, zu erkennen. Allesamt sind sie nackt, allesamt nur von den gleichen schwarzen Tüchern bedeckt. Keiner von den Ruhenden scheint sich an der Konfrontation zu stören, die in ihrer Mitte stattfindet. Dort befindet sich die einzig wache Figur, deren Gefühlslage so gar nicht der der friedlich Schlummernden entspricht. Mit einer Miene des Schreckens schaut er an sich hinab, denn unter dem schwarzen Tuch kauert eine Gestalt auf seinem Oberkörper. Diese scheint die gesamte Dunkelheit aus der merkwürdig hellen Nacht gesogen und in sich aufgenommen zu haben. Das Wesen ist gänzlich verhüllt und was es ist oder was es tut lässt sich nicht ausmachen. Zwar ist der Mann möglicherweise im Begriff, das Mysterium zu lüften, indem er den schwarzen Schleier herunterzieht, im Moment der Darstellung ist dies jedoch noch nicht geschehen. Für den Mann, wie für uns als Betrachtende, bleibt die Leerstelle, welche die Figur verkörpert, intakt. Während diese Leerstelle in Form der Darstellung besteht, verrät uns eine Inschrift auf der Rückseite des Werkes etwas über die Bedeutung der Figur. Dort heißt es : „Manch einer, der sich am Abend ruhig hingelegt hat, erwacht am nächsten Morgen nicht mehr.“121 Diese Kreatur, die die Dunkelheit der Nacht anzuziehen scheint, lässt sich also als Darstellung des Todes verstehen. Geht man von dieser Deutung aus, dann stellt sich die Frage, inwiefern die Verbildlichung des Todes als Leerstelle, Parallelen zu der gelebten Beziehung der Betrachtenden zum Tod aufweist. Um dieser Frage nachzugehen, soll zunächst das Konzept der Leerstelle genauer untersucht werden.  

Abb. 2: Ferdinand Hodler: Die Nacht (Detail), 1889/1890, Öl auf Leinwand, 116 x 299 cm, Kunstmuseum Bern, in: Ausst.-Kat. Ferdinand Hodler, Berlin (Nationalgalerie, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz) 1983. S. 4f.

Die Leerstelle 

Die Unbestimmtheit als konstitutives Element des Kunstwerkes ist kein neues Konzept. Schon im kunstphilosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts wurde sie als solches identifiziert.122 Von Künstler:innen bewusst eingesetzt wurde sie sogar schon deutlich früher. Man denke etwa an Caravaggios Darstellungen von christlichen Heiligen und griechischen Göttern, welche zugleich als Trunkenbolde oder senile alte Männer auftreten. Die autologische Bezeichnung „Unbestimmtheit“ wird je nach Diskurs durch andere, teilweise präzisere, teilweise synonyme oder sich in der Bedeutung überlappende Begriffe ersetzt. Heute weit verbreitet sind auch Bezeichnungen wie Ambiguität oder Mehrdeutigkeit. Im Folgenden soll sich vor allem auf Wolfgang Kemps ursprünglich aus der Literaturwissenschaft von Wolfgang Iser entlehntem Konzept der Leerstelle berufen werden, damit vereinbare Ideen zur Unbestimmtheit unter anderem Namen, sollen dabei jedoch nicht außen vor gelassen werden. Eine Leerstelle ist ein Punkt fokussierter Unbestimmtheit, die den Betrachtenden zur zweifelsfreien Deutung nötige Informationen vorenthält. Damit unterscheidet sie sich beispielsweise von der Art der Ambiguität, die jedem Kunstwerk allein dadurch innewohnt, dass es zugleich als ein materieller Gegenstand und als eine von diesem Gegenstand abstrahierte Bedeutung existiert. Als rezeptionsästhetisches Konzept ist in der Definition der Leerstelle zentral, dass diese sich gezielt an die Betrachtenden richtet, sie in das Werk einbindet.123 Dabei ist die Unbestimmtheit keine versehentlich abhanden gekommene oder vergessene Information, kein Defizit im negativen Sinne. Vielmehr ein „Produktiver Mangel“124 wie es Gottfried Boehm ausdrückt oder in Wolfgang Isers Worten „ausgesparte Anschließbarkeit“125. Leerstellen bereichern, sie geben den nötigen Raum, um das Werk im Werk fortzusetzen. Und dies geschieht in der Betrachtung. Nach Kemp ist das Werk sogar nur dann vollendet, wenn diese Art von letztem Produktionsschritt durch die Betrachtenden ausgeführt wird. Bei Kemp liest man daher „daß jedes Kunstwerk gezielt unvollendet ist, um sich im Betrachter zu vollenden.“126 Sowohl Michael Lüthy als auch Boehm sehen gerade in der Unbestimmtheit zudem das Potenzial für spezielle Formen der Erkenntnis, die sich nicht in rationalen Begrifflichkeiten fassen lassen oder diesen vorausgehen.127 Nur Unbestimmtheit kann Realitäten abbilden, in denen mehr als eine Antwort zur Zeit richtig ist oder Betrachtende in ihren unterschiedlichen, individuellen Erfahrungen ansprechen. Leerstellen sind also, so Kemp, nicht „Feind des selbstverständlichen Bildes“128, stattdessen können sie sogar zu dessen Verständnis beitragen. Leerstellen können sowohl die Funktion haben, die Betrachtenden zu involvieren als auch für die inhaltliche Deutung des Werkes eine zentrale Rolle spielen – Also zugleich Form und Inhalt, Stilmittel und Bedeutung sein. 

Ein unbestimmtes Wesen 

In Die Nacht findet man die größte Leerstelle, die eindeutigste Unbestimmtheit in der Gestalt des verhüllten Wesens in der Bildmitte. Dass es sich hierbei um eine Leerstelle handelt, wird schon durch die zwangsweise ungenaue Beschreibung des Dargestellten direkt ersichtlich. Was einem da begegnet, kann nur sehr vage als „Wesen“ oder „Gestalt“ beschrieben werden, da noch nicht einmal erkenntlich ist, ob es sich um einen Menschen, ein Tier oder etwas völlig anderes handelt. Man mag sich anhand der Form der Silhouette vielleicht vorstellen, dass da eine Kreatur auf dem Mann kniet oder kauert, vielleicht ähnlich dem Nachtmahr bei Füssli. Vielleicht denkt man auch wie Oskar Bätschmann an Gustave Moreau und die Sphinx, welche Ödipus bedrängt.129 Oder man sieht sie wie Mühlestein als „eine Art gespenstisches, leichenfressendes Wesen oder schwarz verhülltes Nachtweib.“130 Diese Assoziationen und Interpretationen sind die Produkte des „produktiven Mangels“. Ikonographisch zwar interessant, bedeuten sie aber immer auch ein Auflösen der Spannung, ein Ausfüllen der Leerstellen. Ich möchte einen alternativen Blick auf das Werk vorschlagen, welcher die Unbestimmtheit der Figur nicht zu negieren versucht, sondern mit dieser arbeitet. Für Ferdinand Hodler ist die Gestalt der Tod.131 Diese Aussage bezieht sich auf die Ebene der Deutung, nicht der Darstellung, sie bewahrt die Integrität der Leerstelle. Der Tod an sich wird nicht dargestellt, vielmehr wird er durch die Leere exemplifiziert. Dies wird noch deutlicher, wenn man herkömmlichere Darstellungsweisen dieses Sujets heranzieht. 

Wird der Tod in der Kunst gezeigt, dann am häufigsten in seinen Folgen, in Form des sterbenden oder toten Körpers. Peter Paul Rubens malt das abgeschlagene Haupt einer Medusa, Jaques-Louis David den schlaffen Körpers Marats, unendlich viele Maler Christus am Kreuz. Aber dies ist eigentlich nicht der Tod selbst, sondern nur seine physische Spur, das, was übrigbleibt oder das, was bald nicht mehr sein wird. Wenn wir dem Tod in der Kunst nicht auf diese eigentlich indirekte Weise, sondern von Angesicht zu Angesicht begegnen, dann in der Regel, indem der Tod personifiziert und vermenschlicht wird. Am weitesten verbreitet ist dabei die Darstellung des Todes als belebtes Skelett. Dieser Darstellungsmodus entspringt dem Motiv des Totentanzes des Hochmittelalters132 und hat seitdem an Popularität nichts eingebüßt. Ubiquitär findet man ihn sowohl auf Kupferstichen Albrecht Dürers als auch in Disney Cartoons. In Hodlers erweitertem Kreis, stellt etwa Gustav Klimt den Tod auf diese Weise dar. Sein Gemälde Tod und Leben (1910/15) weist in der Figurenkonstellation starke Parallelen zu Die Nacht auf. Ebenfalls findet man hier die eine wache Figur im Meer der Schlafenden, welche als einzige den Tod wahrnimmt. Klimts Skelettmann scheint hier eine Persönlichkeit, ein Innenleben zu besitzen. Er erwidert den Blick der ihn betrachtenden Figur, lächelt sein Lächeln mit Zahnlücke und greift nach seinem Knüppel. Diese Darstellungsweise macht den Tod zu einer sichtbaren und sehenden, handelnden und intentionalen Figur. Sie macht ihn dem Menschen ähnlicher. Man kann versuchen diese Figur zu verstehen, vielleicht sogar mit ihr zu kommunizieren, zu verhandeln, ihr zu entgehen.

Die Darstellungsweise in Hodlers Bild unterscheidet sich hiervon grundlegend. Zwar wird dem Tod hier auch in gewisser Weise eine vage Form gegeben, der man vielleicht eine Handlungsfähigkeit unterstellen könnte, dies reicht aber nicht, um von einer Personifikation zu sprechen. Es werden keine Absichten oder Charaktereigenschaften dargestellt. Dem Mann in der Bildmitte, wie auch den Betrachtenden, wird keine Möglichkeit zur Kommunikation angeboten, der Blick prallt von der Dunkelheit ab. 

Unerfahrbares zeigen

Die Form, die dem Tod gegeben wird, ist also die der Verhüllung, der Unbestimmtheit. Damit stellt es das gelebte Verhältnis des Menschen zum Tod sehr viel akkurater dar als jede Personifikation. Dieses definiert sich nämlich vor allem durch Unbestimmtheit. Sterben beziehungsweise tot sein ist eine Erfahrung, die in der Regel keine Künstlerin, kein Künstler und niemand unter den Betrachtenden jemals gemacht hat und die doch einen jeden erwartet. Käte Hamburger schreibt: „Der Tod kann niemals Erlebnis für uns werden“. Sie sieht es als Paradoxie, dass „wir nur als Lebende und Erlebende vom Tod wissen können, dass aber, wenn wir Tote sind, wir keine Lebenden und Erlebenden mehr sind.“133 Und dieses Erlebnis, welches noch keines ist und niemals eines werden wird, bildet Hodler in Form einer Leerstelle ab. Die Betrachtenden wissen, dass da etwas ist, etwas, was sich aber wie auch der Tod in unserer realen Erfahrung nur dunkel in seiner Unsichtbarkeit, in seiner Unerfahrbarkeit ausdrückt. Es geht bei diesem Werk also nicht darum, „Das Unergründliche sichtbar zu machen“, sondern es „Als Unsichtbares zu zeigen“134, wie Elisabeth Bronfen es ausdrückt. Die Dunkelheit, welche die Gestalt umgibt, ihr schwarzer Schleier, funktioniert wie die räumliche und zeitliche Beschränkung des Menschen, welche den Blick ins Jenseits versperrt. Ein Blick auf den Tod ist aus der Warte der Lebenden unmöglich. Die Betrachtenden können sich frei positionieren, es wird ihnen selbst überlassen, die Leerstelle in ihrer Imagination auszufüllen und damit aufzulösen und einen wie auch immer gearteten Gegenstand an ihre Stelle zu setzen oder die Ambiguität auszuhalten. Dies gleicht den Möglichkeiten des Umgangs mit dem eigenen Tod. Man kann ihm ein Gesicht und Namen geben, durch seinen Glauben die eigene Ungewissheit auslöschen oder auch nicht. Dabei ist ersteres für die meisten Menschen sehr viel ansprechender, wie der Erfolg der Religion als Bedeutungsgeberin und Erklärerin des Todes beweist. Aber es ist eine Sache, sich vorzustellen, was hinter dem schwarzen Schleier wartet, sogar daran zu glauben, die Antwort zu kennen, und eine andere, tatsächlich den Schleier herunterzuziehen.

Gestaltlosigkeit des Todes in der Moderne

Die Konzeption des Todes als Leerstelle, als dunkle Lücke ist ein Darstellungsmodus, der besonders für Betrachtende ab der Moderne von Relevanz ist. Diese sind nämlich, in höherem Maße als ihre Vorgänger, daran gewöhnt, über die Auslöser des Todes als unsichtbare Dinge nachzudenken. Während vor der Zeit der Mikrobiologie Krankheiten hauptsächlich als deren Symptome konzeptualisiert wurden, wissen wir heute von nicht mit dem bloßen Auge sichtbaren, todbringenden Bakterien, Viren und mutierenden Zellen. Auch die Feststellung des Todes einer anderen Person erfolgt mit der Zeit immer weniger über die direkte sinnliche Wahrnehmung. Die medizinische Todesdefinition hat sich vom Aussetzen der Atmung, über das Aussetzen des Herzschlages zum Aussetzen der Gehirnaktivität gewandelt. Während die ersten beiden Definitionen noch mehr oder weniger mit dem Sehsinn, dem Tastsinn oder dem Gehör nachzuvollziehen sind, wird dies bei Letzterem schwierig. Das Konzept des Hirntodes bedingt das Paradoxon eines Körpers, welcher von außen als lebendig, schlafend erfahren wird, in einem eigentlichen, wesensbestimmendem, aber unsichtbaren Sinne jedoch nicht mehr lebendig ist. Der Tod ist eingetroffen, lässt sich aber nicht mit den Sinnen, sondern nur mit medizintechnischen Instrumenten feststellen. Nicht nur hirntote, sondern auch gänzlich tote Körper werden in der modernen Gesellschaft verborgen. Durch die Institutionalisierung der Medizin und damit der Todesbekämpfung, sterben heute weniger Menschen zu Hause und mehr in Krankenhäusern.135 Auch durch den Bedeutungsverlust der Religion hat der Tod sein Gesicht verloren. In vielen Religionen und Mythologien gibt es Todesgötter oder andere Wesen, welche dem Menschen vor seinem Tod erscheinen, oder ihn sogar persönlich in das Totenreich führen. Der Skelettmann bietet hier in der visuellen Kultur als Symbol einen Ersatz, die meisten Menschen erwarten aber nicht tatsächlich einem belebten Skelett zu begegnen, wenn sie an der Schwelle zum Tode stehen. In der Moderne fehlt es an einer überzeugenden Formgebung des Todes, was die Darstellung des Todes als Leerstelle plausibler macht. Die Nacht ist demnach in mehrerer Hinsicht den modernen, wissenschaftlich gesinnten, atheistischen, oder zumindest weniger streng gläubigen Betrachtenden, denen der Tod in weniger visuell definierter Art begegnet, besonders zugänglich. 

Eine überzeitliche Beziehung

Während dieser Darstellungsmodus also möglicherweise besonders mit den Erfahrungen der modernen Betrachtenden übereinstimmt, liegt ihm jedoch zugleich eine Überzeitlichkeit zugrunde, die an die Grundbedingungen des menschlichen Lebens anknüpft. Die oben thematisierte Unerfahrbarkeit des Todes stellt eine zeitunabhängige Konstante dar, welche noch nicht einmal nur für Menschen, sondern für alles Lebendige besteht. Von anderen Tieren, oder zumindest den meisten anderen, unterscheidet sich der Mensch lediglich im Wissen um den Tod. Eugen Fink schreibt: „Unter den vergänglichen Wesen hat der Mensch alleine den „bösen Blick“, – er sieht im Frühlingsprangen bereits die künftige winterliche Öde, in der Blüte den Verfall, in der Kraft die Schwäche, im Anfang schon den Untergang, im Leben schon den Tod.“136 Diesen Blick scheint, wie die Betrachtenden, auch der Mann in Hodlers Gemälde zu besitzen, er sieht seinen Tod vor sich, auch wenn dessen genaue Form ihm verborgen bleibt. Auch seine Reaktion auf das Erkennen des Todes, die Todesangst, ist überzeitlich. Die Urangst vor dem Sterben, welche aufgrund ihrer tiefen evolutionären Verwurzelung nicht von gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst wird.137 Nach Gion Condrau ist die Angst vor dem Tod eine „Grundform des menschlichen Existierens.“138 Die Zeitlosigkeit und Unveränderbarkeit in den Grundzügen der menschlichen Beziehung zum Tod drückt sich bei Hodler dadurch aus, dass der Bildinhalt sich nicht zeitlich einordnen lässt. Dies liegt vor allem am Fehlen von menschengemachten Objekten im Bild. Die Menschen sind allesamt nackt, sie tragen keine Kleidung, die sich einer Epoche zuordnen lässt. Um sie breitet sich nur eine öde Landschaft aus. Keine Technologien oder sonstige Objekte verweisen auf eine bestimmte Periode. Die Unbestimmtheit in der zeitlichen Einordnung erlaubt es Betrachtenden nicht, eine historisch distanzierte Position zur unbestimmten Figur des Todes und der von ihr ausgehenden Bedrohung einzunehmen. Weiter wird die Unumgänglichkeit des Todes durch die dunklen Tücher vermittelt, welche nicht nur den Mann in der Bildmitte bedecken, sondern auch alle anderen Figuren vermittelt. Es ist leicht sich vorzustellen, dass sich das Todeswesen im nächsten Augenblick auch unter der Decke einer/eines anderen Schlafenden manifestieren könnte und genauso könnte es sich bei den Betrachtenden ereignen.

