Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst – Lea Lenk und Vesna Hetzel

Die geplante Strecke der A49 führt mitten durch den Dannenröder-Forst. Umweltaktivist:innen protestierten für eine klimagerechte Verkehrspolitik und Rettung des 300 Jahre alten Mischwald aus Buchen und Eichen während die hessische Landesregierung auf den Bau der Autobahn und der damit verbundenen Teilrodung beharrt. Um den Raumkonflikt zu lösen entwickelt das Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst verschiedene hybride Szenarien zum Umzug des Waldes. Doch welcher Ort bietet dem Wald seine ungehindertere Entfaltung? Welche Strategien sollten eingeleitet werden um eine Kooperation von Mensch, Wald und anderen Akteur:innen zu ermöglichen? Einen Versuch, den das Umzugsbüro verfolgt: den Umzug in die Cloud.

Willkommen im Pop-Up-Umzugsbüro Dannenröder Forst. Hier werden Strategien und Prototypen zum Umzug eines Waldes erforscht. Gerade sind wohl alle unsere Mitarbeitenden in einen Video-Call verwickelt. Schauen Sie sich um, tragen Sie sich in die Umzugshelfer:innen-Liste ein.

Flipchart steht im Eck. Gemappte Schlagwörter, Notes, Karten und Schematas sind an die Wand geclustert. Charmant-konzentrierte Stimmung im Umzugsbüro. “Terrestrisches Verfahren wäre hier…” “möchte Ihnen noch das Airborn Laserscanning vorstellen…”. Es geht momentan um die Erfassung und Vermessung des Waldstückes, das an einen anderen Ort umgezogen werden soll. Gearbeitet wird an der Umsetzung von hybriden Konzepten: Physischer Umzug und Umzug in den virtuellen Raum.

“Wir möchten momentan in strategischen Schritten verschiedene Szenarien entwickeln, um einen Prototypen zu entwickeln, wie das Waldstück als Ökosystem im Kompletten an einen anderen Ort umgezogen werden kann. Dazu bringt uns der demokratisch beschlossene Bau der A49 und die Vision, einen neuen Raum zu finden, wo der Wal weiter für immer expandieren und florieren kann. Dazu muss er vor allen dingen auf ganz vielen verschiedenen Ebenen flexibilisiert werden.”

CEO, Pop Up Umzugsbüro

Dieses Gebiet löst sich wie eine Erdplattenverschiebung. Eine dicke Kruste bildet sich und führt oval unter die Erde. Dann löst sich der Wald langsam aus seinen Angeln und beginnt zu schweben. Die Autobahn bleibt zurück inmitten einer dunklen Kluft von Leere.

Unsere Strategie-Entwicklung wird zunehmend komplexer. Nicht nur aus dem offensichtlichen Grund, dass monetäre Mittel in unserem Projektbereich eher für die Rodung und den Bau der Autobahn zur Verfügung stehen. Oder den Problemen, auf welche man aus forstwissenschaftlicher Sicht stößt. Die Entwicklung unterschiedlicher Umzugsszenarien wird vor allem komplexer, da wir uns mit einem Territorium beschäftigen, welches mit verschiedenen Ebenen über-und durchzogen ist. Es reicht in verschiedene, wir nennen es in diesem Artikel ‘Plattformen’ hinein und findet auf diesen unterschiedlichen Plattformen einen Platz und Raum.

JURISTISCHE EBENE

Das betreffende Teritorium hat einen bestimmten Nomos. Ein Gitter an Gesetzen entsteht wie eine juristische Ebene über dem Wald. Lässt Linien, Zäune, Segmente, Markierungen entstehen, verwebt sich mit ihnen. Verschiedene Geometrien akkumulieren sich.

ÜBERLAGERUNG VON RAUMFIGURATIONEN

            Der Wald war nie frei

            Kommodifizierungphantasien in der Kolonialisierung

            Er entzieht sich, gibt den Platz wieder frei,

            Verortet sich neu, löst Raumkonflikte auf,

            Zugriff ist weiter möglich

            Ein Wald, der ewig expandieren wird

            Forever alive and has forever died

            Der Wald als Souverän

Die binäre Wahrnehmung von Territorien des Zusammenspiels aus Ortung und Ordnung kollabiert. Klare Unterscheidungen wie – dies ist der Raum der Erde, dies ist der Bereich des Wassers, dies ist die Zone der Luft – verflechten sich. Man kann das nun auch so sehen, wie Benjamin Bratton in The Strack einführt: Verschiedene Plattformen entstehen durch strategische Zusammenführung der Konturen von plastischen Territorien. Es fällt nun also schwer, in dieser Raumimagination von Territorien in einzelne Typen der Erde zu unterteilen. Wir überlegen ob das “fortfahrende Entstehen von planetary scale computation möglicherweise einen ähnlichen Bruch und Herausforderung an die politische Geographie repräsentiert.”

CHANGIEREN ZWISCHEN IMAGINÄREN UND REALEM RAUM

Wie verschiebt sich das Konzept Wald in der Umrechnung einer planetary scale computations? Oder ab welchem Punkt wird dieses Konzept sich materialisieren können, aber nicht im Sinne des Erschaffens einer neuen Repräsentation (physische Herstellung der Oberfläche eines Waldes), sondern in ihr eigenes Souverän. Auch hier ist ein großes Komplex zu finden. Das Materialisieren entzieht sich beim Umzug ins Virtuelle der Wahrnehmung der großen Öffentlichkeit. Ein Umzug in die Cloud.

WAS BEDEUTET EIN UMZUG IN DIE CLOUD?

Der Wald ist nach Umzug ins Virtuelle in der Cloud zu finden. Er ist nicht nur verschwunden oder in einen vierten Raum verpflanzt, der einfach zu Luft, Erde und Wasser – Raumdimensionen des Schmittschen Nomos – hinzugefügt wurde. Sondern ist auf verschiedene Ebenen verteilt. Die Trennung und Unterschiedungsprioritäten des Nomos, wie ihn Schmitt verstand, auf die Cloud bezogen bzw. auf das, was aus der planetary scale computation entstanden ist, also die trennung zwischen Cloud-Infrastruktur und Cloud-Interaktivität im Spektrum von greifbar bis virtuell, kann nicht lange überleben. (Vgl. Bratton 2015, S.28)

NEU-VERORTUNG, NEUE ORDNUNGEN

“Bei einem Umzug stellt sich immer die Frage des Wohin? Welcher neue Ort passt zur Neuansiedlung, welcher Raum kann den Bedürfnissen des umziehenden Territoriums Platz bieten, gerecht werden?“ Weiterführend stellt sich die Frage, welche Bedürfnisse beachtet werden müssen. In welcher Form soll der Wald in Erscheinung treten, wer darf Zugriff auf ihn haben? Wer ist Eigentümer:in, wer besitzt den Wald? Wie wird der Wald von wem wahrgenommen?

VERORTUNGEN UND TERRITORIALISIERUNG DES VIRTUELLEN RAUMS

Konkrete Utopien sind schwierig zu benennen. Eine Veränderung der Wahrnehmung der Zusammenhänge aus physischem und virtuellem Raum ist beobachtbar. Die Wechselwirkungen zwischen beiden vermeintlich getrennten Räumen wird aufgrund unseres expandierenden Umgangs und des erweiterten Bewegen sichtbarer. Beziehungsweise verlagern sich Bewegunsradien in den unterschiedlichen Räumen. Ein Bewusstwerdungsprozess des eigenen materiellen Ortes im Ökosystem.

Alles braucht einen vorhandenen Ort und nimmt Raum ein. Die Trennung dieser beiden Räume löst sich auf. Alles fließt ineinander über. Materiell und virtuell. In der Luft vereinen sich obere Waldschicht und untere Waldschicht zu einem Ganzen. Das Neue schwebt als Cloud, als ihr eigenes Souverän, als Mini-Staat.

GEDANKEN-SYNAPSEN IM GEHIRN … DATEIEN/PROTOKOLLE/…

EINEN PLATZ AUF EINEM SERVER. 27 Hektar auf zwei Zentimetern der Serverfarm im Pazifik. So klein wie möglich, aber trotzdem noch auffindbar.

Durch den Prozess des Umzugs wird es möglich, die verschiedenen Plattformen aufzudecken und dem nachzugehen.

Der Umzug in die Cloud fungiert wie ein Mikrokolonialisierung: DieCloud als eine Art Kontinent der neu besiedelt werden kann. Und gleichzeitig findet durch die planetary scale computation auf unterschiedlichen Plattformen schon eine Kolonialisierung statt, beziehungsweise hat dadurch an stattgefundene Kolonialisierungen angeknüpft. Das Feld sinnlichen Erlebens, eingebettet in die Materie, ist längst einem visuellen Feld gewichen, das uns auf den Wald als Bild schauen lässt und uns somit erlaubt, es zu Clustern zu kategorisieren, berechnen, vermessen und seinen Wert zu kalkulieren.

Der Wald ist durch eine neue Verortung im virtuellen Raum nun nicht verschwunden oder wurde in einen vierten Raum verpflanzt, sondern wird sich dann auf verschiedenen Ebenen verteilen. In unterschiedlichen Plattformen wird der Wald physisch sein. Visuell, taktil, auditorisch, vielleicht sogar bald olfaktorisch, in ferner Zukunft gustatorisch, kann der sich in der Cloud eingefundene Wald, durch technische Lösungen wahrgenommen werden. Der Wald als Kulturgut bleibt bestehen. Wird archiviert. Durch künstliche Intelligenz als Simulation erweiterbar. Durch auf der Erde verankerte Maschinen, die örtlich ungebundener und flexibler sind als ein Ökosystem, werden die Funktionen des Ökosystems, wie z.B. die CO2-Filterfunktionen im physischen Raum übernommen. Es existieren quasi die Informationen über das Ökosystem, allerdings aufgeteilt auf verschiedene Plattformen des Stacks. Der Wald aber ist tot. Umgezogen wird nicht ein Ökosystem, sondern das Ökosystem als Medium kultureller Prozesse, als Kulturgut. Wir wollen diesen Wald, weil wir ihn brauchen. Wir wollen diese Autobahn, weil unser System sie braucht. Der Körper des Waldes und unser Körper sind existenziell verwoben, aber nicht nur auf stoffliche, sondern auch auf ideelle, konzeptuelle, ethische und kulturelle Weise.

DAS PROBLEM MIT DEM KULTURGUT

Der Wald ist längst kein unbelasteter, ursprünglicher Raum mehr, sondern wird wie eine Ware, wie Geld ungeordnet strukturiert und verwertet. Dem entgegen steht eine Vorstellung vom Wert eines Ökosystems, das Grundlage jedes Lebens auf dem Planeten bildet und als solches unbedingt schützenswert ist.

Eine solche Vorstellung betrachtet den Wald innerhalb einer bestimmten Wertvorstellung als Kulturgut. Einem Wald aber überhaupt Wert im Sommer eines ‘Gutes’ zu zuschreiben, ist bereits ein kultureller und kulturalisierender Prozess und somit ein virtuelles Konzept, eine Aneignung. Wie kann in einer solchen Konzeptualisierung der Wald als Wert an sich außerhalb eines Wertesystems gedacht werden? Die Grenzen unserer eigenen Imagination konfrontieren unser Unvermögen, außerhalb dieser Prozesse eine Sprache zu finden, die diese kulturelle Aneignung des Ökosystems beschreibt, denkt, aufbricht. Vielleicht sollten wir den Wald einfach lassen, als was er ist – außerhalb unseres Systems und gleichzeitig zutiefst verwoben mit unserem System. Den Wald vielleicht sogar betrachten als existenzielle Grundlage des Fortbestehens menschlicher Kultur.

POINT: WIE TERRAFORMING UND TECHNISCHE MITTEL NUTZEN: Utopie:

Neue Möglichkeiten des Terraforming würden sich ergeben. Warum der Wald im Reellen erhalten werden sollte, hat mit subjektiven Empfindungen und auch mit seinen Funktionen innerhalb des Ökosystems der Erde zu tun. Sobald wir die technische Möglichkeiten haben, der Funktionen nachzubauen, besteht die Möglichkeit, darüber nachzudenken, die haptische Natur getrennt von ihrer Funktion zu digitalisieren und über ihre Funktionen in Form von Maschinen zu verfügen.

Stellt es eine Utopie dar, dass die Souveränität über den Wald als Menschen so aussieht, dass wir in der Lage sind, eventuell die für uns relevanten Funktionen von der realen Existenz des Dinges / Territoriums an sich zu trennen? Zu bestimmten, wo und wann etas entsteht und etwas sich formt? In dieser Heterotopie ist der Wald ein Territorium, ein System, das ewig expandieren wird, aber nicht sein eigenes Souverän besitzt.

Zwei schwarze, glänzende zylindrische Kästen ragen in die Höhe. Legt man den Kopf in den Nacken, kann man die Kante des Endes sehen. Auf der einen Seite spürt man den Luftzug und muss an der Absperrung anhalten, damit man nicht mit full of CO2 und Methan enthaltener Luft eingesaugt wird. Atmet man auf der anderen Seite ein, verspürt man die fresheste O2-Luft, die einem die Haare ins Gesicht wehen lässt.

Was im Physischen bleibt, ist Masse. Lebendige, moorige, wuchernde, gewaltige Erdmasse, Baummasse, Gehölz, Lebewesen, unvereinbar mit den Konstruktionen und Projektionen einer Gesellschaft, einer Autobahn, jeglicher Wertvorstellungen oder virtuellen Konstruktion. Alleine die Information und der Nutzen sind auf die Cloud übertragen. Der Boden wird zurück gefordert, der Wald war nie frei. Das Subaltern kann in der Konstruktion des Mächtigen nicht sprechen, sondern nur verwertet werden. Im schlimmsten Fall wird es abgelöst durch eine Verbildlichung, wird Oberfläche, degradiert zum Kulturgut und ins Archiv der Museen überführt.

In der Konfrontation mit der schieren Masse, dieser schieren Gewaltigkeit der Materie müssen all unsere gedanklichen, virtuellen Lösungen scheitern. Einen Wald umzuziehen ist lediglich ein Prozess imaginärer Umformung, in der der Wald wieder nur Objekt beziehungsweise Bild unserer Sehnsucht und Projektionen, ein Spiegel der Kultur und was sie mit der agency und Souveränität eines Ökosystems tut.

Diese Imaginationen öffnen aber auch Räume im Virtuellen, die selbst materialisierte Orte, Heterotopien werden können und ihrerseits die Formierung neuer Prozesse anstoßen, verhindern oder pervertieren können. Werden wir es schaffen?

Wir schlagen nicht nur eine neues Bild vor, das eine bereits existierende Repräsentation (Der Wald) mit einer anderen Repräsentation (der umgezogene Wald) ersetzen soll. Der naive, größenwahnsinnige, real-politische und existenziell verzweifelte Versuch ist es, Imaginationen eines von konzeptuellen und kulturellen Praktiken dekolonialisierten Waldes anzustoßen, eines Waldes ewigen Werdens und Expandierens, eines Souverän. Werden wir es schaffen?


Biografie

Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst

Das Pop-Up Umzugsbüro Dannenröder Forst wurde im Jahr 2021 von Lea Lenk und Vesna Hetzel gegründet und forscht interdisziplinär an Strategien zum Umzug eines Waldes. Sie entwickeln verschiedene analoge wie hybride Szenarien und Imaginationen zur Flexibilisierung bestimmter Ökosysteme, insbesondere des Terraforming. Fragen von Raumkonflikten und spekulativen Zukünften spielen dabei ebenso eine Rolle wie konkret-realpolitische Handlungsmöglichkeiten.

Reflexionen über eine offene Werkstatt an den Außengrenzen Europas – Mimi Hapig, Franziska Wirtensohn und Michael Wittmann für Habibi.Works

Im Beitrag stellt sich das praktische Projekt Habibi.Works vor und reflektiert die eigenen Strategien und Strukturen auf theoretischer Ebene. Das Projekt selbst begreift sich als Heterotopie und als border[less]: Ein grenzenloser Raum, welcher den Versuch wagt, vermeintliche Zugehörigkeiten zu Nationalitäten, Religionen, Ethnien oder Geschlechtern und daraus resultierende Grenzziehungen zu überwinden. Verfasst von Mimi Hapig, Franziska Wirtensohn und Michael Wittmann.

Begonnen Ende des Jahres 2015 als zivilgesellschaftliches Engagement zur Unterstützung von Menschen, die nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen ankommen, wurde die offene Werkstatt Habibi.Works1 im Jahr 2016 bald zu  einem Raum, zu einem „in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichneten“2, konkreten Ort.  Sie versteht sich als „Gegenplatzierung oder Widerlager, [versuchte] tatsächlich realisierte Utopie“3 – um dem momentanen Umgang Europas mit Menschen nach ihrer Flucht und der zunehmenden Entmenschlichung und Militarisierung von Grenzen etwas entgegenzusetzen und um Begriffsbildungen wie „Flüchtlingskrise“ zu dekonstruieren.

Dieser Beitrag stellt Motive, Intentionen und Arbeitsweisen des Werkstattprojekts Habibi.Works vor und beleuchtet anhand zentraler Fragestellungen, inwiefern eine kritische Praxis gelingen kann, die Machtdynamiken und Ungleichheiten reflektiert.

Entstanden aus einem zivilgesellschaftlichen Kontext, verbindet das Werkstattprojekt  unterschiedlichste Disziplinen sowie verschiedenste Perspektiven und Ansätze. Die offene Werkstatt  verortet sich als gestalterische Praxis. Sie ist eine sich solidarisierende Initiative, die (informelle) Bildung, Austausch und gesellschaftliche Teilhabe zugänglich machen will. Daraus können sich einerseits Konflikte und problematische Projektionen ergeben, wie  gegenteilige Auswirkungen vom Intendierten4, ungewollte Stigmatisierungen5 oder eigentlich gut gemeinte, aber dennoch bevormundende Projekte.6 Andererseits erwies sich ebenjene Mulitperspektivität – also die Öffnung für Einflüsse aus unterschiedlichstes Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen sowie für eine Vielzahl an Ideen interessierter Menschen – als zentrales und konstruktives Motiv über Jahre des bisherigen Bestehens.

Dieses Verständnis soll weder eine zu vereinfachende Gleichsetzung  von Kunst und Politischem  bedeuten, noch eine (scheinbar heilsbringende) Sonderrolle von Kunst betonen.7 Vielmehr sucht es nach Formen des Ineinanderwirkens. Dieser Beitrag diskutiert, inwiefern kritische und nicht ausschließlich affirmative Formen und Strategien einer sich solidarisierenden Gestaltung möglich sind.8 Kritisch meint in diesem Sinne, dass bestehende Ungleichheiten benannt werden, gleichsam die eigenen Intentionen und auch nicht intendierte, widersprüchliche Auswirkungen hinterfragt sowie Hierarchien und die eigene Situiertheit reflektiert werden.9

Intentionen – drei wesentliche Perspektiven

Habibi.Works wurde von dem kurz zuvor gegründeten gemeinnützigen Verein Soup and Socks e. V. ins Leben gerufen, mit der Überzeugung, dass nationale Grenzen keine Grenzen für die Suche der Menschen nach Freiheit und Sicherheit oder für ihr Recht auf selbstbestimmte und würdige Lebensbedingungen sein dürfen.10 In diesem Sinne sind die wichtigsten Prinzipien von Habibi.Works: Menschen, die nach Europa kommen, können unsere Gesellschaften bereichern, wenn soziale, wirtschaftliche und politische Strukturen zugänglich sind und dies ermöglichen. Solange diese Strukturen nicht zur Verfügung stehen, versucht das Werkstattprojekt eine Rahmen zu setzten, in dem zumindest im Wirkungsbereich dieses Ortes die Menschen selbst Ideen, Perspektiven und Lösungsansätze generieren, anstatt bevormundet und ihrer Handlungsfähigkeit beraubt zu werden.

Habibi.Works vereint folgende drei Perspektiven: Erstens durch alltägliche Unterstützung vor Ort ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen; zweitens einen Raum zur Verfügung zu stellen, der Ort für Austausch und Begegnung ist; drittens durch kritische Berichterstattung Bewusstsein über die desolate und ausweglose Situation für Menschen nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen zu generieren.

Abb. 1: Eindrücke aus der offenen Werkstatt Habibi.Works. Foto oben links Florian Horsch; Foto oben mittig Margot Buff; Foto oben rechts und unten rechts Mimi Hapig; Foto unten links (Zeitraffer) Franziska Wirtenson und Michael Wittmann.

Konkret findet die alltägliche Unterstützung vor Ort in Katsikas, bei Ioannina im Nordwesten Griechenlands in Form einer offenen Werkstatt statt: Mit Ateliers für Holz-, Metallbearbeitung, für digitale Fabrikation, Nähen und Kreatives, mit Bibliothek, Küche und Sportbereich ist Habibi.Works offen für Menschen nach ihrer Flucht, genauso wie für die lokale griechische Bevölkerung und Interessierte oder Expert:innen aus der ganzen Welt. Die alltägliche Arbeit vor Ort ist getragen von dem Gedanken, dass jede Person die/der Expert:in ihres eigenen Lebens ist. Menschen wissen selbst am besten, woran es ihnen fehlt und wie adäquate Problemlösungen aussehen können. Was ihnen die Umsetzungen ihrer Ideen erschwert, ist der fehlende Zugang zu Räumen, Materialien, Ausrüstung und Unterstützung. Hier setzt Habibi.Works an. Die elf verschiedenen Werkstättenbereiche zielen darauf ab, dass Menschen wieder Gestaltungsfreiheit und Selbstbestimmung in ihrem Alltag generieren können. Insofern wollen sie gelebtes Beispiel vor Ort sein und vermeintliche Grenzen im Alltäglichen und in vielen kleinen Situationen überwinden.

Durch freie Zugänglichkeit, durch gegenseitige Wertschätzung aller Beteiligter und durch den Versuch, selbstbestimmte Gestaltung zu ermöglichen, wollen die offenen Werkstätten zudem ein Ort für Austausch und Zusammenarbeit sein, in dem nicht nur zahlreiche Objekte, sondern auch Gemeinschaft, Vertrauen und Selbstbewusstsein entstehen. Vorurteile sollen abgebaut und die eigenen Annahmen und Intentionen im konstruktiven Sinne hinterfragt werden.

Und drittens soll dieser Raum eine gesellschaftspolitische Bedeutung entwickeln, indem ein (öffentliches) Bewusstsein geschaffen und verstärkt wird – gegen die desolate Situation an Europas Außengrenzen und gegen eine Kriminalisierung und Prekarisierung von Menschen auf der Flucht. Mit regelmäßiger Berichterstattung und Kampagnenarbeit werden  Kontrapunkte gegen rechtspopulistische Narrative gesetzt.

Abb. 2: Blogbeitrag mit einem Bericht über die drohenden Obdachlosigkeit für viele Asylsuchende in Griechenland. Foto Mimi Hapig, entnommen: Soup and Socks e.V., Blogeintrag, URL: https://soupandsocks.eu/2020/06/10/from-camps-to-homelessness-new-regulation-in-greek-asylum-regulations/

Zentrale Arbeitsweisen – exemplarische Beispiele

Zugänglichkeiten als Gegenmodell zu der gezwungenen Untätigkeit und dem Warten in Ungewissheit

Als offene Werkstatt versucht Habibi.Works einen Rahmen zu schaffen, in dem die Menschen  Selbstbestimmung, sowie Zugang zu (informeller) Bildung und zu gesellschaftlicher Teilhabe selbst generieren können. Den Menschen, die sich in einer politisch bedingten Situation des Wartens mit sehr wenig Informationen über die eigene Zukunft befinden, soll ermöglicht werden, eine Perspektive der Selbstwirksamkeit in ihrem täglichen Leben zu schaffen. Dieser Ansatz soll spürbare Auswirkung haben – auf die aktuelle Lebenssituation der Menschen (z.B. Vorhänge, die Privatsphäre in den Containern schaffen, sodass Frauen ihr Kopftuch abnehmen oder sich in Ruhe umziehen können), auf die Motivation, die eigene Bildung fortzusetzen oder zu nutzen (z.B.  Expert:innen, die ihre Fähigkeiten weitergeben, Student:innen, die ihre Ausbildung online fortsetzen, Jugendliche, die nie Zugang zur Schule hatten, werden ermutigt, sich Fähigkeiten anzueignen) und auf die Zuversicht, ein unabhängiges Leben innerhalb der europäischen Gesellschaften aufzubauen.

Offene Formen der Zusammenarbeit

In dem Versuch, diese aktive, selbstbestimmte Perspektive aller Beteiligten zu fördern, erkundet Habibi.Works nicht-kompetitive, selbst-ermächtigende Wege der Zusammenarbeit. Alle Menschen werden eingeladen, ihre eigenen Ideen einzubringen, sich an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, Verantwortung zu übernehmen und Eigenverantwortung zu generieren, zum Beispiel indem sie eine angeleitete Aktivität in einem der Habibi.Works-Workshops anbieten, sich an größeren Projekten beteiligen oder in den monatlichen Community-Treffen Feedback und Ratschläge geben.

Erzeugen von Bewusstsein und Dekonstruktion diskriminierender Begrifflichkeiten

Die Situation an den europäischen Grenzen ist geprägt von Ungleichheiten und Unsicherheiten für in Europa nach ihrer Flucht neu ankommende Menschen. Habibi.Works und dessen Trägerverein informieren regelmäßig europaweit über diese Zustände und setzen rechten Narrativen auf kreative, engagierte und zugleich deutlich kritisierende Weise etwas entgegen. Die Kanäle reichen von monatlichen Newslettern über Social-Media-Kampagnen bis hin zu Reden im Europäischen Parlament und auf Demonstrationen, der Teilnahme am akademischen Diskurs und öffentlichen Vorträgen in verschiedenen europäischen Ländern.11

Abb. 3: Die Menschen demonstrieren gegen ihre Unterbringung unter widrigsten Bedingungen in einem sogenannten Camp in Katsikas (Griechenland) und Solidaritätskundgebung in München. Abbildung oben Soup and Socks e. V., E-Mail-Newsletter: Viel Licht und Regen über Katsikas, Nr. 15 (11.09.2016); Foto unten Michael Wittmann.

Inhaltliches Motiv ist unter anderem die Entlarvung des Begriffs „Flüchtlingskrise“ als verkürzte und rassistische Zuschreibung der Verantwortung für einen Zustand auf die am stärksten davon betroffenen Menschen. Die Ursachen liegen tiefer: Die Symptome an den europäischen Grenzen werden nicht allein durch Menschen verursacht, die aus ihren Ländern fliehen müssen. Sie sind die Folgen globaler Verflechtungen und Konflikte, die zu Ausbeutung, Krieg, Verfolgung und Armut führen. Diese Konflikte sind zumindest teilweise die Folge von kolonialem Erbe, von Rassismus und von Ausbeutung von menschlichen und natürlichen Ressourcen.12 Die offensichtlichsten Symptome dieser humanitären und politischen Krise – krisenhafte Zustände in den Flüchtlingslagern und punktuelle Ereignisse wie die Katastrophe auf Lesbos – sind auf einen politischen Unwillen zurückzuführen, menschenwürdige und nachhaltige Lösungen zu finden.

Raum zu Verfügung zu stellen

Habibi.Works will Raum zur Verfügung stellen – zur Umdeutung bestehender Ungleichheiten, zur Reflexion sowie zur offenen Nutzung und daraus resultierender Bedeutungsperspektiven. Gemeint sind damit sowohl die konkreten Räumlichkeiten, sprich physischen Räume als auch inhaltliche und symbolische Dimensionen der Räumlichkeiten von Habibi.Works.

Das Teilprojekt Habibi Dome, entstanden 2016/17, kann hierfür als Beispiel gesehen werden.13 Es ist kollektives Bauprojekt und Plattform zugleich: Im Bauprozess wurde die mittlerweile im Internet frei zugängliche Geodesic-Dome-Konstruktion nach Richard Buckminster Fuller als bestehendes Wissen verwendet, um sie adaptieren, weiterentwickeln und weitergeben zu können. Die Kuppelkonstruktion und die Entscheidung, diese als selbstbestimmten Raum zu bauen, war ein Vorhaben, das alle am Projekt Beteiligten zusammen trafen. Wichtiges Grundprinzip war, auf möglichst allen Ebenen offene und zugängliche Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse ablaufen zu lassen und sich dabei gleichwohl bewusst zu sein, dass eine absolute Hierarchielosigkeit nicht möglich ist. Ein Modell im Maßstab 1:10 als essentielle Stütze bei der Verständigung ohne eine gemeinsame Sprache machte Planung und gestalterische Entscheidungen für alle Beteiligten zugänglich. Darüber hinaus wurde der ursprünglich angedachte Plan einer Überdachung aus Zeltstoff hin zu einer Abdeckung mit Holz und damit zu einem festen Raum abgeändert, da dies für viele Beteiligte ein Statement gegen die Unterbringung in Camps war.