Zwei Körper

Zuletzt soll es noch um zwei ineinandergreifende Aspekte der Inszenierung des Todes in Die Nacht gehen: die Körperlichkeit der Beziehung zwischen Mann und Tod und die Identifikation der Betrachtenden mit dem Mann. Trotz seiner Bedeutung als Leerstelle im Bild und seiner Unbestimmtheit der Form besitzt das verhüllte Wesen eine beachtliche Körperlichkeit. Es schwebt nicht als Wolke über dem Mann, sondern lastet mit einer ihm eigenen Schwere auf dessen nacktem Oberkörper. Der fremde, unbestimmte Körper ist dem Mann nicht nur nah, selbst zu sagen, dass er ihn bedrängt, erscheint noch untertrieben. Es ist nichts zwischen ihnen, was irgendeine Form von Distanz schafft. Aufgrund des Tuches fällt es schwer, überhaupt eine Grenze zwischen den beiden Körpern zu ziehen. Dem Tode nahe sein wird hier von einer temporalen auf eine physische Ebene verlagert. Und auch die Reaktion des Mannes auf diese nicht einvernehmlichen, zutiefst bedrohliche und angsterregende Nähe ist höchst physisch: Von den angespannten Muskeln, über die verkrampften Finger, zur von Angst verzerrter Mine. Es wurde bereits erläutert, wie die Betrachtenden durch die Leerstelle aktiviert werden und wie sie mit dieser, wie mit dem eigenen Tod, verfahren können. Noch intensiver wird die Einladung für den Betrachter am Bild teilzunehmen, in dieses einzutreten und damit auch selbst den Tod zu konfrontieren, durch die unweigerliche Identifikation der Betrachtenden mit der Figur des Mannes. Diese Identifikation ist ein in hohem Grade körperlicher Prozess. Der Mann in der Bildmitte ist die einzig sehende, fühlende und handelnde Figur im Bild und uns in der Betrachtung damit automatisch am ähnlichsten. Einzig er nimmt wie wir den Tod und die von ihm ausgehende Gefahr war. Die anderen Figuren schlafen und stehen damit nicht zur Identifikation zur Verfügung. Auch seine Reaktion auf das Gesehene ist nicht nur zutiefst körperlich, sondern für die Betrachtenden auch in ihrer starken Emotionalität zutiefst nachvollziehbar und damit nachfühlbar. Durch die Identifikation fühlen auch wir den Tod auf unserer Brust lasten. Auch wir fürchten er könnte, wie die Nacht bei Merleau-Ponty, uns „umhüllen“, „ersticken“ und schließlich „unsere Identität auslöschen“139


Biografie

MIKA HANNES DENKE absolvierte 2023 seinen Bachelor im Fach Kunstgeschichte an der Universität Düsseldorf. In seiner Abschlussarbeit über Ferdinand Hodler und Gustav Klimt beschäftigt er sich mit Darstellungen des Todes aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive. Seit 2023 studiert er im Master an der Universität Hamburg, wobei sein Fokus vor allem auf der Kunst des 19. Jahrhunderts, auf Methodenfragen und der Geschichte der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts liegt. Auch für die Frühe Neuzeit hegt Mika Hannes Denke ein großes Interesse.

Juan Sánchez Cotán – Meister der Dunkelheit, 2024 – Paula Finsterbusch

In ihrem Aufsatz beschäftigt sich Paula Finsterbusch mit der spezifischen Bildsprache der Stillleben des spanischen Barockmalers Juan Sánchez Cotán. Der Künstler gestaltet stets dieselbe Fensternische mit unterschiedlich angeordneten vegetabilen Gegenständen. Als Besonderheit stellt sich hierbei heraus, dass die vordergründig angeordneten Objekte malerisch stark ausgeleuchtet werden, wobei sich der Hintergrund in einer nicht lokalisierbaren Dunkelheit verliert. Mithilfe verschiedener methodischer Ansätze versucht Paula Finsterbusch diese schwarzen Stellen innerhalb der Gemälde zu deuten und berücksichtigt dabei sowohl christliche Bezüge als auch biografische Wendepunkte aus dem Leben des Malers.

Wenn von barocken Gemälden die Rede ist, so wird häufig der meisterhafte Einsatz von Licht und Schatten assoziiert. Caravaggio, Rembrandt, Rubens, Vermeer – sie alle sind für ihre wirkungsvollen Hell-Dunkel-Kontraste bekannt. Ein ungewöhnlicher und oft unbeachteter Stilllebenmaler des Barock, der mit dem Tenebrismus, dem Maximum an Schatten, der Schwärze, gearbeitet hat, ist Juan Sánchez Cotán (1560 – 1627). Aufgrund der rückständigen sozialen Stellung und dem Ausbleiben höfischer, geschweige denn bürgerlicher Aufträge für spanische Maler, gerät die barocke Malerei Spaniens auf europäischer Ebene oft in den Hintergrund.140 Dennoch ist der toledische Maler international bekannt und gilt als einer der bedeutendsten Maler des spanischen Barocks. Diese Bekanntheit haben nicht seine religiösen Arbeiten bewirkt, sondern die säkularen Stillleben, seine Bodegones141, wie das vorliegende Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke (1602). All seine Stillleben folgen einem ähnlichen Muster und heben sich darin enorm von den niederländischen und italienischen ab: gewöhnliches Gemüse, Obst und ab und zu tote Jagdvögel werden in einer gemauerten Fensternische vor schwarzem Hintergrund präsentiert und stechen durch die starke Beleuchtung hervor. Die einzelnen Gegenstände sind nebeneinander, oft unverbunden, aufgereiht. Manche Elemente liegen, manche hängen. Trotz der scheinbaren Schlichtheit und Natürlichkeit ist nicht nur die Objektwahl symbolisch zu verstehen, auch die Schwärze in seinen Arbeiten verweist auf mehr als nur maximale Dunkelheit. Wie der Tenebrismus142 in den nur scheinbar gänzlich weltlichen Bildern des Malers, zusätzliche Sinnebenen erschließt und welche Bedeutung der Dunkelheit in dem Bildzusammenhang zukommt, wird im Folgenden näher beleuchtet.

Sowohl biografisch als auch künstlerisch ist Juan Sánchez Cotán herausragend. 1560 in Orgaz geboren, war er einer der ersten spanischen Stillleben-Maler, deren einzigartige Ästhetik bis heute Bewunderung hervorruft. Er lebte und wirkte in Toledo143, dem damalig führenden Zentrum des spanischen Humanismus als auch Zentrum der katholischen Kirche war. Eingeführt in das zu der Zeit neu aufkommende Sujet wurde er wahrscheinlich von seinem manieristischen Meister Blas de Prado (1545-1599), von dem selbst kein einziges Stillleben erhalten ist. In Toledo fertigte er zunächst Historiengemälde und Porträts an. Um die Jahrhundertwende widmete er sich auch den hier zu besprechenden Stillleben, deren starker Realismus sich enorm von seinen übrigen Bildern unterschied, die durch eher unaufgeregten Idealismus geprägt sind. Letzteren wird jeher weniger Beachtung geschenkt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Gegenstücken sind diese vor allem durch Strenge und Reduktion gekennzeichnet. Nahezu alle Stillleben haben eine ähnliche Größe, alle folgen denselben kompositorischen Grundmustern in derselben Fensternische, variieren lediglich in Anzahl und Anordnung der Lebensmittel, sie sind anspruchsvoll und fordern durch verschiedene Techniken der Illusion heraus.144 Dies verstärkt den Eindruck, dass seine Stillleben nicht für bestimmte Auftraggeber:innen angefertigt wurden – der experimentelle Charakter und die Innovation dieses neuen Sujets legt nahe, dass er sie für sich als Experiment, Erforschung und die Demonstration seines Könnens anfertigte.145 1603 gab der Künstler all seinen Besitz, auch sein Atelier und seine Bilder auf, um im Kloster Santa Maria de El Paular in Rascafría zu leben und ab 1612 in Grenada als Kartäusermönch zu leben. Im Kloster setzte er seine sakrale Malerei und religiösen Historien fort, bis er 1627 dort verstarb. Viele der nachfolgenden Stilllebenmaler:innen wurden durch seine innovativen Kompositionen inspiriert, deren Realismus sich auf das spätere 17. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht auswirkte.

Abbildung 1: Juan Sánchez Cotán: Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke, 1602, Öl auf Leinwand,
65 x 81 cm, San Diego, The Fine Arts Gallery of San Diego.

Das vorliegende Bild Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke (1602) ist beschreibend für Sánchez Cotáns Bodegones und das wohl am meisten wahrgenommene. Verschiedenes Obst und Gemüse, hier eine hängende Quitte, ein ebenfalls hängender Kohlkopf, eine angeschnittene Melone samt herausgeschnittener Spalte und eine Gurke werden in einer steinernen Fensternische, die oft in spanischen Häusern als kühle Lagerungsmöglichkeit für Lebensmittel genutzt wurde, naturnah präsentiert. Die Gurke als auch die Melonenspalte ragen über die Mauer in den Betrachter:innenraum, und reihen sich in die Tradition der „Trompe-l’œuil“146 ein. Die Verbindung des Bildraumes mit dem der Betrachter:innen wird durch die hängenden Lebensmittel verstärkt. Sie werfen keine Schatten, trotz der von Lichtquelle ausgehenden Beleuchtung sind ihre Schlagschatten nicht erkennbar, was den Verdacht erhärtet, die Quitte und der Kohl seien in unserem Raum angebracht. Die Schnüre, offensichtlich im Betrachter:innenraum befestigt, erwecken die Illusion von Unmittelbarkeit. Die übliche Verfahrensweise, Lebensmittel aufzuhängen, wurde mit dem Ziel angewendet, den Prozess des Verrottens aufzuhalten. Visuelle, olfaktorische und gustatorische Sinne der Betrachter:innen werden durch den starken Illusionismus angesprochen, das gemalte Bild als solches geleugnet.147

Dieser Eindruck wird jedoch durch ein Element des Bildes erheblich gehemmt, das den Naturalismus aufhebt. Die Schwärze des Hintergrundes steht der Naturtreue gegenüber. Was in den Lebensmitteln im Vordergrund realistisch und täuschend echt dargestellt wurde, wird durch die maximale Dunkelheit verklärt. Trotz des hohen Beleuchtungsgrades und der offensichtlich starken Lichtquelle ist von Farbigkeit im Hintergrund keine Spur, die Dunkelheit wirkt bedingungslos unerklärlich. Im gleichen Moment, in dem Offenbarung versprochen wird, wird sie durch die maximale Dunkelheit dekonstruiert.148 Was durch die täuschende Genauigkeit von Obst und Gemüse offenbart wird, gerät durch die Schwärze in Unsicherheit. Die Isolierung jedes einzelnen Gegenstands wird durch die Schwärze maximiert und gibt der Szenerie eine theatralische, künstliche und inszenierte Anmutung, die der naturalistischen Darstellung der Objekte sowie der genauen Wiedergabe der Beleuchtungssituation entgegentritt. Die Illusion wird durch die präzise Wiedergabe, den meisterhaften Farbauftrag, den naturnahen Umgang mit Licht und vor allem durch die mathematisch genaue Kalkulation des Arrangements149 erreicht. Die Objekte stehen durch räumliche Übergänge in Verbindung. Sie werden durch die konstruierte Fensternische gerahmt und scheinen in klaren geometrisch exakt berechneten Hyperbeln positioniert. Die Reduktion des Bildgegenstandes und die Strenge des Aufbaus machen das Bild zeitlos und müssen auf die damaligen Betrachtenden geradezu modern und im Angesicht der Tiefe des Bildes nahezu meditativ gewirkt haben.150

Das Gemälde schafft es durch die Dunkelheit, dem Genre-Namen gerecht zu werden. Naturaleza muerta, spanisch für Stillleben, gibt mit muerta (spanisch für tot, leblos)151 bereits einen wichtigen Hinweis auf die Charakteristik, aber auch Widersprüchlichkeit, des Gemäldes des toledischen Malers. Die Dunkelheit des Hintergrundes verweist auf unberührte Leblosigkeit, kein Lichtstrahl, kein Lebewesen scheint sich in ihr zu verirren. Die Aufhängung und Positionierung der Lebensmittel verweisen auf die menschliche Aufbewahrung und Haltbarmachung der so überlebenswichtigen Nahrung, und auch andere Elemente des Bildes zeugen von der Anwesenheit menschlicher Personen. Auch wenn sie nicht zu sehen sind, gerät bei genauerer Betrachtung in den Blick, dass die Szene noch nicht lange menschenleer sein kann. Die Schnüre, an denen die Quitte und der Kohl aufgehängt sind, stehen nicht parallel zueinander. Die leichte Schieflage verweist auf Bewegung, auf die Abwesenheit, die vor kurzem aus Anwesenheit hervorgegangen ist. Mit dem Bewusstsein der Vergänglichkeit tritt Bewegung in das Bild. Nicht ganz parallel ausgerichtet zeugen sie von der Anwesenheit nicht sichtbarer Instanzen, von Lebendigem im Bild und konfrontieren Betrachter:innen gleichzeitig mit ihrer Gegenwärtigen Präsenz – das Bild suggeriert greifbare Nähe, die Melonenkerne rutschen triefend vom Fruchtfleisch, Stücke des aufgeschnittenen Obstes fehlen, die angeschnittene Scheibe ragt aus dem Bildraum heraus und lädt zum Konsum ein. Die Melonenscheibe daneben kann die Leerstellen nicht ausfüllen, mehrere Stücke scheinen bereits gegessen, das nächste liegt zum Genießen bereit. Das unbelebte Stillleben wirkt durch die zahlreichen Hinweise auf menschliche Anwesenheit nahezu lebendig und doch scheint die Leblosigkeit greifbar. Die Dunkelheit führt vor Augen, wie nahe die unendliche Stille, die ewige Nacht auch bei voller Lebendigkeit ist.

Diese Klarheit in der Komposition wird durch die Schwärze des Hintergrundes entscheidend herausgefordert. Sie setzt dem gerade noch Lebendigen eine ungewisse Stille entgegen, was gerade noch greifbar scheint, wird in unerklärliche Dunkelheit gehüllt. Die irritierende Ungewissheit über den Hintergrund verstärkt alle Geheimnisse des Bildes und komplementiert die Gegensätze des Lebens und des Bildes, die im Bildprogramm des Barocks verankert waren – Leben und Tod, Gut und Böse, Licht und Dunkelheit.

Die Stillleben Juan Sánchez Cotáns lediglich mit dem Hintergrund seiner Religiosität und seines später des Klosters verschriebenen Lebens zu deuten, wäre stark simplifiziert und würde der Komplexität seiner Arbeiten nicht gerecht. Dieser Aspekt kann jedoch nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Seine überschaubare Komposition und die Reduktion auf wenige Lebensmittel verleiten zu der Annahme der totalen Weltlichkeit – was bei genauerer Betrachtung hinterfragt werden muss.

Der Tenebrismus, die Aufteilung des vorliegenden Bildes in Schwärze und stark beleuchteten Lebensmitteln, wirft einige Fragen auf, die nur mithilfe des Hintergrundes der Epoche des Barock und dem Leben des ungewöhnlichen Malers beantwortet werden können. Die mathematisch hochakribische Komposition erscheint in der Tradition antiker Gestaltungsgrundlagen und Motive und gibt Aufschluss über die symbolischen Horizonte, in denen seine Stillleben zu lesen sind. Nicht nur die von Sanchez gewählte Lebensform verweist auf seine Verbindung zur Religiosität. Seine Kompositionen sind ernst, demütig präzise und naturnah gegenüber den Schöpfungen Gottes, als auch voll von Symboliken, die auf eine transzendentale Bedeutung verweisen.

Die höchste Frucht im Stillleben (Abb.1) ist die Quitte. Diese hat eine lange Tradition und wurde im antiken Griechenland bereits verehrt und der Göttin Venus und Aphrodite zugeschrieben.152 Sie gilt seit der Antike als Liebesfrucht und wird in einigen Regionen der Welt als die älteste Frucht anerkannt und sogar als Frucht der Versuchung anstelle des Apfels im Garten Eden angenommen.153 Der antike biblische Name für die Quitte lautet übersetzt „Goldener Apfel“, sie ist seit jeher mit hoher Bedeutung aufgeladen. Von der Quitte, der Frucht der Versuchung, ausgehend scheinen die Objekte hyperbolisch zu Fallen. Nach dem Verzehr der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis folgte der fall of men, die Ursünde der Menschen zog sowohl die Unheils- als auch die Heils- und Erlösungsgeschichte der Menschen und ihrer Welt nach sich, in Erwartung der Wiederkunft Christi, des Kommens des Messias.154 Dies wird in Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke, als mögliche Lesart des Bildes, durch die Frucht der Versuchung am Anfang und den Fall der Menschheit als exakte Hyperbel dargestellt – die Erbsünde der Menschen, in die jeder Nachkomme Adams hineingeboren wird. Von links nach rechts gelesen steht nach der Abwärtsbewegung der Objekte zum Schluss die Gurke und verweist in den Betrachter:innenraum, konfrontiert Sehende mit der eigenen Existenz in der Nachfolge der ersten Sünder. Sie verweist auf die Greifbarkeit und Übertragbarkeit der biblischen Geschichte ins Diesseits, die nicht endenden Versuchungen, die nicht endenden Sünden. Nicht nur die Anordnung und Auswahl der Früchte und Gemüse kann als visuelle Metaphorik des Sündenfalles des Menschen gelesen werden. Auch die Dunkelheit, die unnachgiebige Schwärze, die totale Abwesenheit des Lichtes zeugt von der Entfernung zu Gott, die unüberwindbar und kompromisslos scheint. Die erste Schöpfung Gottes, das Licht, macht sichtbar, welche Schönheit im irdischen Dasein verborgen liegt – deckt aber auch die Entfernung der Menschen zu Gott auf, verweist auf die begrenzte Macht der Menschen und führt ihnen die Versuchungen vor Augen. Die Schwärze, als ungewisse Dimension des Bildes, visualisiert die Offenheit und Unbestimmtheit der Geschichte in der Zukunft und die Geheimnishaftigkeit allmächtigen Handelns. Die maximale Dunkelheit in Juan Sanchez Cotáns Stillleben hebt die irdischen Elemente auf eine überirdische Ebene und komplettiert die zurückhaltende Symbolik des Gemäldes.

Mithilfe der fein ausgewählten Kunstmittel, der theatralischen Komposition und der illusorischen Malerei auf der einen Seite sowie der Verfremdung durch die unerklärbare Schwärze schafft Juan Sánchez Cotán es, ein so irdisches Sujet in ein sphärisches zu transformieren, ohne die Betrachter:innen mit offensichtlichem Pathos zu unterschätzen. Seine scheinbar simplen Stillleben sind durch Raffinesse und symbolische Bedeutungen von hoher Faszination und stellen die Betrachter:innen insbesondere in Bezug auf die Dunkelheit, als unergründbare Ebene des Bildes, vor ebenso viele unbeantwortete Fragen als auch vor Einladungen, sich als partizipierende und wahrnehmende Instanz zu verstehen.

In seinen Stillleben wird sowohl der im goldenen Zeitalter aufkommenden Naturwissenschaft durch die hochpräzise Kalkulation, als auch dem Glauben Rechnung getragen, indem subtil auf die Ebenen und Komponenten irdischen als auch sphärischen Daseins verwiesen wird. Symbolisch dafür wurde von ihm die Dunkelheit in seinen Werken verwendet. Die Schwärze kann sowohl im Hinblick auf barocke Motive, als auch auf die religiöse Weltsicht gedeutet werden und stattet das scheinbar simple, dennoch bedeutungsgeladene Gemälde mit einer Tiefe aus, die Betrachter:innen bis heute fasziniert. Die asketischen und beinahe avantgardistisch anmutenden Stillleben Sánchez Cotáns, finden, vor allem mit der tiefgreifenden Dunkelheit, Einzug in die Welt der sphärischen Dinge.155 Die monumentale und kompromisslose Klarheit, die seinen Arbeiten durch die reduzierte und mathematisch hochpräzise Anordnung seiner raffiniert ausgewählten Objekte vor maximaler Dunkelheit verliehen wird, machen sie zu herausragenden Arbeiten, die sich nicht auf die irdische Welt begrenzen lassen.


Biografie

PAULA FINSTERBUSCH studierte Deutsch und Kunst auf Lehramt an der Universität Greifswald. Sie ist zertifizierte Kunsttherapeutin. Derzeit studiert sie Kunstgeschichte im Master und arbeitet als Dozentin für Kunst- und Designgeschichte an der Designakademie Rostock sowie als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Capar-David-Friedrich-Instituts in Greifswald. Ihr wissenschaftlicher Fokus bezieht sich auf die barocke Stilllebenmalerei, den Künstler Caspar David Friedrich, Transhumanismus und Posthumanismus und die Digital Humanities in der Kunst.

Dark, 2024 – Caspar Sänger

Mit dem Serientitel sudden eternity bezieht sich Fotograf Caspar Sänger auf die Entstehung einer Fotografie, die im flüchtigen Moment der Aufnahme vermeintlich in die Ewigkeit eingeht. Gleichermaßen birgt diese plötzliche Ewigkeit auch ein Gefühl der Melancholie, verbindet man sie mit dem Moment, in dem man in die Leere blickend seinen Gedanken nachhängt. Für Sänger ist es die Gleichzeitigkeit von ambivalenten Gegebenheiten, die sich in der Fotografie verbinden, die das Medium für ihn so interessant machen. Seine Arbeitsweise verbindet medienreflexive Inhalte mit autobiografischen Erfahrungen, um genau diese sich vermeintlich widersprechenden Momenten aufzuspüren. Die unterschiedlichen Schwarz- und Grautöne, sowie die teilweise ins Leere führenden Blickinszenierungen erzeugen eine düster anmutende Stimmung, die sich wie ein Schleier über die gesamte Serie zu legen scheint. Dennoch verweist die Auseinandersetzung mit der Dunkelheit auch immer auf den Gegenpart – das Licht.

 

in der Reihenfolge ihres Erscheinens

SUDDEN ETERNITY
110 x 51cm, Inkjet Print,
2023

UMFASSUNG
45 x 35cm, Inkjet Print,
2023

SCHALTER
55 × 28 cm, Inkjet Print
2020

ARGUMENT
124 x 83cm, Inkjet Print,
2024

SCHLUSS
60 × 40 cm, Inkjet Print,
2017

ÄRMEL
59 × 25 cm, Inkjet Print,
2019

WRINGEN
77,7× 44 cm, Inkjet Print,
2022

SPALT
46 × 29 cm, Inkjet Print,
2020

ETC
38 × 27,4 cm, Inkjet Print,
2021

LOCH
42 × 60 cm, Inkjet Print,
2014


Biografie

CASPAR SÄNGER begann 2009 sein Fotografiestudium an der HfbK Hamburg. 2013 schloss er seinen Bachelor bei Heike Mutter, Matt Mullican und Thomas Demand ab und erlangte 2016 seinen Masterabschluss bei Thomas Demand und Ceal Floyer. Von 2016 bis 2020 war Sänger Teil des Vorsitzes des KV, dem Verein für zeitgenössische Kunst Leipzig e.V. Sänger lebt und arbeitet in Leipzig. In seiner fotografischen Praxis untersucht Sänger die Gleichzeitigkeit von sich eigentlich widersprechenden Gegebenheiten, indem er in seinen Bildern medienreflexive Inhalte mit autobiografischen Erfahrungen verbindet.

(Un)Wissentlich ins/m Dunkle/n ‚tappen‘ – Das Display im Musée du quai Branly, 2024 – Gina Marie Schwenzfeier

Das Musée du quai Branly (MQB) legt durch die Inszenierung außereuropäischer Kulturgüter zu Kunstwerken, den präsentierten Artefakten einen eurozentrischen Kunstbegriff auf. In Form der gewählten Displays sollte der außereuropäischen Kulturgutproduktion und -tradition eine entsprechende Anerkennung entgegengebracht werden. Stattdessen findet sich in dieser Geste – nicht zuletzt wegen der dunkel-mystifizierend erscheinenden Displaywahl, welche hier vollzogen wurde – ein besonderer Verweis auf die Machtstrukturen wieder, die die erlernte Hierarchie zwischen Kulturgut und Kunstwerk verdeutlichen und so mehr über die Sprechenden aussagen als über das Gesprochene. Gina Marie Schwenzfeier setzt sich in ihrem Aufsatz mit dem Display des MQB auseinander, um daran die erlernten Strukturen hervorzuheben, die sich nach den Gründern des MQB von einem kolonialgeprägten Verständnis distanzieren sollten, diese allerdings (neo-)kolonial aufladen und daher kritisch zu hinterfragen sind.

Abb. 1: Musée du quai Branly, das Museumsgebäude, September 2015, Luftaufnahme des Musée du quai Branly mit dem Eiffelturm im Vordergrund und der Pont de l’Alma im Hintergrund.
Abbildungsnachweis: ©musée du quai Branly – Jacques Chirac, photo Philippe Guignard.

Ein neutraler Name sollte gepaart mit einem neutralen Ort den Kulturgütern aus ethnologischen Sammlungen die Möglichkeit bieten, ungestört zu Kunstwerken inszeniert zu werden – mit dieser Idee wurde das Musée du quai Branly (MQB) im Juni 2006 eröffnet (Abb. 1).156 Durch den Rückgriff des MQB auf ethnologische Bestände mehrerer musealer Sammlungen, die sich im MQB in einem Museum wiederfinden, das sich ausdrücklich nicht als ethnologisches Museum bezeichnen möchte, kommt es dazu, dass die Geschichten der Ausstellungstücke sowohl in den Hintergrund als auch – ihrer musealen Inszenierung im MQB adäquat – wortwörtlich ins Dunkle treten. Gemäß dem Selbstverständnis des Museums wird dabei ein ‚Dialog zwischen den Kulturen‘ ins Zentrum gerückt, der einer kritischen Betrachtung bedarf, die James Clifford bereits 2007 angeregt hat.157

Der Versuch, außereuropäischen Kulturgütern eine neue Betrachtungsweise entgegenzubringen, wie es im MQB vollzogen wurde, verdeutlicht, dass der westliche Blick geprägt von Machtstrukturen ist, die auf ein Wissen zurückgreifen, das nicht wie es in diesen Strukturen vielfach angenommen wird, universelle Gültigkeit besitzt, sondern einer einseitigen Perspektive entstammt, die nach wie vor keine Rücksicht auf parallel existierendes Wissen nimmt, besonders nicht das Wissen kolonialisierter Gruppen. All das ist erlernt doch bleibt weitestgehend unhinterfragt. Dies wird auch im ‚Dialogischen‘ deutlich, das hier einen eurozentrisch geprägten Blick auf und ein Reden über ‚die Anderen‘ wiedergibt. Dabei verfällt das Dialogische, da in der Folge von (De)Platzierungen in einem Ausstellungsraum westlich geprägter Museen gerade diejenigen Kontinente zusammengebracht werden, die von diesen pseudo-dialogischen, kolonialen Strukturen unterdrückt wurden und in denen sich ihre Kulturgüter auch heute noch wiederfinden. Mit diesem (neo-)kolonialen, gleichwie generalisierenden Blick auf die außereuropäischen Kontinente und Kulturgüter wird eine westlich-eurozentrische Deutungshoheit weitergeführt. Ebendiese manifestiert sich im Display eines der meistbesuchten Museen in Frankreich, ohne dass die dabei entstehende Mystifizierung von Kulturgütern im regulären Ausstellungsbereich hinterfragt wird.158 An dieser Stelle ist es daher lohnend mit dem Konzept des Unlearnings an diese Displaysituation heranzutreten und den nonverbalen Aussagen, die damit getroffen werden.159 Neben dem Display kommt es zusätzlich über vielfältige Werbemittel zu der damit kommunizierten Aufforderung im MQB auf ‚Entdeckungstour‘ zu gehen.160 Diese Aufforderung stützt die Annahme der Weiterführung eines (neo-)kolonialen Deutungsregimes, das ebenso unter Berücksichtigung von Unlearning näher beleuchtet werden soll (Abb. 2).

Abb. 2: Ausstellungsansicht Dauerausstellung Musée du quai Branly. Abbildungsnachweis: ©musée du quai Branly – Jacques Chirac, photo Alexandra Lebon.

Zum (Kunst)Objekt gemacht

Die sich im MQB manifestierenden (neo-)kolonialen Ansätze außereuropäische Kulturgüter unter besonderer Berücksichtigung ihres künstlerischen Werts zu präsentieren, ist in Bezug auf die Institution des MQB kritisch zu hinterfragen.161 Nadine Pippel hebt Chiracs Rede zur Eröffnung des Pavillon des Sessions162 hervor, in der er formuliert, dass eine neue Beziehung von Ästhetik und Ethnologie, im Unterschied zu anderen ethnologischen Museen, innerhalb des MQB über das museale Display stattfinden soll.163 So sollen die für die Kulturgüter relevanten Kontexte im MQB eher in den digitalen Raum verschoben werden, um ‚die Atmosphäre der wertvollen Objekte‘ als Kunst nicht zu stören.164 Auch James Clifford geht auf diese inszenierte Situation ein, wenn er die Displaysituation als einen ‚magischen Ort‘ kritisiert.165

Hervorzuheben ist in der Argumentation Chiracs, dass die im MQB ausgestellten Kulturgüter als Kunstwerke zu behandeln seien, was einen eurozentrischen Kunstbegriff betont. Dieser dominiert die Ausstellung, gleichwohl man sich bewusst vom westlichen White Cube als modus operandi des Ausstellungsraumes distanziert. Einhergehend damit wird über die Grundsätze des MQB suggeriert, dass sich diese Ausstellungsweise von einer nicht-westlichen Perspektive abgrenzt. Nora Sternfeld formuliert dies wie folgt: „Die Präsentation der Sammlungen beschränkt sich auf den Kunstwert der Objekte, die als ‚arts premiers‘ gekennzeichnet sind und hält bewusst den Tausch- und Gebrauchswert weitgehend aus dem Wahrnehmungszusammenhang heraus.“166 Betont werden muss, dass vermittels dieses kuratorischen Umgangs mit den Kulturgütern ihre ursprünglichen Bedeutungen verkannt, transformiert oder ignoriert werden können. Mit Blick auf die Displaysituation: Die Besuchenden des MQB tappen hinsichtlich der Semantiken der ausgestellten Kulturgüter im Dunkeln.

Das eurozentrische Verständnis von ‚Spiritualität‘, das über das kuratorische Konzept auf die Ausstellungsstücke damit zusätzlich projiziert wird, darf angesichts der Entscheidung für das dort zu sehende Display nicht unerwähnt bleiben. Es reflektiert sich ferner in Jean Nouvels – der Architekt des MQB – kritisch zu beleuchtender Idee architektonisch evozierter Assoziationen zum Spirituellen:

„Everything is done to stimulate the blossoming of emotions aroused by the primary object, […] everything is done to protect it from light and to capture that rare ray of sun needed to set vibration in motion, to speak of a feeling of spirituality. It is a place marked by symbols.“167

Insbesondere auf den szenografischen Aspekt bezogen, kritisieren zahlreiche Ethnolog:innen, die durch eine betonte Ästhetisierung der Objekte resultierende Marginalisierung des (historischen) Kontexts der Kulturgüter im MQB (Abb. 3). Um dieser Kritik entgegenzuwirken, lassen sich die zentralen Konzepte des MQB, die Chirac und Nouvel verbanden, in einem Satz zusammenfassen, den der französische Präsident bei der Eröffnung des Museums am 20. Juni 2006 äußerte: „[F]ar removed from the stereotypes of the savage or primitive the museum sees to communicate the eminent value of these different cultures“.168

Abb. 3: Ausstellungsansicht “Zone Afrique”. Abbildungsnachweis: ©musée du quai Branly, photo Cyril Zannettacci.

Zwischen Display und Storytelling

Um die Hauptausstellungsfläche des MQB zu erreichen, werden Besuchende eine spiralförmige Rampe hinauf geleitet, die sich um ein alle Etagen umfassendes Glas-Silo windet und sich die Videoinstallation The River den Weg bahnt.  Das Silo, bestückt mit rund 9.500 außereuropäischen Instrumenten, wird dabei mit stark gedimmtem Licht inszeniert. Diese konservatorische Entscheidung führt dabei zu einem Ausbleiben eines ethnologischen Mehrwerts, der sich im MQB vielfach dem ‚ästhetischen Anspruch‘ der Ausstellungssituation beugt. The River ist eine 160 Meter lange Lichtprojektion, die Text auf den begehbaren Museumsboden projiziert. Durch die unumgängliche Situation dieses lichtprojizierten Text-Flusses, wird diesem eine zentrale Bedeutung zugesprochen: „The aim of the work is to prepare the viewer to enter the collection, to create a state of reverie consistent with the architecture and the dream-like experience of the Permanent Collection space“,169 so wird das Verständnis der Arbeit durch den Künstler, Charles Sandison, und das Museum benannt. The River ist eine selbstreflexive Arbeit und damit inhaltlich im starken Kontrast zur restlichen Ausstellungsfläche zu verstehen, die durch ihre Situierung unmittelbar vor der Hauptausstellungsfläche als unumgängliches Element in Erscheinung tritt.170 Ferner verdeutlicht die Arbeit implizit die kritische Displaysituation im Hauptausstellungsbereich, wenn hierüber besonders der starke Kontrast in der Lichtregie wahrnehmbar wird (Abb. 4). So beschreibt Herman Lebovics sie im Rahmen eines Besuchs wie folgt:

„Tunnels usually end in blessed light. On emerging from this one, we were plunged into the yet darker world of the exhibition plateau. Music with a strong drum beat was playing faintly. I heard it almost subliminally. I did not recognize it, but was the kind I associate with Tarzan movies. The music and ‚primitive’ objects vaguely visible from the distance in the obscurity of the hall made me think – and, as I read in the reviews afterward, made others think – of Joseph Conrad’s story of African savagery.“171

Abb. 4: Ausstellungsansicht. Abbildungsnachweis: ©musée du quai Branly, photo Alexandra Lebon.

Die einstige, zumeist hell ausgeleuchtete Situation findet ihren abrupten Abbruch beim Betreten des durch und durch dunklen Hauptausstellungsraumes. Um es mit den Worten des New York Times Autoren Michael Kimmelmans zu benennen: „[D]evised as a spooky jungle, red and black and murky, the objects in it chosen and arranged with hardly any discernible logic.“172 Beim Verlassen der Lichtinstallation wird die zuvor einsetzende Schlängelung des Weges über eine niedrige Mauer im Hauptausstellungsraum fortgesetzt, die mit Braille-Schrift sowie Bildschirmen ausgestattet ist. Farbgebend ist dabei besonders das hellbraune Formleder, die Mauerverkleidung. Diese Mauer stieß auf besonders viel Kritik. So wurde sie nicht nur aufgrund ihrer Freizeit- und Themenpark-Assoziationen weckenden Ästhetik diskutiert, worüber ihr jeder wissenschaftliche Charakter abgesprochen wurde. Darüber hinaus erinnere sie, so Emmanuel de Roux, an eine der zentralsten Sammelexpeditionen des Musée de l’Homme.173 Die vielfältige Kritik bezog sich überdies auf die Distanz zwischen Informationen, die sich auf der Mauer wiederfinden, und den Gegenständen, die damit kontextualisiert werden sollten.174 Jene Argumentationen, die diese Präsentationsform präferieren, verfahren auf einer rein visuell-ästhetischen Ebene, die nicht weniger relevant wird, wenn sie an einem Ort auftritt, der sich gerade als ein solcher mit hohen ästhetischen Ansprüchen definiert.

Der Großteil der hier ausgestellten Kulturgüter oder Objekte wird in Vitrinen präsentiert, die einer reduzierten Formgebung folgen. Dabei werden sie zumeist mit Spot-Lights beleuchtet (Abb. 5).

Abb. 5: Ausstellungsansicht „Zone Afrique“. Abbildungsnachweis: ©musée du quai Branly, photo Cyril Zannettacci.

Scheinwerfer und die generelle Lichtregie leuchten den Raum dabei dramatisch aus. Den roten Faden des Ausstellungsrundgangs bildet konsequent das diffuse Licht das die Ausstellungsstücke inszeniert. Noch intensiver als in der großen Halle findet sich diese Inszenierung in einzelnen, kammerartigen Seitenräumen wieder, die größtenteils nahezu vollkommen dunkel sind, da die dort befindlichen Spots mit einem noch niedrigeren Lichtwert eingestellt sind, als es in der Haupthalle der Fall ist. Christopher Dickey beschreibt diese Räume als „von innen verdunkelte Hütten“ (Abb. 6).175

Abb. 6: Musée du quai Branly. Das Plateau der Sammlungen, Bereich Ozeanien, Dezember 2014, Vitrine OC 087, (OC087) Vorgestellte Objekte: 70.2001.27*Vitrine OC 088, (OC088). Abbildungsnachweis: ©musée du quai Branly – Jacques Chirac, photo Cyril Zannettacci.