Abb. 4: Bau der Kuppelkonstruktion. Abbildungsnachweis: Lucas Bertoldo.

Mittlerweile entstand neben dem in Griechenland gebauten, nach wie vor genutzten Raum eine mobile Version, die an verschiedenen Orten europaweit auftauchte. Derzeit ist sie in Stuttgart zusammen mit der Hans Sauer Stiftung und weiteren lokalen Projektbeteiligten.14 Als offene Plattform will der mobile Raum gesellschaftliche Fragen aufwerfen und einen Austausch darüber und untereinander ermöglichen: Das Projekt stellt Fragen, wie wir in unserer Gesellschaft zusammenleben wollen – ohne Vorurteile über vermeintliche Grenzen hinweg, und wie echte Solidarität aussehen kann und muss.

Langzeit-Perspektive

Durch den temporären Einsatz einer mobilen Küche stand zunächst ein Lindern der katastrophalen humanitären Situation Ende 2015 an Europas Außengrenzen und auf der sogenannten Balkan-Route im Vordergrund. Während der darauffolgenden Reflexion wurde klar, dass ein langfristig verfolgtes Vorhaben unbedingte Voraussetzung ist, um eine nachhaltige Perspektive entwickeln zu können und um in die Situation vor Ort involviert sein zu können.15 Daraus entstand der Werkstattgedanke mit dem Fokus, sich zu solidarisieren und auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.

Gegenseitiges Lernen

Selbstverständnis der offenen Werkstatt ist es, Lern- und Austauschprozesse nie in ausschließlich eine Richtung, sondern immer gegenseitig in beide Richtungen und auf Augenhöhe zu verstehen. Selbst wenn eine Person in einem Bereich Expertise besitzt und einen Workshop anleitet, lernen immer alle beteiligten Personen auf vielschichtigen Ebenen voneinander. Um gegenseitiges und selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen, werden die Menschen vor Ort, die nach ihrer Flucht nun in Europa angekommen sind, von Beginn an eingebunden, zu entscheiden, welche Werkstattbereiche eingerichtet werden und eingebunden, dort auch Workshops durchzuführen.

Offenheit und eigene Annahmen hinterfragen

Um ausschließlich bevormundende Strukturen zu vermeiden, werden im Denken und Arbeiten von Habibi.Works all diese konkreten Zielsetzungen zur Diskussion gestellt – hinsichtlich möglicher unerwünschten Auswirkungen sowie paternalistischer Zusammenhänge. Habibi.Works will offen bleiben für die Ideen wirklich aller Menschen, welche die Räumlichkeiten betreten und sich daran beteiligen. Die eigenen Annahmen und Vorstellungen sollen stets spielerisch und dadurch konstruktiv hinterfragt werden. Dieser Ansatz beruht auch auf dem Bewusstsein, dass jede Zielsetzung und Gestaltung stets mit einer eigenen Machtposition verbunden ist.16

Das Wagnis eines vielschichtigen und kritischen Ortes – einer Heterotopie

Das Werkstattprojekt Habibi.Works versteht sich als konkreten Ort, als Raum, welcher kritisch über die Zustände an Europas Außengrenze berichtet und die Einhaltung von Menschenrechten einfordert. Darüber hinaus wird an diesem Ort der utopische – oder besser heterotopische – Versuch gewagt, Formen von Solidarität als Gegen-Narrative sowohl im Mikrokontext als auch auf struktureller Ebene zu entwickeln und Ungleichheiten zumindest im kleinen Kontext zu verschieben, auszusetzen oder umzudeuten.

Und insofern begreift sich Habibi.Works als Heterotopie, da es einen Raum mit gesellschaftlicher Relevanz und Bedeutungsperspektive zu verbindet.17 Das Projekt will dem Zustand des Wartens in Ungewissheit, in dem die Menschen nach ihrer Flucht gebracht werden, heterochronistisch gegenüberstehen.18

Es vereint scheinbar Widersprüchliches und sich diametral Gegenüberstehendes:19 Das Projekt Habibi.Works will ein Raum sein, der das Postulat erhebt und auch umsetzt, dass  alle, ausnahmslos alle Menschen gleichberechtigt sind, dass gleiche (Persönlichkeits-)Rechte und Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe für ausnahmslos alle gelten muss – in einem Kontext, in dem die Frage nach einem europäischen Pass – oder eben nicht – einen alles entscheidenden Unterschied macht. Es ist ein Ort, der sich gegen diese Ungleichheiten sperrt und gleichzeitig versucht Menschen zusammenzubringen.

Diesen Vorhaben wagt in einem physisch begrenzten Raum grenzenlos zu denken und zu handeln: Es will grenzenloser Raum sein, in dem der Versuch gewagt wird, vermeintliche Zugehörigkeiten zu Nationalitäten, Religionen, Ethnien oder Geschlechtern und daraus resultierende Grenzziehungen zu überwinden. Habibi.Works ist konkreter Raum, welcher in Katsikas als offene Werkstatt fungiert, und zugleich offener Raum für Konzepte, die  physische und normative Grenzen sprengen – und ist gleichzeitig kollektives Handeln als auch gesellschaftspolitisches Postulat. Dort, wo sich Grenzen physisch manifestieren, dort, wo Grenzen die Leben von Menschen riskieren oder blockieren und Menschen in Jahre des untätigen, als fremdbestimmt wahrgenommenen Wartens zwingen, versucht Habibi.Works einen Raum zu eröffnen, in dem sich Menschen Zugang zu Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit schaffen können und Entscheidungen hinsichtlich ihres Lebens selbst treffen können.

Reflexionen

Wesentlicher Bestandteil der Arbeit der offenen Werkstatt Habibi.Works ist ein fortlaufendes kritisches Hinterfragen der eigenen Praxis, um konstruktive  Impulse für das eigene weitere Vorgehen daraus zu folgern.  Die einzelnen Aspekte der Reflexion generieren sich aus den beiden zentralen Fragestellungen: Inwiefern ist eine kritische Abgrenzung gegenüber einer Kunst möglich, welche die Welt retten will und „dann […] lediglich den zeitgenössischen Krisen und Prekariaten mit zeitgemäßen ästhetischen Formen und Materialien begegnet, also eher affirmativ als sich kritisch positioniert?“20 Und inwiefern können strukturelle Ungleichheiten zwischen Initiator:innen gegenüber Beteiligten in einer kollektiven Praxis reflektiert werden?

Solidarität und Machtdynamiken

In einem Kontext, in dem grundlegende Menschenrechte nicht gewährt werden und Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe von Faktoren wie Nationalität abhängen, erzeugt die Initiierung eines offenen Workshops Machtdynamiken zwischen Initiatoren und Teilnehmenden, zwischen Personen mit oder ohne EU-Pass und zwischen konkurrierenden Initiativen und Disziplinen. Unabhängig von auch noch so guten Intentionen ist eine Unterstützung, welche Strukturen zur Partizipation und Beteiligung aufbauen will, immer auch von unvermeidbaren Hierarchien und Machtgefällen bestimmt.21 Ein Projekt kann leicht Gefahr laufen, Vorurteile, Ungleichheiten und Machtstrukturen zu verstärken, wenn ein kritisches Bewusstsein dafür fehlt. Im Wissen um diese Umstände will Habibi.Works durch Reflexionen über Hierarchien in der Entscheidungsfindung und über verwendete Sprache im Projekt bevormundenden Strukturen entgegenwirken:22 Das Team der offenen Werkstatt ist bestrebt, Machtdynamiken sichtbar zu machen und wo immer möglich zu dekonstruieren, zum Beispiel durch transparente Gesprächsstrukturen, die Feedback stärken und durch Anpassungsfähigkeit, die dennoch keine Tyrannei der Strukturlosigkeit provoziert.23

Beteiligung und Selbst-Ermächtigung

Die bloße Tatsache, dass ein Projekt auf Partizipation abzielt, ist kein Garant dafür, dass für Beteiligte die Möglichkeit besteht, Formen von Mitbestimmung oder Selbstermächtigung generieren zu können.24 Mitmachen bedeutetet nicht notwendigerweise Mitbestimmung, wenn Strukturen dafür fehlen. So versucht Habibi.Works eine ausschließlich „symbolische Partizipation“ zu vermeiden, in der Beteiligte nur aus einer Projektlogik heraus oder für eine positive Außenwirkung eines Projekts involviert werde würden.25

Involviertheit und kompensatorische Effekte

In das eben skizzierte Spannungsfeld fällt der Mechanismus, unterdrückende und diskriminierende Zusammenhänge, die eigentlich kritisiert werden sollten, als gegeben und unveränderbar zu sehen und diese somit indirekt zu verstärken:26 Habibi.Works wurde als politisches Statement gegen die aktuelle EU-Asylpolitik und als soziale Initiative zur Unterstützung der davon betroffenen Menschen ins Leben gerufen. Die praktische, tägliche Unterstützung ist gewissermaßen auch eine Kompensation für ein strukturelles Versagen auf gesamteuropäischer Ebene. Solche Effekte entlasten Behörden und Entscheidungsträger und können im schlimmsten Fall Anreize für diese schaffen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Werkstattprojekte, oder allgemeiner gesellschaftliche Initiativen verbunden mit Kunstprojekten oder Projekten aus dem Social Design können also in die Rolle fallen, Aufgaben und Verantwortung der sich zurückziehenden Politik und staatlichen Institutionen zu kompensieren.27 Das Team von Habibi.Works ist sich dieses Risikos bewusst. Darum ist Intention, ein Bewusstsein für die Situation an den europäischen Grenzen zu schaffen und eine kritische Stimme innerhalb der europäischen Gesellschaft zu sein.

(Kritische) Benennung und  Stigmatisierungen

Partizipative, kollektive Projekte arbeiten meist mit einer Personengruppe – oft „Community“ genannt – in einer ganz bestimmten Situation, an einem ausgewählten Ort und zu einem bestimmten Thema. „Wer sich unreflektiert auf bestimmte Menschen als Community bezieht – eine Vokabel, die mittlerweile auch ins Deutsche übernommen wurde – der läuft zudem Gefahr, sie überhaupt erst als Gruppe mit bestimmten Charakteristiken hervorzubringen.“28 Selbst wenn die Interessen dieser Gruppe, auch selbstbestimmt durch die Gruppe, vertreten werden, kann durch das Festlegen als Gruppe eine Stigmatisierung ungewollt verstärkt werden. Deswegen versucht die offene Werkstatt Habibibi.Works Konstruktionen von ‚Wir‘ und ‚Die Anderen‘ aufzulösen und versteht als Solidarität sich „über das Unrecht, das anderen zustößt, genauso zu empören, als würde es uns selbst betreffen.“29

Repräsentation und eigene Situiertheit

Habibi.Works wurde initiiert von Menschen mit vielen Privilegien und Sicherheiten aufgrund ihres Geburtslandes und aufgrund ihrer erhaltenen Bildung – mit der Zielsetzung zusammen mit Menschen, für die diese Privilegien leider nicht gelten, an deren Situation mit Ihnen gemeinsam auf alltäglicher wie auf struktureller Ebene etwas zu ändern.30 Natürlich muss dabei auch die eigene Situiertheit selbstkritisch thematisiert und hinterfragt werden: Wer spricht für wen? Wer kann für sich selbst sprechen?31 Findet auch migrantisch situiertes Wissen32 Niederschlag, was sich in wichtigen Prinzipien, wie gegenseitigem Lernen und Solidarität auf Augenhöhe in der Arbeit der offenen Werkstatt zeigen soll?

Um einen zu einseitigen, bevormundenden Wissenstransfer entgegenzuwirken, ist es Selbstverständnis, nicht nur projekt- oder disziplinimmanenten Logiken zu folgen33, sondern möglichst nah an den Interessen der Menschen, die Habibi.Works vor Ort nutzen, zu sein. Habibi.Works versucht von den Erzählungen und Stimmen der Menschen vor Ort getragen zu sein. Auch der eigene Name „Habibi.Works“ (habibi, aus dem Arabisch für Freund) entstand mit den Menschen, die die Werkstätten nutzen. Gleichzeitig muss die Verwendung dieses Namens auch kulturelle Aneignungen reflektieren und sich davon distanzieren.

Fazit

Habibi.Works will sich vor Ort in eine konkrete Situation involvieren und gleichzeitig gesellschaftspolitische und strukturelle Zusammenhänge thematisieren und sich dazu kritisch in Bezug setzen. Die offene Werkstatt betrachtet ein Bewusstsein über existierende, diskriminierende Strukturen und Hierarchien (und nicht eine naive Vorstellung nicht existierender Hierarchien) als Voraussetzung, um Ungleichheiten kritisch zu reflektieren und um ihnen auf diese Weise entgegenwirken zu können.

Unterstützung bedeutet in diesem Zusammenhang einen Raum zu eröffnen, in dem alle Menschen mit einer persönlichen Geschichte und eigenem Wissen als Expert:innen ihres eigenen Lebens anerkannt werden, sowie auch strukturell einzufordern, dass wirklich ausnahmslos alle Menschen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und Persönlichkeitsrechten haben. Insofern versucht Habibi.Works, mit kritischen anstatt affirmativen Formen und Strategien zu arbeiten um Ungleichheiten und deren Ursachen nicht weitet zu perpetuieren.34


Biografie

Habibi.Works

Habibi.Works ist eine offene Werkstatt an den Außengrenzen Europas. Mit Ateliers für Holz-, Metallbearbeitung, für digitale Fabrikation, Nähen und Kreatives, mit Bibliothek, Küche und Sportbereich unterstützt die offene Werkstatt in Katsikas bei Ioannina in Griechenland Menschen, die nach ihrer Flucht an Europas Außengrenzen ankommen. Die Werkstatt ist zugleich offener Raum für Konzepte, die physische und normative Grenzen sprengen als auch kollektives Handeln und gesellschaftspolitisches Postulat.

Abbildungen

Alle Abbildungen sind im Rahmen von Habibi.Works entstanden und wurden von den Fotograf:innen für die Verwendung durch Habibi.Works zur Verfügung gestellt.

Andere Orte oder „Das politische Wort in Taten verwandeln“ – Eine heterotopologische Untersuchung intermedialer Fotoarbeiten von Carlos Garaicoa – Hanna G. Diedrichs gen. Thormann

In der zweiteiligen Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente von Carlos Garaicoa sind Fotografien von Tragkonstruktionen leerer Plakatwände zu sehen, die vom Künstler durch Architekturmodelle und Textentwürfe erweitert wurden. Diese intermediale Arbeitsweise untersucht Hanna Diedrichs g. Th. in der heterotopologischen Analyse der Serie. Dabei legt sie offen, wie in den künstlerischen Arbeiten Möglichkeitsräume der kubanischen Gesellschaft aufscheinen, die zum Nachdenken über die gegebenen Verhältnisse einladen und mit denen Garaicoa fordert, politischen Versprechungen Taten folgen zu lassen.

„AARGHH“ (Abb. 1) – ein lautmalerischer Ausruf verstellt in stahlgewordenen Lettern formatfüllend den Blick auf eine schwarz-weiße Stadtlandschaft. Dieser dem Comic entlehnte Begriff wird zumeist verwendet, um ein Gefühl der Frustration, Wut oder Verzweiflung auszudrücken.34 Als ein „intermedialer Bezug“35 verweist der Ausruf in der unbetitelten Arbeit Nummer fünf der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (2009) des Künstlers Carlos Garaicoa, wie diese Untersuchung zeigen wird, auf die unerfüllten Versprechungen der Kubanischen Revolution.

Abb. 1: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II, 2009 (Schwarz-Weiß-Fotografie mit lasergeschnittenem Drahtmodell auf Metall und Stuck, 81 x 120 cm, Besitzverhältnisse und Ort unbekannt). Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Carlos Garaicoa: Orden Aparente, Santander (Fundación Botín) 2014, S. 149.

Aus den Tragestrukturen einstiger Propagandatafeln an kubanischen Straßen und Gebäuden konstruiert Garaicoa in der zweiteiligen Werkserie neue geometrisch-technische Architekturen, Wortzeichen und Infrastrukturanlagen. Als Basis dienen ihm Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Straßen- und Stadtlandschaften mit ebensolchen leeren Metallkonstruktionen. Die Fotografien überlagert er mit Konstruktionszeichnungen in Form von eingefrästen Modellen oder solchen aus Faden und vollzieht damit eine imaginierte bauliche Weiterführung der ursprünglichen Gerüste.36 Mit dem Ziel, den Sinn dieser scheinbar trivialen Gegenstände zu verändern, um über gesellschaftsrelevante Fragestellungen nachzudenken, schafft er Orte der Reflexion über die „Ordnung der Dinge“.37

Carlos Garaicoa, geboren 1967 in Havanna, ist seit Mitte der 1980er-Jahre zunächst als autodidaktischer Künstler tätig.38 Es folgten Studien am Institute of Fine Arts of Cuba von 1989 bis 1994. Heute lebt und arbeitet er in Havanna und Madrid. Garaicoa arbeitet in unterschiedlichen Medien und mit verschiedenen gestalterischen Techniken sowie deren vielfältigen Kombinationen an der Thematik von „[…] Architektur und Urbanismus als Spiegel politischer Realität und gesellschaftlicher Entwicklung […]“ 39 im 20. und 21. Jahrhundert. Architektur versteht und verhandelt er hierbei als „[ …] Symbol der Macht wie gescheiterter Utopien […].“40 In seinen oft multimedialen Installationen, Modellen und Skulpturen, Zeichnungen, Video- und Fotoarbeiten „[…] macht der Künstler auf die Krise und Geschichte des städtischen Raums aufmerksam.“41 Und verwirklicht dabei, wie der Philosoph und Kunstkritiker Fernando Castro Flörez feststellt, aber nicht weiterverfolgt „[…] a different conception of urban space, a heterotopia, to employ a Foucaultian term, which calls into question the space in which we live (survive).“42

Mit dem philosophischen Konzept der Heterotopie, das Michel Foucault 1966/67 entwickelt hat, eröffnet sich an der Schnittstelle zwischen dem Realen und dem Imaginären eine Art Zwischen- und Denkraum, der die Möglichkeit bietet, gegebene Verhältnisse zu problematisieren und zu reflektieren.43 Der vorliegende Text setzt sich entsprechend mit Garaicoas zweiteiliger Werkserie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I und II anhand Foucaults Begriff der Heterotopie auseinander: Infolge des Kontrasts der dokumentierten leeren Tragestrukturen einstiger Propagandatafeln auf Kuba zu den imaginierten Architekturanlagen scheinen buchstäblich Möglichkeitsräume der kubanischen Gesellschaft auf, die zur Reflexion über die gegebenen Verhältnisse einladen.

Dieser kunstwissenschaftlich-interdisziplinäre Beitrag stellt das vielschichtige Werk eines Kunstschaffenden in den Mittelpunkt, der trotz seiner Teilnahme an Biennalen und Documentas in Europa weitgehend unbekannt ist und greift in der Verknüpfung mit Foucaults Heterotopie-Konzept eine Schwachstelle bisheriger Publikationen über Garaicoas Œuvre auf: Der häufig zur Charakterisierung seines Werks genutzte Begriff der Utopie ist einseitig verzerrend und ungeeignet, die Synthese des real Existierenden und des Erhofften zu greifen. So birgt eine heterotopologische Herangehensweise an seine Arbeiten eine gewisse Notwendigkeit in sich, um die werkimmanente Kluft zwischen Verheißung alter Ideale und deren Umsetzung angemessen zu erfassen. Ziel der Betrachtung ist es, die Arbeiten zu kontextualisieren und als mediale Heterotopien respektive als Bildräume, die in sich heterotopisch sind, zu entfalten. Leitend ist dabei die Frage, wie der Künstler es bewerkstelligt, durch die Konstruktion von Heterotopien die gesellschaftspolitische Ordnung anzusprechen.

Ambivalente Bildräume

Der spanische Titel der zweiteiligen Werkserie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente (auf Englisch: To transform the political speech in facts, finally) meint auf Deutsch etwa: Um das politische Wort in Taten umzusetzen, endlich. Die Plakatwände in Havanna und Umgebung, die den Kern der Serie ausmachen, wurden in Kuba üblicherweise zur Darstellung und Verbreitung von politischen Propagandamaterialien verwendet und besitzen somit eine eindeutig politische Funktion.44 „Wurden“, weil die Mittelknappheit dazu geführt hat, dass selbst diese Tafeln immer mehr dem Verfall preisgegeben sind. Als gewissermaßen sprechende Architekturen dienen sie Garaicoa als visuelle Ressource für sein künstlerisches Schaffen – „[…] structures which, by underscoring the communicative void With their very presence, bear witness to an impossibility of telling.“45 Die Arbeiten zeigen nun diese leeren Unterkonstruktionen, die vom Künstler schöpferisch weitergeführt wurden: „The images speak of a recent though strangely distant past full of hope and desire for a rich, healthy and vigorous future – a future perfect which has been undeniably unfulfilled, a failed promise […] that now needs to be reasse[sse]d. Better late than never.“ 46

Das Kuba der 1950er-Jahre war geprägt von der Kubanischen Revolution, in der Fidel Castro, an der Spitze von Revolutionären, gegen den Diktator Fulgencio Batista kämpfte. Die an der Revolution Beteiligten erstrebten politische, wirtschaftliche und soziale Umbrüche, wie den Aufbau einer kommunistischen Regierung und einer klassenlosen Gesellschaft. Mit dem Sieg Castros im Jahr 1959 entstand ein realsozialistisch geführter Staat mit der Sowjetunion als nahem Verbündetem.47 Vom damaligen Sieg des Sozialismus zeugen heute, 60 Jahre nach der Kubanischen Revolution, die Propagandatafeln: Mit politischen Parolen wie „Vaterland oder Tod“, „Die Revolution geht weiter“ oder „Fidel verkörpert ein ganzes Land“ gehören sie, auch nach dem Zusammenbruch des weltweiten sozialistischen Verbunds und dem Ende des Castro-Regimes, zum Straßenbild und bewahren das kollektive Gedächtnis. Doch zeugen die baufälligen Tafeln und oft leeren Gerüste im Land ebenfalls von der Schattenseite der globalen, politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse und von gescheiterten oder zunehmend vergessenen Idealen.48

Die erste der beiden Werkgruppen der Serie, Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I (2003/04), besteht aus sechs quer- und drei hochformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien in der Größe von 121 x 175 cm, die mit Fadenzeichnungen überlagert sind, sowie aus 220 Briefmarken, die in Vitrinen ausgestellt und mit Vergrößerungsgläsern ausgestattet sind.49 Diese Untersuchung fokussiert vornehmlich auf die intermedialen Fotoarbeiten.50

Die Technik der Fadenbilder, die zumeist in eigenständigen, dichter gewirkten Arbeiten im Kunsthandwerk oder in der Textilkunst Anwendung findet, verwendet Garaicoa für in seine Fotografien eingreifende Interventionen. Der Künstler vergleicht die Fadenzeichnungen mit einem schwebenden Spinnennetz.51 Feingliedrig „[…] zeichnet Garaicoa mit Nähgarn, gespannt über Stecknadeln an den perspektivischen Eckpunkten, die imaginierten baulichen Vollendungen [der Werbetafeln] nach. Oder er notiert […] vollkommen neue, ideale Architekturen […].“52 Eine Technik, die er schon zuvor anwandte, um fotografierte Gebäuderuinen geisterartig wieder auferstehen zu lassen.53

Daran anschließend fertigte Carlos Garaicoa eine zweite Werkgruppe an: Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (2009). Sie besteht aus fünf auf Aluminium und Stuck gedruckten Schwarz-Weiß-Fotografien in den Maßen 81 x 120 cm, in die der Künstler AutoCad-DrahtmodeIIe54 einarbeitete, drei davon im Quer- zwei im Hochformat.55 „Die Linien w[u]rden per Laser in die Aluminium-Trägerplatte der Fotografien gefräst, [wodurch] metallisch reflektierende Architekturprospekte entstehen.“56

Die Bildmotive und Konstruktionen der tendenziell unbetitelten Arbeiten reichen von Garagenbauten, Wohn- und Bürogebäuden über industrielle Anlagen und landwirtschaftliche Silos bis zu Brückenentwürfen. In zwei der Arbeiten – wie der einleitend zitierten – hat Garaicoa Text- oder Wortversatzstücke eingebaut. Besonders entgegen den sonst leeren oder sprachlosen Tafeln, bei denen gerade die Absenz einer (Text-)Botschaft auffällig ist, vollziehen sich in diesen die Verschiebungen und Transformationsprozesse nicht nur auf der Ebene der Konstruktion, sondern auch auf der Ebene der Sprache.57 Innerhalb der gesamten Serie stellen diese Systemreferenzen und intermedialen Bezugnahmen in Textform eine Ausnahme dar, verdeutlichen jedoch in besonderem Maße die Intermedialität der hier zu untersuchenden Werke.

Garaicoas künstlerische Methodik in der Serie ist vornehmlich mit dem Terminus der Medienkombination zu greifen: der innerhalb der Serie „[…] durchgehende[n] Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, [also der Fotografie und der Konstruktionszeichnung,] die sämtlich im entst[andenen] Produkt materiell präsent sind.“58 Zudem ist der Serie ein subtiler Medienwechsel in Bezug auf die architektonische Konstruktionszeichnung zu diagnostizieren. Mit dieser intermedialen Arbeitsweise koppelt der Künstler in der Serie verschiedene Zeichenverbundsysteme und erweitert damit die Vielschichtigkeit und das transformatorische Feld in seinen Arbeiten.59

Die medienspezifischen Charakteristika von Fotografie und Konstruktionszeichnung werden in der Serie explizit vom Künstler genutzt und weitergeführt. Garaicoa setzt gezielt stilistische Merkmale der dokumentarischen Fotografie ein – er bedient sich eines dokumentarischen Gestus.60 Die nach einheitlichem Muster mit zumeist ungewöhnlich tief angelegtem Horizont angefertigten, schnappschussartigen Aufnahmen akzentuieren einerseits einen subjektiven Zugang, heben andererseits aber auch einen vermeintlich stärkeren Zugang zur „objektiven“ Wirklichkeit hervor. Auch wenn die Schärfentiefe der Fotografien generell durchgängig ist, finden sich leichte Unschärfen in den Bildern – zufälliges, mobiles Bildinventar wie Personen oder Automobile betont diese als Bewegungsunschärfe und damit den Schnappschusscharakter im Besonderen (Abb. 2). Der Künstler schafft den Eindruck, dass die Fotografien im Vorbeigehen oder aus dem fahrenden Auto aufgenommen wurden und mimt die frühere Rezeptionssituation und damit die Position der ursprünglich von den Werbe- oder Propagandabotschaften adressierten Personen in den Werken nach.

Abb. 2: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente I (Valla Puerto), 2003 (Nadeln und Faden auf Schwarz-Weiß-Fotografie, 125 x 175 cm, Privatsammlung Ela Cisneros, CIFO, Miami). Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. La enmienda que hay en mi, Havanna (Museo Nacional de Bellas Artes) 2009, S. 135.

Die technisch bedingte Zentralperspektive der Fotografien wird in den Konstruktionszeichnungen weitergeführt. Sie orientieren sich jeweils an der spezifischen Form der Unterkonstruktionen der leeren Werbetafeln, die zwar an und für sich unterschiedlich sind, doch bildimmanent jeweils konsequent aufgegriffen werden. Die modellierten Bauten wirken durchweg modern bis futuristisch. Zwar unterscheidet sich die Technik der Konstruktionszeichnung im ersten und zweiten Teil der Serie, beiden Varianten wohnt jedoch etwas schemenhaftes in der materiellen Überlagerung inne. Mit beiden Macharten greift Garaicoa, das Bild transformierend, physisch in die Oberfläche der Fotografien ein: einmal mit Perforation durch Nadeln und aufgebautem Fadenmotiv, einmal durch Laserschnitt.

Die intermedialen Fotoarbeiten entstehen also in einer Medienkombination, die das Auftreten heterotopischer Räume begünstigt.61 Das fotografische Medium wird hierbei (pseudo-)dokumentarisch nutzbar gemacht, die Konstruktionszeichnung evoziert einen utopischen Impuls. Was dabei erzeugt wird, sind ambigue Bildräume, die das Dokumentarische mit dem Imaginären, besser dem Imaginativen, inszenieren, wodurch heterotopische Räume eröffnet werden (können); infolgedessen, sehen sich die Betrachtenden im Rahmen der Rezeption mit einer Reflexion über die gesellschaftspolitische Ordnung Kubas konfrontiert – durch die Kombination der beiden unterschiedlichen Medien erzeugt Garaicoa eine Art Hybrid, in dem die Grenzen zwischen Repräsentation und Konstruktion verschwimmen. 

Die schöpferische Idee hinter den Arbeiten war, laut Garaicoa, auf die alten Metallstrukturen der Werbetafeln zu „bauen“ und konstruktive Möglichkeiten zu schaffen. Weiter versucht Garaicoa, das imaginäre Bild des täglichen Lebens in den Städten Kubas in seine Werke zu übersetzen – ein imaginäres Abbild der weitergedachten Ideen der realsozialistischen Regierung. Sein Ziel sei es gewesen, damit den Sinn dieser scheinbar trivialen Objekte der Werbetafeln zu verändern, um über politische, existentielle und künstlerische Probleme zu reflektieren. Laut seiner eigenen Aussage beschäftigen sich die Arbeiten mit Erinnerung und Existenz „[…] by the creation of images and how these pieces are related to the memory of the City and their political backgrounds.“62

Die ehemaligen Propagandatafeln sind zu einem wesentlichen Fokus in der Arbeit Garaicoas geworden und offenbaren ein fruchtbares politisches Potenzial: Sie vereinen in einem physischen Objekt die Gestalt eines Textes, die Ideologie einer Botschaft und die Visualität eines Symbols, wie Corina Matamoros Tuma schreibt.63 Viele der Werbetafeln sind in den letzten Jahren „stumm“64 geworden. Leer geworden oder geblieben, aufgrund von Vernachlässigung oder konstruktiven Mängeln. Schweigend und rätselhaft manifestieren sie eine Abwesenheit und verbildlichen eine Leerstelle, die der Künstler aufgreift und an der er seine neuen Botschaften festmacht. Laut Matamoros Tuma, handelt es sich dabei nicht um Skizzen für Utopien, wie gewöhnlich betont wird, sondern um eine Art wirklichen Werbeträger gegen die Existenzen von Trugbildern, der einen konkreten Handlungsweg vorschlägt.65

Die dokumentierenden Aspekte seiner künstlerischen Arbeit und das utopische Denken sind Themenkomplexe, die häufig im Kontext von Garaicoas Œuvre in der Literatur zum Tragen kommen. Das „Dokumentarische“ und vor allem die Utopie-Begriffe, mit denen am Œuvre des Künstlers bedeutsam operiert wird, sind dabei aber nicht nur komplexitätsreduzierend, sondern halten auch einer genauen Betrachtung nicht stand. Aus dem Bezug zum tatsächliChen Ort in Vereinigung mit dem Nicht-Ort, werden in Para transformar la palabra política en hechos, finalmente andere Orte.

Raum für alte Ideale und neue Ideen, endlich

Foucault beschreibt Heterotopien als „[…] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenpla[t]zierungen [sic] oder Widerlager [sic], tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind […].“66 Seinem Begriffskonzept ist eine gewisse Unschärfe inhärent, die oft kritisiert, aber ebenso häufig – im Sinne eines flexiblen Interpretationsrahmens und eines Raums für neue Perspektiven – als Bereicherung beschrieben wird.67

Heterotopie, wie sie für diesen Beitrag relevant ist, meint eine Reihe verschiedener, sich überschneidender und eher durch Ähnlichkeiten als durch ein einheitliches Prinzip geformter räumlicher Phänomene oder Orte, für die, nach Foucault, vor allem ihr Verhältnis zum übrigen Raum von Bedeutung ist. Und die als „andere Räume“68 – gewissermaßen als räumliche Denkanstöße – die geltende Ordnung in Frage stellen. Anders als bei Foucault, der seine Beispiele primär aus der physikalischen beziehungsweise gesellschaftlichen oder außermedialen Wirklichkeit greift, wird hier die Meinung vertreten, dass die Heterotopie sich nicht auf den Realraum beschränken muss, sondern auch darüber hinaus eine wertvolle Analysekategorie darstellt, die interessante Blickwinkel eröffnen kann.69

Foucault stellt sechs idealtypische Prinzipien als Grundsätze der Heterotopie auf.70 Erstens sind für ihn Heterotopien „universal“71 und existieren in allen Gesellschaften. Zweitens unterliegen Heterotopien und ihre Bedeutungen über die Zeit Umdeutungen und Wandlungen innerhalb einer Gesellschaft.72 Das Nebeneinandertreten von räumlich (drittens) und zeitlich (viertens) heterogenen Elementen in ein und demselben (Bild-)Raum macht diesen Raum nach Foucault zu einem heterotopischen.73 Durch diese zeitlichen wie räumlichen Schichtungen,74 die sich auch in den Arbeiten Garaicoas finden, werden Zwischenräume und Wechselbeziehungen offengelegt. Sie zeigen einen alten, bereits bestehenden Ort in der außermedialen Wirklichkeit sowie in der Fotografie, den visionären Gebäuderaum in der Konstruktionszeichnung und letztlich den neuen, daraus entstandenen Gesamtort. Die Fotografie verweist (verstärkt durch das Schwarz-Weiß) auf vergangenes, dementgegen steht die zukunftsgerichtete Konstruktionszeichnung. Die Darstellung wird damit sowohl surreal als auch real. In diesem Spannungsfeld, in diesem Dazwischen, kann die Heterotopie entstehen. 

Fünftens setzen „ [d]ie Heterotopien […] ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“75 Garaicoas Werke unterliegen in ihren Zugangsbedingungen einerseits den Eingangsritualen und Reglementierungen der Ausstellungsorte, in denen sie präsentiert werden.76 In Bezug auf das Eintreten in die Bild- beziehungsweise Objekträume stehen sie einerseits als Reflexionsräume jeder Person offen, die gedanklich einsteigen möchte, doch gleichzeitig bleibt den Rezipierenden der tatsächliche Eintritt in die in den Werken geschaffenen Räume verwehrt.77

Besonders hebt Foucault den sechsten Grundsatz hervor, der als Kernpunkt seines Konzepts gilt und besagt, dass den Heterotopien eine Funktion gegenüber dem verbleibenden Raum innewohnt.78 Sebastian Dirks verdeutlicht hierzu: „[…] dass die Untersuchung einer Heterotopie nicht auf die Frage reduziert werden darf, ob sie allen sechs Grundsätzen entspricht. Er argumentiert, dass es ein Leichtes wäre, jeden Ort als Heterotopie zu identifizieren und damit noch keine Erkenntnis gewonnen wäre. Nach ihm ergibt sich erst dann eine kritische Analyse von gesellschaftlichen Räumen, wenn das Verhältnis der Heterotopie zum Restraum bestimmt wird.“79

In diesem Sinne wohnt den künstlerischen Arbeiten vor allem eine Funktion inne: ihn einerseits zu spiegeln und für Reflexion zugänglich zu machen, andererseits ihn in Frage zu stellen, zu problematisieren und sich ihm gegenüber dadurch widerständisch zu verhalten. Foucault geht es dabei um die Verbindung oder auch das Netz zwischen den realen und den surrealen Orten.80 In Garaicoas Arbeiten weiten sich die architektonischen Konstruktionen auch tatsächlich auf den „realen“ Raum aus, indem sie sich nicht mehr im Bildraum der Fotografie bewegen, sondern netzartig hervor- oder zurücktreten. Durch das Aufspannen eines Dazwischens und den Aspekt des Unfertigen der Gerüstkonstruktionen dienen sie den Betrachtenden weiter als „ImaginationsarsenaIe“81 im Sinne Foucaults.

Die Betrachtung der Werkserie im Verhältnis mit Foucaults Grundsätzen einer Heterotopie zeigt, dass die Arbeiten Bildräume eröffnen, die in sich heterotopisch sind und „[…] in der Lage, die Materialitäten des […] Raums [auf den sie sich beziehen] offen zu legen und sie mit neuen, zuvor imaginierten Eigenschaften zu besetzen.“82 Es ist also das Zusammenzutreffen des dokumentarischen Gestus in den Fotografien mit dem imaginativen Aspekt der Konstruktionszeichnungen, das die Heterotopie bedingt. Wobei die Bilder „[…] der Dokumentarfotografie […] einerseits den Mythos eines Wirklichkeitsversprechens reproduzieren, andererseits jedoch in spezifische Macht-Wissens-Quotienten eingebunden sind.“83 Hierauf verweist auch die Einbeziehung der Briefmarken in die Ausstellungspräsentationen, die als weiterer Anker zur Realität wie zum gesellschaftspolitischen Kontext dienen und den seriellen Aspekt nochmals betonen.

Als „[…] widerständische [Praxis] gegen dominierende Raumstrukturen […]“84 sind Heterotopien niemals ein reines Abkupfern von Realität, sondern stellen eine eigene Realität dar, eine Realität der Unruhe.85 Als widerständische Praxis ist dabei auch das physische Eingreifen in die Fotografien, also in den direkten Bezug zur Realität, und ihre daraus folgende Verfremdung durch die Konstruktionszeichnungen zu sehen. Als Unruhestiftende, sprechen die Einzelwerke der Serie in einem Wechselspiel von Vision und Wirklichkeit die gesellschaftspolitische Ordnung an. Der spezifische, gesellschaftspolitische Bezug geht dabei aus dem Zusammenkommen des Serientitels mit dem durchgängigen Sujet und dem Fokus auf die Plakatwände hervor. Genauer: Er ergibt sich aus der Forderung des Titels, auf politische Worthülsen Taten folgen zu lassen, in Kombination mit den Tragekonstruktionen, die ehemals einzig für den Zweck der Propaganda politischer Inhalte erbaut wurden und derzeit dem Verfall überlassen werden. Indem Garaicoa die Fotografien überarbeitet, transformiert er bereits – wie auch im Serientitel angedeutet. Der Brückenschlag erfolgt dabei nicht nur auf der Ebene der architektonischen Konstruktionen, sondern auch auf der Ebene der Sprache. Dies wird besonders deutlich in den beiden Einzelwerken, in die der Künstler Buchstaben oder Wörter eingearbeitet hat.

Die Gerüste als (ehemalige) Tragestrukturen für Propagandamaterial, als Träger politischer Ideologie, in Form der utopischen Ideale der Revolution, verweisen auf die Errichtung des sozialistischen Staates durch Fidel Castro sowie den heutigen Realsozialismus unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) als einziger Partei des Inselstaates. Die verfallenen Propagandatafeln verbildlichen ein Scheitern, Vergessen und Distanzieren von den früheren Werten und Ideen sowie der damit einhergehenden problematischen politischen wie wirtschaftlichen und städtebaulichen Lage Kubas. Dies gilt sowohl für das Land im Allgemeinen, wie auch für Havanna als Aufnahmeort der Fotografien, Landeshauptstadt und größter Stadt Kubas im Besonderen.

„In the visual arts, Carlos Garaicoa’s projections and manipulations of Havana’s buildings […] are impressive testimonies to the imagination and reconstruction of spaces in Havana.“86

Angesichts der disziplinierenden Architektur der Macht, hier in Form der Propagandatafeln, welche nach Castro Flórez die Bevölkerung, mittels einer Rhetorik über die „differenzielle Erfahrung“87, vereinheitlicht, vergegenständlicht Garaicoa einen anderen Entwurf des urbanen Raums, der den Raum des alltäglichen Lebens in Frage stellt.88

Ausgehend von den Leerstellen der nicht bespielten Werbetafelstrukturen, wie der unerfüllten politischen Versprechungen, schafft Garaicoa durch materielle, räumliche und zeitlich Schichtung Momente einer mehrdeutigen Spannung. Er macht die Abwesenheit von etwas deutlich, durch „[…] konkrete widerständische Strategien […], die in ihrer Negation des Bestehenden auf die utopische Leerstelle einer ‚besseren Zukunft‘ verweisen.“89 Im Gegensatz zu den alten Gerüsten, dienen die weitergebauten Strukturen nicht dazu, eine übliche Botschaft auf ihrer Schauseite zu tragen. Gleichzeitig unterstreichen sie gerade durch ihr Nicht-Zeigen die Absenz der früheren Botschaften und bringen die Ambivalenz von Zeigen und Nicht-Zeigen zum Ausdruck.90 Jedoch rückt der Künstler nicht nur Leerstellen ins Bewusstsein, sondern bietet mit den bruchstückhaften Konstruktionen und Zukunftsvisionen auch zu verwirklichende Lösungsansätze an. Diese bleiben aber Ansätze und sind nicht als fertige Gebäude über die alten Tafeln gebaut. Sie lassen im Rezeptionsprozess selbst als Leerstelle Raum für Reflexion, für neue Ideen und Ideale: Die Serie „[…] evokes both, the unfinished and that which has not yet been constructed.“91

Abb. 3: Carlos Garaicoa: Aus der Serie Para transformar la palabra política en hechos, finalmente II (III), 2009, Schwarz-Weiß-Fotografie mit lasergeschnittenem Drahtmodell auf Metall und Stuck, 81 x 120 cm, Besitzverhältnisse und Ort unbekannt. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Carlos Garaicoa: Orden Aparente, Santander (Fundaciön Botin) 2014, S. 1 52.

Garaicoas neue Konstruktionen greifen die bestehenden Strukturen – konkret wie metaphorisch – auf, führen sie weiter, lassen sie wachsen und integrieren sie in etwas Neues, mit einer fast denkmalpflegerischen Akribie. Doch die Tafeln werden durch die Weiterbearbeitung auch unbrauchbar gemacht, so sehr in die neuen Strukturen eingebettet, dass sie darin verschwinden und kaum mehr in ihrem ursprünglichen Zweck erkennbar sind (Abb. 3). Dadurch wird die Vergangenheit teilweise verdeckt und der Fokus auf die Zukunft gelegt. Die Tafeln dienen nun als Ausgangspunkt und Grundstein für eine heterotopische Parallelwelt, die jedoch einen dauerhaften Wandel im Realraum fordert.


Biografie

Hanna G. Diedrichs genannt Thormann

Hanna G. Diedrichs genannt Thormann studierte nach einer Ausbildung zur Fotografin Kunst- und Kulturwissenschaft in Tübingen und Zürich. Ihren Masterabschluss absolvierte sie mit Schwerpunkt „Museum und Sammlungen“ am kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. Derzeit arbeitet sie im Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern als wissenschaftliche Volontärin (bis Sept. 2021). Als Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin konzipiert Diedrichs g. Th. Ausstellungen und recherchiert im Bereich der Kunst und Fotografie von der Moderne bis zur Gegenwart. Zuletzt entwickelte sie mit der Kuratorinnen-Gruppe Kollektiv Kollektiv den partizipativen Ausstellungszyklus Communitas, in dem sie sich mit gemeinschaftlichen Ausstellungs- und Vermittlungsformen beschäftigte. Ausstellungen haben für Hanna Diedrichs g. Th. das Potenzial, Themen zur Diskussion zu stellen, auf gesellschaftspolitische Zustände aufmerksam zu machen, Wissen wie Erfahrungen zu generieren und neue Formate zu erproben.

Of Shapeshifters – Noah Merzbacher

Die noch unvollendete Arbeit mit dem Titel Of Shapeshifters, bestehend aus der gleichnamigen Kurzgeschichte sowie dem Video soft trails of anywhere. In der medienübergreifenden Arbeit versucht Noah Merzbacher ein Narrativ über das Finden von immateriellen Tierfiguren mit wahrnhemungsalternierenden Eigenschaften zu entwickeln. Merzbacher bedient sich dabei den Tiermodi der Bambi-Filme, um die Konzeption von Tier und Natur zu hinterfragen und eine textuelle Heterotopie zu entwickeln, die sich der unmöglichen Gleichzeitigkeit von Mythos und Realität annimmt.

Prelude 1

I was on a usual walk strolling through the city of Zurich, continuously re-establishing and following the elastic tracks that build my net of localities. The walks on these tracks became increasingly stiff and hard-edged, loosing all the wobbly gelatinous qualities of a sudden event in time to re-evaluate my ways of going forward.

It was mostly already scratched into the many surfaces; cement, glass, city textures. And yes the scratching of city textures definitely gave me comfort, but I didn’t really want to be damned for the coming strolls re-establishing the scratches and leaving something for the network connections of tomorrow me.

I felt an increasing dullness and withered-ness growing around the fading breath of the structures around me. At first, I found a rather strange tool, it hovered above me. A tool in its most metal state. I referred to it as memory-magnet. Attached around my waist, I increased the pleasure level to some extent. We went around and extracted the slightly eroded little pieces of memories and attachments formed around those localities of city textures. Quite a tiring thing to do the buildings, cars and blank spaces of possible inhabitation weren’t all that porous. It opened up quite an absorbed, vacuum space with the sucking and pulling motion of my magnet through the little holes the structures offered.

The magnet was quite stiff and awkward bumping against the textures we extracted the memory juice from. Some “things“ happened. But I think the need for sucking and slurping them out accelerated the process of eroding, becoming fragile pressed strings, in need of care and restoration. The animation of those brittle strings was short-lived and wasn’t properly merging with the surrounding textures that were already there. Their re-inhabitation potential was insufficient for the diluted thing I was.

Besides that, I really felt the way, the memory-magnet was accessing things, as an extractive tool, rather tiring. I wanted a poetry machine, not a vacuum space of playing with isolated piles of memory dust. A poetry machine that had the utopian premise of producing sparks out of nothing. Energetic fields of newness, a net of possibilities amplifying the unevenness of textures, rather than slurping them out.

But the memory-magnet has not been completely useless! The graceless way it moved somehow made a splinter of textured otherness enter my diluted body-space with a shooting star energy. 

I didn’t even notice it was so gelatinously soft and thin, warping around the bigger more deeply settled concepts. But then it grew to the size of a fragment, a fragment of solid feeling. And yes this solid little fragment, prismatic and shiny, made my shell of perception malleable! Sounds paradoxical but it isn’t. The impact the fragment had when entering my body-space, due to the inelegant moving of my memory magnet, let the spherical dome housing my precious embedments shiver and warp in true shooting star form. 

Abb. 1: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 2

I had not checked, with the rabbit feeling for multiple days, but once I came back I noticed the twofold growing of the feeling, the shard was like a little seed in a dome. I first examined the sharp and smooth side, a polished translucent mirroring structure, emanating a force of splitting. A deep vibratory energy-sucking influx in and pushing and cutting it towards parts of differentiation.

It forced a somewhat clear distinction between what was my in-being and the one of the rabbit. A temporary split of things, holding each side with different elevated plateaus and individual territorial realms that I could both feel through the deep embedded-ness of said shard. One was the feeling of fluffy, cute  and childish curiosity, a deep need for protection, a woven intertwined sphere of soft fur hopping around in peace. The other was the feeling of “being able to protect“, of looking for shelters, of shielding without own fears. I was mesmerized by the ability of said shard and carefully handled, weighed and placed the sides of the split until I was happy with the way it let me feel…

Then a few days after said happiness occurred, I looked at the other side of the evolved parts of said shard. Upon examining it closely, this other shard part felt like a twist. A twist slowly but steadily rupturing the building blocks of my dome. A twist full of potential, full of the potential to not un-see geometries to come. The leaked. Drops quickly seeped through. They soaked other parts of my dome, diluting the semi-dense grain that shards were embedded in. An opaque memory rippled, broken and cloudy in this newly formed soup. A memory with big eyes, a cute face, shape of a bloated rabbit with the heavy, dense aesthetics of an animated character. Through using the memory like a shard of feeling, the circular portal geometry allowed me to follow a track that had established itself. Its direction pointed me towards another embedded site, a plateau where further connections would appear. It was the land, where Bambi and its rabbit character Thumper have been. It wasn’t them. Not their movie selves anyway. Big googly eye geometry it was, only a part of it them floated here in my dome. A slimmed-down version, filter or texture-like and removed from its fast and vivid movie self. A shell it was, a little bit stiff I have to say, somewhat pinned in the middle with only the fringes floating. I made regular use of my porous little memory, pushing influx through its body to connect to the lands it was linked to. 

A ghostly inhabitation it was. It wasn’t quite my own and I felt the alienating residue of previous inhabitation breath within the shell’s inner side. A few days later I had discovered why once the track had expanded. In a past time, the voice actors and animators had filled the shell before me, my game of breathability and inhabitation wasn’t unparalleled and that came with quite a surprise. I regularly started to visit the place where they had been breathing through from another side. 

I never asked where it came from exactly or why it got stuck specifically to my being. I tried to accept it without asking questions. I tried to flow with the bumps I felt against my in-being and with that came the geometric unfolding of an invitation card, maybe carefully placed or clumsily lost.

Abb. 2: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 3

Traveling those lands was exhausting, the tracks behaved like shimmer on watery surfaces e-/re-/de-stablishing themselves quicker than you like them to. You cross quickly, with the hesitation of knowing that it could shatter any moment. But once the twist twists, simple swiping occurs and you find yourself on a land, at a place where textures aren’t quite your own and that’s worth something. I tried multiple times to pin down exactly how I got there, but the journey stayed inaccessible nonetheless. One particularly nice landing was a large plateau of “simple“ geometry. I call it meadow. It had the most “far away“ feel on my journey. 

It was beautiful walking through the silky and hollow wood biomes that unfolded, once my own presence on the plateau retextured and somewhat activated a precious geometry.  I didn’t know that I had wished to hop through the carpets of grass, silky smooth caressing blades forming pretty meadows, geometries of wholesomeness. Or bump against the hollow tree trunks and be the being that produces the cuts that made surroundings look layered, prop-like, produce the feeling of flattened swipe-ability and holistic geometries. The Dirt-less, Bruise-less biome was covered with a heavy layer of simple interconnection, carefully placed territorialized irregularity. I quite well knew the danger of such lands, which only pierce into very specific tiny holes, bloating them and letting them feel whole when they aren’t. The whole meadow was surrounded by high stiff invisible walls, mirror structures producing the feel of infinite wholesomeness. Something gave it away, I  wasn’t sure what it was but I knew that those walls were wobbly and thin and sometimes even translucent.

I could have only been infinitely happy in this land if I felt like that just for a short amount of time infinitely much was missing in others. The dangerous and seductive territorialization of this meadow made sure that it was comfortable enough to carry bruised beings and allow for easy dips into it. A place that pseudo securely holds you in loops of play and pleasure and slipping into those loops was easy.

Other beings had found and used this loop as well, it was overflowing with the presence of past inhabitation, of geometries right around the corner. I felt their trails of previous restructuring, sticking to the hollow blades of grass. I was at a right place, right meaning a dense network of connections leading to it, but it felt like it was the wrong time. A powerful force with a sunlight feel came hovering above it, pressing and splitting the facets of the biomes, grass blades and tree trumps alike, into nauseating hard-edged double-sworded worlds. I could not imagine an entity wanting to stay there for long, after-all the geometry of wholesomeness was now temporarily lost, only a fold keeping worlds together. This force stretched the space into a long trajectory, a powerful texturization, prismatically placing you either into a “seeing“ or a “being seen“ position. The meadow had become a crumbly plateau with the dense “stage-feel“ texturization pressing onto it. Any element (like movement, growth and feelings) was pinned down, only the fringes fuzzing rapidly. The crumble was only temporary a little sign of ache, but after it had adapted the meadow quickly developed a glazed and shiny surface sticking the cracks back together, while steaming particles of “deep envelopment in summery warmth“ were rising with the hiss of a machine. 

It was indeed very machinelike, feeling like a steam engine activated or fueled by the stage force producing and further elevating this plateau, pathetically trying to peel itself from its surroundings. The meadow had felt rather homogenous before, with the carefully placed irregularity of flowers, stones, grass blades and tree trumps withdrawing from immediate recognization as texture, but the glaze amplified this further visually reducing it to a shiny cluster. The stage-like force activated a geometric property of rejection and isolation that allowed for immediate recognization of something that was “other“, exposed as something less shiny. I wondered who would have wanted such a weirdly aestheticized and tasteless backdrop quality for their findings, spawning geometries of disgust on those who weren’t glazed. 

I did get something out of it though! The geometric property helped me find something which I hadn’t seen before. It was a little flat tissue, sticking to some blades of grass right where the meadow was ending, its edges were curling from the viscose shiny fluid that covered it. To examine the newly found thing I tried to come closer, a bit ashamed of my dependence on this force, even if it had become increasingly hard to move. It was a soft and furry tissue laying semi peacefully. I had the strong feeling that this wasn’t what I had learned to be a whole being. It maybe had been something bigger, something more complex but it was somehow violently detached it had cleverly slipped out of the thing that was now in front of me. I could not tell what it was but I knew that the stage force had played an active part in it.  If it was lucky it probably waited right behind the mirror structures for the stage force to diminish and if it wasn’t it probably evaporated among the particles of summery warmth. The past story of it was inaccessible those were only speculations and that was okay.

As I said the tissue was soft, furry and as I now saw extremely flexible. I call it synthetic rabbit tissue. Some of the synthetic hairs, detached from the tissue, stuck to the surrounding patches of grass. I thought of them as traces of past movement, maybe even proofs of an engagement with loops or ropes of escape. Maybe it had been hooping around the wholesome texture before or maybe it had been looking for other of its kind, even if I didn’t know yet what that kind was. 

What I saw was a vibratory pile of leftovers or residue with a flaky string of connection to somewhere other. Seeing a geometry that wasn’t constituted by a “perceived wholeness“ and that featured the ability to let loose was comforting. It had probably learned to physically de-/attach with astounding flexibility, forming invisible clouds of connections around the individual synthetic hairs. I felt that processes of shedding was an essential part of its geometric aestheticization/texturization. Amidst the meadow, this synthetic rabbit tissue emitted tranquility, a deeply embedded texture of transience. I carefully picked it up and wrapped it around my being,. It was slightly scratchy but after some adjustments, I found comfort in a soft skin geometry hugging me tightly. 

Abb. 3: Screenshot aus Noah Merzbacher: Soft Trails of Anywhere, Videoarbeit, 2020. Abbildungsnachweis: ©Noah Merzbacher.

Prelude 4

The meadow had faded. It hooked my shell into a field that was full of potential. I could not tell you if it placed itself right above or right under my skin, but I felt the slightly prismatic redirection of selfhood. It wasn’t aggressively penetrating my slightly hard structures, it rather added another note or tone.

I was hooked into synthetic rabbit tissue, a pressed two-dimensional layer of tender touchings on skin and shell of perception. While being fairly flat as an entity, the tissue had strong geometric properties that retextured my plateau into an elongated deepened geometry, allowing to make room for a bigger chamber of reflection.

When Influx was flowing in, it still bounced through my own structures but then quickly came to this chamber which I will call the chamber of synthetic rabbit realness and vibrated and echoed in multiple new ways. The chamber was full of fibers vibrating with the notions of anxiety, curiosity, animality, softness, fluffiness, shedding and furriness. And there were deeper slower tones vibrating as well: Most higher notes were enveloped in a beautiful vibration inducing a geometry of “bigger-than-oneself“ forests, a feeling of huge semi-transparent set-design structure filling the field of perception almost completely. Others shared feelings with a drive to look for geometries of shelter in every corner or hole and finding them in every place where slightly different texturization and geometries of potential wholesomeness crossed each other. 

The synthetic rabbit tissue realness was puncturing my structures (that had been there before my in-wrappings) with precisely atmospheric worlds giving me ease and comfort. I felt the tension that was pumped within my semi-elastic rubber structures and I felt the way in which the porous synthetic rabbit tissue was breathable enough to carry some it away. There was this beautiful balance between hooked-in-ness and breathability. 

The chamber’s geometry was deeply connected to the architecture of what I would have previously called anthropomorphization. I felt how this geometry was touching the outside net of an anthropomorphic conception of a rabbit in a sheer all-encompassing way. It wasn’t though, the geometry was probably not transcendental anthropomorphization but an individual timbre humming from an orchestra of anthropomorphization of multiplicities.

The mere drinking from a fountain or a casual stroll activated this strange poetry machine of the synthetic rabbit and texturizing fluids and floors alike. I thoroughly enjoyed sampling through those newly gained tonalities, that was like petting myself from the outside in. An amazing way of sticking to objects.


Biografie

Noah Merzbacher

Der gebürtige Züricher Noah Merzbacher ist Künstler, sowie Schreiber, Autor und Literat. Er studiert derzeit im Bachelor Kunst an der Goldsmiths Universität in London. Sein Schwerpunkt liegt auf der künstlerischen Wissensproduktion in engem Kontakt zu philosophischen Ansätzen wie den Auseinandersetzungen mit Ontologie und Phänomenologie und ihren Möglichkeiten produktive, poetische und sensible Wege in die Welt hineinzufinden und sie zu fassen. Seine künstlerischen Arbeiten sollen psycho-poetische Tools bilden anhand derer sich spielerische und spekulative Prozesse abzeichnen, die für einen sensiblen und reflektierten Umgang mit sowohl dem Bekannten als auch Unbekannten plädiert.