Seitens des MQB wird hinsichtlich dieser Inszenierung kommuniziert, dass die Ausstellungsstücke als Kunstobjekte betrachtet werden sollen, weshalb es auch zu dieser über die Lichtregie evozierten Displaysituation kam, in der gleichsam die ethnologischen Informationen in den Hintergrund oder eben in den nicht mit Licht ausgeleuchteten Bereich rücken. Ein großes Problem, das die Displaysituation erzeugt, ist, dass sie einer primär passiven Betrachtungsweise Vorrang gibt, die sich einer Auseinandersetzung mit den einzelnen Kulturgütern entziehen kann. So werden außereuropäische Kulturgüter zum ‚Genussmittel‘ in diesem Fall, die Erwartungen eines eurozentrischen Blickes erfüllenden neuen Museums für eine ethnologische Sammlung. Besonders kritisch ist dies vor dem Hintergrund zu reflektieren, da hier – so in Chiracs Eröffnungsrede kommuniziert, aber auch bis heute von Seiten des Museums – ein ‚Dialog der Kulturen‘ stattfinden soll.176 Vor allem Chirac bezieht sich in seiner Rede mitunter auf die kulturelle Vielfalt, die über diese museale Inszenierung demonstriert werden soll – eine Idee, die jedoch von ihrer letztlichen Umsetzung und der entsprechenden Wirkung unabdingbar zu unterscheiden ist. 

Vielfalt bezieht sich auf vielfältige Sichtweisen. Das MQB nimmt in seiner Dauerausstellung allerdings nur eine Sichtweise ein, und zwar eine eurozentrische. Es lässt sich damit ein gelenkter eurozentrischer Blick wahrnehmen. Clifford hinterfragt dieses von Chirac formulierte Anliegen: „‘Là ou dialoguent les cultures’: the motto begs all the important questions. Cultures don’t converse: people do, and their exchanges are conditioned by particular contact-histories, relations of power, individual reciprocities, modes of travel, access, and understanding.“177

Vom Glauben des eigenen Wissens

„Unlearning one’s privileges as one’s loss“.178 Gayatri Chakravorty Spivak, verdeutlicht über das Unlearning besonders, inwieweit von der Einflussnahme hierarchischer Strukturen in Bezug auf Wissenskonzepte gesprochen werden kann. Damit ist zu betonen, dass das Gesagte oft mehr über den:die Sprecher:in aussagt, also über die Person(engruppe) von der das Gesagte handelt.179 María do Mar Castro Varela verweist in (Un-)Wissen. Verlernen als komplexer Lernprozess dabei besonders auf die einerseits existierende Handlungsmacht der einen Partei sowie die andererseits sehr stark eingeschränkte Handlungsmacht der ihr entgegenstehenden Partei.180 Zusätzlich betont sie in ihrer Auseinandersetzung mit Spivak, dass die Gewalt von Lernprozessen sichtbar gemacht werden muss oder zumindest ein Bewusstsein über diese Gewalt zu existieren hat.181 Besonders der Glaube Chiracs, die Kulturgüter durch ihre Benennung als Kunstwerke ‚aufzuwerten‘, verdeutlicht inwieweit das Bewusstsein darüber fehlt. Ein großer Widerspruch, der sich in einer solchen Annäherung an Kulturgüter als Kunstobjekte herausbildet, liegt in der eurozentrischen Betrachtung nicht-europäischer Kulturgüter. Die aus einer westlichen Perspektive entwickelte Idee hatte vielleicht zum Ziel koloniale Verständnisse zu überwinden, die Umsetzung jedoch zur Folge, dass die Auseinandersetzung mit diesen Ausstellungsstücken auf einer anderen, diesen nicht gerecht werdenden Ebene vollzogen wird und eine Loslösung vom kolonialen Blick nur schwerfällig vonstatten geht. Dabei wird einem außereuropäischen Kulturgut nicht nur sein eigentlicher Wert abgesprochen beziehungsweise als zweitrangig degradiert, sondern auch der eurozentrische Blick erneut als überlegen erhoben, indem der Kunstwerkcharakter als etwas für das Kulturgut Positives benannt wird. Damit wird sich jedoch nicht von einem kolonialen Blick distanziert, sondern dieser (neo-)kolonial aufgelegt. Während das MQB seine Besuchenden dementsprechend zum ästhetischen Konsum von Kulturgütern verpflichtet, indem das visuell Erfahrbare in dieser Ausstellung in Form des stark aufgeladenen Displays unumgänglich wird, ermöglicht dieses so vielfach besuchte Museum ihnen wiederum kaum, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, da die Displaysituation die Informationsbeschaffung als zweitrangig inszeniert und diese dabei nur schwerfällig zugänglich macht. Vielfach wurde auch aufgrund des räumlichen Nicht-Vertreten-Seins Europas, dieses als museal präsentierte ‚Ordnungsmacht der Welt‘ verstanden. Wiederholt wird dadurch hervorgehoben, inwieweit das räumliche Fehlen Europas auf den eurozentrischen Blick des MQB hindeutet. Die Dichotomie vom ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ verdeutlicht sich.182

Ausblick

Es konnte festgehalten werden, dass das MQB durch die Displaysituation, die bereits im Außenraum beginnt, koloniale Blickstrukturen reproduziert. Daran anknüpfend werden auch Visualisierungsformen aufgegriffen, die als (neo-)kolonial verhandelt werden können. Kritisch zu hinterfragen ist dabei das vorzufindende Äquivalent, dass „Ästhetisierung auch Entkontextualiserung [bedeutet]“.183 Das MQB verdeutlicht die Strukturen der französischen kolonialen Gewaltgeschichte nicht, sondern verschleiert diese hinter der Kulisse des Displays. Damit geht das MQB nicht das von Chirac angestrebte Ziel der repräsentierten Vielfalt der Kulturen in ihrer Komplexität nach, dass einem respektvollen Blick auf ebendiese entspringen sollte. Es zeigt sich damit auch, dass ein Bewusstsein über diese vorherrschenden Machtstrukturen fehlt. Die Umsetzung weist dabei Fehlschlüsse auf, die sich zwar einer anderen Herangehensweise sich Kulturgütern zu widmen öffnen, diese jedoch zu ähnlichen Ergebnissen führt, wie zu kolonialen und kolonial geprägten Zeiten, auch wenn man diese doch eigentlich überwinden wollte. Die erlernte Qualitätsbestimmung eines Kunstobjekts aus einem eurozentrischen Blickpunkt, welche hier zum Tragen kommt, verdeutlicht, das nicht-Wissen über diese erlernten Strukturen, und der Glaube, ein Kulturgut bedarf das Siegel des Kunstwerks, um einer Ausstellung würdig zu werden.
Im MQB findet sich keine Überwindung kolonialer Blickführungen und Machtstrukturen wieder, sondern eine Inszenierung die den eurozentrischen Blick als den ‚einzig wahren‘ und letztlich ‚alles bestimmenden‘ hervorbringt. Damit begibt man sich einmal mehr in (neo-)koloniale Verhältnisse hinein. Dies bleibt im MQB unkritisch hinterfragt. Bestimmte Displaysituationen treffen immer bestimmte Aussagen – Aussagen, die beeinflussen, wie etwas gesehen wird, beziehungsweise gesehen werden soll: Die Atmosphäre, die im MQB durch die beschriebene Displaysituation entsteht, wird dabei zu einer Form des Storytellings.
Die Inszenierung von Kulturgütern als Kunstwerke löst diese Problematik nicht und kann damit auch nicht den Anspruch erheben, den Kulturgütern einen entsprechenden Platz im MQB zu bieten. Die ästhetisierende Transformation von Kulturgütern zu Kunstwerken stellt sich, so scheint es, zumindest über das Display vielmehr in den Weg, als dass es eine Ablösung des kolonialen Blicks ermöglicht. Damit bleibt auch die Inszenierung und das Display des MQB eine klassische Form des Exotismus.184 So bezeichnet Clifford das MQB mit seiner Architektur als neoprimitiv.185
Morrisons Statement verdeutlicht, dass das MQB letztlich nur etwas über den eurozentrischen Blick auf die im Museum ausgestellten, nicht-europäischen Kulturen und Kulturgüter aussagt. Besonders in der Auseinandersetzung mit dem Musée du Quai Branly bleibt dementsprechend mit Morrisons Worten zu sagen: „The subject of the dream is the dreamer“.186


Biografie

Seit dem Wintersemester 2022/23 studiert GINA MARIE SCHWENZFEIER im Master Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie zuvor einen Zwei-Fach-Bachelor in Kunstgeschichte und Archäologische Wissenschaften absolvierte, den sie mit der Arbeit MOTHERHOOD | MOTHERING | MOOTHERR. Eine exemplarische Analyse heterogener Darstellungen von Mutterschaft in der westlichen Gegenwartskunst am Beispiel Laure Prouvosts Installation MOOTHERR (2021) abschloss. Ihr theoretisches wie praktisches Interessensfeld liegt besonders in der sich aufbrechenden Grenze von Kunstvermittlung und Ausstellungspraxis und die Möglichkeiten, die sich durch diese Entwicklung ergeben. Neben dem Studium ist sie als Wissenschaftliche Hilfskraft bei Situation Kunst (für Max Imdahl) und dem Museum unter Tage, wie auch dem SFB 1567 Virtuelle Lebenswelten angestellt. Darüber hinaus ist sie in der Organisation sowie der Vermittlung verschiedener Projekte beteiligt, die sich entlang des musealen Kontexts orientieren. Hierzu gehören das Projekt RuhrKunstUrban – Museum findet Stadt der RuhrKunstMuseen (2020-2022) und das seit 2024 laufende Nachfolgeprojekt RuhrKunstbewegt. Über studentische Initiativprojekte setzt sie sich immer wieder mit neuen Medien und Methoden der Kunstvermittlung auseinander; zuletzt im Rahmen des appbasierten Projektes KUNST TOUR RUB.

Vorne Rechts, 2024 – Lisa Holzapfel

Die im Rahmen der Jahresausstellung 2023 der Akademie der bildenden Künste München entstandene Arbeit mit dem Titel vorne rechts löst das verwendete Material aus seiner ursprünglichen Nutzung heraus. Betrachtet man das Werk aus einiger Entfernung, fallen die Tiefen Rillen auf der Objektoberfläche wenig ins Auge und man fühlt sich an Malevichs schwarze Quadrate erinnert. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man, dass es sich nicht allein um eine bemalte Leinwand, sondern um einen aus seiner Form gelösten Autoreifen handelt. Die Künstlerin hat diesen aufgeschnitten und in die Länge gezogen, bis schlussendlich das Objekt vollkommen formentfremdet zurückbleibt. Holzapfel verweist mit ihrer Arbeit zum einen auf Vergangenes, da die deutlich erkennbaren Gebrauchsspuren der Reifen von deren Abnutzung zeugen – zum anderen gehen damit Gedanken zur Entsorgung dieser in der Zukunft einher. Sie nutzt den Autoreifen symbolhaft, um auf die Beanspruchung von Raum durch die Einlagerung der verbrauchten Reifen aber auch auf die Vereinnahmung öffentlichen Raums, durch das stetige Ausbauen der Straßennetze, hinzuweisen. Die Formverfremdung und Umnutzung soll dabei zu einem Perspektivwechsel führen und zur Entwicklung neuer Ideen von öffentlicher Raumnutzung anregen. 

© Alex Jeskul
© Lisa Holzapfel
© Lisa Holzapfel

Biografie

LISA HOLZAPFEL lebt und arbeitet in München. Zudem studiert sie an der Akademie der bildenden Künste im Bereich Bildhauerei. In ihrer bildhauerischen Arbeitsweise arbeitet die Künstlerin mit einem relativ neutralen Farbspektrum und setzt damit den Fokus ihrer Arbeiten mehr auf deren Material und Strukturgebung. 

 “Schönes braunes Moor, köstliches Braun!“ -Ein multiperspektivischer Blick auf Paula Modersohn-Beckers Moorlandschaften um 1900, 2024 – Linda Alpermann & Sarah Felix

Sarah Felix und Linda Alpermann stellen in ihrem Essay verschiedene Sichtweisen auf Paula Modersohn-Beckers Ansichten des Worpsweder Teufelsmoors vor. Um 1900 setzte die Malerin sich verstärkt mit dem Moor als Bildmotiv auseinander und stilisierte es zu einem romantischen Sehnsuchtsort. In ihren Briefen und Tagebüchern äußerte sie sich ausgiebig über ihre Faszination für das Moor. Die beiden Autorinnen zeigen, wie Modersohn-Becker in ihren Werken mit Farben und Kontrasten spielt, aber auch, wie das Moor zur Projektionsfläche des menschlichen Machtanspruchs gegenüber der Natur wird. 

„Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene-Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunklen Segeln, es ist ein Wunderland, ein Götterland. Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Bewohner wissen nicht, wie schön es ist. […]“166 

 Paula Modersohn-Becker, Tagebucheintragung, Worpswede, 24. Juli 1897

Die Künstlerkolonie Worpswede & das Teufelsmoor 

Die Malerkollegen Fritz Mackensen, Hans am Ende und Otto Modersohn ließen sich 1889 im nordöstlich von Bremen gelegenen Dorf Worpswede nieder, etwa 20 Kilometer von der Hansestadt entfernt. Ihnen folgten 1893 Fritz Overbeck und 1894 Heinrich Vogeler. Die fünf Künstler hatten zuvor erfolgreich an den renommierten Kunstakademien in Düsseldorf, Karlsruhe und München studiert, standen aber der traditionellen akademischen Ausbildung zum Teil kritisch gegenüber. Sie suchten nach neuen Entwicklungsmöglichkeiten, die ihnen die strenge akademische Lehre nicht bieten konnte. Auf der Suche nach alternativen Ansätzen begeisterten sie sich für die Methoden der Freilichtmalerei, etwa für jene der Schule von Barbizon. Nach mehreren Aufenthalten in Worpswede seit 1884 beschlossen sie schließlich, eine Künstlerkolonie nach französischem Vorbild zu gründen. Worpswede befindet sich am Rand des Teufelsmoors, einer weitläufigen Moorlandschaft, die das Gebiet prägt. Mackensen, fasziniert von der einzigartigen Landschaft und der idyllischen, unberührten Natur, hatte bereits einige Jahre zuvor durch Zufall das künstlerische Inspirationspotential Worpswedes entdeckt und erkannt. Diese Entdeckung führte schließlich zur Gründung einer der berühmtesten Künstlerkolonien Deutschlands, der sich wenige Jahre später auch Paula Becker, später bekannt als Paula Modersohn-Becker, anschloss.179

Das Leben in der Künstlerkolonie veränderte das Verhältnis zur Landschaft. Sie war nicht mehr nur Studien- und Arbeitsort, sondern das gesamte Leben ihrer Bewohner:innen spielte sich dort ab. Neben der Abkehr von der akademischen Lehre hin zum Selbststudium war die Kolonie auch Ausdruck einer Stadtflucht, die durch die Verdichtung des Lebensraumes, die zunehmende Armut und die Industrialisierung in den Städten ausgelöst wurde.181 „Hinwendung zur Natur und ein Gefühl für das Unverfälschte in ihr sind zwei lebensreformerische Triebfedern ihres Handelns”187, schreibt die Kunsthistorikerin Renate Foitzik Kirchgraber über die Gründung der Künstlerkolonie. Die Popularität von Künstlerkolonien wie derjenigen in Worpswede ist auch im Kontext der Lebensreform zu verstehen, einer Reihe von sozialen Bewegungen, die im späten 19. Jahrhundert Schwung aufnahmen.188 Die Berührung mit Natur wurde aufgeladen in der Suche nach Vitalität durch Kontakt mit Sonne, Luft, Licht, Meer, Wald, Bergwelt oder Heide. Durch Praktiken wie Bergsteigen, Wandern, Zelten und Baden im Freien und häufig in Nacktheit, versuchten Lebensreformer:innen, eine Verbindung mit der Natur herzustellen.189 1898 führte Paula Beckers190 Weg nach Worpswede, wo sie sich der Künstlerkolonie anschloss, zunächst Schülerin von Fritz Mackensen wurde und 1901 Otto Modersohn heiratete. Modersohn-Becker integriert während ihrer Zeit in der Künstlerkolonie verschiedene lebensreformerische Ideen und Praktiken in ihren Alltag und in ihr künstlerisches Schaffen. Foitzik Kirchgraber schreibt, dass Paula Becker den lebensreformerischen Bewegungen der Zeit äußerst aufgeschlossen gegenübergestanden habe:191

Der folgende Text untersucht die Darstellung der Worpsweder Moorlandschaften in den Gemälden Paula Modersohn-Beckers um 1900. Die charakteristischen Moorgräben und -kanäle des Teufelsmoors waren ein häufiges Motiv der Worpsweder Künstler:innen, was deutlich macht, dass sie sich in ihrer Landschaftsmalerei keinesfalls primär mit unberührten Landschaften, sondern auch mit Spuren der menschlichen Gestaltung und Nutzung der Natur auseinandersetzten. Die einzigartigen Landschaften des Teufelsmoors sollten eine zentrale Rolle im künstlerischen Schaffen Paula Modersohn-Beckers spielen. Diese für sie faszinierende, idyllische und zugleich geheimnisvolle Umgebung bot ihr eine unerschöpfliche Quelle an Motiven und prägte ihre künstlerische Ausdrucksweise nachhaltig. Im Mittelpunkt dieses Essays steht der auffällige Kontrast zwischen Modersohn-Beckers radikalen Bildkompositionen und expressiven Farbgestaltungen und den friedlichen Beschreibungen des Moores in ihren Tagebüchern und Briefen. Diese Diskrepanz offenbart ein vielschichtiges Verhältnis zwischen der romantisierten Vorstellung von Natur und der realen, vom Menschen geprägten Landschaft. Modersohn-Beckers Darstellungen von Moorlandschaften, insbesondere von Moorgräben und Birkenwäldern, zeigen dynamische Kompositionen, die im Widerspruch zu den populären Vorstellungen vom Moor als düsteren Sehnsuchtsort stehen. Dies verdeutlicht die komplexe Beziehung zwischen menschlichem Eingriff und natürlicher Landschaft, die sie wohl unbewusst in ihrer Kunst verarbeitete.192

Abb. 1: Paula Modersohn-Becker: Moorgraben, um 1900, Öl auf Pappe auf Sperrholz, 54,5 × 42 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Albertinum, Dresden, in:
Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Hrsg.): Paula Modersohn-Becker und die Worpsweder in der Dresdner Galerie, Dresden 2012, S. 31.

Moorkanäle bei Paula Modersohn-Becker

Eines der markantesten Beispiele für ihre Mooransichten ist der Moorgraben aus der Sammlung des Dresdner Albertinum (Abb. 1). Die Künstlerin nutzt die Flussläufe der Hamme und Wümme sowie künstlich angelegte Gräben und Kanäle als Bausteine, um ihre Landschaftsstücke geometrisch aufzubauen. Im Falle des Moorgraben des Albertinum (datiert um 1900) spannt sich der Graben vom unteren rechten Bildrand bis kurz vor die obere linke Bildecke. Der Kanal durchschneidet die Landschaft und formt zwei Dreiecke, die sich in Richtung Horizont perspektivisch verjüngen. Ein schmaler grauer Streifen am oberen Bildrand bildet den Himmel der Szenerie und suggeriert wolkenverhangenes, düsteres Wetter. Er steht im starken Kontrast zur Himmelsspiegelung des Moorkanals im Vordergrund. In Bildvordergrund und Bildmitte spiegelt sich der Himmel im Kanalwasser nämlich in Türkisblau, von dem sich einige Wolken in starkem Deckweiß abheben. Diese Diskrepanz ist kaum zu erklären, wirkt aber auf Betrachter:innen besonders anziehend. Das grelle Blau des Wassers bzw. des Himmels und das Weiß der Wolken, die sich im Kanal spiegeln, leuchten förmlich aus dem Bild heraus. Unmittelbar aus ihren Erfahrungen nimmt die Künstlerin hier die prägende Farbigkeit der Landschaft auf. Vor allem die Brauntöne, aber auch das satte Grün wird in unterschiedlichen Abstufungen von den Ufern der Kanäle, der Moorerde und der Moorflora entnommen. 

Diese radikale Bildkomposition, die den Blick der Betrachter:innen förmlich in die Tiefe des Bildes zieht sowie die Farbwahl verleihen dem Werk eine beeindruckende Dynamik und Intensität, die die expressive Kraft und die Einzigartigkeit von Modersohn-Beckers künstlerischer Vision eindrucksvoll hervorhebt. Ulrich Bischoff, 1994 bis 2013 Direktor der Galerie Neue Meister in Dresden (heute Albertinum), geht sogar so weit, die Kühnheit und Radikalität des Moorgrabens (Abb. 1) mit Caspar David Friedrichs Das Große Gehege bei Dresden (1832) zu vergleichen.193 Er argumentiert, dass der in dem schmalen Streifen gehaltene graue Himmel am oberen Bildrand in Verbindung mit den im “unwirklich blauen Wasser des Moorkanals gespiegelten weißen Wolken”194  zum Hauptcharakter der Komposition wird. Ähnlich ist es bei Friedrich. Bei dem Romantiker spiegelt sich der Himmel in den stehenden Pfützen des Ausläufers der Elbe. Der Himmel drückt förmlich auf die untere Bildhälfte. Beim Moorgraben (Abb. 1) ist der Himmel durch die starke Spiegelung im Wasser des Moorgrabens ähnlich omnipräsent. 

Abb. 2: Paula Modersohn-Becker: Moorkanal, um 1900, Öl auf Pappe (1960 auf Leinwand übertragen), 53 × 32,5 cm, Kunsthalle Bremen, Bremen, in: Die Worpsweder in der Kunsthalle Bremen (Aus Worpswede, 17), Lilienthal 1984, Farbtafel 1.

Im Moorkanal (Abb. 2) der Kunsthalle Bremen lassen sich ähnliche kompositionelle Schlüsse ziehen. Der Moorkanal, ein schmales Hochformat, zeigt wie der Moorgraben (Abb. 1) eine Worpsweder Landschaftsszene mit einem Kanal oder Graben, der diagonal von der rechten unteren Bildecke zur linken oberen Bildecke verläuft. Die Ufer des Kanals sind in dunklem Grün und Braun gehalten. Im Hintergrund erstreckt sich eine weite, flache Landschaft, die nur vereinzelt von Bäumen unterbrochen wird. Der Himmel ist mit dichten, grauen Wolken bedeckt und nimmt am oberen Bildrand mehr Raum ein als beim Moorgraben (Abb. 1). Die Farben sind gedämpft und erdig, mit einem starken Kontrast zwischen dem hellen Wasser des Kanals und den dunklen Ufern des Moores. Die gedämpfte Farbpalette aus Grau-, Grün- und Brauntönen erzeugt eine ruhige, wenn nicht gar melancholische Stimmung. Im Gegensatz zum Moorgraben (Abb. 1) leuchtet hier kein kräftiges Blau aus dem Bild. Modersohn-Becker wählte hier „nur“ ein leichtes Hellblau, das hinter den tiefhängenden Wolken aufblitzt, sich aber im unteren Bilddrittel auch leicht im Kanal spiegelt. Der diagonale Verlauf des Kanals durch das Bild lenkt den Blick der Betrachtenden tief in die Landschaft hinein. Durch diese kompositorische Entscheidung entsteht eine dynamische Bewegung im Bild, die trotz der eigentlich ruhigen Stimmung, die durch die horizontalen Linien im Bildhintergrund unterstützt wird, eine gewisse Spannung erzeugt. Wie im Moorgraben (Abb. 1) zeigt sich auch in diesem Gemälde (Abb. 2) der Stil Paula Modersohn-Beckers in der expressiven, groben Pinselführung und der strukturierten Oberfläche, die der Moorlandschaft eine fast haptische Qualität verleiht. 

Ulrich Bischoff sieht zwischen dem Moorgraben (Abb. 1) und Caspar David Friedrichs Das Große Gehege bei Dresden die zusätzliche Parallele, dass Menschen kaum sichtbar verortet sind und dennoch ganz zentral für die Lebendigkeit der dargestellten Landschaft stehen.195 So verweisen beim Moorgraben (Abb. 1) die roten Dächer zweier Häuser auf Moorbewohner:innen, bei Das Große Gehege bei Dresden ist es ein einsamer Kaffenkahn, der die Elbe entlang segelt. Beim Bremer Moorkanal (Abb. 2) ist es ein kaum erkennbares einzelnes Haus am Horizont und am Ende des Kanals. Diese Verweise auf menschliche Zivilisation könnten aber gleichermaßen überzeugend als Hinweise der Einsamkeit gelesen werden. Beide Werke (Abb. 1 und 2) könnten diesem Gedankengang folgend auch als Ausdruck der inneren Gefühlswelt der Künstlerin interpretiert werden. 

Faszination Feuchtgebiete

Paula Modersohn-Becker war mit ihrer Faszination für das Moor nicht allein. Zahlreiche Autor:innen etwa griffen das Moor als literarisches Motiv auf, wie Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930). „It is a wonderful place, the moor“,196 bemerkt Mr. Stapleton, einer der Hauptfiguren in Doyles Roman The Hound of the Baskervilles (1902) gegenüber Dr. Watson. „You never tire of the moor. You cannot think the wonderful secrets which it contains. It is so vast, and so barren, and so mysterious.“197 Das weitläufige, öde, rätselhafte Moor, wie Mr. Stapleton das Moor im englischen Dartmoor beschreibt, wird in dem Roman zum Ort der Gefahr und Angst – aber auch der Unberechenbarkeit. So spielen sich zum Beispiel alle Gewaltakte im Roman im Moor ab. Gleichzeitig steht das Moor für Irrationalität und Primitivität. Menschen, die im Moor leben, werden in der Detektivgeschichte als vertrauensselig, leichtgläubig und abergläubisch dargestellt: Sie glauben an den Fluch der Baskervilles.198 In Emily Brontës Wuthering Heights (1847) ist das Hochmoor von North Yorkshire Schauplatz der komplizierten Liebesgeschichte zwischen den Hauptcharakteren Heathcliff und Catherine. Immer wieder wird die einsame, erbarmungslose Landschaft um die Familiensitze der Earnshaws und Lintons erwähnt.199 Brontës Moor ist bedrohlich, wenn nicht sogar gefährlich. Es scheint als menschenfeindlicher, abweisender Handlungsort Sinnbild für die zerstörerischen Züge des Hauptcharakters und den Verlauf der bitter-düsteren Erzählung zu sein. 

Die westfälische Schriftstellerin und Komponistin Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) wiederum dichtet dem Moor in der Ballade Der Knabe im Moor (1842), als Teil des Gedichtzyklus Heidebilder, einen fast dämonenhaften Charakter an. In der fünften Strophe heißt es: “Da birst das Moor, ein Seufzer geht / Hervoraus der klaffenden Höhle; / Weh, weh, da ruft die verdammte Margreth; / ,Ho, ho, meine arme Seele!’”200 Diese Passage veranschaulicht die unheimliche Natur des Moors, das durch die Stimme der verdammten Margreth und dem Seufzen aus der klaffenden Höhle eine gespenstische und übernatürliche Dimension erhält. Das Moor wird zu einem Ort, an dem die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen und das Übernatürliche greifbar wird. Wie von Droste-Hülshoff eindrücklich aufgreift und der Historiker David Blackbourn überzeugend argumentiert, gab es bis ins 19. Jahrhundert kaum Personen, die zum Vergnügen ein Moor betreten hätten.201 Wie Blackbourn ausführt, galt es nicht nur als schauriger Ort, sondern auch als gefährlich, denn von den wenigen Leuten, die sich ins Moor wagten, verschwanden viele, weil sie vom unbefestigten oder schlecht befestigten Weg abkamen .202 

Abb. 3: Vincent van Gogh: Twee vrowen in het veen (Two Women on the Peat Moor), Öl auf Leinwand, 27,8 × 36,5 cm, 1883, Van Gogh Museum, Amsterdam, in:
Susan Alyson Stein: Van Gogh. A Retrospective, New York 1986, S 37. 

Auch Vincent van Gogh (1853-1890) beschäftigte sich mit dem Moor als Motiv und malte 1883 zwei Frauen beim Torfabbau. In Twee vrowen in het veen (Abb. 3) geht es ihm offensichtlich um die Darstellung des harten bäuerlichen Arbeitsalltags. Zentral für die Bedeutung der Szene ist jedoch die dargestellte Landschaft: Die Umgebung deutet auf eine typische Moorlandschaft hin, die durch flache, weite Flächen und einen dunklen, wolkenverhangenen Himmel gekennzeichnet ist. Durch die gedämpfte Farbpalette, die einfache, aber kraftvolle Komposition und die strukturierte Malweise schafft der Künstler ein Bild, das sowohl die physische Härte als auch die würdevolle Stille der Landschaft einfängt. Die gebeugte Haltung der Frauen und die raue Umgebung, die miteinander im Dialog stehen, symbolisieren eindringlich die körperliche Anstrengung und das Leben in einer harten, unbarmherzigen Natur. Eine andere Landschaft hätte kaum dieselbe Wirkung. 

Abb. 4: Paula Modersohn-Becker: Landstraße mit Birken, um 1901, Öltempera auf Pappe,
73 × 37,2 cm, Paula Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen, in:
Günter Busch, Wolfgang Werner (Hrsg.): Paula Modersohn-Becker. 1876-1907. Werkverzeichnis der Gemälde, München 1998, Band 1, Farbtafel 19/ WV Nr. 261, S. 137. 
Abb. 5: Paula Modersohn-Becker: Worpsweder Landschaft, 1906/1910, Tempera auf Pappe,
61,5 × 68 cm, Museum Ludwig, Köln, in: Diathek des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München.

Birken als Chiffre des Aufbruchs

Neben den Moorkanälen sind Birken und Birkenalleen beliebte Motive, mit denen Paula Modersohn-Becker die Worpsweder Moorlandschaft darstellte. Im Werk Landstraße mit Birken (Abb. 4) dominieren die Bäume den Bildraum und scheinen sich im Wind zu bewegen. Die Landstraße verläuft diagonal durch das Bild, verschwindet in der Ferne und zieht den Blick der Betrachter:innen tief in die Szene hinein – ein Effekt, der schon bei Modersohn-Beckers Moorgräben zu beobachten war (Abb. 1 und 2). Bei der Landstraße mit Birken ist es nicht der Kanal, sondern die Straße und die aneinander gereihten Birken, die den Blick vom rechten unteren Bildrand in die linke obere Ecke führen und der Komposition ihre dynamische, vertikale Betonung verleihen. Die Worpsweder Landschaft (Abb. 5) zeigt im Vordergrund einen Weg, der von Birken gesäumt ist. Die Diagonalen der geneigten Baumstämme schaffen Dynamik und Bewegung im Bild, die durch die ruhigen horizontalen Linien im Bild ausgeglichen werden. Die Birken dominieren die Komposition mit ihrer markanten weißen Rinde, die sich deutlich vom Rest des Bildes abhebt. Die Künstlerin verwendet in beiden Gemälden eine besonders kräftige Farbpalette, die ihnen eine frische und lebendige Atmosphäre verleiht. 

Insbesondere im Kontext der Lebensform waren Birken, die immer wieder in den Werken der Worpsweder Künstler:innen auftauchen, Symbole des Frühlings und Chiffren für einen Neubeginn.203 Die Birken verkörpern die Frische und Klarheit der Stimmung im Moor. Auch in Modersohn-Beckers Briefen und Tagebucheinträgen tauchen die Worpsweder Birken als leichte, fröhliche Gestalten auf.204 Das helle Weiß der Birkenstämme und Wolken steht wie das Leuchten des Wassers und des Himmels in Modersohn-Beckers Gemälden im Einklang mit der lebensreformerischen Hinwendung zur Natur als Sehnsuchtsort. Die Malerin verknüpft Birken gedanklich mit dem Jungen, Neuen und Modernen. In einem Tagebucheintrag schreibt sie:

“Worpswede, Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. […] Und Deine Birken, die zarten, schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen. Mit jener schlappen, träumerischen Grazie, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei. Sie sind so einschmeichelnd, man muß sich ihnen hingeben, man kann nicht widerstehn. Einige sind auch schon ganz männlich kühn, mit starkem, geradem Stamm. Das sind meine ‘modernen Frauen’…”205 

– Paula Modersohn-Becker, Tagebucheintrag, Worpswede, 24. Juli 1897

Die Birken symbolisieren für sie moderne Weiblichkeit. In die ruhigen, melancholischen Moorlandschaften bringen die Birken dadurch eine leuchtende Vitalität und stehen somit auch für persönliche und gesellschaftliche Erneuerung. In ihrer symbolischen Bedeutung als Chiffren des Aufbruchs und der modernen Weiblichkeit verleihen sie den Moorlandschaften eine zusätzliche Tiefe und verweisen auf den Zusammenhang von Natur und menschlichem Streben nach Fortschritt und Veränderung.

Abb. 6: Paula Modersohn-Becker: Sandkuhle am Weyerberg, 1899, Öltempera auf Pappe,
55 × 74 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Pinakothek der Moderne, München, in:
Günter Busch: Paula Modersohn-Becker. Malerin. Zeichnerin. Frankfurt am Main 1981, Taf. 31.

Zur visuellen Wirkung des Moors 

Als immer wiederkehrendes Stilmittel nutzt Modersohn-Becker die Kontrastierung heller und dunkler Farbtöne, was die Wirkung der jeweiligen Szene auf die Betrachter:innen erheblich verstärkt. Durch den Kontrast etwa zum blauen, strahlenden Himmel, der sich im Moorgraben spiegelt (vgl. Abb. 1, auch 6), den gelben Rapsfeldern im Hintergrund (Abb. 2), dem Weiß der Birkenstämme (Abb. 4 und 5) oder auch dem knalligen Grün der umliegenden Landschaften (Abb. 1) wird das Moor als dunkles, „mystisches“ Bildthema gebrochen, aber gleichzeitig die dunklen Grün- und Brauntöne, die die Künstlerin auch gerne verwendet, noch intensiver zur Geltung gebracht. Diese künstlerischen Entscheidungen erzeugen eine Spannung, die den Blick der Betrachtenden magnetisch anzieht und dazu einlädt, tiefer in die Landschaft einzutauchen. 

„[…] Den Tag über bin ich weit draußen im Moor gewesen, im Sturm, bei sausenden Wolken. In diesem Lande entdeckt man immer neue Schönheiten. Diesmal kam ich zwischen ein Wirrsal von Birken, von altehrwürdigen moosbegrünten Bauernhäusern mit uralten Wachholdern vor der Tür. Hier und da stehen ein paar knorrige alte Kiefern, gewaltig und groß, fast wie aus einer anderen Kultur stammend. Dazu der tiefdunkelbraune satte Moorboden, die schimmernde Wintersaat. Ja, es war fein. […]“ 206 

 Paula Modersohn-Becker, Brief an Marie Hill, Worpswede, 15. Januar 1899 

Modersohn-Beckers bewusster Einsatz von Kontrasten und Farben verleiht ihren Darstellungen der Moorlandschaft eine tiefe emotionale Resonanz und bringt für sie die faszinierende Vielschichtigkeit des Moores zur Geltung. Dem Braun kommt in Modersohn-Beckers Werken eine besondere Bedeutung zu, denn der „tiefdunkelbraune satte Moorboden” ist vermehrt Thema in den Werken der Künstlerin. „Schönes braunes Moor, köstliches Braun!“207, schreibt sie in ihrem Tagebuch. Erdtöne verleihen ihren Werken eine warme, ruhige, vielleicht sogar bodenständige Atmosphäre. 

In einigen ihrer Werke sind Formen und Komposition äußerst reduziert, wie etwa bei der 1899 entstandenen Sandkuhle am Weyerberg (Abb. 6): Die Komposition ist relativ einfach und konzentriert sich auf die Darstellung der Sandkuhle. Die Farbschichtung und die sichtbaren Pinselstriche verleihen der Landschaft allerdings eine körperliche Präsenz. Einige diagonale Linien führen die Betrachtenden durchs Bild, doch vor allem Farbgebung und Farbauftrag und die daraus resultierende Atmosphäre sind hier von Bedeutung. Dies ist immer wieder in Modersohn-Beckers Werken bemerkbar (vgl. Abb. 1 und 2). Neben der Bedeutung von Farbpalette und Farbaufstrich scheinen geometrische Formen – oder zumindest Linien –    weitere zentrale gestalterische Mittel für die kraftvolle Wirkung ihrer Worpsweder Landschaften zu sein. 