Maybe There Is Hope – Veronika Christine Dräxler

Ökosysteme wachsen langsam. Es kann Jahrhunderte dauern, bis sich eine ausgewogene in-sich-greifende Umwelt entwickelt hat, von der die Menschheit leben kann. Dieses langsame Wachstum wird in kapitalistischen und industrialisierten Gesellschaften noch nicht in den wirtschaftlichen Kreislauf eingerechnet. Wird die Natur sich selbst überlassen kann sie sich erholen und zeigt immer wieder überraschende Widerstandsfähigkeit, indem sie sich die undenkbarsten Orte wirtbar macht. Die Fotoserie Maybe There Is Hope (2020) zeigt Ausschnitte von stillgelegten Fahrzeugen, symbolisch für technisierte Mobilität und organische Materie, die sich diese zum Nährboden gemacht hat. Es eröffnet sich ein Dialog zwischen Be- und Entschleunigung, Vergänglichkeit und Wiedergeburt.

Abb. 1: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfoto auf Baryt (signiert auf
Rückseite), 70x56x3cm, m.R., Galerie der Künstler München.
Abb. 2: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 3: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 4: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.
Abb. 5: Veronika Dräxler, Maybe there is hope, 2020, Digitalfotoserie, Erstveröffentlichung auf
Frameless.

Biografie

Veronika Christine Dräxler

Veronika Christine Dräxler ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin, Autorin und Entwicklerin von Dialogräumen. Die Debütantin der GEDOK München (2019) und Gründerin von Selbstdarstellungssucht.de – einem Blog über zeitgenössische Kunst und digitale Identität, von der Bundesregierung als „Kultur- und Kreativpilot“ (2015) ausgezeichnet – sucht in ihrer künstlerischen Praxis nach Gleichgewichten organischer Systeme und hinterfragt die Auswirkungen der Digitalisierung auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, wie etwa die Aufmerksamkeit. Vorgefundene Elemente ihrer Recherchen arrangiert sie intermedial.

Next Level Heterotopie: Der digitale Raum als Landschaft – Sophie Innmann und Jennifer Krieger

Ein Gespräch zwischen Jennifer Krieger und Sophie Innmann, anlässlich ihrer aktuellen Ausstellung LANDSCAPES OF INTERNET im Kunsthaus L6 Freiburg.

Die Frage nach den Möglichkeiten, Potenzialen und Grenzen des Raumes stehen im Zentrum der Ausstellung LANDSCAPES OF INTERNET (2021).88 Ausgehend von den Beobachtungen zu derzeitigen Hypertopisierungseffekten der Digitalität, untersucht die Künstlerin Sophie Innmann virtuelle wie auch reale Räume im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten, Differenzen und deren Vereinbarkeit aus dem spezifischen Blickwinkel menschlicher Wahrnehmung. Auf vielschichtigen Ebenen hinterfragt Innmann Potenziale, aber auch Grenzen gesellschaftlich abgegrenzter Räume, insbesondere von Heterotopien wie dem musealen Ausstellungsraum. Damit knüpft sie unweigerlich an die in den 1960er Jahren von Michel Foucault geprägten Überlegungen zu Heterotopien – Gegen- oder Andersräume an, die an ein System von Öffnung und Schließung gebunden sind, was sie gleichzeitig abgrenzt und durchdringlich macht.92 Im Interview mit Jennifer Krieger, Kuratorin der Ausstellung, spricht sie über ihre Annäherung an den virtuellen Raum des Internets und den von ihr vorgeschlagenen Weg, diesen im musealen Raum erfahrbar zu machen.

Abb. 0: Sophie Innmann, Firewall, 2021, Projektion, Abdeckfolie, Installationsansicht, Foto: Marc Doradzillo.

Jennifer Krieger: In deiner aktuellen Ausstellung spielt die Auseinandersetzung mit dem Thema Raum eine bedeutende Rolle. Es geht um Fragen der Zugänglichkeit und Sichtbarmachung einer digitalen Welt, die kaum beschreibbar und schwer zu greifen ist. Wie würdest du deinen Ansatz beschreiben, dich diesem abstrakten Raum anzunähern und inwiefern setzt du dich mit dem Thema Raum in deiner künstlerischen Arbeit auseinander?

Sophie Innmann: Das Thema Raum beschäftigt mich schon seit langem, bis vor einigen Jahren waren das aber hauptsächlich analoge Räume. Seit 2018 hat der digitale Raum in meiner künstlerischen Praxis immer mehr an Bedeutung gewonnen, ich beschäftige mich viel mit den Folgen und Auswirkungen der zunehmenden Computerisierung auf unsere sozialen Strukturen, Lebensbedingungen und Umwelt. Während dieser intensiven Beschäftigung habe ich gemerkt, dass ich mir gar nichts unter dem digitalen Raum vorstellen kann. Der digitale „Raum“ ist schwer zu denken, nicht greifbar. Die Frage ist, ob man überhaupt von „dem“ einen digitalen Raum sprechen kann, oder ob man nicht eher von der Vorstellung einer digitalen Welt mit vielen verschiedenen Bedeutungsebenen und Schichten ausgehen muss. Seitdem treibt mich die Frage umher, wie diese Welt aussehen könnte. LANDSCAPES OF INTERNET ist ein Versuch, meine Vorstellung dieser abstrakten Welt mitsamt ihren weltlichen Verstrickungen darzustellen. Während Benjamin H. Bratton in The Stack – On Software and Sovereignty das Bild eines 6-stöckigen Stapels, bestehend aus Earth, Cloud, City, Address, Interface and User nutzt, um diese Verbindungen zu beschreiben, habe ich eine Planetenoberfläche mit eigener Atmosphäre gebaut, die sich über verschiedenste analoge Dinge dem Digitalen annähert.93 Aufgrund der Unvorstellbarkeit und fehlender Abbildungsrealitäten, versuchen die Menschen sich Dinge, die sie nicht verstehen über bereits Bekanntes zu erschließen. Einige dieser bekannten Elemente habe ich in meine Formensprache übersetzt und durch Licht und den „Sound of Internet“ ergänzt. Mit dem Öffnen der Tür zum Ausstellungsraum öffnet sich wirklich ein Tor zu einer anderen Welt.

So müssen die BesucherInnen z.B. erstmal die Firewall (Abb. 0) überwinden um in die Ausstellung zu gelangen. Dann passieren sie eine Schleuse aus zwei Spiegeln, die sich gegenüber stehen und dadurch alles ins Unendliche wiedergeben – eine Metapher für das 1000-fache gescannt werden, was am Ende doch zum Erhalt einer red flag führt, einer Markierung, die sagt: „Obacht, hier bitte nochmal genauer hinschauen!“. (Abb. 1)

Spiegel sind wirklich tolle Objekte, weil sie Räume öffnen, die nicht real vorhanden sind, genau wie das Internet. Foucault verortet die Spiegel als Zwischenort von Utopie und Heterotopie wenn er schreibt: „Der Spiegel ist nämlich eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich mich erblicken läßt, wo ich abwesend bin: Utopie des Spiegels. Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.“94

Abb. 1c: Sophie Innmann, verification – red flag by default, 2021, zwei Spiegel, Stoff, Kupferrohr, Installationsansicht, Foto: Marc Doradzillo.

JK: Die von dir zitierten Äußerungen von Foucault beschreiben den Spiegel als Medium des Vermittlers beziehungsweise als Erfahrung eines „Dazwischens“ sehr eindrücklich. In der Ausstellung gehst du dahingegen noch einen Schritt weiter, denn sind im Ausstellungsraum, wie du gesagt hast, zwei Spiegel gegenüber aufgestellt. Blickt man hinein, sieht man sich nicht nur selbst, sondern es entsteht ein Verdopplungseffekt, in dem das eigene Spiegelbild ins Unendliche potenziert wird. Ich denke hier verstärkst du die von Foucault beschriebene Wirkung um ein Vielfaches, denn steht man nicht nur sich selbst gegenüber – vielmehr entsteht eine unendliche Zahl an Personen, eine Menschenmenge, deren einzelne Mitglieder aus einem selbst bestehen. Fragen nach der eigenen Verortung oder eben der Ortlosigkeit muss man sich an dieser Stelle unweigerlich stellen. Die in der Installation unmittelbar in der Nähe des einen Spiegels von der Decke hängende rote Fahne schwebt dabei quasi wie ein bedrohliches Damoklesschwert über den Besuchenden.

Im digitalen Kontext sowie auch auf sozialen Plattformen wird die red flag als Warnung und Hinweis einer potenziellen Bedrohung verwendet. Innerhalb der Ausstellung überlässt du es in diesem Moment jedoch den Betrachtenden, sich freiwillig in diesen Gefahrenbereich zu begeben oder ihn wieder zu verlassen. Hier entscheidet jeder und jede für sich selbst, nicht das technische System – oder entspricht das nur einer scheinbaren Selbstbestimmtheit, die du den BesucherInnen ermöglichst? Diesen Aspekt würde ich an dieser Stelle gerne noch etwas vertiefen, denn diese vermeintliche Entscheidungsfreiheit und Zwanglosigkeit – sowohl von BesucherInnen der Ausstellung als auch von digitalen UserInnen – ist eine Perspektive mit der du dich äußerst kritisch auseinandersetzt, denn eigentlich dürfen wir oft ja nur hypothetisch entscheiden wohin es weiter geht oder ob wir Zugang zu bestimmten Räumen erhalten oder nicht.

SI: Es ist genauso, wie du es beschreibst. Die BesucherInnen der Ausstellung können selbst entscheiden, sind frei in ihrer Bewegung. Die generelle red flag ist aber eindeutig der Hinweis, dass es eben außerhalb dieses Ausstellungsraums – im realen virtuellen Raum sozusagen – anders ablaufen kann. Generell sollte man alles hinterfragen was einem online begegnet, denn „online sein“ ist mittlerweile gleichbedeutend mit „beeinflusst werden“. Noch dazu wird versucht uns glauben zu lassen, dass was wir im Internet sehen und tun selbstbestimmt sei, was aber leider nicht so ist; wir werden sozusagen festgekettet, Stichwort Meinungsblase.

Die Arbeit A users‘s life“ (Abb. 2) macht diesen Widerspruch deutlich, wir fühlen uns frei, surfen wohin wir wollen, fühlen uns gut geschützt mit unseren Aluhüten, dabei werden wir an die Wand gestellt, von oben bis unten durchleuchtet. Der content, den wir zu Gesicht bekommen, wird uns auf Basis unseres bisherigen Verhaltens serviert, feinst säuberlich ausgewählt von Algorithmen – deren Entscheidungskriterien natürlich hoch geheim sind. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Lektüre von Shoshana Zuboffs Zeitalter des Überwachungskapitalismus empfehlen.95 Sie beschreibt sehr schön die Generierung des sogenannten „Schattentextes“, also den Informationen, die jenseits unseres vordergründigen Internet-Gebrauchs extrahiert werden, z.B. aus Scrollverhalten, Verweildauern, Likes, etc.. Auch das ist ein Bereich, der sich unserer Zugänglichkeit entzieht, das exklusive Wissen, welches sich Google & Co aus unseren Verhaltensdaten zusammenstellen und welches im Zuge der Einverleibung von kleineren KonkurrentInnen auf eine unglaubliche Datenmenge angewachsen ist. Da hilft vorerst nur, selbst im Schatten zu bleiben und anonym unterwegs zu sein.

JK: Kannst du eine Veränderung beobachten, wie sich dein Verhältnis zum Thema Raum vor allem in den letzten Monaten verändert hat? Welches Potenzial bietet die Reflexion darüber? Als die Ausstellung in Planung war, hatte sich die ganze Welt in Isolation begeben, wir haben uns gefragt, was der (museale) Ausstellungsort überhaupt leisten kann und soll. Museen und Ausstellungsräume waren über einen langen Zeitraum geschlossen und ein persönlicher Besuch nicht möglich. Viele Projekte wurden in digitale Formate transferiert, also vom musealen in den privaten Raum übertragen.

SI: Eine Veränderung habe ich nicht bemerkt, aber ein intensiveres Nachdenken. Die Pandemie hat gezeigt, dass es eben nicht möglich ist, analoge Inhalte ins Digitale zu übertragen. Das erfordert schon eine ganz andere Auseinandersetzung um dort adäquate Möglichkeiten zu finden. Museale Ausstellungen daheim in den eigenen 4 Wänden erlebbar zu machen funktioniert einfach nicht, da hilft der beste Videorundgang nichts. Die mediale Filterwirkung ist zu groß. In meiner Arbeit hypertopia (Abb. 3) stelle ich genau diese bedingte Zugänglichkeit dar: Man sieht etwas und hat das Gefühl eine Erfahrung übermittelt zu bekommen. Letztendlich ist es aber doch nur das Abbild und nicht das Original, sogar die Realität wird in Frage gestellt. Das kann man sich wiederum zu Nutze machen, um in anderen Kontexten technische Möglichkeiten durch ganz simple Techniken an ihre Grenzen zu bringen: Bewegung, Licht und Schatten reichen manchmal schon aus, um Gesichtserkennung, Fokussierung und Tracking auszutricksen. Das thematisiere ich ebenso in der Arbeit camouflage (Abb.4), welche die unangekündigten Gesichtserkennungspraktiken der Videocall-Apps anprangert.

Abb. 3: Sophie Innmann, hypertopia, 2021, zwei Projektionen, Glas, Installationsansicht, Foto: Sophie Innmann.
Abb. 4: Sophie Innmann, camouflage, 2021, videocall-stills auf Aludibond, Foto: Sophie Innmann.

JK: Die technischen Mechanismen schaltest du in diesem Fall geschickt aus und kannst vor Augen führen, mit welchen einfachen Mitteln es dir gelingt, auf fast schon poetische Weise die sonst leichtfertig hinterlassenen Spuren persönlicher Identität zu verwischen. Doch gerade bei der angesprochenen Arbeit hypertopia werden nicht nur die Grenzen und Beschränkungen aufgezeigt, sondern entstehen im Gegenteil sogar neue Ebenen: Durch die doppelte Projektion an die beiden Glasscheiben der Installation erscheint von einem bestimmten Blickwinkel die optische Illusion einer dritten Projektionsfläche, die ein gewisses Staunen hervorruft, weil dieser unerwartete Effekt sich zunächst nur schwer greifen lässt. Wider Erwarten eröffnet sich ein weiterer Raum. Ist dieses plötzliche Auftauchen von unbekannten und fremden Räumen nicht auch als eine Chance und Möglichkeit zur Erweiterung von bisherigen Erfahrungsräumen zu betrachten?

SI: Auf jeden Fall! Das Entstehen dieser 3. Ebene, die nicht verortbar ist, genauso wie das Entstehen eines projektionslosen, aber transmittierenden Zwischenraums kann ganz klar als Metapher dafür angesehen werden, genauso aber als Warnung, dass vordergründig eben nicht alles ersichtlich ist. Auch toll finde ich die Verbildlichung, dass als ultima ratio immer noch der Stecker gezogen werden kann und alles ist weg. Im kleinen eine ganz hübsche Flucht, weltweit gesehen ein spannendes Experiment. Irgendwer hat mal die Frage gestellt: “Is there a trashbin big enough to delete it all?” Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, wer dieser schlaue Mensch war…

JK: Internet als Raum hat vor allem während der Pandemie ein Tor zur Welt offen gehalten – jedoch uns auch die Grenzen digitaler Formate aufgezeigt. Was ist das Besondere am digitalen Raum Internet?

SI: Ja, da stimmt, das Schlimme ist aber, wie das passiert. Der Kampf um die Monopolisierung als Endziel des Kapitalismus ist in vollem Gange und hat durch die Pandemie eine derartige Beschleunigung erfahren, dass mir ganz schlecht wird. Das Problem ist, dass die Weltbevölkerung in diesem Bereich zu wenig Bildung, Information und Wissen hat. Wir haben allerdings Rechte. Und diese Rechte müssen wir verteidigen, dazu muss man in einem ersten Schritt Bewusstsein schaffen, um erkennen zu können, wann und wie diese Rechte übergangen werden. Wenn z.B face-warp-Apps die gesammelten Gesichtserkennungsdaten ihrer NutzerInnen, die das alles als witziges Spiel betrachten, unbegrenzt an unbekannte Dritte weiterverkaufen, die dann daraus ihre Produkte entwickeln. Wüssten die NutzerInnen dieser Spaß-Apps, dass sie somit auch Regierungen helfen, indem diese mit den erkauften Daten die Gesichtserkennung ihrer militärischen Drohnen verbessern können, würden sie diese Apps sicher schnell löschen.

In einem zweiten Schritt müssen dann Strategien gegen die ausbeuterischen Taktiken von Großkonzernen entwickelt werden. Und zwar aus der Bevölkerung heraus, denn würden, um beim Beispiel der face-warp-Apps zu bleiben, diese einfach verboten werden, wäre der Aufschrei in der Bevölkerung verständlicherweise groß. Das Umdenken muss schon von den Menschen selbst kommen. Im dritten Schritt ist die Vermittlung von technischem Know-How von unwahrscheinlich wichtiger Bedeutung, damit sich die Menschen selbst Alternativen programmieren können, oder um bereits bestehende Angebote zu modifizieren.

Es kann nicht sein, dass momentan eine use-it-or-lose-it-Haltung gilt: Möchte man etwas nutzen, kann man den Nutzungsbedingungen zustimmen, oder es komplett lassen. Dann kann man eben die Dienste nicht mehr nutzen. Der Philosoph Prof. Markus Gabriel stellte sogar die Forderung, dass „die sozialen Netzwerke, auch unsere Suchmaschinen, Google und Co., uns einen Mindestlohn für die Benutzung zahlen [müssten]“, für die Gewinne die sie aus unserem Verhalten ziehen, die sie dann nicht einmal in dem Land versteuern, in dem sie generiert werden.96 Es muss ein Umdenken in der Bevölkerung stattfinden, denn solange die Praktiken der Unternehmen aus dem Silicon Valley (wahlweise auch aus der VR China) nicht als Bedrohung, sondern als angenehmes Gimmick zur Erleichterung des Lebens angesehen werden, wird sich nicht viel ändern. Es sollte aber doch zu denken geben, wenn Google Chefs es für erstrebenswert halten, dass menschliches Leben keine Privatsphäre besitzen sollte.

JK: Um daran anzuknüpfen ist es denke ich notwendig nochmals darüber zu reflektieren wie Raum definiert werden kann. Das fällt gar nicht so leicht. Im Falle des privaten Raumes geht es sicherlich darum, das individuelle Verhältnis zu den eigenen Grenzen auszuloten. Die Fragen, die sich daran anschließen lauten: Sind Räume in sich abgeschlossene Systeme? Wie kann man sich Zugang verschaffen? Wer bestimmt darüber?

SI: Genau das sind die Verhandlungen, die es jetzt gilt zu führen! Diese Grenzen müssen abgesteckt werden, z.B. dass man sagen kann: „Bis hier und nicht weiter“. Letztendlich hat das wieder etwas mit Machtstrukturen und Abhängigkeiten zu tun. Im ganzen Spektrum von völlig offenen bis hermetisch abgeriegelten Räumen geht es um die Fragen von Kosten und Nutzen, wer kann etwas aus dem im Raum Befindlichen herausziehen? Wer steckt hinter der Organisation des Raums? Wer ermöglicht wem den Zugang und wer kann neue Räume schaffen?

JK: Es ist ein spannender Ansatz, sich diesen Fragen auf künstlerische Weise in einer Ausstellung anzunähern. In LANDSCAPES OF INTERNET vermittelst du eine Vorstellung deiner eigenen Interpretation der Heterotopie des digitalen Raums und schaffst dabei eine sehr spezifische Stimmung. Die Raumerfahrung ist eine ganzheitliche, in der visuelle Eindrücke dominieren, aber es gibt auch einen atmosphärischen, einnehmenden Sound, den du eigens in Zusammenarbeit mit Vincent Wikström für die Ausstellung konzipiert hast.

SI: Ich glaube, dass wir völlig falsche Vorstellungen vom Internet (vermittelt bekommen) haben. Das Bild einer Wolke, welches gerne von großen Konzernen bemüht wird, ist einfach ein Witz! Es ist ja immer eine weiße Schäfchenwolke, federleicht, flauschig und unbedrohlich und nicht eine riesige, schreckliche Gewitterwolke, die Blitz und Donner, Unwetter und Zerstörung bringen und alles in Flammen, Schutt und Asche hinterlassen wird. Deswegen wollte ich eine Grundstimmung schaffen, die eine gewisse Unsicherheit und Alarmbereitschaft vermittelt. Wie gesagt, wir bewegen uns viel zu unachtsam und sorglos durch das menschengemachte Konstrukt Internet. Wir müssen mehr Wissen und Bewusstsein schaffen und unser eigenes Verhalten reflektieren, nicht nur im Bereich der eigenen Sicherheit, sondern vor allem auch im Hinblick auf Zusammenleben im sozialen und ökologischen Bereich.

Die Arbeit Netflix und Chill greift diese Unbedarftheit auf (Abb. 5). Wir streamen eben mal ein paar Folgen, gönnen uns was, entspannen und tragen dabei erheblich zur Zerstörung der Natur bei. Das Internet hat den Flugverkehr als Klimakiller Nummer 1 schon eingeholt und es ist kein Ende des Wachstums in Sicht. Die Verbindung von etwas Abstraktem mit etwas ganz Konkretem ist immer schwierig und die Auswirkungen von vielen kleinen Dingen in Summe auf das große Ganze sind nicht leicht zu erkennen. Beim barrierefreien, leichten und kostenfreien Zugang in die Schäfchenwolke scheint diese Verbindung für viele besonders schwer zu ziehen zu sein. Wir sehen die riesigen Serverfarmen und Unterseekabel ja nicht, wenn wir unser Smartphone in die Finger nehmen, die Infrastruktur verbirgt sich und wenn wir sie sehen, sehen wir Industrie und nicht „das Internet“!

JK: Die Betrachtenden bewegen sich durch die von dir gestaltete Landschaft. Können sie sich frei orientieren oder werden sie von dir geleitet?

SI: Generell kann sich jede Person in meiner Ausstellung natürlich frei bewegen, die Zugänglichkeit des Ausstellungsraums ermöglicht aber nur einen Laufweg. An diesem habe ich mich orientiert und im inhaltlichen Sinn der Arbeiten eine Struktur aufgebaut, die sich den verschiedenen Bereichen annimmt. Das Licht, der Sound, der Wind und der Duft der verkohlten Holzstämme sind dabei als allumfassende, raumbestimmende Atmosphäre prägend. Meine Freundin und Künstlerkollegin Lynne Kouassi hat ihren Raumeindruck ganz treffend als eine „Mischung aus Technologie und Urkräften“ beschrieben. Nimmt man noch die unterschwellig wahrgenommenen Tiefen des „Sound of Internet“ hinzu, rundet sich das Erlebte zu einer alle Sinne umfassenden Erfahrung, was wiederum nur im analogen Raum möglich ist und das Digitale (noch) nicht bieten kann.


Biografie

Sophie Innmann

Sophie Innmann schloss 2014 ihr Studium der Malerei an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe als Meisterschülerin bei Prof. Leni Hoffmann ab. Ihre Arbeiten wurden mehrfach im In- und Ausland ausgestellt, so unter anderem im Kunstmuseum Stuttgart (2020), dem Moscow Museum for Modern Art (2018), der Galerie Stadt Sindelfingen (2017) oder dem Regis Center for Art, Minneapolis (2016). Die multimedial arbeitende Künstlerin bewegt sich im öffentlichen und halböffentlichen Raum und setzt mit partizipativen und ortsspezifischen Arbeiten an Situationen an, die menschliches Handeln und dessen Spuren untersuchen oder es selbst herausfordern.

Jennifer Krieger

Jennifer Krieger studierte Literatur-, Kunst-, und Medienwissenschaften in Konstanz und Kunstgeschichte in Freiburg. Kuratorische Erfahrungen sammelte sie unter anderem an der Kunststiftung Baden-Württemberg in Stuttgart, am Pinksummer Contemporary Art in Genua, Italien und am Kunstverein Freiburg. Als freie Kuratorin arbeitete sie für das Centre Culturel, das T66 Kulturwerk und das Kunsthaus L6 in Freiburg. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg, wo sie auch promoviert. In ihrem Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit Affekten des Staunens und Wundern.

DOCUMENTA FIFTEEN ALS KOLLEKTIVE HETEROTOPIE? Zur Raumpraxis von ruangrupa zwischen Jakarta und Kassel. – Claudia König

Artist-Run-Spaces als verortete Utopien von Kunst und Gesellschaft sind keine Neuheit. Deren rasante Multiplikation kann jedoch als globales Phänomen eingeordnet werden, das seit den 1990er-Jahren einen immensen Zuwachs erfuhr. Im Besonderen spielen selbstorganisierte Kunstinitiativen in Südostasien eine tragende Rolle die abwesende staatliche Kunstinfrastruktur auszugleichen.97 Tony Godfrey beginnt 2010 seinen Beitrag zur Ausstellung Contemporaneity. Contemporary Art in Indonesia mit einer Reflektion darüber warum die indonesische Kunstszene im europäischen Kunstdiskurs kaum sichtbar ist und mit der daraus resultierenden Frage, warum der Rest der Welt mehr über indonesische Kunst wissen sollte.98 In derselben Publikation identifiziert Nuraini Juliastuti alternative Kunsträume in Indonesien als eine neue Kulturbewegung99, wohl kaum ahnend, dass ein Jahrzehnt später eines dieser zahlreichen Künstler:innenkollektive die kuratorische Leitung der documenta fifteen übernehmen wird.

Zwischen spatial und collaborative turn wird die documenta fifteen in diesem Essay als Dreh- und Angelpunkt einer (Neu)-Betrachtung von Gegenräumen mit kollektivem Handlungspotenzial betrachtet. Mit der Berufung des in Jakarta basierten Künstler:innenkollektivs ruangrupa100 die nächste documenta-Ausgabe zu kuratieren und durch ihr Bestreben mittels des experimentellen Ansatzes Lumbung & Korperasi das Biennale-Format neu zu denken, stellen sich folgende Fragen:  Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kunstbiennalen und Kunsträumen und können diese Phänomene als Heterotopien der Gegenwartskunst betrachtet werden? Und welche Rolle spielen Künstler:innenkollektive in der Entwicklung dieser Gegen-Räume und der Fabrikation neuer Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Kunstdiskursen? Ziel ist es in diesem Essay von der Gründung ruangrupas 1998 bis hin zur documenta fifteen ihren kollektiven Praktiken mittels raumtheoretischer Überlegungen  nachzuspüren. Als Seismograph wird die documenta daher zur kollektiven Heterotopie, einer Praxis des Teilens von Zeit, Raum, Wissens oder Fürsorge im globalen Kontext mit lokaler Verankerung – so die Vision (Abb. 1–3).

Abb. 1: ruangrupa, Space Drawing, Iswanto Hartono, 2020.
Abb. 2: ruangrupa, Lumbung Zeichnung, Iswanto Hartono, 2020.
Abb. 3: Wahrzeichen: Reisspeicher. Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt. Foto: Martin Claßen und Arno Jansen, Köln. Die oft dreiteilige Struktur eines Reisspeichers in Indonesien (Lumbung) basiert auf kosmologischen Vorstellungen, hortet im oberen Dachbereich als Sitz der Göttin Dewi Sri den Reis und bietet im mittleren schattigen Bereich Raum für soziale Interaktion.

1. Ruangrupa und indonesische Kunsträume. Der Beginn einer kollektiven Raumpraxis

Oftmals initiiert von Künstler:innenkollektiven formierten sich alternative Kunsträume über den gesamten indonesischen Archipel nach dem Fall Suhartos und dem Ende des 32-Jährigen repressiven Regimes. Die Neue Ordnung (Ordre Baru) – und damit einhergehend eine von Militarismus und Staatskontrolle geprägte Zeit, in welcher kollektive Ansammlungen untersagt waren – wurde von demokratischen Neuerungen abgelöst. Sich im Untergrund anbahnende Jugendbewegungen brachen ab 1998 lautstark hervor und studentische Kunsträume formierten sich vor allem in Jakarta, Bandung und Yogyakarta – es war Zeit für neue Räume des Denkens und Experimentierens. Diese verorteten Utopien101 oder auch Fixer102, wie Ade Darmawan103 es beschreibt, boten eine Alternative104 zur Nicht-Existenz einer institutionellen Kunstinfrastruktur.105

Auch ruangrupas Anfänge sind eng verwoben mit der Schaffung von verräumlichten Utopien als kreativer Akt und dem Bewusstsein darüber, dass der öffentliche Raum einem ständigen Bedeutungswandel unterliegt (Abb. 1). Wie bei den meisten indonesischen Künstler:innenkollektiven beginnt ruangrupas Raumpraxis mit dem gemeinsamen Mieten eines profanen Wohnhauses (Abb. 4).106 Raumumwandlungen standen an der Tagesordnung und spiegeln das Verschwimmen der Grenzen und das informelle Setting von Artist-Run-Spaces mit Open-Access Philosophie wider. So wurde beispielsweise das Schlafzimmer in ein Künstlerstudio umfunktioniert oder die Toiletten als Ausstellungsraum genutzt – der wichtigste Raum war jedoch das Wohnzimmer als Ort der Zusammengehörigkeit (Abb. 5).107 Interpersonelle Beziehungsgeflechte und netzwerkartige Zusammenschlüsse zwischen Künstler:innen und  Kulturakteur:innen führen zu vielfältigen partizipativen (Kunst-)Formaten. Dieses Verschwimmen von Sphären wie privat/öffentlich oder individuell/kollektiv ermöglicht es in unkonventioneller Weise neue Kunstformate auszuprobieren.108 Ruangrupa ist zudem im Sinne Henri Lefebvres109 untrennbar mit der multiethnischen und multireligiösen Lebensrealität Jakartas verbunden und schöpft aus dem urbanen Umfeld, in welchem das Chaos zum Katalysator wird, wie Ade Darmawan das Verhältnis zur Megastadt beschreibt: „Our artistic approach — and the artistic role we take — will only grow well relevant to the messy, sweaty and untidy space of Jakarta.“110

Abb. 4: In den frühen Jahren bewohnte ruangrupa mehrere Wohnhäuser (kontrakan), wie beispielsweise dieses Einfamilienhaus in Südjakarta. Das täglich zugängliche Wohnzimmer war zugleich Treffpunkt, Partyzone und Laboratorium für neue experimentelle Kunstpraktiken. Foto: ruangrupa, 2001.
Abb. 5: Tebet Timur. Ein Zimmer konnte in andere Räumlichkeiten umgewandelt werden, oder auch gleichzeitig mehrere Orte, wie beispielsweise Arbeitsort, Gemeinschaftsraum, Schlafplatz und/oder Studio in sich vereinen, wie dieses Foto zeigt. Im Hintergrund befindet sich eine Stadtkarte Jakartas, die auf ruangrupas enge Verbindung mit der Millionenstadt und deren urbane Identität als künstlerische DNA verweist. Foto: ruangrupa.

2. Ruangrupa. Ruruhuis. Ruruhaus. Vom Haus zu Häusern – vom Kollektiv zu Kollektiven

Auch das kuratorische Konzept Lumbung & Korperasi für die documenta fifteen basiert auf einer in Jakarta bereits umgesetzten Strategie eines gemeinschaftlichen Ökosystems der Kunst, das auf neuen Kollektivismus abzielt. In reinaart vanhoes Monographie zu indonesischen Kunstinitiativen kündigt sich der transformative Übergang von ruangrupa als studentische Graswurzelbewegung hin zu einer Einbettung in ein größer angelegtes Kunstökosystem auf regionaler und transnationaler Ebene an.111 Der Zusammenschluss mit weiteren lokalen Kollektiven und deren Gemeinschaftsinitiative der experimentellen Lernplattform GUDKSUL112 (Abb. 6) erforderte mehr Raum und mündete im Bespielen des Gudang Sarinah Lagerhauses, das mit zwei langgezogenen Flachdachhallen einen Kontrast zur vertikalen Architektur der modernen Großstadt bildet (Abb. 7).

Abb. 6: GUD # Ruangan Gudskul, Südjakarta. Die umgenutzte Industrieanlage Gudang Sarinah bietet heute ein Dach für den Zusammenschluss der Kollektive ruangrupa, Serrum und Grafis Huru Hara sowie deren aktuelle Projekte. Sitzmöglichkeiten an jeder Ecke bilden das Herzstück der Gudskul-Plattform: Kollektives Lernen. Foto: Gudskul/Jin Panji, 2019.
Abb. 7: The Kuda, Tumpah Ruah, Gudang Sarinah, Südjakarta. Musik spielt eine wesentliche Rolle für ruangrupa als Organisator:innen von Musikevents sowie ihrer Ausstellungspraxis. Während der 7. Asia Pacific Triennial (2012–2013) ließ das Künstler:innenkollektiv Fiktion und Realität verschwimmen indem sie eine Ausstellung rund um die semifiktionale Band The Kuda entwarf und deren Bandgeschichte mit der Suharto-Ära verwob und so zeitliche und räumliche Grenzen ad absurdum führte. Foto: Gudskul/Jin Panji, 2017.

Zur selben Zeit fand 2015 auch erstmals die Jakarta Biennale113 in dem im Süden der Mega-City gelegenen Gebäude114 statt. Trotz eines unabhängigen Kurator:innenteams115 spielte ruangrupas Praxis, die Stadt und lokale Communities miteinzubeziehen, eine zentrale Rolle spielte. Während ruangrupas strategische Positionierung in der lokalen Kunstszene neben Kooperationen mit weiteren Kollektiven, mittlerweile auch die Zusammenarbeit mit institutionellen Partner:innen, diverse Geschäftsmodelle miteinschließt, und darüber hinaus längst in der internationalen Kunstwelt Fuß gefasst hat, ist die Notwendigkeit für Raum bis heute Triebfeder ihrer künstlerischen Praxis. Als Hybridwesen zwischen rebellischer Gründungsidee und javanischer rukun-Philosophie harmonischer Beziehungen und Konfliktvermeidung, stellt sich die Frage, ob das Modell ruangrupas inzwischen als System kultureller Kreativindustrie116 im Sinne einer neoliberalistischen Mischökonomie zu denken ist, oder als kollektive Heterotopie das Potential hat alternative ökonomische, künstlerische und soziale Modelle zu etablieren?

Die Idee eines Kollektivs der Kollektive soll auch Kassel sowie das ruangrupa-Netzwerk über die hundert Tage der Weltkunstausstellung hinaus prägen und richtet unser Augenmerk auf weniger sichtbare Kunsträume abseits des Biennale-Booms. Anstatt eines übergeordneten kuratorischen Narrativs soll mithilfe des indonesischen Lumbung-Systems117, das heißt der Einbindung von vierzehn Kunstinitiativen weltweit118, das multiple Organisator:innenteam in Kassel eine transkulturelle Eigendynamik entfalten. Lumbung bedeutet Reisscheune, dient als kollektiver Pot der Ernte im indonesischen Kontext und symbolisiert für ruangrupa eine experimentelle Methode nachhaltige Kunstinfrastrukturen zu schaffen. Neben der metaphorischen Nutzung spiegelt der architektonische Bezug der Reisscheune als soziale Struktur für ruangrupa eine tragende Rolle. Denn Ausgangspunkt ist immer der Raum als Ort der Begegnung, des Austausches und Denkens: In Jakarta oder Kassel.

Nach etlichen Einladungen internationaler Biennalen119 Räume als Künstler:innenkollektiv zu bespielen und ihren Bezug zu Jakarta miteinzubeziehen120, agierte ruangrupa erstmals im internationalen Kontext als kuratorische Leitung im Rahmen von SONSBEEK’ 2016 – dem Ausstellungsformat für Skulptur im öffentlichen Raum in den Niederlanden, das ähnlich wie die documenta die Wunden des zweiten Weltkrieges heilen sollte. Mit dem Titel transACTION zielte ruangrupa auf in sich verwobene kulturelle, soziale und räumliche Austauschprozesse im Dazwischen ab – ob in der im Park angelegten Holzwerkstatt, der multi-kulturellen Bäckerei oder dem aus Jakarta nach Arnheim transferierten Spielplatzes. Anstatt einer Ästhetisierung des Skulpturalen wurde die Nutzung des Raumes vorangestellt. Mit dem ruruHuis (Abb. 9) in Arnheim sollte die Reise bereits ein Jahr vor Ausstellungsbeginn seinen Lauf nehmen. Als Ort der Begegnung von Künstler:innen sowie der lokalen Bevölkerung steht das ruruHuis nicht nur für die zentrale kuratorische Strategie, sondern verweist auch auf die Wurzeln des Kollektivs, als ein für alle zugängliches Wohnzimmer im Post-Suharto Jakarta der 2000er-Jahre. Inwieweit konnte das indonesisch-familiäre Haus-Modell jedoch an Arnheims sozio-kultureller Realität anknüpfen? Rakun erwähnt im Gespräch mit Charles Esche, dass mit Anwesenheit des Künstler:innenkollektivs im ruruHuis kollektive Prozesse in Gang gesetzt werden konnten, diese jedoch stockten sobald ruangrupa nicht physisch präsent war – denn zielloses Beisammensein wurde oft mit Verlust von Zeit und Kapital verknüpft, wodurch das Jakarta-Modell sich nicht vollends entfalten konnte.121

In Kassel ist bereits das ehemalige Kaufhaus Sportarena als Basisstation für die kommende documenta umfunktioniert worden (Abb. 10). Während das ruruHuis mit heimeliger Atmosphäre in Arnheim eher unbemerkt und langsam zum Treffpunkt wurde, befindet sich der mehrstöckige Nachkriegsbau zwar prominent in der Kasseler Innenstadt, der einladende rund um die Uhr zugängliche Wohnzimmercharakter scheint jedoch der Bewältigung von Massen gewichen zu sein. Ob ruruHuis oder ruruHaus– transloziert finden sich wiederkehrende Elemente wie partizipative Stadtkarten, interaktive Flipcharts, oder Sticker, die bewusst Raum für Gestaltung durch kollaborative Praxis zulassen.Denn im Mittelpunkt der ruruHäuser als Keimzelle steht die in Indonesien praktizierte nongkrong-Praxis – das unverbindliche Zusammensein und die sich daraus entwickelnde kollektive Intelligenz.122

Abb. 8: Gudang Sarinah, Südjakarta, Foto: Gudskul/Jin Panji.
Abb. 9: RuruHuis ist eine Wortkreation, die sich aus der Kurzform für ruangrupa (ruru) und der niederländischen Bezeichnung für Haus zusammensetzt und so die räumliche Komponente hervorhebt, die bereits für den eigenen Namen des Kollektivs ausschlaggebend war. Denn ruang bedeutet Raum und rupa meint das Visuelle, die Erscheinung oder Form. Foto: ruangrupa, 2016.
Abb. 10: documenta fifteen, ruruHaus, Foto: Nicolas Wefers, 2020.

3. Von Nongrkong zu Nongol. Zur Entstehung neuer Orte zwischen lokalen Kollektiven und globalen Kunstbiennalen

Nongkrong bedeutet mit Freunden in ungezwungener Art und Weise Zeit zu verbringen, sich in Gesprächen zu verlieren und ohne zeitliches Limit oder vorgegebenes Endprodukt das physische Miteinander im Hier und Jetzt in den Mittelpunkt zu rücken und ist Teil der kuratorischen Strategie ruangrupas. Denn erst durch nongkrong entsteht in Indonesien Kollektivität in Räumen.123 Angesichts der pandemischen Herausforderungen stellt sich nun die Frage wie ruangrupas kollaborative Prozesse in einer neuen Realität sozialer Distanzierung ihre eigentliche Dynamik überhaupt entfalten können?

Das Kollektiv reagierte mit hybriden Formaten, wie beispielsweise dem Bespielen der Fensterauslagen des ruruHauses in Kassel mit Medienkunst oder der Fabrikation von Masken in der Gudang Sarinah Lagerhalle in Jakarta. Darüber hinaus bilden Videokonferenzen auch für ruangrupa Alternativen zu kuratorischen Treffen mit den anderen weltweit verstreuten Kunstplattformen.124 Gespräche zur documenta sind für die Öffentlichkeit online abrufbar – die nongkrong-Praxis wurde zum virtuellen nongOl-Raum (kurz für nongkrong online) umfunktioniert. Die Taktik der Anpassung an neue Umstände ist für ruangrupa nicht neu und erinnert an flexible Raumumwandlungen zu Beginn ihrer Praxis. Zwischen Jakarta und Kassel bespielt das Künstler:innenkollektiv unzählige Kanäle, Soziale Medien, experimentiert mit den beschränkten Möglichkeiten der rechteckigen Zoom-Architektur125 und erschafft so neue Räume des Narrativen.126 Das Nebeneinander von zeitlichen, räumlichen und sozialen Räumen wird besonders dadurch deutlich, dass ruangrupa parallel zur documenta fifteen-Planung weiter Programme für Jakarta entwirft. Die Möglichkeit an mehreren Orten gleichzeitig zu sein scheint so auch die Bestrebung zu erleichtern nicht die lokalen Verpflichtungen aus den Augen zu verlieren.127

Während die Kunstmuseen mittlerweile aus dem Koma erwacht sind und mit Hybridformaten auf die Krise reagieren, steht das vom globalen Publikum abhängige Biennale-Format vor seiner Neuerfindung.  Kunsträume als zum Biennale-Boom der 1990er-Jahre parallel verlaufendes Phänomen agierten zwar im Hinblick auf Kunstmegaevents im Hintergrund – die Biennalen selbst boten den Kunsträumen allerdings Möglichkeiten der Vernetzung untereinander; vor allem auch innerhalb des südostasiatischen Kontexts. So war ruangrupa seit Beginn Teil eines transnationalen Netzwerkwerks128, ist mittlerweile erprobter Player auf globalem Terrain und gleichzeitig tief verwurzelt mit Jakartas sozialer Realität. Vor dem Hintergrund der Neuformierung der Kunstwelt sowie Kunstinfrastruktur scheint ruangrupa als Kollektiv, das gekonnt zwischen globalen und lokalen Räumen oszilliert, für die besonderen Herausforderungen der kommenden documenta gewappnet zu sein. Es wird sich zeigen, ob mit dem transkulturell ausgerichteten Vorhaben –bestehend aus multiplen Lokalitäten weltweit —die documenta selbst zur Ressource der Lumbung-Praxis wird oder ob partizipative Kunstpraktiken als Spielball des Spektakels und zur Erschließung neuer Zielgruppen129 die Intention eines kollektiven Sammelsystems überlagern.

Abb. 11: Dieses Foto zeigt kurz nach der Gründung von ruangrupa eine typische nongkrong-Situation. Das auf den ersten Blick unproduktive Zusammensein entfaltet oftmals gerade in seiner Zweckfreiheit immenses kreatives Potential, weshalb für viele indonesische Künstler:innenkollektive nongkrong auch eine künstlerische Strategie dargestellt. Foto: ruangrupa, 2001.
Abb. 12: ruangrupa, online assembly, 2020.
Abb. 13: Wie nongkrong im Indonesischen im Online-Raum als nongOl weiterpraktiziert wird, zeigt dieser Ausschnitt einer Videokonferenz mit Lifepatch, einem Künstler:innenkollektiv aus Yogyakarta. Während ruangrupa im documenta-Kontext den Blick auf kleinere Kunsträume lenkt, regt das Kollektiv innerhalb Indonesiens dazu an sich mit den zahlreichen Künstler:innenkollektiven außerhalb von Java auseinanderzusetzen. Foto: FIXER/ruangrupa, 2020.

Abb. 14, 15: Produktion von Mundschutzmasken und Schutzanzügen in Südjakarta zu Beginn der Corona-Pandemie, Gudang Sarinah, Foto: Gudskul/Jin Panji, 2020.

Alle Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung vom Künstler:innenkollektiv ruangrupa, der Presseabteilung der documenta fifteen, sowie dem Rautenstrauch-Joest-Museum zur Verfügung gestellt.


Biografie

Claudia König

Claudia König studierte Kunstgeschichte, Theater- Film und Medienwissenschaften sowie Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf transkulturelle Austauschprozesse zwischen Asien und Europa in der Kunst. Nach ihrem Masterabschluss zog es sie für ein zweijähriges Kunst- und Kulturstipendium nach Indonesien, infolge dessen sie sich auf zeitgenössische Kunst in Java und Sumatra spezialisierte. Derzeit arbeitet sie an einer Dissertation zum kuratorischen Konzept Lumbung & Koperasi des indonesischen Künstler:innenkollektivs ruangrupa für die documenta fifteen an der Universität Heidelberg. Ihr Blickfeld richtet sich dabei auf die Zirkulation von Kunstpraktiken und sich parallel heraus entwickelnder Phänomene wie der Biennalisierung und der Formierung von Künstler:innenkollektiven im südostasiatischen Raum.

Kunsttheoretische Überlegungen über das Neue in der Kunst bei Boris Groys und Theodor W. Adorno. – Luis Gruhler & Olga Syngaivska

Der Aufsatz stellt die Fortsetzung der Beschäftigung mit dem Konzept des Ersten Males des 98. Kunsthistorischen Studierendenkongresses dar und entstand aus der weiteren Zusammenarbeit der beiden Vortragenden. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die grundlegende Frage nach der Geltung des Neuen und ihrer Aktualität in der Kunst. Basierend auf der Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos und der kulturökonomischen Interpretation der Kunst von Boris Groys, nähern sich die Beitragenden der Frage interdisziplinär aus der kunsttheoretischen und der philosophischen Perspektive.

Im Folgenden werden zwei kunsttheoretische Auffassungen des Neuen vorgestellt, wie sie von Boris Groys und Theodor W. Adorno ausgeführt wurden. Der Abschnitt über Boris Groys erörtert dessen Auffassung des Neuen als Produkt eines kulturökonomischen Prinzips. Bestimmte profane Objekte können valorisiert werden, erfahren demnach eine innovative Umwertung. Das Neue bleibt indessen an die Tradition negativ gebunden und so mit der Abwertung des Alten verknüpft. Nach Groys lässt sich dieses kulturökonomische Prinzip anhand von Marcel Duchamps Ready mades aufzeigen.

Der Abschnitt über Adorno geht dessen Begriff des Neuen als Negation nach, so wie er sich in Adornos künstlerischen Utopie der musique informelle darstellt. Ausgehend von der aus der hegelschen Logik stammenden Kategorie der bestimmten Negation wird diese anhand von Adornos Ausführungen zur Tendenz des musikalischen Materials erörtert. Diese materialistische Wendung der Dialektik des Neuen verweist auf den Doppelcharakter von Kunst als ein Autonomes und doch zugleich Gesellschaftliches. Das Neue in der Musik wird möglich, weil in ihr das Alte bewusst negierend überwunden werden kann. Dies zeigt sich konkret an dem künstlerischen Verfahren der Komposition selbst, das ein Element vorgeformter technischer Planung enthält, aus dem das unbekannte Neue entspringt.

Boris Groys: Das Neue in der Kunst und die Umwertung als Quelle des Neuen

„Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. […]Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen: Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.“

– Pablo Picasso

Mit der den Künstlern der Moderne eigenen Ausrichtung auf die Zukunft sieht Picasso die Möglichkeit für Neues im Unbekannten verborgen, welches noch zu erschließen ist. Die Moderne war wesentlich vom Paradigma geprägt, dass das Neue als eine Offenbarung, als eine Entdeckung erscheint, deren Findung in der Zukunft liegt.

Boris Groys entwickelt ein anderes, jenseits sowohl der modernen als auch postmodernen Diskurse befindliches Modell der Entstehung des Neuen, das von einem bestimmten Universalismus geprägt ist und sich als kulturökonomisches Prinzip offenbart. Diesem Modell liegt die dichotomische Vorstellung über die Kultur und die Beschaffenheit ihrer Erzeugnisse zugrunde. Laut dieser gelten ausgewählte Objekte als wertvoll und relevant, deren materielle Existenz institutionell gerechtfertigt und gewährleistet wird. Diese valorisierten Objekte prägen das ideelle Gedächtnis und repräsentieren zugleich kulturelle Tradition. Der Rest der materiellen Welt gehört dem Bereich des Alltäglichen, des Üblichen, des Wertlosen an und wird unter dem Begriff profaner Raum zusammengefasst. Das Potenzial für eine Entstehung des Neuen ergibt sich aus der Veränderung bzw. Aufhebung der bestehenden kulturellen Werthierarchien, die sich infolge des Vergleichs zwischen der valorisierten Kultur und profanen Objekten ergibt. Mit anderen Worten: Der Ursprung einer Innovation130 liegt in der Bewegung auf der vorhandenen Wertskala und der darauffolgenden Veränderung dieser.

Anschaulich wird die Strategie des Neuen in Duchamps Ready mades durchgesetzt. In André Bretons Definition vom Ready made – laut welcher dieses als „ein manufakturiertes Objekt, das durch die bloße Wahl des Künstlers in den Rang eines Kunstwerkes erhoben wird“131  gilt – erfasst er zunächst intuitiv den für Groys entscheidenden Mechanismus der Überwindung der Werthierarchien, indem ein alltägliches Objekt durch das Agieren des Künstlers132 dem profanen Raum entnommen, aufgewertet und anschließend dem Bereich des Wertvollen zugeordnet wird.133 Während die in der Materialität erhaltene und von der Form her ablesbare Funktionalität des Objektes auf seine ursprüngliche Herkunft aus dem profanen Raum hinweist, werden ihm grundsätzlich neue ästhetische Qualität sowie kultureller Wert zugeteilt, die es in den Bereich der valorisierten Kultur erheben.

In diesem Sinne besteht die Vorbildlichkeit der Ready mades nicht nur in der Verdeutlichung von modus operandi des Umwertungsprinzips, sondern auch in der Demonstration der dichotomischen Spaltung eines Kunstwerkes an sich: „Jedes Kunstwerk und jedes theoretisches Werk sind in sich selbst gespalten. Immer bleiben in ihnen zwei Wertschichten erhalten, die nicht vollständig miteinander verschmelzen.“134

Da die innere, für die Innovation essenzielle Spannung des Werkes aus der Gleitung dessen zwischen den Wertebenen entsteht, ist es demnach notwendig, dass beide Schichten – die profane und die wertvolle – im Werk präsent sind. Die Veränderung des Wertes führt jedoch nicht zur Verschmelzung der Schichten. Als autonome Teile behalten diese weitgehend ihre Selbstständigkeit, ohne eine Monosubstanz/struktur zu bilden, da jeder Überschreitung der Grenzen das Vorhandensein dieser vorausgeht.

Die erforderliche Präsenz im Kunstwerk der valorisierten Kategorie, die mit Groys‘ Modell der fixierten kulturellen Tradition gleichgesetzt wird, weist darauf hin, dass “das Neue immer aus Altem besteht, aus Zitaten, Verweisen auf die Tradition, Modifikationen und Interpretationen des bereits Vorhandenen.“135 Dennoch kann das der ökonomischen Logik der Umwertung untergeordnete Alte im neuen Kunstwerk nicht unveränderlich bleiben und seinen status quo auf der Wertskala bewahren, da die Abwertung der Tradition der Entstehung des Neuen notwendigerweise vorausgeht. Je vehementer die Unangemessenheit des wertlosen profanen Objekts im Bereich der valorisierten Kultur, desto stärker ist die innovative Ausstrahlung des Kunstwerks. Daher geschieht die Wahl des Objektes aus dem profanen Raum stets mit Rückblick auf den kulturellen Kanon. In diesem Sinne ist die Absetzung von der valorisierten Kultur „eine spezifische Form der Anpassung an die museale fixierte Tradition – die aber diese Tradition nicht positiv, sondern negativ, kontrastiv durchsetzt.“136 Geprägt von innerer Dialektik, stellt das Neue einerseits die Überwindung des Alten und den vorhandenen kulturellen Werten dar, andererseits aber ist es zugleich die Überlieferung der Tradition in negativer Form. „Die Innovation ist freilich […] immer in erster Linie eine Wiederholung der Tradition.“137

Da die Umwertung eine Aktion, eine Handlung ist, wird sie von gewisser Dynamik geprägt. Die Dynamik beim Übergang eines Objektes aus dem profanen Raum in die Sphäre der valorisierten Kultur ist bilateraler Natur und drückt sich in zwei Mechanismen aus, die verhältnismäßig zueinander verlaufen. Während das Alte im Zuge der Umwertung devalviert wird, ist die Annahme des Profanen mit dessen Aufwertung gekennzeichnet: „Die Abwertung der bestehenden kulturellen Werte ist ein notwendiger Aspekt des innovativen Gestus – genauso wie die Aufwertung des Profanen.“138 Infolge dieses zweifachen Prozesses wird die vorherige Wertehierarchie selbst modifiziert. Dennoch behält sie ihre Beständigkeit. Solange in der Kultur eine Ungleichwertigkeit vorhanden ist, wird die Möglichkeit des Neuen nicht ausgeschlossen.

Das Neue als Negation in Adornos musique informelle

“The musical sense is the New – something which cannot be traced back to and subsumed under the configuration of the known, but which springs out of it, if the listener comes to its aid.”

– Adorno: On Popular Music

“Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.”139 Adornos Bestimmung der musique informelle enthält die künstlerische Utopie einer Musik als “Bild von Freiheit”140.  Freiheit indessen ist “einzig in bestimmter Negation zu fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit. Positiv wird sie zum Als ob.”141 In der Kunst aber ist jene Prätention des Als Ob keine unwahre Unterstellung mehr, sondern der Schein der Freiheit ist hineingezogen in den Schein des Kunstwerks durch dessen Integrationsprozess. In der Musik “sterben Fiktionsmomente noch in ihrer sublimierten Gestalt”142 durch den mit Bewusstsein vollzogenen Prozess der Komposition ab. Bereits bei Marx findet sich die Bemerkung: “Wirklich freie Arbeiten, z. B. Komponieren, ist grade [sic] zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung.”143 Das Neue der Freiheit tritt beim Komponieren hervor durchs Abarbeiten der Unfreiheit am Alten. Wie die Freiheit durch die bestimmte Negation der Unfreiheit an diese gebunden bleibt, so das Neue ans Alte, aus dem es entspringt und mit dem es darum doch nicht identisch ist.