„[…] Worpswede, Du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. Deine mächtigen großartigen Kiefern! Meine Männer nenne ich sie, breit, knorrig und wuchtig und groß, und doch mit den feinen Fühlfäden und Nerven drin. […]“ 208

 – Paula Modersohn-Becker, Brief an Marie Hill, Worpswede, 15. Januar 1899

Die Bäume in Modersohn-Beckers Bildern stehen symbolisch für Stärke und Beständigkeit, gleichzeitig nutzt sie überzeugend ihre beeindruckende Präsenz, um ihre Kompositionen zu gliedern. Die wuchtigen Stämme wirken wie stabile Säulen, die das Bild tragen und die Blicke der Betrachtenden führen (vgl. Abb. 4 und 5). Die bewusste Einbindung der Bäume als strukturelle Elemente zeigt, wie Modersohn-Becker die natürliche Welt nicht nur als Inspiration, sondern auch als wesentliches Gestaltungselement für ihre künstlerische Sprache verwendet. Der ehemalige Direktor der Bremer Kunsthalle, Günter Busch, schreibt hierzu: 

„Die Kühnheit und Einfachheit, mit der sie die wenigen Bildelemente zu geheimer Geometrie in das jeweilige Bildgeviert einspannt, Bildfläche und Bildraum, Plastizität eines Birkenstamms und Oberflächenstruktur zu formalem Austausch zwingt – diese gestalterische Fähigkeit findet sich so weder bei Otto Modersohn noch bei den übrigen Worpswedern.“209

Abb. 7: Otto Modersohn: Herbst im Moor, 1895, Öl auf Leinwand, 80 × 150 cm, Kunsthalle Bremen, Bremen, in:
Nils Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, München 2006, S. 346.

Otto Modersohns Gemälde Herbst im Moor (Abb. 7) zeigt eine weite Moorlandschaft in herbstlichen Farben aus deren Vordergrund sich eine markante Birke von der Umgebung abhebt. Die Szene wirkt wesentlich idyllischer als die Landschaften Modersohn-Beckers, was vor allem an der besonders ausführlichen, detaillierten und realistischen Maltechnik Modersohns liegt, die sich besonders in der Darstellung der Bäume und Blätter bemerkbar macht. Seine Pinselführung ist präziser und weniger expressiv als die seiner Frau. Genauso relevant ist aber, wie Günter Busch schreibt, die kompositionelle Radikalität: Paula Modersohn-Beckers Malweise ist von besonderer Kühnheit und Einfachheit. Mit wenigen, sorgfältig ausgewählten Bildelementen schafft sie eine harmonische, geometrisch durchdachte Komposition, die durch eine einzigartige Integration von Bildfläche, Bildraum und Strukturen gekennzeichnet ist.

Der Moorkanal als Zeichen einer anthropozänen Landschaft

In ihren Briefen und Tagebucheinträgen hält Paula Modersohn-Becker fest, wie berauschend sie das Leben im Moor empfindet:   

„[…] Mein erster Abend in Worpswede. In meinem Herzen Seligkeit und Frieden. Um mich herum die köstliche Abendstille und die vom Heu durchschwängerte Luft. Über mir der klare Sternenhimmel. Da zieht so süße Seelenruhe ins Gemüt und nimmt sanft Besitz von jeder Faser des ganzen Seins und Wesens. Und man giebt sich ihr hin, der großen Natur, voll und ganz und ohne Vorbehalt. […] Und sie nimmt uns und durchsonnt uns mit ihrem Übermaß voll Liebe, daß solch ein kleines Menschenkind ganz vergißt, daß es von Asche sei, daß es zu Asche werde. […]“ 210

 –  Paula Modersohn-Becker, Brief an Cora von Bützingslöwen, Worpswede, 7. September 1898  

Für die Künstlerin wurde die Landschaft um Worpswede zur „Seelenruhe”. In ihren Briefen beschreibt sie Worpswede als Ort ihrer inneren Einkehr und Glückseligkeit. Sich der Natur hinzugeben, erfüllt sie mit einer tiefen, alles durchdringenden Ruhe und Liebe, die sie ihre eigene Vergänglichkeit und ihr Menschsein vergessen lässt. 

Ausgehend von Modersohn-Beckers Aufzeichnungen zeichnet sich ein Bild des Teufelsmoors, als eine Mischung aus besiedelten Teilen, trockengelegten Moorflächen und intakten Mooren. Die Moorlandschaften, deren Zauber bewundert wird, haben sich durch menschliche Eingriffe allerdings massiv transformiert. Die Werke der Worpsweder Künstler:innen vermitteln zwar die große Anziehungskraft, die das Teufelsmoor entfaltet, die Präsenz der geraden, die Landschaft wie Linien durchziehenden, Kanäle sind aber auch Zeugen der menschlichen Eingriffe zum Ressourcenabbau, die das Moor um 1900 bereits gezeichnet hatten. Die Kanäle und Gräben, denen Modersohn-Becker Bildthemen widmet, dienen der Entwässerung des Moores und sind zugleich Transportwege, über die mit Torfbooten das Abbauprodukt aus den Mooren geschafft wird. 

Abb. 8: Paula Modersohn-Becker: Moorkanal mit Torfkähnen, um 1900, Pappe auf Hartfaser, 40 × 53,5 cm, Privatbesitz, in:
Diathek des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München.

Im Werk Moorkanal mit Torfkähnen (Abb. 8) zeigt Paula Modersohn-Becker eine Flusslandschaft, in der am linken Bildrand drei Boote am Ufer vertäut sind. Mit Ausnahme eines schmalen Streifens am oberen Bildrand, der den Himmel darstellt, nehmen der Fluss und seine Ufer die gesamte Bildfläche ein. Das Flusswasser bildet eine ruhige Fläche und reflektiert den, sich außerhalb der Bildgrenzen befindenden Himmel und die Umgebung. Die Ufer des Flusses sind mit grün-brauner Vegetation bedeckt. Die Farbgebung ähnelt der erdigen, gedämpften Farbpalette des Moorgrabens (Abb. 1). Der Blick der Betrachter:innen wird durch die drei Torfkähne ins Bild gelenkt, die als Verweis auf die lange Tradition des Torfabbaus gelesen werden können und gleichzeitig Zeugen des menschlichen Eingriffs in das Moor sind.      

Zur Geschichte der Moorkolonisation in Norddeutschland

Als CO2-Speicher und Hort ökologischer Vielfalt werden Moore heute als kostbare Ökosysteme geschätzt. Im 17. Jahrhundert war das noch anders. Bevor sie erschlossen wurden, galten sie als Ödland, unberechenbar und gefährlich. Die ersten Versuche, Moore zu bändigen, stellten die Fehnkolonien des 17. Jahrhunderts nach niederländischem Vorbild dar. Infolge des Dreißigjährigen Kriegs erzielte Torf hohe Preise. Systematisch wurden Moore mit Gräben durchzogen, die zunächst der Entwässerung der Moore dienten und später für den Abtransport des Torfs genutzt wurden. Ab 1750 intensivierte sich die menschliche Nutzung der Landschaften mittels Wasserbauten: Staudämme wurden errichtet, Flüsse begradigt, Moore und Sümpfe trockengelegt, um sie urbar zu machen und ihre Ressourcen zur Energiegewinnung zu nutzen.211

Etwa Mitte des 18. Jahrhunderts begannen die Worpsweder mit der Kolonisierung des Teufelsmoors.212 Der amtlich bestellte Kommissar Jürgen Christian Findorff leitete das Entwässerungsprogramm.213 Er ließ ein weitverzweigtes Entwässerungssystem anlegen, dessen Gräben in die Flüsse Hamme und Wümme münden. 

„Der Kanal war entscheidend für das Leben in der Fehnkolonie. Er entwässerte das Moor und war der Verkehrsweg, auf dem der Torf und die Agrarprodukte für den Markt abtransportiert und Bedarfsgüter wie Düngemittel und Baumaterial herangeschafft werden konnten. […] Die Bedeutung des Kanals ging über das Ökonomische hinaus; er war Symbol für die Verbindung mit der großen Welt“ 214

Die Moorkanäle waren die Lebensadern der Kolonien. Die Erschließung der Moore durch die Gräben stand in Verbindung mit Wohlstand, Gesundheit und Fortschritt. Dabei war die Qualität der Kanäle entscheidend für den Erfolg der Kolonien. Einige der Bewohner:innen der Fehnkolonien lebten in Armut oder gaben die Unternehmen wieder auf.215

Mit der Blüte der Fehnkolonien um 1850 nimmt die Bedeutung von Kohle als Brennstoff zu. Torf als Ressource koexistiert aber weiterhin und die Moorausbeutung bleibt bestehen. Moorkolonien können als Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Ökosysteme verstanden werden, die Moorkanäle als Symbole für die zerstörerische Ausbeutung. Die Gräben schlagen schnurgerade Schneisen durch die Landschaften, die das Wachstum der Moore hemmen und die organische Substanz der Moore zum Verbrennen abtransportieren.216

Fazit

Paula Modersohn-Beckers Mooransichten lassen nicht nur die starke emotionale Kraft, die die Landschaften auf Betrachtende ausüben, spüren, sondern zeigen auch wie sehr Menschen das Moor bereits mit ihren Linien durchzogen (vgl. Abb. 1 und 2) und für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben. In Form des Grabens selbst ist diese andauernde Geschichte der Extraktion das zentrale Bildmotiv.  Paula Modersohn-Becker unterstreicht dies, wohl unbewusst, durch das Aneinanderreihen gerader Linien und geometrischer Bausteine, die ihre Bildkompositionen bilden. 

Damit stehen die Moorkanäle als Bildmotiv der Künstler:innen des Worpsweder Kreises im Widerspruch zu ihrer heilsamen Verklärung des Moors als Ort, dem die Kraft des Ursprünglichen, des Lyrisch-Märchenhaften innewohnt, wie es aus den Tagebucheinträgen und Briefen Paula Modersohn-Beckers nachzulesen ist, wenn sie etwa von „Versunkene-Glocke-Stimmung!”217 oder dem Moor als „ein Wunderland, ein Götterland”218schreibt. Es reibt sich auch mit den in der Lebensreform, von deren Ideen Modersohn-Becker inspiriert war, verbreiteten Hinwendung zur Natur. Diese wird zum Refugium, zur Zuflucht vor den unerwünschten Nebeneffekten urbaner Gesellschaften und technischer Entwicklungen. Die Natur galt als „Gleichnis für das Unberührte, das Ewige und Unwandelbare”.219 Die Moorgräben und Kanäle sind einerseits Vermittler der Ruhe und Kraft mit der das Worpsweder Umland auf die Künstler:innen wirkte. Gleichzeitig sind sie, insbesondere aus Perspektive heutiger Betrachter:innen, Zeichen für ausbeuterische menschliche Eingriffe in das Moor. Mit dem heutigen Wissen um die Krisen des Anthropozäns betrachtet, scheint die Wahl von Moorgräben als Motiv paradox angesichts Modersohn-Beckers Begeisterung für das Moor. Die Kanäle scheinen für heutige Augen ein Symbol für die negativen Auswirkungen menschlicher Interventionen und den Verlust der ursprünglichen Unberührtheit der natürlichen Moorlandschaft. 

Biografie

SARAH FELIX und LINDA ALPERMANN sind wissenschaftliche Volontärinnen bei den staatlichen Kunstsammlungen Dresden und haben beide an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Sarah studierte Europäische Ethnologie und Linda Kunst- und Bildgeschichte sowie Geschichte. Im Rahmen eines Studienprojekts beschäftigte sich Sarah mit der Renaturierung von Köpenicker Mooren, insbesondere den Multispeziesbeziehungen des Sonnentaus, einer fleischfressenden Moorpflanze. Zu Linda Forschungsinteressen gehört die Malerei der Klassischen Moderne. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Kunst von Künstlerinnen. 

You Want It Darker, 2024 – Daniel Gianfranceschi

Daniel Gianfranceschi untersucht in seinem Text You Want it Darker die Bedeutung der Verwendung von schwarzer Farbe in künstlerischen Werken und bei Designobjekten. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass dunkle Farbtöne allein symbolisch für Gefühle des Düsteren stehen, plädiert er dafür, diese ebenfalls als Ausdruck von Eleganz, Klarheit und Ruhe zu betrachten. Seine feinfühlige Werkbetrachtung einzelner Arbeiten führt die Bedeutungsvielfalt einer dunklen Farbpalette vor Augen und zeigt, welche Schaffenskraft aus ihr erwachsen kann. 

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In a recent conversation with fashion designer Boris Bidjan Saberi, he briefly mentioned the societal dichotomy between the color black as something dark and tenebrous and the fact that, for him and many alike (one needs only to think of fashion designers such as Rick Owens or Ann Demeulemeester), a darker color palette can mean elegance, clarity, and tranquility. In western society especially, black is often equated to the counterpart to all other colors, standing alone, like a monolithic presence. In turn, one cannot help but to view the color black (and with it, a darker color palette) as the negation of all other shades and tones. Instead, one should perhaps be more akin to recognize black and the darker pigments as integral to the whole. 

Even more so, one should refrain from attributing a peculiar sense of dread, sadness or, colloquially speaking, darkness to the darker pigments, for more often than not they are less of a representation of a personal state of being and more an aesthetic/ philosophical choice, in favor against many others. As you can see, in terms of clothing, a darker palette in one’s wardrobe might be, first and for most, the result of one of either two things: a particular kind of boredom, nurtured through many years of senseless consumption against the backdrop of multicolored clothing articles that do not match each other or, going hand in hand with boredom, a laziness that is not to be misunderstood as negative. Relying on multiple shades of black will always be a saver option than, for the sake of argument, on differing shades of green. By choosing to forego color and embrace something that absorbs light rather than reflecting it, one is actively trying to get out of the way, spiritually, and focus on the day to day, just as a carpenter might rely on functional clothing.194 Of course, as sociologist Georg Simmel would say, everything that was once a trend will be one again, even things and objects that indirectly go against the very act of being trendy.195 In recent years, we have seen an upstream of monochrome colorists, spectacularly ruining the color black by making its very inception a pseudo-intellectual act of rebellion, against whom or what is yet to be seen. Wearing black is not an economical choice anymore, it has become an aesthetic. 

That being said, there are times where the darkness of the black pigment – whether it be charcoal, sumi-ink made out of sooth or oil painting – is actually required for a specific artistic purpose. One would be very quick to think of Kasimir Malevich, requesting that nothing might be more important than the essence of color itself.197 Beyond this, one could mention Richard Serra’s paper-based oeuvre, clearly defined by a special kind of oil stick (made exclusively for him) which is then applied to paper in, often, geometrical patterns coincidentally resembling the artists monumental sculptures. In Serra’s case, the darkness of the pigment is reinforced by the molecular and sculptural quality of the oil stick, acting as something between painting and sculpture, creating densely layered landscapes of color. Here, the work is as much about what it is actually made of as it is about what is being depicted on the paper. Color eventually becomes material and mass simultaneously.213 Even Pierre Soulages, someone who gave his life to the color black, did not do so for a spiritual reasoning, relating black pigment to darkness of the mind but rather because the interplay between light and shadows, edges and curves, matt and gloss that he was working on could truly only be achieved with a pigment as dark as black.217 For a more contemporary approach, one could look at the way Helmut Lang employs black as a homogenizing entity within each sculptural work, highlighting not only each material singularly but also the result of the combination of multiple discordant parts, ultimately making up the whole.218 We thus slowly begin to see that, contrary to societal depiction, an increasingly darker color palette, often inevitably leading to the monochrome, does not necessarily recall an upsetting, gloomy state of being but that darkness of color-pigments is, very often, a formal decision, drawing on questions of space, line, composition and the possible finality of abstract painting. To better demonstrate this phenomenon, we shall look at the ever so popular Yves Klein blue-pigment, a pigment popularized so well by the artist, it received its own designated name.220 One could argue that Klein’s blue monochromes are, in fact, so effective and popular precisely because of the chosen color, lending specificity to the work. If we apply this logic to the many artists that have worked with a, by chance or choice, darker color palette, we will soon come to find that most black monochrome works that have stood the test of time and have been deemed, critically, important ask questions of a visual and formal nature, which in turn must be executed in precisely this way in order to work. Ellsworth Kelly’s many monochrome warped canvases, often including the color black in their compositions, work exactly because of what they are: abstract depictions of a particular moment in time, irreplicable by anything else that is not what it ends up being.221

The assumption that a darker color palette equals a withering state of mind is, perhaps, to give benefit to doubt, sometimes partially true, yet the final result is not mutually exclusive. Mark Rothko choose to pursue a drastically darker kind of color-field painting, consisting primarily of blacks, whites and grays towards the untimely end of his life.222 Francisco de Goya and his rather infamous black paintings, originally drawn directly onto the walls of his then abode, are the clear result of a man losing his sense of sanity. What is remarkable is that, while deaf as can be and, presumably suffering greatly, the painterly quality of the works remains immaculate.223 In Rothko’s case, we ought to remember that the artist, while sticking to trying to portray the whole universe in his blacks and grays, also endeavored into acrylic drawings which, in contrast, featured bright yellows, light-blues and pastel pinks.224 The correlation between color and state of mind might be as evident as one being the reflection of the other but we cannot rely on this rule, as we see highlighted by the many examples, indefinitely. The clearest example that underlines this might be that of the grand-Dutch, Van Gogh himself.225 Plagued by what we now could (and should) consider a severe case of a poor mental health, Van Gogh was notorious for always finding joy and resistance against the ills that indulge the mind in the vast landscapes of nature, flowers, and greenery. Naturally, Van Gogh, consuming great quantities of absinth regularly, did not combat his suffering in the slightest, nor was he equipped to do so, and we shall refrain from any judgement or false diagnosis. What is interesting is that nobody would suspect that somebody harboring great discomfort would be drawn to paint the same sunflowers in a multitude of variations, just to name one example of the radiosity of Van Gogh’s process. Instead of bright field of blossoming flowers and night skies of infinite splendor, one would, knowing of Van Gogh’s various conditions, imply a more subdued, gloomy, and perhaps somber undertone to his oeuvre. 226