Dasjenige aber, worin sich der Kompositionsprozess von Neuem aus Altem vollzieht, ist das musikalische Material. Wie Instrumente, Töne, Klänge gesetzt und organisiert werden, ist aber kein ihnen äußerlicher Prozess, sondern durch diese vermittelt. Subjekt und Objekt der Komposition sind nicht zusammengeklebt, sondern im musikalischen Material selbst sind subjektive Momente verobjektiviert:

“Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren vielmehr davon her, daß das ‘Material’ selbst sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durch Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist seine eigenen Bewegungsgesetze.”144

Im musikalischen Material steckt das Alte, ausgedrückt durch das Bild der Ablagerung im “sedimentierten Geist”. Aber weil in diesem Alten das “Bewußtsein von Menschen” sedimentiert ist, dieses Bewußtsein aber “die ganze Geschichte in sich trägt”145, ist das Alte zur Veränderung, zum Übergang ins Neue befähigt. Das scheinbar bloß Objektive des Materials erweist sich als ein durch “eigene Bewegungsgesetze” Veränderliches. Das Material ist nicht bloß an sich. Ein verminderter Septakkord kann falsch sein, wenn er als ein nur Objektiviertes ohne subjektive Notwendigkeit der Komposition “aufgeklatscht”146 wird. Gleiches gilt etwa für die Oktavverdopplungen, die in der Neuen Musik Arnold Schönbergs zum ersten Mal in der Musikgeschichte als fehlerhaft gelten konnten, wenn es ihrer nicht doch aus technischen Gründen bedurfte.147 Das Neue zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Alte nicht mehr unmittelbar möglich ist. Das Alte wird, etwa in der Verwendung von Volkslied und Choral in Richard Wagners Vorspiel zum dritten Aufzug der Meistersinger, zu einem “Zitat: durch das Wissen: dies ist Volkslied, dies Choral, und dies Wissen, die Reflexion auf die Naivetät, löst diese auf und macht sie manipuliert.”148 Im Zitat ist die Nichtidentität des Zitierten mit der Komposition, die zitiert, von Altem und Neuen ausgedrückt. Weil das Alte nicht mehr gültig ist, sondern nur noch als Zitat besteht, ist es das Neue. Adorno neigt auch zur Verallgemeinerung, dass schließlich “alle musikalischen Charaktere […] eigentlich Zitate”149 sind. Dadurch ist der notwendige Zusammenhang von Altem und Neuem im musikalischen Material ausgesprochen, zugleich aber deren Differenz. Das Neue ist die Negation des Alten: darum bestehen beide nicht indifferent nebeneinander. Adorno begreift dies in dem Begriff vom Kanon der Verbote: “In Korrespondenzen mit dem Vergangenen wird das Wiederauftretende ein qualitativ Anderes.”150 Das wiederauftretende Alte wird falsch, wenn im Kompositionsprozess nicht diese qualitative Veränderung bewahrt ist. Falsch nicht deshalb, weil von außen autoritär gesetzte, etwa akademische Regeln verletzt würden, sondern falsch, weil das Material selbst aus sich heraus eine Veränderung erfahren hat. Bachs harmonischer Kontrapunkt etwa ist darum ein ganz anderer als jener der Polyphonie vor der seconda pratica. Auch der Begriff der musique informelle enthält diese Einsicht, denn er meint

“[…] eine Musik, die alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei von heteronom Auferlegtem und ihr Fremden, doch objektiv zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten sich konstituiert.”151

Dieses Ineinandergreifen von innerer Entwicklung, “eigenen Bewegungsgesetzen”, Freiheit von “auswendigen Gesetzmäßigkeiten” mit der äußeren von Geschichte und Gesellschaft bringt Adorno mit dem “Doppelcharakter der Kunst” auf den Begriff. Ästhetische Phänomene “sind beides, ästhetisch und faits sociaux”152, autonom und heteronom zugleich. Sie entspringen der individuellen Arbeit gesellschaftlicher Produktivkräfte, ohne doch als Ware neben anderen aufzugehen. Die Kunst nimmt eine autonome Sphäre ein, Kunstwerke haben den Fetischcharakter des An-sich-Seienden. Die Kunst kann dadurch autonome, innere Gesetzmäßigkeiten ausbilden. Aber sie ist zugleich gesellschaftlich, nicht nur dem Ursprung nach durch ihre Produktion, sondern durch ihren Fetischcharakter selbst, der sich als ein An-sich gegen das gesellschaftliche Prinzip allgemeiner Vermittlung konstituiert. Gerade weil die Kunst sich von Gesellschaft absondert, ist sie gesellschaftlich. “Reine Produktivkraft wie die ästhetische, einmal vom heteronomen Diktat befreit, ist objektiv das Gegenbild der gefesselten […]”153, nämlich der gesellschaftlichen Produktivkräfte allein. Im Gegensatz zu diesen ist durch die ästhetischen Produktivkräfte in der Kunst qualitativ Neues möglich. Das Neue ist also nicht die “Forderung der Zeit”154, auch wenn es wie die Mode155 durch den Doppelcharakter der Kunst mit ihr zusammenhängt. Sondern das Neue entsteht durch den bewussten Kontakt des künstlerischen Subjekts mit dem autonomen Objekt, den Eingesetzten des künstlerischen Materials. Eindrücklich formuliert hat das der Komponist Clemens Nachtmann, der in der Beschreibung seiner kompositorischen Arbeitsweise diese Vorgänge konkret reflektiert:

“Zuallererst geht es also [im Kompositionsprozess, lg] ganz egoistisch um das, was mich interessiert: nämlich um Sachen, die ich noch nicht oder nicht so gehört habe. […]  Technische Verfahren haben für mich […] zunächst und vor allem eine negative i.S. von ‘negierender’ Qualität; in einem spezifischen Sinne negiert, in Frage gestellt, überwunden werden soll das komponierende Subjekt selbst, genauer: die eigene unvermeidliche subjektive Beschränktheit, wie sie sich in eingeübten, vertrauten und von daher naheliegenden Präferenzen, Meinungen, Vorurteilen darstellt, die in aller Regel wiederum durch bereits angeeignete technische Fertigkeiten legitimiert und rationalisiert werden. […] Mit exakten und sogar rigiden Plänen Unplanbares und Unbekanntes zu erzeugen: das ist jedesmal aufs Neue meine kompositorische Utopie.”156


Biografie

Luis Gruhler

Luis Gruhler studiert Philosophie in München. Sein Hauptinteresse gilt der Kritischen Theorie in den Formulierungen von Marx, Horkheimer, Adorno und dem Deutschen Idealismus Kants und Hegels. Neben der Philosophie beschäftigt er sich mit Neuer Musik und erhielt selbst schon Nachwuchskompositionspreise.

Olga Syngaivska

Olga Syngaivska absolvierte den Master-Abschluss in Kulturwissenschaften an der Kyjiw-Mogyla-Akademie in der Ukraine. Mit Hilfe der DAAD-Förderung begann sie ein Studium der Kunstgeschichte an der Universität zu Köln mit Fokus auf Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit und Mechanismen des Kunstmarktes.

Pavilion of the Rootless – Jianling Zhang

Der pandemiebedingte Lockdown hat uns in unseren eigenen Wohnräumen festgehalten und zum Stillstand gebracht. Zurückgeworfen auf die eigenen Gedanken wurden so aus schützenden Wände, einengende, unüberwindbare Mauern. Doch wie lässt sich diese Erfahrung beschreiben, für Menschen ohne einen festen Unterschlupf oder Wohnsitz? Zhang Jianling macht den unfreiwilligen, zweiwöchigen Quarantäneaufenthalt des jungen Migranten Kamlesh Meena auf einem Baum vor dem eigenen Dorf im indischen Rajasthan zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema.

Es geht nun einmal nicht. Zählen alleine genügt nicht.
Wieder schließt er seine Augen: die durch den Wind
verbreiteten Pilzsporen siedeln sich auf dem ersten
Blatt an und bilden dort oberseits oliv-braune Flecken
und unterseits einen weißlichen Pilzrasen. Zunächst wird
das zweite Blatt glasig-faulig, später folgt der typisch
gräuliche Schimmelrasen. In den Adern des dritten
Blattes ist es schwer die wenige Millimeter kleinen
Insekten ohne Lupe zu erkennen. Es riecht nach
stärkehaltigem Spritzmittel gegen Schädlinge. Leider zu
spät für das vierte Blatt. Durch Hagel, Windbruch,
Frost, Trockenheit usw. ist das Erscheinungsbild der
Schädigungen vielfältig, das fünfte Blatt zum Beispiel,
hat sich eingerollt, ist gehärtet und vergoldet. Das
sechste Blatt, einst das größte, ist stetig geschrumpft,
sogar auf die Größe eines Kleinkinds, grün-schwarze,
später braun-schwarze Teile von Armen und Beinen… “

Eine Nacht von Kamlesh Meenas Quarantäne auf dem Baum.

The Patient. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Moon. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Container. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Studio. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Crowd. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Dolphin. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Voter. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Substance Abuser. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.
The Graveyard. Abbildungsnachweis: ©Jianling Zhang.

Jianling Zhang spring/summer of 2020.


Biografie

Zhang Jianling

Zhang Jianling studierte an der China Academy of Art Curatorial Studies, es folgte ein Abschluss an der Akademie der Bildenden Künsten in München in der Klasse von Prof. Julian Rosenfeldt. Die Abschlussarbeit Zhangs trug den Titel Redemption of Images: Mnemosyne and Angelus Novus. Während der langjährigen Tätigkeit im kuratorischen sowie künstlerischen Bereich, entstanden zahlreiche Ausstellungsformate innerhalb Europas und Chinas, die ein vertieftes Interesse an Ortsspezifik und daran gebundene Narrative erkennen lassen.

Feeling the Heterotopia – Nina Lapislazuli und Lotte Frahm

Wie können sich Kunstwerke in ihrer Entstehung gegenseitig beeinflussen oder sogar bedingen? Welche Möglichkeiten und Potentiale bietet ein Transferraum für die Entfaltung kollektiver künstlerischer Prozesse? Diese Praxis wird in Feeling the Heterotopia von Nina Lapislazuli Behnisch und Lotte Frahm für die Betrachter:innen sichtbar. Der Austausch verlief nach dem Prinzip der Mail-Art, in der Briefe, Gegenstände, Konzepte, (Kunst-) Werke per Post hin und her geschickt wurden. Im digitalen Raum sehen diese Fragmente ähnlich aus: eine Schlagwort-Gruppe zum Thema, ein Textausschnitt, der sich darauf bezieht, ein Bildausschnitt einer digitalen Zeichnung, oder aber ein Gefühl, das übermittelt wird…

Feeling the Heterotopia

Es scheint keine Orte mehr zu geben. Es gibt nur noch den Bildschirm, vor dem ich sitze. Manchmal gehe ich einkaufen und bin erstaunt darüber, dass die Luft nach Sommer riecht, obwohl es noch so kalt ist. Die Punkte, an denen ich mich bewege, sind begrenzt. Meine geistige Karte kommt mir unvollständig vor, dabei ist es unter jeglichen Umständen zu viel gewollt, einen Anspruch der Vollständigkeit an etwas Weltliches anzusetzen. An viele Orte komme ich gar nicht mehr. Ins Kino, ins Krankenhaus, um meinen Bruder zu besuchen, ins Museum, in die Bibliothek. Sie bleiben mir alle verschlossen. Heterotopien scheint es nicht mehr zu geben, dabei weiß ich, dass sie noch da sind, ich habe nur keinen Zugriff auf sie. Und vielleicht will ich das auch gar nicht. Was sind menschengeschaffene Räume schon ohne Menschen? Sie werden unwirklich, trennen sich langsam von der Realität und driften in eine Art Zwischenwelt ab. Heterotopien waren für mich schon immer Gebilde an der Grenze zum Liminalen, bevor ich überhaupt wusste, was diese Worte bedeuten. Sie sind für mich unzertrennlich mit Schweben, mit dem magenaufwühlenden Gefühl des Dazwischen-Seins, des Unwirklich-Seins und vor allem mit meiner Großmutter verknüpft.

Abb. 1: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 1, 2021, digitale Zeichnung.

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Vielleicht im Dezember oder Januar vor drei, vier Jahren. Meistens vergeht die Zeit schneller, als man denkt. In meiner Erinnerung lag Schnee. Ich hatte mir Zeit genommen, um am Freitag ins Krankenhaus zu meiner Großmutter zu fahren. Meine Eltern meinten, ich solle sie besuchen, da sie sich auf dem Weg der Besserung befände. Seit ich auf die weiterführende Schule gekommen war, hatte ich nicht mehr viel Zeit mit ihr allein verbracht. Früher hatte sie oft auf meinen Bruder und mich aufgepasst. Mittlerweile waren wir beide aus dem Alter herausgewachsen, in welchem man in den Kindergarten begleitet oder abgeholt werden musste. Ich war nervös. Krankenhäuser sind immer ein schwer fassbarer Ort, wenn man gesund ist. Ich bewegte mich in einem Terrain, in welches ich eigentlich nicht gehörte. Dazu kam, dass Prüfungsphase war und ich im ersten Semester studierte. Für mich bedeutete das ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit und Angst vor dem Scheitern. Ich hatte seit Tagen nicht mehr ausgeschlafen. Viel mehr als Lesen, Arbeiten und am Wochenende zu viel trinken gab es bei mir nicht. Ich befand mich in einem Schwellenzustand, in einem Treppenhaus, in dem ich nicht verweilen wollte und somit musste ich diese Treppen weiter hinaufsteigen. In einem Zustand innere Liminalität traf ich somit auf die erste Heterotopie.

Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, wie ich auf der Station die Schwester angesprochen habe und nach dem Raum fragte. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte ich mich eingeschlichen, das Eintrittsritual übersprungen, obwohl ich mir sicher bin, dass meine nassen Schuhe auf dem orange-braunen Linoleumboden gequietscht haben müssen. Meine Großmutter lag in einem Zweibettzimmer. Ich habe sie nicht erkannt, wie sie da im Bett lag, eingefallen und mit ungemachten Haaren. Ich dachte, ich hätte die Zimmernummer versehentlich verdreht. Der Rest ist in meiner Erinnerung sehr unscharf. Ich weiß nicht genau, wie lange ich da war. Ihr Krankenzimmer war für mich ein zeitloser Ort. Zu viel Elend, um auf die Uhr zu sehen. Als ich an ihr Bett herantrat, hat sie die Augen leicht geöffnet und meinen Namen gesagt und dass sie sich freuen würde, dass ich da bin. Dann hat sie nur noch darüber geredet, dass sie will, dass alles aufhört, dass sie nicht mehr leben will. Ihre Stimme war leise und schwach. Ich habe ihre Hand genommen und musste weinen. Ich weiß nicht, wann ich sie das letzte Mal davor angefasst habe. Wahrscheinlich als kleines Kind. Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen. Meine Eltern hatten gesagt, dass es ihr wieder besser gehen würde. Ich hatte ihnen geglaubt. Vielleicht sind meine Erinnerungen auch so schwach, weil ich anfangen musste zu weinen und die Tränen meine Wahrnehmung einschränkten. Irgendwann kam eine Ärztin in den Raum und fragte, ob sie mir etwas erklären sollte zum Krankheitsverlauf meiner Großmutter. Ich murmelte nur, dass ich nicht gewusst hätte, wie schlecht es ihr ging. Dabei versuchte ich der Ärztin nicht in die Augen zu sehen, damit sie meine Tränen nicht sehen konnte. Völlig umsonst. Als ich das Krankenhaus verließ, redeten die Menschen im Gang über mich. Ihr Tuscheln verfolgte mich bis nach draußen. Was ich danach gemacht habe, weiß ich nicht. Wahrscheinlich habe ich auf dem Weg zur Straßenbahn versucht mich zu beruhigen. Vorhin habe ich gesagt, dass ich nicht wüsste, wie lange ich bei meiner Großmutter war. Das war gelogen. Ich weiß es ganz genau: zu kurz. Wenige Tage später ist sie gestorben, woran genau weiß ich bis heute nicht. Ich habe nie gefragt.

Denke ich heute an dieses Erlebnis zurück, kommt es mir absurd vor. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, während einer Krise an einem Ort der Krisen zu sein. Es kommt mir unmöglich vor. Und eigentlich ist es das ja auch. Kein Besuch mehr in Krankenhäusern oder zumindest stark reguliert. Manchmal stelle ich mir vor, das Ganze unter heutigen Umständen noch einmal zu durchlaufen. Über Zoom, Webex, Jitsi oder wie die Programme alle heißen. Ich weiß nicht, ob es schlimmer oder besser wäre. Wahrscheinlich schlimmer. In Person da gewesen zu sein, gibt mir wenigstens das Gefühl, Abschied genommen zu haben. Den Ort des Krankenhauses über einen Bildschirm betrachtet zu haben, während ich persönlich involviert bin, hätte mich komplett entmächtigt. Der Bildschirm kann in diesem Fall kein Botschafter einer Utopie sein, diese nicht übertragen. Er kann die Zwischenmenschlichkeit der Realität nicht ersetzen. Doch genau diese Zwischenmenschlichkeit sagt uns so viel über unsere Umgebung, leitet uns durch unser Leben.

Abb. 2: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 2, 2021, digitale Zeichnung.

Einmal habe ich mich mit meiner Großmutter verabredet und am Nachmittag Kuchen gegessen. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie schlau sie war. Nicht dass ich das vorher nicht von ihr erwartet hätte, aber ich hatte nie darüber nachgedacht. Großmütter sind für Enkel meistens einfach nur Großmütter und keine differenzierten Intellektuellen. Wir haben Kuchen gegessen und über Politik geredet. Sie meinte: „Die Leute reden immer über Putin und ja, der ist schlimm, aber Obama ist mindestens genauso schlimm.“ Ich weiß nicht wie viele Jahre sie in die Schule gegangen ist. Autofahren konnte sie nicht. Wenn sie auf dem Fahrrad unterwegs war, war sie immer besonders vorsichtig, weil sie nicht wusste, was die Straßenschilder bedeuteten. Der Krieg hatte ihr viel versagt, hatte Heterotopien zerstört und unbrauchbar gemacht.

Später sind wir dann auf den Friedhof gegangen, um das Grab meines Großvaters zu besuchen, der schon tot war, seit ich 14 bin. Ich weiß noch, wie meine Mutter mich damals gefragt hatte, ob ich „…den Opa noch einmal sehen will?“. Das war im Herbst irgendwann. Es war schon dunkel draußen. Es war immer meine Mutter, die solche Nachrichten überbrachte. Nie mein Vater, obwohl es sein Vater war, obwohl es seine Mutter war. Ich habe damals Nein gesagt: „Nein, ich will Opa nicht noch einmal sehen.“. „Weil du ihn lieber lebend in Erinnerung behalten willst?“, diese Worte hatte mir meine Mutter förmlich in den Mund gelegt und ich widersprach nicht. Aber eigentlich lag es nicht daran. Ich hatte Fußballtraining und es gibt nichts Schöneres als ein Fußballfeld in der Dunkelheit und vielleicht, ganz vielleicht, hatte ich auch Angst.

Dabei muss niemand Angst vor dem Tod haben. Vielleicht vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod. Friedhöfe sind eine seltsame Angelegenheit. Natürlich gibt es sie in verschiedenen Formen, Größen und Ausarbeitungen, aber trotzdem kann man am anderen Ende der Welt sein und ein kleines Stück Heimat auf einem Friedhof finden. Der Raum ist hier verwinkelt und die Zeit fließt immer sehr zäh. Friedhöfe sind beinahe zeitlose Gedenkstädten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwann einmal verschwinden werden. Wohin auch? Was soll ein Friedhof im digitalen Raum und wohin anders als in den digitalen Raum, soll der Fortschritt gehen? Ich kann mir nicht vorstellen einmal StrgF zu drücken und sofort das Grab meiner Großeltern zu finden. Immer wenn ich auf den Friedhof gehe, muss ich suchen, wo sie begraben sind. Dann streife ich eine Weile durch die Gänge des Friedhofes, sehe mir die Gräber an, lese die Namen und fühle mich, als würde ich mir meinen Weg durch New York suchen. Von Block zu Block. So jedenfalls stelle ich mir New York vor. Ein riesiger Betondschungel, in dem das Leben tobt. Es ist schon fast zu einem Ritual geworden in jeder Stadt, in der ich mich etwas länger aufhalte, einen Friedhof aufzusuchen. Eigentlich sind sie alle wie Gärten. Gärten aus Stein, Gärten aus Stein und Grün, Gärten, in denen die Natur ungestört wuchert und sich ausbreitet, Gärten, in denen man sich verliert, Gärten, in denen eine große Losgelöstheit herrscht. Meistens hört man die Vögel lauter als die Menschen. Oft habe ich Angst, mich zu verlaufen und meinen Weg nicht mehr zurückzufinden und oft verlaufe ich mich tatsächlich in der Abgeschiedenheit dieser Friedhofswelt. Wären Friedhöfe in Word-Dokumenten festgehalten, könnte ich immer StrgZ drücken. Während ich die Gräber meiner Großeltern suche, geht das nicht. Ich löse mich völlig auf in dem Gefühl, dass alles irgendwann vorbei ist, dass alles unwichtig ist, nicht nur ich, sondern alle menschgemachten Räume auf dieser Erde, unser gesamter Planet, unser Sonnensystem. Früher hatte ich Angst vor diesem Gedanken. Er hielt mich nachts wach. Heute ist er mir egal. Ich habe mich damit abgefunden. Anstatt Angst zu haben, werde ich heute von diesem wiederkehrenden Gedanken getröstet, genauso wie von meinen Friedhofsbesuchen.

Abb. 3: Nina Behnisch Lapislazuli, Zeichnung 3, 2021, digitale Zeichnung.

Fußballfelder und Friedhöfe sind sich eigentlich recht ähnlich, aber vielleicht auch nur in meiner Erinnerung. In dieser existiert die Verknüpfung beider Orte über den Tod meines Großvaters. Friedhöfe und Fußballfelder gibt es in den meisten Teilen der Welt und sie haben immer die gleiche Grundform inne. Was ist ein Fußballfeld schon weiter als ein rechteckiges Feld und zwei weitere Rechtecke, die Tore? Ein simples Konzept und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb spiegelt sich hier die große Schönheit wider. Ästhetisch ist nur das, woran man kein Interesse hat. Bei Minusgraden im Dunkeln ziehe ich meine Runden, verfluche dabei meine Entscheidung, mich auf den Platz gequält zu haben und dann, auf einmal fängt es an zu schneien und damit kommt auch die Offenbarung. Und diesmal geht es nicht darum, zu erkennen, dass ich meine Großmutter kaum kannte, wie mir damals im Krankenhaus klar geworden ist, nein, es geht um etwas Größeres. Wenn sich der Schnee unter dem Licht der Flutstrahler versammelt und dort tanzt, dann wird alles in mir ganz ruhig, aber gleichzeitig ist dieser Anblick unglaublich aufwühlend. Es ist wie in den Bergen zu stehen und den Horizont zu suchen. Um mich herum nur riesige Felsformationen, keine menschgemachte Struktur und ich fühle mich befreit und gleichzeitig erdrückt von der Gewaltigkeit der Berge. Auf dem Fußballfeld ist es etwas friedlicher und trotzdem bleibt die Frage: Was mache ich hier überhaupt? Warum drehe ich meine Runden? Warum sehe ich dem Schnee zu? Vielleicht ist es nur simple Ablenkung, aber vielleicht ist das auch der Moment, in dem ich Gott direkt in die Augen blicke. Losgelöst von der eigentlichen Welt, in welcher der Fußballplatz von schreienden Zuschauern gefüllt ist, in welcher Bier verschüttet wird, in welcher die schrillen Pfiffe der Schiedsrichter die Luft zerschneiden und auf dem Platz gerangelt wird. Die Nacht löst diesen Ort von der Wirklichkeit. Die Dunkelheit zweckentfremdet das Fußballfeld, aber dadurch werden neue Möglichkeiten geschaffen. Mit Menschen befüllt ist die Schönheit des Fußballfeldes versteckt. Sie zeigt sich nur nachts oder in den frühen Morgenstunden. Sie zeigt sich in der Liminalität dieser Heterotopie. Im Krankenhaus fühlst du dich unwohl, auf dem Friedhof wanderst du umher, aber auf dem verlassenen Fußballfeld findest du deinen Frieden. Wieso jedes Jahr 60€ für ein neues Fifa Spiel ausgeben, wenn die Offenbarung kostenlos vor fast jeder Haustür liegt?

In Zeiten eines krisenbehafteten Systems bleibt uns der Zugang zu bestimmten Räumlichkeiten verwehrt, doch an anderen Stellen öffnet er sich erst wieder, indem wir andere Wege suchen, unser Leben zu gestalten. Menschen sind resilient, passen sich an Situationen an, gestalten Räume um. Menschen sind aber auch emotional und färben alles, was sie berühren mit dieser Emotionalität ein. Orte, egal ob menschengemacht oder nicht, sind gefüllt mit Emotionen, die an ihnen haften wie Gerüche. Auch ohne Zugang werden wir die Heterotopie nicht vergessen, weil wir sie fühlen und uns erinnern.

Werke von Nina Lapislazuli // Text von Lotte Frahm


Biografie

Lotte Frahm lebt und arbeitet in Berlin und studiert Philosophie an der Freien Universität Berlin. Nina Lapislazuli studiert Bildende Kunst an der HfBK Dresden und ist seit 2020 in der Klasse von Prof. Carsten Nicolai für digitale und zeitbasierte Medien. Seit 2011 arbeitet sie in ihrem Atelier im Leipziger Tapetenwerk. Gemeinsam arbeiten sie an medienübergreifenden, künstlerischen Projekten.

Orte zur Imagination der Zukunft. Das Labor als Heterotopie – Nils Mojem

In seinem Text Orte zur Imagination der Zukunft. Das Labor als Heterotopie versucht Nils Mojem der Frage nachzugehen wie und wo Utopien imaginierter Zukünfte auf reale Räume der Gegenwart treffen. Dabei soll der Fokus dem Forschungslabor als Heterotopie gelten, um einen Raum zu untersuchen, der durchzogen ist von hierarchischen Strukturen und sich über einen exklusiven Zugang durch Wissen auszeichnet. Es wird die Frage gestellt, wer wo, wann und für wen welche Zukünfte herbeiführen kann, soll und darf.

Ein großes Thema der Gegenwart ist es die Welt zu retten. Ausgehend von den aktuellen Krisendiskursen, die sich letztendlich in der Erkenntnis einer multiplen Krise von Menschheit und Planet im Zeitalter des Anthropozän verdichten,140 scheint die Gestaltung wünschenswerter Zukünfte notwendiger und dringlicher denn je. Und obwohl Zukünftiges stets ungewiss ist, Möglichkeit bleibt und nie etwas Faktisches darstellt,147 schließt doch die Imagination dessen, was werden kann oder soll, sowohl Möglichkeiten der Kritik des Gegenwärtigen als auch die Annahme der Einflussnahme auf das Zukünftige mit ein.157 Ausgehend von dem narrativen Charakter menschlicher Erfahrungsbildung,158 sind es also Imaginationen, die als kulturelle Praktiken „eine mitunter sprachlose Ungewissheit in Handlungsentwürfe überführen.“159

Dabei sind die Imaginationen der Zukunft aufs engste mit den Erzählungen der Gegenwart verknüpft. Und obwohl der überwiegenden Mehrheit der Erzählungen der Gegenwart das Anerkennen der multiplen Krise im Anthropozän gemein ist, werden dabei doch je nach Narrativ und Erzählposition „unterschiedliche Ursachen und Treiber […] sowie unterschiedliche Interventionsszenarien, Widerstandakteure und Transformationsträger identifiziert.“160 Dies kann zwar als grundlegende Deutungsoffenheit von Geschichte/n ausgelegt werden, doch entpuppt sich diese Deutungsoffenheit im Übergang von Narration zu Imagination als das Verhandeln von Deutungsmacht. Dies vor allem, da sich durch die kulturelle Praxis der Imagination auch eine neue Form der Temporalität ergibt; aus einer ‚Zukunft‘ als singulärem Telos wird eine Multiplizität möglicher Zukünfte.161 Wenn nun die unterschiedlichen Imaginationen von Zukünften maßgeblich aus den jeweiligen Erzählungen der Gegenwart hervorgehen, in ihnen die Hauptakteure der Gegenwart Handlungsentwürfe entwickeln und ihre Geschichte fortschreiben, dann ist die Frage nach der Deutungsmacht bei den Erzählungen der Gegenwart eine entscheidende, gerade weil die Erzählungen von multipler Krise und Anthropozän das Schicksal der gesamten Menschheit und sogar des ganzen Planeten behandeln. So geht es darum, welche möglichen Zukünfte von wem – das heißt aber auch: wie, an welchen Orten und für wen – formuliert werden können, erdacht werden sollen und herbeigeführt werden dürfen.

So werden an unterschiedlichen Orten, von unterschiedlichen Gruppen verschiedene Zukünfte imaginiert, je nachdem, welches Narrativ sie nutzen, welche Werte und Annahmen ihren Erzählungen zu Grunde liegen, welche Erzählstruktur ihre Geschichte prägt und welche Hauptakteure dabei in ihren Handlungsentwürfen in den Fokus geraten. Entscheidend hierbei ist also auch der Modus, in welchem erzählt und gedacht, Gegenwart wahrgenommen und Zukünfte gestaltet werden sollen. Haraway formuliert dies folgendermaßen: „Es ist von Gewicht, welche Gedanken Gedanken denken. Es ist von Gewicht, welche Wissensformen Wissen wissen. […] Es ist von Gewicht, welche Erzählungen Erzählungen erzählen.“162 Dies gilt es zu beachten, wenn an verschiedenen Orten die vermeintlich selbe Geschichte anders erzählt wird, unterschiedliche Zukünfte imaginiert werden. Denn trotz einer Pluralität der Geschichten der Gegenwart und der Imaginationen von Zukünften gibt es doch solche Erzählungen, die mehr Gehör finden, gibt es Sprecher:innen, die eine besonders dominante Rolle in der Erzählung von Gegenwart und Zukunft einnehmen, Orte, an denen gesprochen eine besonders prominente Sprecher:innen-Position eingenommen wird.163

Einem bestimmten Ort kommt dabei ganz besondere Bedeutung zu: Es ist das Forschungslabor – ein merkwürdiger, von Macht und Wissen durchzogener Raum, in dem zeitliche und räumliche Strukturen aufeinandertreffen und sich in einer eigenartigen Verbindung mit- und durcheinander fortsetzen. Als Institution der Wahrheitsfindung, des Wissens und der Innovation nimmt das Forschungslabor einen bedeutenden Platz innerhalb der Gesellschaft ein und stellt dennoch einen eigenartig von der Gesellschaft abgesonderten Raum dar. Weil der Zugang zu ihm exklusiv und an Wissen gebunden ist, besitzt es einen ein- und ausschließenden Charakter. Das in ihm aufgeführte Expert:innentum begründet seine narrative Kraft – die Möglichkeit der Kritik ist an einen Zugang zu ihm, an eine Übernahme des ihm eigenen Forschungsmodus gebunden. Das Forschungslabor ist überall auf der Welt zu finden und tritt dabei merkwürdig mit sich selbst in Kontakt; sein gleichzeitiger Betrieb an unterschiedlichen Orten wird durch eine strukturelle Identität, durch die standardisierten Bedingungen naturwissenschaftlicher Forschung ermöglicht; indem Experimente durchgeführt und Hypothesen geprüft werden, können durch die nüchterne Sachlichkeit naturwissenschaftlicher Forschung vermeintlich objektive Wahrheiten erzeugt und anschließend in anderen Laboren falsifiziert werden. Seine Exklusivität als geschlossener Raum, als Hort des Wissens und der Wahrheit bleibt gerade dadurch erhalten. Doch auch zum ‚Außen‘, zur Mit- und Umwelt steht das Labor in einer merkwürdigen Verbindung, welche überhaupt erst eine standardisierte Forschung durch das naturwissenschaftliche Experiment ermöglicht und gewährleistet: Dadurch, dass das Labor sich selbst von der Welt abgrenzt, ausschließt, dabei gleichsam aber ein Stück der äußeren Welt in sich einschließt, können Forschende eine eigenartige Macht über die natürlichen Untersuchungsobjekte erlangen, gerade weil sie diese in eine technisch-kulturelle Umgebung verlagern.164

Nicht nur durch seine Exklusivität, seine eigenartige Position innerhalb der Gesellschaft, seinen Bezug zum Innen und Außen kann das Labor als Heterotopie im Sinne Foucaults165 bezeichnet werden. Es übt auch eine eigenartige Brückenfunktion aus, verbindet unterschiedliche Zeitlichkeiten und setzt verschiedene Räume miteinander in Verbindung. So wird in Bezug auf die Erzählung der Gegenwart und die Imagination von Zukünften hier entweder versucht die Realität der Gegenwart in eine imaginierte Zukunft zu überführen oder aber eine fiktive und imaginierte Zukunft schon in der Gegenwart Realität werden zu lassen.

In diesem Bestreben und mit dem eigenen Modus der Forschung steht das Labor als Forschungsstädte auch für eine besondere Auffassung des Verhältnisses vom Menschen zur übrigen Welt: Mittels technischer Verfahren können und sollen die Geheimnisse der Natur entschlüsselt und der Menschheit nutzbar gemacht, um letztlich jedoch ihrem Willen untergeordnet zu werden. In diesem Konzept der Nutzbarmachung wird Natur zum bloßen Erkenntnisobjekt, zum Untersuchungsgegenstand und zur gewinnbringenden Ressource degradiert, die mit Hilfe technischer Eingriffe und Verfahren gewissermaßen manipuliert und dann möglichst profitabel durch den Menschen selbst geformt werden kann. Maßgeblich hierfür ist ein rationalisierter Erkenntnisprozess: Mit Kultur und Technik tritt der Mensch der Natur entgegen, stellt sich ihr gegenüber, analysiert, seziert, benennt und ordnet, erschließt Zusammenhänge und erzählt dabei eine Geschichte der Trennung von Natur und Kultur, erzählt eine Geschichte von Erkenntnis, Fortschritt und Innovation, erzählt gewissermaßen eine Geschichte der Naturmachtbefähigung des Menschen.166

Ausschlaggebend ist dabei die Form des Wissens, die den Menschen zur Beherrschung der ihm äußerlichen Natur befähigt. Analog zum Dominium terrae des Alten Testamentes ist es hierbei nicht göttlicher, sondern menschlicher Wille, der dem Menschen die Natur zum Untertanen macht, es ist keine göttliche, sondern eine menschliche Ordnung, eine auf rationaler Erkenntnis beruhende menschliche Anordnung, die zu eben jener Naturmachtbefähigung führt.

Entscheiden daran ist, dass dieser Modus der Mensch-Natur-Begegnung sich erst im Verlauf der europäischen Wissensgeschichte entwickelte: Durch den an vielen Stellen auf Descartes‘ Trennung von Körper und Geist zurückgeführten Prozess der Rationalisierung167 etablierte sich seit Beginn der Neuzeit in Europa jenes dichotome Denkmodell, welches sich bis in unsere Gegenwart fortschreiben sollte und mit Blick auf die expansive, koloniale und imperialistische Geschichte Europas gar als dichotomer Wahn bezeichnet werden kann. Die philosophischen Abstraktionen Descartes‘ wurden dabei zu praktischen Herrschaftsinstrumenten, sie „waren reale Abstraktionen mit gewaltiger materieller Kraft“168, welche die moderne Logik von Macht und Denken nachhaltig prägten. Diesem Denken entsprangen hierarchische Ordnungsentwürfe entlang von raum-zeitlichen Achsen, Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse konnten so im Sinne der Ordnenden legitimiert werden, wobei die vermeintliche Überlegenheit der Ordnenden sich selbst aus ihrer Rationalität heraus begründete.169

Die Rationalisierung der Welt war dabei aber auch auf das engste mit dem Festigen eigener Macht, der Akkumulation von Kapital und dem Bestreben einer Steigerung der Produktion verbunden. Schon in frühen Phasen des heute so unübersehbar ausufernden Kapitalismus waren Fortschritt und Wachstum an wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Innovationen und die etablierte Trennung von Natur/Kultur gekoppelt. In dem Moment, da Natur zur Ressource wird, wird sie gleichsam dem Wertgesetz unterworfen. Forschung und Technik sollen dabei im Rahmen des Wertgesetzes zur effizienteren Nutzung der Natur als Ressource, zu einer profitableren Aneignung ihrer Gaben und dem Aufrechterhalten der Möglichkeit ihrer Ausbeutung beitragen.170

Interessanterweise ist also das naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse stets handlungsorientiert und zukunftsgerichtet und entwickelt sich dabei immer mehr oder weniger entlang an den Vorteilen und Interessen bestimmter Gruppen, am Nutzen zu einem bestimmten Zweck. Diese Erkenntnis ist wichtig und muss bei der Frage nach den Narrativen der Gegenwart und den Imaginationen von Zukünften berücksichtigt werden. Denn einerseits positionieren sich dabei die Naturwissenschaften durch ihren vermeintlich sachlich-rationalen Forschungsmodus als Hüter objektiver Wahrheiten, als Weltenentzauberer, die einer ordnungslosen Natur mit einer anordnenden und allgemeingültigen Logik begegnen. Andererseits aber gründet sich ihr Zugang zur Welt auf einer alten Denktradition der Trennung und Hierarchisierung, auf selbst erschaffenen und ebenso machtvollen Differenzen, durch die eine Handhabung der Natur als Objekt und Ressource erst ermöglicht wird. In diesem Sinne kann der Natur entgegengetreten werden, kann das Verhältnis von Mensch/Natur gestaltet werden. Wissenschaftliche Forschung und technischer Fortschritt sind reaktionsfähig und innovativ, sie können Lösungen für Probleme finden – Probleme, die aber zunächst definiert werden müssen. Hier zeigt sich wieder die Bedeutung von Narrativ und Imagination: Je nachdem, welche Geschichte erzählt, welche Probleme definiert werden, wird Zukunft unterschiedlich imaginiert, werden bestimmte Lösungen gesucht und gefunden, sollen bestimmte Szenarien herbeigeführt werden und bieten sich bestimmte Akteure für diese Aufgaben an.

Und genau hierbei gerät auch die besonders prominente Sprecher:innenrolle der Naturwissenschaften mit Blick auf die Erzählung der multiplen Krise der Gegenwart und der Imagination möglicher Zukünfte in den Fokus. Gefragt werden muss danach, wer das notwendige Wissen zum Erzählen der Geschichte, zur Imagination und Herbeiführung der Zukunft zur Verfügung stellt.

Wenig überraschend waren es Naturwissenschaftler, die den Begriff des Anthropozäns einführten, um damit den massiven menschlichen Einfluss auf das Erdsystem zu beschreiben. Die Nachweisbarkeit dieses Einflusses in den Sedimentschichten, der Atmosphäre, den Ozeanen, in belebter wie unbelebter Materie des Planeten gab ihnen Anlass dazu, vom Eintritt in ein neues, vom Menschen dominiertes Erdzeitalter zu sprechen.171 Und trotz heftiger Diskussionen über den Anfangspunkt oder die Benennung dieses neuen Erdzeitalters, wird dessen multiple Krise im allgemeinen Tenor doch an den erdsystemischen Materialitäten nachgezeichnet und, nicht zuletzt, am Klimawandel – als präsentesten Signifikanten – erkannt.172 So ergibt sich die dominante Sprecher:innen-Rolle der Naturwissenschaften im Anthropozän also aus dem Umstand, dass die vermeintlich zu behandelnden und zu untersuchenden Bereiche – Atmosphäre und Klima, Flora und Fauna oder chemische Stoffkreisläufen – klassischerweise alles Gebiete naturwissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis darstellen.

Gleichwohl wird der Begriff des Anthropozän mittlerweile diskursiv und disziplinübergreifend nicht nur in akademischen Kreisen, sondern längst auch in Kunst und Kultur behandelt.173 Dennoch treten nun, da die entzauberte Welt gerade auch aufgrund einer durch technische Innovationen ermöglichten und dem westlichen Wahn permanenten Wachstums unterworfenen Ausbeutung, Aneignung und Zerstörung der Natur aus den Fugen zu geraten scheint, die Naturwissenschaften neuerlich in den Vordergrund und positionieren sich als ebenso sachliche wie innovative Heilsbringer einer überforderten Weltgesellschaft. Vielerorts zeigt sich dies im Versuch, Hardwarelösungen für die multiple Krise zu finden;174 technische Innovationen dienen als Antworten auf Probleme, die zuvorderst an den erdsystemischen Materialitäten abgelesen und dann auch als erdsystemische Krisen erkannt werden.

Und zumindest mit Blick auf diese erdsystemischen Krisen wird vielerorts die prominente Erzählposition der Naturwissenschaften anerkannt, wird den Forschenden im Labor die legitime Sprecher:innenrolle zugewiesen, gelten ihre Narrative als die wahren, als faktisch und objektiv. Unter anderem zeigt sich dies auch in den politischen Maßnahmen, ihren Förderprogrammen und Nachhaltigkeitsinitiativen, als Versuch auf die multiple Krise im Anthropozän zu reagieren. Weil diese Krise von den erdsystemischen Materialitäten aus gedacht und auf die Form des Wirtschaftens samt dem massiven Verbrauch fossiler Rohstoffe zurückgeführt wird, gibt es unterschiedliche Bestrebungen, das Wirtschaften durch technische Innovationen hin zu einer ökologisch verträglicheren Form zu transformieren. Wenn durch die Form des Wirtschaftens die erdsystemischen Stoffkreisläufe gestört werden, das Klima sich wandelt, kurz: die Natur, bzw. der menschliche Zugang zu dieser Natur als Ressource und Objekt sich ändert, dann braucht es neue Macht- und Produktionsstrukturen, um der Natur begegnen zu können.175 Das heißt aber auch, dass der Kapitalismus als Modus des Wirtschaftens nicht in Frage gestellt, sondern lediglich auf neue Bereiche angewandt werden soll. Um die Produktivkraft, den Konsum und eine fortschreitende Akkumulation von Kapital zu erhalten, müssen neue Rohstoffquellen geschaffen und angeeignet, muss Natur durch wissenschaftliche Erkenntnis und technische Innovationen als zugänglich erhalten bleiben.

Somit wird Nachhaltigkeit häufig als Konzept verstanden, welches den Status Quo nicht nur kurzfristig, sondern auch zukünftig aufrechterhalten soll,176 wodurch die Programme einer ökologischen Modernisierung oftmals „[f]est verankert in Individualismus, liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft“ bleiben, dabei aber dennoch „die typischen Wertmuster und Strukturprinzipien spätmoderner Gesellschaften den veränderten Rahmenbedingungen ökologischer Grenzen“ anpassen sollen.177 In dieser Erzählung liegt ein Hauptaugenmerk auf den erdsystemischen Veränderungen, die bedeuten, dass das jahrhundertealte und funktionierende Verfahren der Aneignung und Ausbeutung der Natur gefährdet wird, dass die Naturbeherrschung neuer Formen von Wissen und Technik bedarf. In einer entsprechenden Imagination von Zukunft muss also den erdsystemischen Veränderungen durch Erkenntnis und Innovation begegnet werden: Unter veränderten klimatischen Bedingungen braucht es neue Formen der Landwirtschaft, andere Anbaumethoden. So der Verbrauch fossiler Roh- und Brennstoffe enden soll, bedarf es neuer Energie- und Rohstoffquellen. Zielsetzung ist, den steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln und Energie ökologisch-nachhaltig zu decken. Allerdings geht es auch darum, der sich im Mensch/Natur-Verhältnis ändernden Natur mit Innovationskraft neuerlich im alten Modus der Aneignung und Ausbeutung, der Kontrolle und Verfügbarmachung begegnen zu können. Abermals zeigt sich die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die technische Rationalität unter dem uneingeschränkten Diktat des Tauschwertes deformiert.178

Und dennoch liegt in diesem Narrativ der ökologischen Transformation des Wirtschaftens viel Hoffnung auf den Versprechungen der Bioökonomie, welche in den letzten Jahren „als eine Art Zauberformel für die Lösung vielfältiger Probleme präsentiert“179 und von der EU schon 2012 als „radikaler Wandel unserer Art zu produzieren und zu konsumieren bezeichnet“ wurde.180 Auch die deutsche Bundesregierung hat Ende des ihr eigens gewidmeten Wissenschaftsjahres 2020 die Bioökonomie noch einmal mit einem Strategiepapier bedacht: Ihr vorrangiges Versprechen ist dabei „ein auf nachwachsenden Rohstoffen basierendes Wirtschaftssystem“181, welches die aktuell fossile Rohstoffbasis sowohl in der Herstellung von Energie als auch anderer Arten stofflicher Produkte durch Biomasse zu ersetzen versucht.182 Lettow (2020) benennt hierbei anschaulich beispielsweise Schuhsohlen aus Pilzen oder Flugtreibstoff aus Algen.183 Für all dies braucht es naturwissenschaftliche Erkenntnis und technische Innovation. Nicht unumstritten setzt Letztere dabei maßgeblich auf die Genmanipulation von Leben. So können in den Forschungslaboren der Bioökonomie mittels der synthetischen Biologie „lebendige, sich selbst regenerierende Organismen“ erzeugt werden, die sich dann „entsprechend der gewünschten Kriterien gestalten und ökonomisch nutzen“ lassen.184 Damit aber steht die Bioökonomie auch „für eine neue Qualitätsstufe der wirtschaftlichen Verwertung der Natur und damit [für] eine Verabsolutierung des ökonomischen Denkens sowie eines industriell-technologisch geprägten Leitbildes.“185 An dem gesteigerten Modus der Verwertung der Natur, an dem technisch vermittelten menschlichen Zugriff auf eine als Ressource behandelte Natur, an der Gestaltbarkeit des Lebens durch Formen des Wissens und der Manipulation zeigt sich das oben angesprochene dichotome Denken der europäischen Wissensgeschichte: Nun, in den Forschungslaboren der Bioökonomie wird es neuerlich angewandt und wiederaufgeführt, um eine als nachhaltig (im Sinne der Erhaltung des wirtschaftlichen Status Quo) imaginierte Zukunft herbeizuführen. Es ist die alte Erzählung der Trennung von Natur/Kultur, eine Geschichte der hierarchischen Begegnung, der Ordnung und Unterordnung von Natur zum Zwecke der eigenen Bevorteilung, es ist ein Epos der Ausbeutung und des Profits – die menschliche Naturbemächtigung schreibt sich im Handlungsablauf fort, soll die Zukunft gestalten.

In diesem Sinne treten im Forschungslabor der Bioökonomie unterschiedliche Zeiten miteinander in Kontakt: Eine sich seit Jahrhunderten forttragende Form des Wissens, welche auf der Trennung von Natur/Kultur beruht, wird in der Gegenwart angewandt, um bestimmte Formen des Zukünftigen herbeizuführen. Doch nicht nur auf zeitlicher, sondern auch auf räumlicher Ebene zeigt sich erneut die vielschichtige Brückenfunktion des Labors als Heterotopie: Mit Blick auf die ethischen Diskussionen rund um Genmanipulation und der damit verbundenen Schaffung und Gestaltung von Leben lässt sich erkennen, dass das Forschungslabor ein umkämpfter Ort der Gegenwart ist. Konflikte und Diskussionen um die Patentierung genetisch modifizierter Natur ergänzen dieses Bild. Am Beispiel von genmanipuliertem Maissaatgut, welches widerstandsfähig gegenüber veränderten klimatischen Bedingungen und Schädlingsbefall sei, dabei aber auch höhere Ernteerträge erzielen soll, lässt sich zumindest ein (auch) an Profiten orientiertes Interesse der Forschung und Innovation erkennen. Um in diesem Beispiel zu bleiben: Wenn technisch-kulturell hervorgebrachter Mais dann auch noch als Ressource für Biokraftstoff verwendet werden soll, kann entlang der Diskussion von „Teller oder Tank“ ein Zielkonflikt der Bioökonomie nachvollzogen werden: Die Anbauflächen der Erde sind begrenzt und es sind diese planetaren Grenzen, die zu umkämpften Räumen der imaginierten Zukünfte werden. Wenn von einer wachsenden Weltbevölkerung ausgegangen wird, dann gibt es auch weltweit einen erhöhten Lebensmittel-, Energie- und Rohstoffbedarf. Sollte nun tatsächlich eine Transformation der Wirtschaft im Sinne der Bioökonomie stattfinden, wird eine gigantische Menge an Biomasse – und entsprechende Äcker, um diese zu produzieren – benötigt, um den Bedarf der Weltgesellschaft zu decken, wobei auch über „die extrem ungleiche Ressourcenbeanspruchung“ und „die globale Verteilungsdimension“186 dieser im Kapitalismus lebenden Weltgesellschaft nachgedacht werden muss. Gerhard befürchtet, „dass vor allem die Armen des Globalen Südens die Zeche für eine verstärkte Nachfrage nach Biomasse zahlen müssen.“187 Daher sind es nicht nur Fragen nach menschlichem Zugriff auf Natur und Leben, nach der Vormachtstellung Weniger durch Wissen und Patente, die in den Laboren der Bioökonomie verhandelt werden, sondern es ist auch ganz praktisch eine Frage danach, an welchen Orten, bzw. auf welchen Äckern dieser imaginierten Zukunft Biomasse wo, für wen und wofür produziert werden soll. Somit treten die umkämpften Räume der Gegenwart mit denen möglicher Zukünfte im Labor als Heterotopie in Verbindung.

So zeigt sich abermals, dass „die gesellschaftspolitische Rolle von Wissenschaft und Technologie im Sinne der Lösung von großen gesellschaftlichen Herausforderungen“188 zuvorderst technizistisch-innovativ interpretiert, im Modus kapitalistischer Interessen umgesetzt und ohne systemkritische Ambitionen weiterbetrieben wird. Außerdem ist erneut zu erkennen, dass die Frage, wer für wen welche Geschichte erzählt – und dabei Probleme identifiziert, Lösungen und Zukünfte imaginiert – unbedingt gestellt werden muss. Auch, wenn multiple Krise und Anthropozän die Menschheit an sich als geologischen Faktor kennzeichnen, fehlt diesem Diskurs jedoch eine differenzierte Sicht auf die Menschheit, eine Sensibilität dafür, dass nicht alle gleichermaßen an den erdsystemischen Krisen Verantwortung tragen, an Strategien des Umgangs mit dem Anthropozän partizipieren dürfen und/oder können und auch nicht alle im selben Maße von künftigen Veränderungen des Planeten betroffen sein, bzw. von den getroffenen Maßnahmen profitieren werden.

So erzählt der Narrativ einer grünen Ökonomie ausgehend von den sich ändernden erdsystemischen Materialitäten und unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit zwar von der Notwendigkeit zu handeln und Veränderungen herbeizuführen, doch entpuppt sich die so imaginierte Zukunft als ein „weiter so“ lediglich in einer anderen Farbe. Imaginiert wird ein „weiter so“, das vorrangig Innovation und Technik innerhalb des alten Dualismus Natur/Kultur nutzen möchte, um Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse in den kapitalistischen Mensch/Mensch und Mensch/Natur-Beziehungen aufrecht zu erhalten. Solche Hardwarelösungen entbehren dabei leider jeglicher Reflexion über diese schon so lange bestehenden Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse und der Bedeutung der ihnen zugrunde liegenden dichotomen Trennung von Natur/Kultur.

Allerdings werden gerade in neuen und anderen Erzählungen, durch Geschichten mit unterschiedlichen Handlungsabläufen, veränderten Formen des Wissens Möglichkeiten gesehen, der multiplen Krise der Gegenwart in einem veränderten Modus des Denkens und Handelns begegnen zu können. Da in vielen Ansätzen mitunter die Dichotomie von Natur/Kultur (nicht nur) für die Umweltprobleme der Moderne verantwortlich gemacht werden,189 bietet das Auflösen und Hinterfragen alter Dualismen großes politisches Potential190. In Anbetracht der multiplen Krise und durch Vorstellungen darüber, wo diese herrührt, welche Narrationen und Denkmuster ihr zugrunde liegen und in der diese Krise herbeigeführten Gesellschaftsform namens Kapitalismus so tief verankert sind, wird erkennbar, dass es nicht die entfesselten technischen und ökonomischen Kräfte sein können, nicht ein Fortschreiten und Verbreiten dieser Kultur sein kann, welche einzig Auswege aus der Krise aufzuzeigen vermögen.191 Die aus solchen Narrativen der Gegenwart hervorgehenden Imaginationen sind mit Blick auf ihre Genealogie zu hinterfragen.192 Um die Krisen der Gegenwart überwinden zu können, sind vielmehr „gesellschaftliche Veränderungen in Richtung einer „moralischen“, solidarischen, genossenschaftlichen Ökonomie gefordert“.193 Wenn die gegenwärtigen und globalen Krisendynamiken als ein kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsverhältnissen inhärentes Kernproblem aufgefasst, also als ein kulturelles Problem, als ein Problem der Denktraditionen erkannt – und nicht ausschließlich an erdsystemischen Materialitäten abgelesen – werden, dann ergeben sich aus solchen neuen Erzählungen auch andere Imaginationen von Zukünften, eröffnen sich Freiräume für die Gestaltung postkapitalistischer Zukünfte.194

So möchte auch die in diesem Text vorgenommene Erzählung mit einem hoffnungsvollen Ausblick schließen.

Denn letztlich geht es um den Umbau der kapitalistischen Industriegesellschaft im Weltmaßstab.195 Nun stellen aber Wissenschaft, Weltmarkt und Politik vom Westen dominierte Institutionen dar, die dem Rest der menschlichen und nicht-menschlichen Welt ihre Ordnungsentwürfe globaler Verhältnisse aufzwingen196 und dabei nicht erkennen können oder wollen, dass unser Lebensstil auf Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnissen beruht und unsere hierfür grundlegenden Denkkategorien – die Trennung von Natur/Kultur – keine ewig währenden Wahrheiten, sondern historisch bedingte sind.197 Daher müssen an den nichtinstitutionalisierten Orten, in kleinen Gruppen, in unterschiedlichen Räumen, eigene, diverse Geschichten erzählt werden, sodass auch die Imaginationen dessen, was herbeigeführt werden soll, sich von den Erzählungen der allzu dominanten Sprecher:innen, von den Narrativen eines kapitalistischen Hegemon unterscheiden. So müssen neue und vor allem herrschaftsfreie Ordnungsentwürfe entstehen, in denen die Beziehungen und Positionen von Mensch, Natur und Technik, von Wohlstand und gutem Leben, von dem Verhältnis belebter und unbelebter Materie und von Wissen überhaupt, umstrukturiert werden können und dürfen.198 Genau dafür ist es „dringen notwendig, gemeinsam und neu, quer zu historischen Differenzen und zwischen allen möglichen Wissensformen und Expertisen zu denken.“199

Daher gilt der letzte Hinweis dieser Erzählung einer gewissen chinesischen Enzyklopädie, welche Erwähnung in Borges (1966) Schrift „Die analytische Sprache John Wilkens“ findet und auch von Foucault (1974) im Vorwort zu „Die Ordnung der Dinge“ aufgegriffen wird.200 Sie soll den Lesenden als ein inspirierendes Beispiel eines Ordnungsentwurfes dienen, welcher zunächst befremdlich wirken, dadurch jedoch auch die Dringlichkeit der Hinterfragung der in einem selbst festgeschriebenen Ordnungen aufzuzeigen vermag:

„die Tiere, die sich wie folgt gruppieren:

a) Tiere, die dem Kaiser gehören,

b) einbalsamierte Tiere,

c) gezähmte,

d) Milchschweine,

e) Sirenen,

f) Fabeltiere,

g) herrenlose Hunde,

h) in diese Gruppierung gehörige,

i) die sich wie Tolle gebärden,

k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind,

l) und so weiter,

m) die den Wasserkrug zerbrochen haben,

n) die von weitem wie Fliegen aussehen“

(Borges, 1966)201


Biografie

Nils Mojem

Nils Mojem hat seinen Kombi-Bachelor in den Fächern Germanistische Linguistik und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin gemacht und studiert dort seit 2018 im Master Kulturwissenschaft. Er ist seit 2020 als studentischer Mitarbeiter am Zentrum für Technik und Gesellschaft der TU Berlin als auch am Institut Futur der FU Berlin tätig. Stets im Kontext nachhaltiger Entwicklung und sozial-ökologischer Transformation und Umweltveränderungen situiert, reizt ihn besonders eine Position im „Dazwischen“ – an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen und den Berührungspunkten von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

Unter der Haut der Stadt – Daniel Kuhnert und Joshua Guiness

Die Arbeit Unter der Haut der Stadt dokumentiert das Erleben infrastruktureller Hohlräume unter den Straßen Berlins, die Daniel Kuhnert und Joshua Guiness bei Expeditionen in die dunklen unterirdischen Gänge erkunden. Die literarischen Auszüge spiegeln dabei eine Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Erfahrung von Grenzüberschreitungen, die sie dabei durchlaufen.

„Ich sehe nichts, stehe auf einer Treppe, weiß nicht wie groß der Raum ist, von hinten Geräusche, mein eigenes Echo? Ok, ich bin alleine. Was ist das? Taubenkot? Menschenkot? Egal, die Füße rauf, es ist nur Erde, halb so wild, zur Ruhe kommen, umgucken, hier geht‘s nicht weiter.“

Im Innern von Betonbrücken, Autobahnpfeilern und Kanalisationsschächten verbirgt sich ein Netzwerk aus Hohlräumen. Die massiven Infrastrukturbauten unserer Städte sind hohl. Hunderttausende Kubikmeter umbaute Luft, eingeschlossen in Stahlbeton, bilden ein Patchwork losgelöster Interieurs ohne jeglichen Bezug nach Außen. Eine gänzlich unsichtbare Ebene der Stadt schlummert innerhalb ihrer festen grauen Materie vor sich hin. Diese unsichtbare Welt kommt einer Art Unterbewusstsein der Stadt gleich. Sie ist das, was per Definition immer unter der Oberfläche bleibt, deren Existenz nicht einmal wahrgenommen wird. Eine Welt, die nur Dunkelheit und Dreck beherbergt. Im Innern wohnt das Verdrängte, Vergessene, Unbekannte.

„Ich bin bedeckt mit Schmutz und Taubenkot. Um die Taubenskelette haben sich Maden gesammelt, die mittlerweile auch tot sind.“

Sie mäandrieren nomadisch umher. Sie durchqueren Beton, schneiden durch die gerasterte Substanz der Stadt und lösen aktiv ihre Barrieren auf, indem sie neue Passagen durch sie erfinden. Alle Ebenen der Stadt bespielen! Ihre weichen, fragilen Körper dienen ihnen als Instrumente der Erschließung: verbiegen sich, schmiegen sich dem Stein an, klettern, kauern und kriechen. Mittels Werkzeug werden sie zu Cyborgs. Das Überqueren physischer Barrieren ist hier auch das Überqueren des normativen Konstruktes dessen, was ein Körper kann, darf und wie er zu domestizieren ist. Die Betonhaut unserer Stadt markiert die Trennung der zivilisierten Gesellschaft und der feindlichen, unerschlossenen Kehrseite in ihrem Inneren. Beginnt man diese Haut als eine Schwelle zu begreifen, überschreitet der Körper das Sittliche, Ergonomische und setzt sich dem Feindseligen, dem Abgeschiedenen aus. Neue Räume benötigen neue körperliche Praktiken. Die Eroberung des Ungewissen ist immer auch ein Schritt ins Wilde, der den Körper in ein prekäres Umfeld versetzt – und manchmal unverhoffte Freizügigkeit gewährt.