Of course, there are times where the darkness of the pigment is inherently a cultural and historical phenomenon. If we think of Asian calligraphy art, dating back to the Shang dynasty (circa 1600 – 1100 B.C.), we are quick to find that the overarching color is black sumi ink. In this case, form follows function: the ink needs to be black to assure the highest possible contrast between ink and paper, making for a more readable final result.227 It also needs to be acknowledged that artists like Soulages, Kline, Ücker, Fontana and many others where deeply aware of Asian traditions and all had a deep fondness for Asian calligraphy.228 In hindsight, it is abundantly clear of how Asian traditions partially lead to modernism and the rise of the monochrome. Yet the incongruence between a western way of viewing the dark(ness) and an eastern does not end there. In western housing and street planning, the common tendency is to neglect shadows or darker, perhaps worse lit parts of any building. This is done by adding lighting systems, cutting down precious nature such as foliage and trees, preferring the sunrise/ sunset view over the worse lit one, and so on. In eastern philosophy, the shadow is not something to neglect but a part of the whole, something to integrate and with which one can cause an interplay between light and darkness, sunshine, and shadows.229

We must not fear the darkness but embrace it. In this case, one needs to assume that there are indeed times wherein the artist has suffered and gone through dark times for their art, yet the two are not mutually exclusive to one another. One could think of figures such as Käthe Kollwitz, Alberto Burri or Zoran Music – people that endured horribly dark times filled with tremendous atrocities like war, concentration camps and deep poverty – and directly connect their life experiences to what they chose to explore in their art. Kollwitz gave a voice to the voiceless by immortalizing them on paper, for us to never forget.230 Music would process his time in the hellscape of German concentration camps by painting the horror he witnessed firsthand and would eventually find some kind of solace (if one can call it that) in this relentless act of self-documentation of a life stolen and then, partially, regained.231 Burri, employed in the second World War, serving as a medic and being captured by third parties, would go on to a reshaped notion of painting in the twentieth century with the use of his signature materials such as burlap, metal, wood, plastic, and using combustion as a literal painting tool. One could argue that Burri’s experiences in the war and the indelible scars those horrid memories must have left in his psyche would go to inform his painting and perhaps even be the incipit of it. The artist, in his lifetime, always denied this but the connection is evident as day.232 Logically, painting will reflect, in its composition and color-choices, the spiritual state of the maker, just like the densely dark color palette of some of the last works by Francisco de Goya are, in fact, indicative of a decline in mental and physical health.233 The proclivity to want to see parts of oneself in the work one is doing is in all of us, yet we must try to understand darkness as a part of the deal without dwelling on it. This, of course, is easier said than done if one happens to be afflicted by any kind of mental or physical illness, yet it is imperative that one tries to understand that worthwhile art does not foresee suffering as a requirement for its existence. In fact, in periods where darkness would be quick to swallows us whole, creation is never at the forefront and if it is its results are sub-par to say the least. Instead, centering oneself to a journey of betterment should be taken seriously. To create is a joy, one that surely can be led on by troublesome times, yet the creative act itself is a blossoming flower, rejoicing in the fact that there is a common ground to be had. To quote the late Leonard Cohen, whose final album marked the impetus for this discourse about darkness: “There is a crack in everything, that’s how the light gets in”.234


Biografie

DANIEL GIANFRANCESCHI ist multidisziplinärer Künstler, Autor und Interviewer. Im Anschluss an sein Studium des Mode-Managements studiert er aktuell an der AdbK in München bei Prof. Florian Pumhösl und Prof. Florian Hecker. In seiner künstlerischen Praxis konzentriert sich Gianfranceschi auf Begriffe der Malerei und des Klangs und versucht zu erfassen, was Stille und Nichts bedeuten können. Seine intuitive Herangehensweise spürt dabei der Unwiederholbarkeit von Momenten nach und durch die Minimierung der visuellen Sprache geht er symbiotische Beziehung mit den Kräften außerhalb seiner selbst ein. In seiner schriftbasierten Praxis versucht Gianfranceschi, Themen wie Kunstkritik, Kunstgeschichte und popkulturelle Phänomene auf essayistische Weise zu behandeln. Das Schreiben dient ihm dabei als düsterer und direkter Ausdruck seines Gesamtwerks und setzt sich kritisch mit der conditio humana auseinander. Gianfranceschi ist außerdem Gründer des Online-Blogs „Subject Change“, auf dem sich seine eigenen Texte aber auch immer wieder Interviews mit bekannten und aufstrebenden Stimmen aus der Kreativszene, wie Modedesigner Boris Bidjan Saberi, Keith Boadwee, Kristof Hahn (Swans), Stephanie Stein, Meo Fusciuni u.v.m, finden.

„The blackness of eternal night encompassed me“ – Dunkelheit und Licht im Werk Gregor Schneiders, 2024 – Malgorzata Galazka

Anhand der Rauminstallationen Total isolierter toter Raum und Sterberaum analysiert Malgorzata Galazka die Bedeutung von Licht und Dunkelheit in Gregor Schneiders Werk, die gleichermaßen als potentielle Gefahr, aber auch als kathartisches Element verstanden werden können. Zwischen 1989 und 1991 in Giesenkirchen installiert, versteckt sich Total isolierter toter Raum hinter einer unscheinbaren Tür in einem Einfamilienhaus. Auch wenn das Werk nicht als ein Raumerlebnis gedacht war, erzeugen schon Fotografien der Installation Gefühle der Beklemmung und Gefangenschaft. Gegensätzlich dazu verhandelt Malgorzata Galazka die Reflexion über den Tod anhand Schneiders Sterberaum (2007/2021). Die Arbeit selbst – ein Nachbau eines Mies van der Rohe Wohnraums – dient als Lichtquelle, während der Zuschauerraum im Dunkeln liegt. 

„My worst thoughts, then, were confirmed. The blackness of eternal night encompassed me. I struggled for breath. The intensity of the darkness seemed to oppress and stifle me. The atmosphere was intolerably close.“235

Auf diese Weise beschreibt der namenlose Ich-Erzähler236 in Edgar Allan Poes The Pit and the Pendulum (dt.: Die Grube und das Pendel) sein Erlebnis, als er sich nach einem Gerichtsurteil in einem komplett finsteren Raum wiederfindet. Die absolute Dunkelheit des Kerkers wird durch den Protagonisten als unermesslich weit und zugleich klaustrophobisch eng empfunden. Nicht in der Lage die eigene Hand vor Augen zu sehen, verliert er jegliches Gefühl für Zeit und Raum.237

Tote Räume

So oder so ähnlich könnte sich jemand beim Anblick von Gregor Schneiders u r 8, Total isolierter toter Raum (Abb. 1) fühlen.238 Der temporär zwischen 1989 und 1991 in Giesenkirchen befindliche Raum versteckt sich hinter einer unscheinbaren Holztür in einem Einfamilienhaus. Erst wenn die dicke, aus mehreren Schichten Material bestehende Tür geöffnet wird, gibt sie den Blick auf das im Dunkeln liegende Innere preis.

Abb. 1: Gregor Schneider: u r 8, Total isolierter toter Raum, 1989–1991, Boden, Blei, Glaswolle, schallschluckendes Material im Raum, Holzkonstruktionen, Tür, ohne Maße, Giesenkirchen.
Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Hannelore Reuen – Gregor Schneider, Hamburg (Kunsthalle) 2003, 37. © Gregor Schneider / VG Bild-Kunst Bonn (URL: https://www.gregor-schneider.de/places/1989gkirchen/pages/1989-91_total_isolierter_toter_raum_giesenkirchen_06.htm)

Auch wenn das Werk aufgrund seiner kurzen Installationszeit von nur zwei Jahren nicht mehr betretbar und somit auch körperlich nicht mehr erfahrbar ist, erzeugt es allein beim Anblick der Fotografien ein Gefühl der Beklemmung. Dies liegt unter anderem daran, dass die fotografischen Aufnahmen bei Schneider nicht nur einen dokumentarischen Zweck erfüllen. Durch ihre bewusste Inszenierung avancieren sie zu Produkten mit eigenständigem Werkcharakter. In seinen Fotografien schafft Schneider einen Kontrast zwischen dem gewöhnlichen Erscheinungsbild des Flurs und dem unvorstellbaren, durch seine spezielle Auskleidung nicht greifbaren Raum, der sich dahinter öffnet.239 Unweigerlich versetzt man sich in die potenzielle Situation, in diesem Raum gefangen zu sein – ein Gefühl das durch die in der Bilderfolge gezeigten, sich öffnende Tür evoziert wird. Gut versteckt innerhalb eines leerstehenden Hauses und zu einer Zeit, als Schneiders Tun vor den Augen der Öffentlichkeit noch halb verborgen war, bleibt es fraglich, ob sich jemand dort nichtsahnend wiedergefunden hat. Die fotografischen Aufnahmen bleiben die einzigen Hinweise auf dessen Existenz. Bild für Bild wird der Raum etwas weiter geöffnet, bis schließlich die schwarzen schallschluckenden Elemente zum Vorschein kommen und die Betrachtenden in das Innere des seltsamen Raumes blicken können.

Typisch für seine frühe Schaffensphase beschreibt Schneider in einem Interview fünf Jahre nach Abbau des Werkes die intendierte Wirkung des Total isolierten toten Raumes auf die Betrachtenden: 

„Die Arbeit war nicht als Raumerlebnis gedacht, obwohl man sich in die schwarze, nicht abschätzbare Tiefe beugte. Man hätte sich für die Arbeit entscheiden müssen. Hätte man den Raum betreten, wäre die Tür zugefallen. Der Raum war von innen und von aussen nicht mehr zu öffnen. […] In dem Raum wäre man nicht mehr sinnlich wahrnehmbar gewesen. Man wäre weg gewesen.“240

An der grausamen Realität solch einer Gegebenheit lediglich kratzend, wird von Schneider ein suggestives Narrativ gesponnen, das eng verknüpft ist mit der Inszenierung seiner frühen Arbeiten. Oftmals entfalten sich die den Arbeiten zugrundeliegenden Themen, wie es hier der Fall ist, erst durch die sprachlichen Hinweise des Künstlers selbst, die essentiell für den Nachvollzug der Arbeit zu sein scheinen. Immerhin wird auf diese Weise zum einen die Endgültigkeit der Situation vermittelt – die Tür sei nicht mehr zu öffnen, zum anderen kann die Arbeit nicht mehr mit allen Sinnen erfahren werden. Der sprachliche Akt erleichtert es jedoch, sich mittels der Bildfolge gedanklich in die Situation hineinzuversetzen und gibt zugleich einen möglichen Hinweis auf die Fiktionalität des Raumes beziehungsweise die um ihn gesponnenen Geschichte. Wenn die Tür nicht mehr zu öffnen ist nachdem sie einst geschlossen wurde, wie kann dann die Bildfolge überhaupt erst entstanden sein?

Gregor Schneider (*1969, Rheydt), der hauptsächlich für seine Interventionen am Haus u r  bekannt ist und für die er 2001 den Goldenen Löwen bei der Venedig Biennale erhielt, erzeugt mit seinen Arbeiten oft mittels eines leicht verkleinerten Maßstabs, der Nutzung von schallschluckenden Elementen, Verdoppelungen und Vervielfältigungen sowie einer suggestiven Konstellation von Alltagsgegenständen eine unheimliche und beklemmende Wirkung auf die Betrachtenden. Konträr dazu steht die sonst so penible Erfassung von Maßen und Materialien, die in Katalogen und auf seiner Internetseite die von ihm gebauten Räume näher zu beschreiben scheinen. Doch genau für dieses Werk fehlen die Größenangaben – eine Leerstelle, die nur zu gut mit dem Empfinden des Ich-Erzählers von Poes Geschichte zusammenpasst. Es ist unmöglich für die Betrachtenden von Schneiders Werk die Maße des Raumes auszumachen, ebenso wie es für Poes Protagonisten unmöglich ist, sich in der Dunkelheit seiner Zelle zurecht zu finden. 

Nicht weit ist da der Gedanke an Isolationshaft und Folter. Dabei wird den Gefangenen in der Isolationshaft der Umgang mit anderen Menschen, zur Außenwelt und oft auch zu jeglichen Möglichkeiten der Beschäftigungen verwehrt. Aufgrund der dadurch auftretenden psychischen und physischen Belastung für die Häftlinge wird sie durch Kritiker:innen als eine Art von Folter betrachtet. Verstärkend kann die sensorische Deprivation – sprich (totaler) Sinnesentzug – eingesetzt werden, um die Insassen weiter zu brechen.241 Diese Praxis fand etwa im Gefangenenlager der Guantánamo Bay Naval Base Anwendung. Um diesen nur schwer vorstellbaren Zustand zu erzeugen, in dem Seh-, Riech-, Hör- oder Tastsinn ausgeschaltet werden, kommt beispielsweise eine sogenannte camera silens zum Einsatz. Sie entspricht einem vollkommen verdunkelten und schalldichtisolierten Raum. Umgangssprachlich wird diese Methode auch als Weiße Folter bezeichnet, da sie keine am Körper sichtbaren Spuren hinterlässt. Die geistige und körperliche Belastung für die Gefangenen ist jedoch gravierend.242

Diese Arten der Folter – Isolation und Sinnesentzug – werden sowohl von Poe als auch von Schneider in ihren jeweiligen Werken thematisiert. Die absolute Dunkelheit und der damit einhergehende Sinnesentzug stellen dabei für Poes Protagonisten zunächst eine psychische Belastung dar, die sich körperlich durch Atemnot bemerkbar macht, wie auch durch die räumliche Desorientierung. Die durch die Dunkelheit verursachte Unmöglichkeit der Erfassung des Raumes drängt zwangsläufig die Assoziation auf, lebendig begraben zu sein. Im Verlauf der Geschichte, nachdem der Erzähler unzählige Male eingeschlafen und wieder aufgewacht ist, versucht hat sich des Raumes mithilfe seines Tastsinnes bewusst zu werden und dabei scheiterte, erleuchtet ein grelles Licht die Zelle – und gibt weitere Schrecken preis.243 So schlussfolgert Johannes Binotto: „Für Poes Gefangenen […] folgt auf die Dunkelheit des Zweifels nicht das Licht der Gewissheit um die eigene Existenz. Im Licht, das in den Kerker dringt, wird vielmehr klar, dass er hier gerade nicht zum Existieren, sondern zu Tode kommen soll.“244

Eine Bemerkung, die ebenso für die Betrachtenden des Total isolierten toten Raumes zutreffend erscheint. Immerhin stellt der Raum – folgt man Schneiders Aussage – einen Ort dar, aus dem es potentiell kein Entrinnen gibt, an dem die nichtsahnende Person letztendlich stirbt, sollte der Raum jemals betreten werden. Das Licht ist aber auch Voraussetzung dafür, dass überhaupt durch die Betrachtenden erkannt werden kann, welches Schicksal ihnen zu blühen droht, sollten sie sich hineinwagen. Denn im Gegensatz zu Poes Protagonisten befinden sich die Betrachtenden von Schneiders Werk zunächst im Licht und blicken dann in die Dunkelheit des Raumes hinein und stehen somit auch außerhalb des vermeintlichen Kerkers. Diese veränderte Anordnung ermöglicht es aber auch die Dunkelheit und den Raum selbst aus einer sicheren Perspektive zu betrachten. Das Licht und die Dunkelheit erzeugen eine Schwelle, zwischen einem als sicher empfundenen Raum und der vermeintlichen Falle, die der Total isolierte tote Raum darstellt. Die scheinbar gefährliche Situation wird als künstlerische Intervention entlarvt. Das Licht gibt somit nicht nur die Möglichkeit das Werk tatsächlich zu betrachten – anstatt körperlich zu erfahren – sondern auch aus einer sicheren Warte heraus über die Implikationen nachzudenken, die das visuelle Erscheinungsbild und Schneiders Aussage bergen.

Letztendlich besteht die Herausforderung für die Betrachtenden also darin, sich der Dunkelheit des Raums und ihren metaphorischen Bedeutungen zu stellen. Dies kann einen kathartischen Effekt haben, indem die Betrachtenden dazu angeregt werden, über die eigenen Ängste und existenzielle Fragen nachzudenken und sich möglicherweise von ihnen zu befreien. Dadurch, dass der Raum nicht betreten werden sollte und auch nicht mehr betreten werden kann, wird die körperliche Erfahrung zurückgestellt und äußert sich in einem Versuch des Nachempfindens der suggerierten Situation. 

Ein Raum zum Sterben

Eine umgedrehte Lichtdramaturgie findet sich im Sterberaum (Abb. 2) wieder, denn hier ist es die Arbeit selbst, die als Lichtquelle dient, während der Publikumsraum im Dunkeln bleibt. Diese Konfiguration erzeugt eine einzigartige Atmosphäre, in der die Besuchenden von außen das Licht erleben, das aus dem Raum kommt, während sie sich selbst im Dunkeln befinden. Der Raum kann nicht betreten werden und ist somit nur von außen durch die Fenster einsehbar – ein leerer Raum mit weißen Wänden, einem Holzparkett und zwei großen Fensterfronten. Die äußeren Wände wurden mit schwarzem Material verkleidet, sodass er mit der ihn umgebenden Dunkelheit zu verschmelzen scheint. Nicht der Raum selbst, sondern lediglich der Titel, geben Auskunft über die ihm zugeschriebene Funktion – das Sterben. Die Analyse der Bedeutung von Dunkelheit und Licht vorbereitend, werden im folgenden zunächst Entstehungskontext und Rezeptionsgeschichte betrachtet.

Abb. 2: Gregor Schneider: Sterberaum (teilweise auch: Toter Raum), Ansicht im Kunstraum Innsbruck, 2005–2007, Raum im Raum, Tischlerplatten auf Holzkonstruktion, Türen, Fenstersysteme, Lampen, Parkettboden, weiße Wände und Decke, freistehend, 769,5 x 544 x 275 cm, Mönchengladbach/Rheydt.
Abbildungsnachweis: Stephan Maier: Gregor Schneider. Sterberaum. In: Kunstforum 213 (2011), S. 336-337, hier S. 337. © Gregor Schneider / VG Bild-Kunst Bonn (URL: https://www.gregor-schneider.de/places/2011innsbruck/pages/20111119_kunstraum_innsbruck_02.htm

Der Sterberaum ist ein leicht verkleinerter Nachbau eines Herrenzimmers im von Mies van der Rohe 1927 entworfenen Haus Lange in Krefeld, das heute zusammen mit dem benachbarten Haus Esters als Museum genutzt wird.245 Hier hatte Schneider 1994 mit anderen Kunstschaffenden unter dem Titel Drei Arbeiten seine erste museale Ausstellung, die sich den unmerklichen Veränderungen von Räumen und damit einhergehend der Frage nach der Wahrnehmbarkeit dieser durch die Betrachtenden widmete – einem Kernaspekt seines Œuvres, der bereits in Total isolierter toter Raum angelegt ist. So schnitt Schneider im Haus Lange unter anderem ein Stück aus der Wand heraus und transplantierte es anschließend in sein Haus u r. Es folgten weitere Ausstellungen am selben Ort, wodurch sich eine Beziehung zwischen Künstler und Raum entwickelte, die Schneider 2008 wie folgt beschreibt: 

„Er ist ein Nachbau eines Raums aus dem Museum Lange/Esters, der in meinen Augen einer der empfindsamsten und künstlerisch anspruchsvollsten ist, die wir für Gegenwartskunst als Museumsbau haben. […] Von Mies van der Rohe konzipiert, ist er für mich ein Ausdruck räumlicher Freiheit. […] Und dadurch, dass mein Alltag so eng mit den Räumen verknüpft ist, kann ich mir dort auch den Tod sehr gut vorstellen. Dort hatte ich 1994 meine erste Museumsausstellung und ich wünsche mir, ich hätte dort auch meine letzte.“246

Die Thematik des Todes beziehungsweise des Sterbens wurde 2000 durch eine Performance Schneiders eingeführt. In dem Raum, den er ein paar Jahre später nachbauen sollte, verharrte er als Toter Mann regungslos auf dem Boden.247 Eine sich bei anderen Ausstellungen wiederholende Praktik, die mitunter auch stellvertretend von Puppen übernommen wird.248

Mitte der 2000er-Jahre folgte schließlich der Nachbau des von van der Rohe entworfenen Raumes. Verbunden mit seiner Aussage in The Art Newspaper im April 2008: „I want to display a person dying naturally in the piece or somebody who just died. […] My aim is to show the beauty of death“249, löste der Raum eine – bisweilen auch aggressiv geführte – Diskussion aus, die sich an der Frage abarbeitete, was Kunst dürfe und wo ihre Grenzen liegen. Schnell folgten in den Medien Vorwürfe einer gezielten Provokation und Pietätlosigkeit, privat erhielt der Künstler sogar Morddrohungen.250 Trotz der negativen Presse konnte der Sterberaum 2011 schließlich im Kunstraum Innsbruck und ein Jahr später im Nationalmuseum in Stettin gezeigt werden.251 Die Ausstellungssituation blieb dabei die gleiche: Über einen dunklen Gang erreichten die Besuchenden schließlich den von innen erleuchteten Nachbau des van der Rohe Zimmers – leerstehend, denn es fand sich kein Leichnam darin.

Die vorerst letzte Präsentation des Sterberaums fand 2021 auf dem Höhepunkt der Corona Pandemie im Staatstheater Darmstadt statt. Über einen Live-Stream – ein Ausschnitt kann auf der Homepage des Künstlers angesehen werden252 – konnte die dreitägige Perfomance Gregor Schneiders verfolgt werden, in der er vor dem Raum zumeist sitzend verharrte. Auch hier wurde der von Innen beleuchtete Raum wie bei vorangegangenen Ausstellungen auf gleiche Weise so inszeniert, dass er mit der ihn umgebenden Dunkelheit verschmolz. Doch das Dispositiv änderte sich: Das Publikum musste nicht erst selbständig seinen Weg durch die Dunkelheit zum Exponat finden und persönlich vor dem Raum stehen, diese Aufgabe wurde stattdessen stellvertretend von Schneider übernommen. 

Auch die Reaktion der Kritiker änderte sich. Als „Künstler für die Corona-Pandemie“253 ermöglichte Schneider den Betrachtenden nun das, was um sie geschah, zu verarbeiten.
Der Sterberaum wurde durch die veränderte gesellschaftliche Situation zu einem Kontemplationsraum, der einen sicheren Rahmen für die Auseinandersetzung mit den Themen Tod und der eigenen Sterblichkeit bot. Die Vorwürfe der Effekthascherei und gezielten Provokation waren angesichts des allgegenwärtigen Sterbens wie vergessen. Das Kunstwerk konnte nun aus einer neuen, konkreten Sicht betrachtet werden, als ein Raum, der eine Beschäftigung mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Umgang mit dem Tod ermöglicht – ein Prozess, der ansonsten nur allzu oft verdrängt wird. Schneider, der stellvertretend für die Zuschauenden anwesend war, kann dabei als Identifikationsfigur gesehen und somit auch als eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der unbequem erscheinenden Realität der menschlichen Existenz und Sterblichkeit verstanden werden.254

Vergleicht man die Darmstädter Inszenierung mit der Ausstellungssituation des Raumes vor 2021, so fällt das bereits erwähnte veränderte Dispositiv zwischen Kunstwerk und den Betrachtenden als markantester Unterschied auf. Die dem Werk inhärente Inszenierung mittels Dunkelheit und Licht hebt den Sterberaum beziehungsweise sein Inneres in aller Deutlichkeit hervor und lässt, in Verbindung mit dem Titel des Werks, die Assoziation zu, in diesem Fall wortwörtlich, ins Licht gehen.255 Es scheint nur allzu bezeichnend zu sein, dass ausgerechnet dieser Raum, nicht betreten werden kann. Wir – die Lebenden – sind lediglich in der Lage den Tod sowie das Sterben als Außenstehende zu betrachten, und tappen hinsichtlich seiner tatsächlichen Bedeutung im Dunkeln bis wir auf die andere Seite gelangen. Eine Situation, die der im Total isolierten totem Raum ähnlich erscheint. Denn auch hier, wie in Poes Kurzgeschichte The Pit and the Pendulum, bedeutet das Licht Gewissheit, dass der Tod eine unausweichliche Erfahrung ist, die uns letztendlich alle erwartet. Schlussendlich wohnt auch diesem Kunsterlebnis ein kathartischer Moment inne, ebenso wie in der über den Stream verfolgbaren Präsentation im Staatstheater Darmstadt, der sich durch die Auseinandersetzung mit Leben und Tod vollzieht.256

Die Schwärze der ewigen Nacht 

Um die Bedeutung von Dunkelheit und Licht im künstlerischen Schaffen Gregor Schneiders ausdifferenzieren zu können, wurden exemplarisch zwei seiner Werke in Augenschein genommen. Dabei stellte sich sowohl für Total isolierter toter Raum als auch Sterberaum heraus – neben anderen Implikationen, wie Folter und Gefangenschaft –, dass die Dunkelheit als eine Sphäre der Unwissenheit und Unbestimmtheit in Hinsicht auf die Existenz der Betrachtenden gedeutet werden kann. Ebenso wie Poes Protagonist sind die Betrachtenden von Schneiders Werken gezwungen sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Ob sie dies im Rahmen der eigenen Imagination mit Hilfe von Fotografien und Äußerungen des Künstlers versuchen oder die Arbeiten leiblich erfahren – sie scheitern.

Das Licht dagegen bedeutet in beiden Werken die Gewissheit der Unausweichlichkeit des Todes. Was zunächst vielleicht grausam anmutet und etwas darstellt, das allzu gerne verdrängt wird, ist etwas, dem Schneider entgegenwirken möchte: „Weil es [das Sterben] eine elementare existentielle Erfahrung ist, durch die wir viel lernen können. Offenheit und Wahrhaftigkeit zum Beispiel.“257 So gilt es zum einen der Verdrängung von Tod in der Gesellschaft entgegenzuwirken, um daraus eine persönliche Lehre zu ziehen, den Tod als Teil der menschlichen Existenz – nicht mehr und nicht weniger – zu begreifen. Zum anderen bedeutet es aber auch den Sterbenden einen würdevollen, da selbstbestimmten Tod zu ermöglichen, fern ab von der Sterilität von Krankenhäusern.258 Diese Empathie den Sterbenden gegenüber und die Akzeptanz des Todes zeigen sich wohl auch nicht zuletzt an der Verwendung eines wärmeren und indirekten Lichts, das aus dem Sterberaum dringt und eine Ausnahme in Schneiders Werken darstellt. 

Diese Beobachtung verweist aber auch darauf, dass die vorliegende Analyse nur einen kurzen Abriss über die Sujets Licht und Dunkelheit in Schneiders Werken darstellen kann. So wurden die Arbeiten deshalb ausgewählt, da sie innerhalb eines Raumes Licht und Dunkelheit miteinander vereinen und diese zwei Elemente somit direkt miteinander wirken können. Der Aspekt des kalten durch Leuchtstoffröhren erzeugten Lichts, der Gregor Schneiders Arbeiten wie ein roter Faden durchzieht, wurde hingegen außenvorgelassen. In WEISSE FOLTER – einer Raumfolge von Zellen, die nach Fotografien des Gefängnisses Guantánamo Bay gestaltet wurden – werden erneut die Themen Isolationshaft und Folter aufgegriffen. Das grelle, kalte Licht der Neonröhren auf den strahlend weißen Wänden erschwert es, den physikalischen Raum bewusst zu erfassen – Ecken und Kanten verschwimmen, Entfernungen können nur schwer eingeschätzt werden, die eigene Position im Raum wird zu einer Ungewissen. Inmitten der vielen hell beleuchteten Korridore und Zellen steht ein Raum, in dem absolute Dunkelheit herrscht. Auch hier finden sich die Betrachtenden letztendlich mit der beklemmenden Unendlichkeit der Finsternis konfrontiert – ein Echo von Poes Grube und Pendel.


Biografie

MALGORZATA GALAZKA studierte Kunstgeschichte und Theater- und Medienwissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg. Seit 2016 arbeitet sie am Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Sie promoviert zu transmedialen Phänomenen im Werk von Bruce Nauman und Gregor Schneider. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen in der Wirkung von Raum und von Werken auf Betrachtende, in Strategien der Angsterzeugung im Horrorfilm und -literatur und in der Transmedialität in der Kunst.

Das Gegenteil von Intimität ist Angst, 2024 – Friederike und Lieselotte Illig als ILLIG & SÖHNE

HINWEIS: In diesem Beitrag geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Was bedeutet es, nachts als Frau im öffentlichen Raum unterwegs zu sein? Friederike und Lieselotte Illig als ILLIG&SÖHNE veranschaulichen in einer eindringlichen Text-Bild-Arbeit die beklemmende Realität, in der Frauen kontinuierlich der Gefahr vor sexuellen und verbalen Übergriffen im nächtlichen öffentlichen Raum ausgesetzt sind. Reale Angst durch die ständige Bedrohung und die stetige Wachsamkeit durch das fehlende Sicherheitsgefühl werden für die Leser:innen aus der ICH-Perspektive erlebbar. Indem sie persönliche Situationen schildern, machen die Künstler:innen die kollektive Erfahrung vieler Frauen sichtbar, die sonst häufig ungehört bleibt.

„Immer, wenn ich im Dunkeln nach Hause gehe, habe ich mein Pfefferspray in meiner Hand in meiner Jackentasche. Den Daumen am Abzug. Ich kann nie unbesorgt einfach los gehen. Ich muss immer wachsam sein. Ich scanne meine Umgebung und wäge ab, wo ich gehe.“

Das Gegenteil von Intimität ist nicht nur Distanz, sondern vor allem Angst.


„Sag Bescheid, wenn du zu Hause angekommen bist oder ruf an, wenn es unterwegs unheimlich ist.“

„Ich fahre nachts mit dem Fahrrad auf der Straße und muss an einer roten Ampel anhalten.  Aus dem Busch springt jemand und versucht mich vom Fahrrad in den Busch zu ziehen.“

„Jemand wildfremdes quatscht mich an, will meine Handynummer haben und lässt nicht locker.“

„Ich stehe an der roten Ampel. Gegenüber sehe ich schon einen Mann, der mich anstarrt. Ich gehe extra ganz links um den Abstand zu vergrößern. Er kreuzt absichtlich meinen Weg und geht mit offenen Armen auf mich zu. Ich drehe mich weg und versuche wegzugehen. Er geht mir hinterher und fasst mich an der Schulter an. Ich sage, dass ich das nicht will. Er hört nicht auf. Ich schreie ihn an, er soll aufhören. Keiner hilft mir.

Ich schreie einen anderen Mann an, dass er mir helfen soll. Er macht nichts.“

Das verlorengegangene Gefühl für Abstand, Nähe und Distanz changiert mit der tatsächlichen Gefahr, die immer mit schwebt.

In jeder Situation muss ich damit rechnen, dass etwas passiert. Auch wenn nichts passiert, hängt die Gefahr wie ein Schleier über mir. Sexuelle Übergriffe und gefährliche Situationen sind mir oft passiert.

„Guten Abend, guten Abend, sagt der Mann. Ich gehe weiter, ohne stehen zu bleiben.“

„Eine Gruppe kommt auf mich zu. Ich laufe ganz rechts am Weg, schaue auf den Boden und atme flach. Ich versuche, möglichst unauffällig zu sein. Ein Mann bleibt stehen und ruft laut: ‚Kannst ruhig mal hallo sagen. Das ist höflich.‘ Ich bin wie in Schockstarre. Halte den Atem an und bete, dass nichts passiert. Für mich geht es nicht ums ‚Hallo‘ sagen – für mich geht es ums Überleben.“

„Ich gehe nach Hause, hinter mir stößt jemand die Tür auf. Ich drehe mich um und sehe einen komplett vermummten Mann mit heruntergelassener Hose. Er läuft mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Zwei Wochen später packt mich der Gleiche Typ vor der Haustür am Arm reißt mich rum und sagt: ‚Diesmal entkommst du mir nicht.‘“

Ich bleibe nicht mehr still. Ich beleuchte die dunklen Situationen. „ICH“ bin stellvertretend für meine Schwester, meine Mitbewohnerin, meine Freundin, meine Tochter. „ICH“ bin stellvertretend für alle.

„Jemand verfolgt mich.“

Die intimen Situationen werden schlaglichtartig beleuchtet. Das Wechselspiel zwischen intimen/inneren Raum und Außenraum erzeugt die Spannung in unserer Auseinandersetzung.

„In der Bahn sitzt ein Haufen Betrunkener. Die ganze Fahrt versuche ich nicht aufzufallen, weil sie versuchen alle weiblichen Fahrgäste zu begrapschen. Als ich aufstehe, greift sich einer in den Schritt und wirft mir einen Kuss zu. Seine Freunde grölen.“

„Auf meinem Heimweg lungert ein Typ rum, der mich mit seinen Blicken auszieht. Ich biege ab, um ihm auszuweichen. Ich laufe einen helleren, aber viel weiteren Weg nach Hause.“

Wo bin ich privat, wo öffentlich? Kann ich als Frau überhaupt noch öffentlich sein?

„In jeder Situation muss ich damit rechnen, dass mir irgendetwas passiert. Auch wenn nichts passiert, hängt die Gefahr über mir.“

Biografie

FRIEDERIKE ILLIG studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sie war in Heidelberg, Gießen und Worms als Lichttechnikerin bzw. Lichtdesignerin in Theatern, bei Festivals und in der freien Szene tätig. Sowohl in künstlerischen als auch in technischen Kontexten setzt sie sich performativ mit aktuellen Themen, Alltagssituationen und dem öffentlichen Raum auseinander. Seit 2018 lebt und arbeitet sie in Berlin.

LIESELOTTE ILLIG studierte Freie Kunst an der Bauhaus Universität in Weimar, Ethnologie in Frankfurt und Raumstrategien in Österreich. Performative, raumspezifische und interdisziplinäre Ansätze sind Grundlage ihrer künstlerischen Arbeit. Schwerpunkte sind der öffentliche Raum, Stadterforschungen und Körperräume. Nach Stationen in Worms, Mainz, Weimar, Frankfurt und Linz lebt und arbeitet sie seit 2022 in Berlin.

Bereshit, 2024 – Maja Gratzfeld

Die Erde war ungeformt und leer, Finsternis lag über der Oberfläche der Tiefe, und der Geist Gottes bewegte sich auf dem Wasser. Angetrieben vom Buch Bereshit und den Gravuren Gustave Dorés, entstand eine Reihe von fotografischen Chemigrammen durch Licht und direkte Manipulationen im analogen Entwicklungs- und Vergrößerungsprozess. Schatten ist der direkte Verweis auf die Dreidimensionalität von Objekten und zu unserem Empfinden von Tiefe und Räumlichkeit. Die Serie Berishit löst diese Bezüge auf, um die Betrachter:innen aufzufordern, ihr gewohntes Bildverständnis neu zu interpretieren.


Biografie

MAJA GRATZFELD (*1982, Deutschland) ist eine Künstlerin, die sich auf Fotografie und Textilkunst spezialisiert hat. Sie studierte Interdisziplinäre Malerei und Bildforschung an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, wo sie 2011 ihr Diplom erhielt. Anschließend setzte sie ihr Studium als Postgraduierten Studentin fort und studierte an der École Supérieure des Beaux-Arts de Nîmes in Frankreich sowie an der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem, Israel. 2014 schloss sie ihr Studium mit einem Meisterschüler Abschluss ab.

Gratzfelds künstlerische Praxis umfasst die Erforschung von Kulturanthropologie und deren Interpretationen, oft unter Verwendung traditioneller Techniken wie Weben, die sie mit zeitgenössischer Fotografie verbindet. Ihre Werke entstehen häufig als hybride Formen, die sowohl digitale als auch analoge Techniken kombinieren. Sie stellt das Material, mit dem sie arbeitet, durch verschiedene Verfahren wie Falten und Reißen in Frage, um neue visuelle Formen zu schaffen. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt, unter anderem im Jüdischen Museum in Berlin, dem Haifa City Museum und dem Hellerau Portrait Award. Zusätzlich entwickelt sie gemeinschaftsorientierte Kunstprojekte in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen.

Maja Gratzfeld lebt und arbeitet mit ihrer Familie zwischen Israel, Deutschland und Frankreich.