„Meine Knie sind vom Kriechen wund. Hier sind mit Feuerzeug kyrillische Namen an die Decke geschrieben worden.“

Der Blick schärft sich. Sie scannen, filtern, kartieren. Hinterlassen Symbole, schaffen eigene Mythen. Man wird Tier: Mit geschultem Blick für die spezifischen Zeichen und Lücken in der Umgebung erschließt man sich ein Habitat. Dieses Immer-auf-der-Hut-Sein steht komplett im Gegensatz zum ruhenden Zustand, den uns das warme, sichere Wohnzimmer erlaubt. Alles bleibt gleich und doch sieht man mehr von der Welt – von dem in potenzieller Reichweite: Durch neue Referenzen der Wahrnehmung wird die Stadt größer. Wissensbestände wachsen und ermöglichen neue Handlungsspielräume, neue räumliche Praktiken, neue Routinen. So wie sich Stück für Stück das eigene Milieu ausdehnt, erweitert sich auch der mentale Möglichkeitsraum.

„Meine Augen tränen vom Staub. Trotz FFP2 muss ich husten.“

Staub und Feuchtigkeit. Das, was nicht ist. Die leblose Härte und der mineralisch kalte Geruch des Erdreichs, verschlungen von der totalen, referenzlosen Dunkelheit eines unendlichen Bunkers. Es ist im Sommer kühl, im Winter lau. Ein toter Raum ohne wahrnehmbare Fluktuation, in dem das Schwarz festgefroren im Raum hängt und Jahre im Stillen vergehen. Die Negation der Reizüberflutung der hochfunktionalen Gesellschaft: der Lichter und Farben, der Zeichen und Aufforderungen. Abgekapselt davon schärfen sich die Sinne und neue Dimensionen von Raum treten hervor. In der erblindenden Dunkelheit verschieben sich die sinnlichen Gewichtungen und der Mensch versetzt sich wieder in einen Zustand des Hellwachseins.

„Hier ist es so groß, dass jede meiner Bewegungen ein Echo auslöst, das ich einem nichtexistenten Anderen zuordne.“

Durch die Aneignung dieser Hohlräume wird Bedeutung geschaffen: Die abweisendste, inhumanste Umgebung wird plötzlich zu einem Milieu für das Leben gemacht – man überwindet seine eigenen Sitten. Hohlräume gewähren Unsichtbarkeit. Schutz vor den erwartungsvollen Augen anderer, Rückzug vor dem alles durchdringenden Netz der Überwachung, Ausnahme von den Zwängen zivilisatorischer Konventionen. All das schafft ein Innen für das, was von Außen nicht geachtet wird. In der kartierten, kontrollierten Stadt bleibt nichts dem Zufall überlassen. Der rationalisierte Funktionalismus kollidiert jedoch mit der Realität dieser Welt und gebärt dadurch Lücken, Risse, Geheimverstecke. An der Stelle größter Ausnutzung und Geschwindigkeit faltet sich die Oberfläche unserer gebauten Umwelt um sich selbst und umschließt dabei ungewollt Blasen. Das Netzwerk dieser Freiräume bildet eine Stadt in, unter und über der Stadt. Im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, dem allumfassenden, vor nichts Halt machenden Außen, bietet nur noch der Hohlraum im Inneren einen Moment der Stille. Im Auge des Sturms ist man frei. Ein Archipel des Widerstands schwillt bereits innerhalb unserer trägen Masse. Das Andere ist in uns.

„Mein Rücken schmerzt, die Decke ist zu niedrig. Das (einzige) Licht meiner Kopflampe wird schwächer.“

Alle Abbildungen: ©Daniel Kuhnert und Joshua Guiness.


Biografie

Daniel Kuhnert studiert im Master an der TU in Berlin Soziologie mit einem besonderen Interesse für Raum- und Organisationssoziologie. In seiner Freizeit ist er professioneller Flaneur.

Joshua Guiness ist Architekt, ausgebildet in Berlin, Madrid und Zürich. Derzeit liegt sein Interesse in der Entwicklung von Gegen-Narrativen zur herkömmlichen Lesart von Stadt und Raum, um bestehende Machtverhältnisse zu hinterfragen.

Ein Endlager für Kunst – Herr Clair Bötschi

Zwei Probleme, eine Lösung: die Planung eines Endlagers für Atommüll soll Kunstsammlungen entlasten, sowohl logistisch als auch finanziell. Eine große Idee, eigenwillig formuliert – Clair Bötschi erklärt wie es funktioniert! Purer Ernst oder Provokation? Künstlerischer Beitrag oder Projektidee?

Ein Endlager für Kunst

Ein Museum ist eine Heterotopie der Zeit. Es spiegelt die Kulturgeschichte wider und verhandelt kulturelle Relevanz immer wieder neu. Es speichert Zeit und bietet der Gesellschaft einen Raum zur Reflexion.

Das muss wohl in Zeiten von Foucault, der den Begriff Heterotopie prägte, gestimmt haben. Heute dagegen nähern sich Museen immer mehr der Norm des Zeitgeistes an. Relevanz wird durch den Markt der Aufmerksamkeit hergestellt. Die Ausstellungen werden bombastischer, größer und schneller. Mehr ist mehr. Ein Hoch auf das Wachstum, die Moral und den Zeitgeist.

Abb. 1: Von der griechischen Küste stammen die Wracks von Flüchtlingsbooten, aus denen der Künstler GuillermoGalindo seine Installation gemacht hat. (Bild © picture-alliance/dpa). Abbildungsnachweis: URL: https://www.hessenschau.de/kultur/documenta/highlights/der-sound-von-flucht-und-migration,gallindo-100.html (01.08.2021).

Museen und besonders Kunstmuseen sind nicht mehr Heterotopien und damit keine Gegenräume in einer Gesellschaft, die fortwährend auf Fortschritt und Wachstum setzt. Gerade der heutige Zwang, einen gesellschaftsrelevanten Beitrag zu leisten, wie es in der Zeitgenössischen Kunst zu beobachten ist und damit immer schnelleren moralisch-politischen Themen ein herzufallen, bietet nur einen oberflächlichen Raum der Reflexion und ist eigentlich nicht zu unterscheiden von einem Shopping-Center. Die Moden kommen und gehen und das, was relevant bleibt, wird ins Depot geschoben.

Wenn man den Begriff Heterotopie ernst nimmt und sich auf die Suche nach einem Gegenraum in der Gesellschaft macht, kann man diesen heute vielleicht am ehesten im Kunstdepot erkennen. Wer es schafft die sakrosankten Hallen zu betreten – dem eröffnet sich ein Ort mit einem eigenen Verständnis von Welt, Zeit und Geschichte. Kunstdepots sind Orte, die außerhalb des Zeitgeistes stehen und die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden.

Doch das Kunstdepot ist in Gefahr. Es wird zu einer immer größeren ökonomischen Belastung für die Museen. Gerade weil es eine Heterotopie ist – ist es nicht marktfähig und relevant. Zwar wird alle Jahre mal etwas Besonderes, fast Vergessenes im Kunstdepot gefunden und dann ans Licht geholt – aber über 95 % einer Sammlung liegt dauerhaft im Depot (Walter Grasskamp, Das Kunstmuseum, Eine Erfolgreiche Fehlkonstruktion, München 2016) und erblickt nicht mehr die Ausstellungsräume. Je nach finanzieller Ausstattung kümmern sich die Museen mal gut bis weniger gut um die kulturellen Hinterlassenschaften. So vergammelt langsam, aber sicher die Kunst und wenn nicht – verbraucht sie ungeheure Summen bei den einzelnen Institutionen. Da fleißig neue Kunst produziert und angekauft wird, gibt es ein immer größer werdendes Platzproblem. Wohin also mit dem teuren Edelmüll, wie die Wochenzeitung Die Zeit einmal titelte?

Abb. 2: Ausschnitt aus Teurer Edelmüll (Die Zeit, 21. April 2016). Abbildungsnachweis: URL: https://www.magazin-restkultur.de/teurer-edelmuell/ (30.07.2021).

Ein Endlager für Kunst ist die Lösung. Ein zentrales Depot für das künstlerische Erbe der Gesellschaft, um die Museen zu entlasten, die Depots zu leeren und einen wirklichen Gegenort, eine Mega-Heterotopie in der Kunst zu schaffen. Doch wo in Deutschland sollte dieses Endlager sein?

Wer sich mit Endlager-Suchprozessen auskennt, weiß, wie langwierig und schwierig die Suche nach einem sein kann. Deutschland sucht gerade ein Endlager für radioaktive Abfälle (Atommüll) und die Blockaden, Bedenken und Ablehnungen werden den Prozess auf Jahre hinziehen. Keiner will den Atommüll vor seiner Tür haben und das ist auch verständlich.

Abb. 3: Unbekannt/Joseph Beuys, Tag X, Plakat (Offsetdruck), 1984/85. Abbildungsnachweis: URL: https://www.bpb.de/apuz/333364/gorleben-als-kulturelles-erbe-die-anti-atom-bewegung-zwischen-historisierung-und-aktualitaet (30.07.2021).

Doch die Kraft der Kunst kann das ändern. Wie wäre es, wenn wir ein Endlager für Kunst und Atommüll zusammendenken würden und damit den bisherigen rein wissenschaftlich-technischen um einen kulturellen Prozess erweitern?

Durch die Kombination von radioaktiven Abfällen und Kunst ändert sich die Bedeutung und Ausstrahlung eines Endlagers. Das künstlerische und technische Erbe gilt es zu bewahren und nicht in Vergessenheit zu kippen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die Kommune oder Stadt, welche ein Endlager für Deutschland errichtet, einen Großteil der Kunstwerke, die schon jetzt nur in Depots liegen, von den anderen Bundesländern geschenkt bekommen würde – als kulturellen Ausgleich?

Das könnte einen Anreiz bieten, sich für ein Endlager zu entscheiden und würde zwei Endlagerprobleme lösen. Als Künstler und Ökonom befasse ich mich schon mehrere Jahre mit dieser Frage. Im Folgenden möchte ich die Region Stuttgart als erstes Endlager für Kunst und Atommüll vorschlagen und ihnen einen möglichen Standort anempfehlen.

Endlager Stuttgart

Am 28. September 2020 wurde der Zwischenbericht Teilgebiete von der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) veröffentlicht (https://www.bge.de/de/endlagersuche/zwischenbericht-teilgebiete/).

Ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Endlager für hoch radioaktive Abfälle in Deutschland und auch die Region Stuttgart – genauer der Stadtbezirk Bad Cannstatt ist mit dem sogenannten kristallinen Wirtsgestein (Granit und Gneis) noch im Rennen.

Abb. 4: Zwischenbericht Teilgebiete 2020 – Endlagerstandort in der Neckarvorstadt – Stadtbezirk Bad Cannstatt – Kristallinen Wirtsgestein (Orange). Abbildungsnachweis: Garmin, https://www.bge.de/de/endlagersuche/zwischenbericht-teilgebiete/ Interaktive Karte – Ausschnitt Baden-Württemberg, Stuttgart und Bad Cannstatt.

Zwar bemühte sich das Amt für Umweltschutz der Stadt Stuttgart zugleich um eine Untauglichkeitserklärung, es handle sich um ein Heilquellenschutzgebiet, aber fast jede Kommune, die in Deutschland betroffen ist, hat scheinbare Gründe gefunden, warum sie eben nicht geeignet ist. Das zeigt hervorragend die gesellschaftliche Haltung zu diesem Thema. Dabei hat Stuttgart neben den geeigneten geologischen Formationen auch die Human Resources zu bieten. Die Tunnelarbeiten von Stuttgart S21 sind fast fertig und es könnte somit zeitnah mit den ersten Bohrungen für ein Endlager begonnen werden. Die Karte vom Zwischenbericht Teilgebiete zeigt, wo der passende Untergrund ist. Stuttgart-Mitte, Zuffenhausen und Untertürkheim sind nicht geeignet. Ein perfekter Standort für das Endlager wäre der Stadtbezirk Bad Cannstatt, genauer das Gebiet des Kraftwerk Stuttgart-Münster in der Neckarvorstadt.

Schon jetzt ist das Kraftwerk ästhetisch ein Ort, wo Energie auf Gestaltung trifft. Die Architektur spricht eine brutale Sprache der Zeitlosigkeit. Die Travertinsäulen, die bestellt und nie abgeholt wurden, können in diesem Sinne auch als Symbol eines Gegen-Orts der Gesellschaft gesehen werden. Hier, zwischen Kraftwerk, Recycling-Hof und Travertinpark schlummert eine Heterotopie, die es aufzugreifen gilt und die durch das Ansiedeln des Endlagers ins Unermessliche vergrößert werden würde. Die Infrastruktur mit Straße, Fluss und Schiene (Eisenbahnviadukt) ist für ein Depot und Endlager perfekt. Hier könnten die Bergbauarbeiten zeitnah beginnen und der Schlund in das unterirdische Endlager würde sich öffnen. Später könnte die bestehende Kraftwerks-Architektur umgenutzt und umgebaut werden, sodass hier ein überirdisches Kunstdepot geschaffen werden würde.

Abb. 5: ENBW Heizkraftwerk Stuttgart-Münster. Abbildungsnachweis: URL : https://www.enbw.com/unternehmen/konzern/energieerzeugung/fossile-energie/standorte.html (30.07.2021).

Wichtig wäre dabei, dass der Ort an sich den Charakter von heute behält und nicht kulturell aufgewertet werden würde. Direkt hier könnte ein Endlager entstehen, welches eine wirkliche Heterotopie darstellt – kein totes urbanes Quartier wie überall sonst. Die Neckarvorstadt würde zum Endlager von Kunst und Energieerzeugung – genau dieser kreativen Gesellschaft.

Das Endlager in der Neckarvorstadt könnte aus drei Teilen bestehen. Der oberirdische Teil könnte als Kunstdepot genutzt werden. Von hier würden große Stollen in die Tiefe gehen zum zweiten Komplex, wo mittel und leicht radioaktive Abfälle gemeinsam mit Kunstwerken gelagert würden. Der dritte Teil des Endlagers wäre noch tiefer gelegen und würde Platz bieten für die 5000 Castoren mit dem hoch radioaktiven Abfall.

Abb. 6: Endlager Neckarvorstadt – Bad Cannstatt.

Dass dies gar nicht so abwegig ist, konnte ich 2019 auf einer künstlerischen Forschungsreise in das Zwischenlager Covra NV im niederländischen Vlissingen erfahren. Hier werden schon längst Kulturgüter und radioaktiver Abfall gemeinsam gelagert. Museen aus der Region können dies kostenlos beantragen und nehmen das Angebot gerne an. Denn sowohl der „Edelmüll“ als auch der radioaktive Abfall brauchen das Gleiche. Ein konstantes Klima, wenig Umwelteinflüsse und maximale Sicherheit. Während der radioaktive Abfall in Betonfässer gelagert wird, können die Kunstwerke dank des perfekten Klimas offen gezeigt werden. Was lässt sich daraus für Stuttgart lernen?

Es ist nicht nur möglich, Kunst und radioaktiven Abfall gemeinsam zu lagern, sondern wirtschaftlich sinnvoll. Dabei reicht es nicht das Museen kostenlos lagern können. Nein, das Stuttgarter-Endlager-Modell würde voraussetzen, dass sich die Eigentumsverhältnisse der Kunst ändern würden. Mindestens 50 % der Kunstwerke aus allen Depots in Deutschland, welche in öffentlicher Hand sind, sollten in das Eigentum der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) überführt werde. Das würde die Museen entlasten, die BGE zu einem der wertvollsten Unternehmen machen und das Endlager in der Neckarvorstadt zum größten Lager für Kunst in Deutschland. Natürlich müssten die anderen Bundesländer hierfür zusätzlich einen finanziellen Ausgleich schaffen, der die Erweiterung des Endlagers für Kunst ermöglicht und die dauerhafte und wiederkehrende Restauration der Kunstobjekte erlaubt. Wie genau das funktionieren könnte, ist noch offen. Klar ist, dass sich der Endlagersuchprozess durch die Erweiterung mit Kunst vereinfachen würde und eine Umsetzung wahrscheinlicher erscheint. Für den Atommüll sollten wir Verantwortung übernehmen – für die Kunst müssen wir das. Eine Gesellschaft, die das nicht einsieht – ist nicht zukunftsfähig. Stuttgart könnte als gutes Beispiel vorangehen und sich für ein Endlager bewerben. Worauf warten wir noch?


Biografie

Herr Clair Bötschi

Herr Clair Bötschi ist Künstler und Ökonom. Er arbeitet und forscht an der Schnittstelle von Kunst und Wirtschaft. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf einer künstlerischen Praxis, die ökonomische Strukturen nutzt, entwickelt oder verfremdet, um damit selbst Kunst zu produzieren. Daneben arbeitet er als Produktionsleiter für das Kunstfestival CURRENT– Kunst und urbaner Raum und hat sein Studio im Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart.

Über die normativen Rhythmen kollektiver Identität und ihrer Störung oder: Bedingungen der (Un)Sichtbarkeit von Kunst an Flughäfen – Imke Felicitas Gerhard

Der Text nimmt Kontrollrhythmen und Kunst an Flughäfen in den Fokus: automatische (Selbst)Disziplinierung und freiwillige Anpassung des eigenen Rythmus’ an den gläsernen Sicherheitsapparat Flughafen. Zentrum der Auseinandersetzung ist die Performance Safety Travelling von Nural Moser, bei der sie vor ihren Flugreisen eine Burka anzieht, ihre Verschleierung dokumentiert sowie Reaktionen darauf auf Instagram teilt. Ein Spiel der (Un)Sichtbarkeit wird eröffnet und diesem im Beitrag – kaum sichtbar im Hintergrund ablaufende – Ambient Art entgegengestellt.

Abb. 1: Art+Com Studios, Dance of the Clouds, 2018. 16 Elemente aus Aluminium, Algorithmisch in ihrer Choreographie gesteuert, Terminal 4, Changi Airport, Singapur. (Copyright: Art+Com Studios)
Abbildungsnachweis: Art+Com Studios, https://artcom.de/?project=petalclouds (04.06.2021).

Changi

Form, Bewegung, Licht und Musik, vereint in einer einzigen monumentalen kinetischen Installation im Flughafen von Singapur: Dance of the clouds – das sind sechs Skulpturen, aus jeweils 16 Elementen, die sich, in rhythmischer Korrespondenz stehend, harmonisch zu einer Gesamtinstallation vereinen. Mit Musik unterlegt, bewegen sich die Elemente zu einer algorithmischen Choreographie, die sie bisweilen sanft zu einem Wolken-Ensemble verbindet, um sie dann im nächsten Moment wieder zu zerteilen.201 Immer in Bewegung verändern sie den Raum, schaffen sie einen Raum, wie die Reisenden selbst, die sich, wie gespiegelt, so scheint es, unter ihnen rhythmisch bewegen, sich hier konzentrieren und dort wieder zerstreuen. Immer in Bewegung, wie Wolken eben. Ephemer. Vergänglich. Selten sind die kurzen bewussten Momente der Bewunderung für die Schönheit ihrer Formation, häufiger jedoch ihre Nichtbeachtung. Wolken oder Dance of the Clouds sind die ästhetische Bespielung des Hintergrunds, ist der Hintergrund selbst, der, weil er sich immer im Verhältnis zum Subjekt bewegt, sich dessen Wahrnehmung entzieht. 200 Meter lang, in imposanter Höhe platziert und dennoch kaum wahrnehmbar, weil sie mit dem Raum verschmelzen und dem Rhythmus, der diesen erzeugt.202 Wann wird Kunst am Flughafen dann aber sichtbar? – Wenn sie den Rhythmus dieses Raumes stört, ihn durchbricht? Tuguo’s Transit perfomances disturb given systems of order and reveal often invisible mechanisms of control […].“203 sagt Hans-Ulrich Obrist über Barthélemy Toguo, der mit seinen Performances an Flughäfen alles andere als unsichtbar bleibt, ebenso wie die Performance Safety Travelling der Künstlerin Nural Moser, die hier thematisiert werden soll. Wann nehmen wir Wolken wahr? Wenn sie sich verdunkeln und ein Gewitter aufzieht?

Exkurs: Panopticon?

„Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“204 Wenn Michel Foucault in seinem wohl prominentesten Werk Überwachen und Strafen die Funktions- und Wirkungsweise von moderner Macht beschreibt, dann „macht” er dabei etwas sichtbar, was sich trotz oder gerade durch seine Omnipräsenz, einer konkreten Wahrnehmung entzieht. Denn untrennbar von den Körpern, welche sie durchdringt und den Räumen, die sie besetzt, entzieht sich die von Foucault beschriebene Disziplinarmacht jeglicher Fixierung, jeglicher Lokalisier- und damit auch Sichtbarkeit. Eher verteilt als konzentriert, eher fluide als starr, eher intrinsisch als extrinsisch, oder: eher Individuum als König:in. Es ist die unsichtbare Mikrophysik der Macht, die die Individuen in den Räumen verteilt, sie in den selben diszipliniert und normalisiert und dabei, indem sie ihre Körper durchsetzt, ein Teil derselben wird.205 Macht ist dem Individuum, welches sich im Prozess der Disziplinierung erst subjektiviert, also nie äußerlich. Folglich wird es aber auch selbst zum Vehikel dieses Apparates, bestätigt und reproduziert in seinen täglichen Verhaltensweisen (unmerklich) das internalisierte Machtverhältnis.206 Anders formuliert: Indem das Individuum zum Subjekt wird (ein nie abgeschlossener Prozess), diszipliniert es sich selbst und gleichzeitig die es umgebenden Mitmenschen, mit denen es in Relation steht. Diese schmerzenden Unterwerfungsprozesse – wobei sich der Schmerz aus der Differenz zur Norm bedingt, sich also mal stärker, mal schwächer äußert – können nie losgelöst von den Räumen betrachtet werden, in welchen sich die Menschen bewegen und die zu ihrer Disziplinierung beitragen. Laut Foucault ist es die Anordnung des Klassenraumes, die Verteilung des Arbeiters am Fließband, die Architektur des Gefängnisses.207 Oder: der Aufbau des Flughafens?

Selbst unsichtbar, verteilt die Macht (dort) die Individuen im Raum, schafft Blickbeziehungen und koordiniert Bewegungen. Sie produziert den disziplinierenden Blick auf sich selbst und auf die/den Andere:n. Sie generiert die monotonen Rhythmen der Konformität. Die Macht, die sich selbst verbirgt, macht sichtbar:208 Das akzeptierte Normale und das sich widersetzende Abnormale.

Exkursion: Flughafen!

Der Flughafen: ein Ort, oder, um einen ähnlich prominenten französischen Theoretiker sprechen zu lassen, der Inbegriff eines, die Supermodernität charakterisierenden Nicht-Ortes (Marc Augé)209. Im Gegensatz zum (anthropologischen) Ort, der in klassisch soziologischer Definition als die Lokalisierung einer Kultur in Zeit und Raum 210 verstanden wird, ist der supermoderne Nicht-Ort im Gegensatz dazu geschichts- und identitätslos.211 Ein künstlicher, kein gelebter Ort. Ein Ort des Passierens, nicht des Verweilens – ein Ort der Anonymität und Einsamkeit.212 Meist ausgelagert in die Peripherie, losgelöst von Alltag und Gesellschaft, kontrastiert der Flughafen in seiner architektonischen Progressivität, in seiner Abstraktheit, in den Massen an Menschen, die er temporär beherbergt und bewegt, das Außen, welches er sich aneignet und zerstört.

Unwiederbringlich räumlich getrennt von jener, und doch als landschaftlicher Ausblick für sie/ihn behalten, überlässt sich die/der singularisierte und anonymisierte und doch in der dirigierten Masse geechote Reisende der temporären Haft in dem gläsernen Gefängnis, der Mobilität. Vielleicht nicht Gefängnis aber gefangen oder vielleicht auch nicht gefangen, aber festgesetzt. Stillstand. Lähmung. Warten. Zeit. Und gleichzeitig gelenkter Fluss, kontrollierter Rhythmus, koordinierte Bewegung, konzentrierte und von dort ausströmende Mobilität. Ein Knotenpunkt in einem dynamischen Netzwerk aus Verkehr, Handel, Kommunikation und Information mit direkter, Zeit und Raum negierender Verbindung zum nächsten seiner Art. Andere Nation, anderer Name, andere Landschaft, andere Zeit? Und doch irgendwie gleich: gleiche Kontrolle, gleicher Rhythmus, gleiche Anonymität, gleicher Starbucks.

Ankunft

Geleitet durch die, nicht weniger anonymisierenden, rigide lenkenden Straßensysteme, erreicht die/der Reisende den Flughafen, das temporäre Ziel, welches zugleich den Anfang bedeutet, der sich gerne mal verzögert. Durch die eigene Destination prädisponiert, gilt es die eine richtige Abfahrt zu nehmen, das Auto an einer spezifischen Stelle zu parken und den korrekten Terminal zu wählen. Progressiv, gläsern und leicht zeigt sich die Architektur von Flughäfen, die immer auch als Gradmesser des nationalen Fortschritts fungiert.213 Machtsymbolik, ohne konkrete Symbole? Die Architektur der Moderne, welche die Fassade als Bühne der Bedeutungskonstruktion, als applizierte Ideologie kritisiert und ihre Offenlegung verlangt, fordert eine ehrliche Architektur: Aufdeckung der Konstruktion, bestenfalls Preisgabe des Inhalts oder zumindest der Funktion.

Der Flughafen aus Glas ein Verrat? Illusion der Durchlässigkeit, des uneingeschränkten Zugangs, der Freiheit. Vielmehr Kontrolle, Identifikation, Überwachung. „In a way, the user of the non-place is always required to prove his innocence.“ 214 Gläserner als die Architektur ist das Subjekt, das sich sofort nach Betreten, rhythmisch von einem Punkt der Kontrolle – kurzer Stop in der freiheitlichen Konsumwelt – zum nächsten Kontrollpunkt bewegt, wobei es, vom indoktrinierten Sicherheitswahn getrieben, seinen Körper und seine Freiheit freiwillig der Überwachung überlässt.

Transit

Trans ire. Ort. Bewegung? Als eine Umgebung des Moments, beschreibt Marc Augé den Nicht-Ort, der einen von den identitätsbestimmenden Determinanten des Alltags temporär, durch die Anonymität des nur-dort-seins, befreit und einen paradoxerweise zugleich, auf eben dieselbe reduziert:215 Identität. Ticket, Name, Einwanderungsbehörde, Grenzkontrolle. Identifizierung. (Dis)approved. Abstrahierter Körper einer abstrakten Kontrolle, die auf Zahlen und Informationen basiert, auf den Daten des fragmentierten Körpers, auf dem biometrischen Code des Gesichts, den Papillarlinien des Fingerabdrucks, auf der völligen Durchsicht, die der Ganzkörperscanner gewährt. Mechanisch wird die Bewegung des/der Vorausgehenden adaptiert, sich ordentlich in Schlange gestellt, der Gürtel schon mal abgenommen, das Lachen eingestellt. Kooperation. Es ist der anonyme, normative Rhythmus der Kontrolle, der unterwirft: erzwungenes Stillstehen in der Schlange, dann ein erlaubter Schritt. Stop. Nochmal. Schuhe aus. Arme hoch.

Hyper-sichtbar – und wenn unauffällig, gleichzeitig unsichtbar sein. Es ist die anonyme Masse der Unauffälligen, die durch ein indirektes Vertragsverhältnis (solitary contractuality)216 Konformität unterschreiben und im Zuge dessen eine temporäre, kollektive Identität gewinnen. Und es ist dieser unsichtbare, aber allgegenwärtige Vertrag, dessen Sprache der Macht sich in den Körpern und in den Bewegungen der Subjekte codiert und deren Beziehung zueinander bestimmt. Der Nicht-Ort ist laut Marc Augé das Produkt dieser unausgesprochenen, aber rhythmischen, kontraktuellen Übereinkunft, deren Klauseln aus Anweisungen, Informationen, Nutzungshinweisen, Forderungen und Verboten bestehen.217

Rhythmus

„What is an ideology without a space to which it refers, a space which it describes, whose vocabulary and links it makes use of, and whose code it embodies? […]. […] what we call ideology only achieves consistency by intervening in social space and in its production, and by thus taking on body therein.”218

„Gestural systems embody ideology and bind it to practice. Through gestures, ideology escapes from pure abstraction and performs actions […].“219

Ewiges Werden, nie absolutes, abgeschlossenes Sein: der (soziale) Raum ist laut Henri Lefebvre, um einen dritten französischen Theoretiker zu zitieren, gleichzeitig (unabgeschlossenes) Produkt einer Vielzahl differierender Rhythmen und selbst Produzent dieser. Die aus diesen Prozessen hervorgehenden räumlichen Codes, deren Lesbarkeit und Umsetzbarkeit den Zugang zu einer spezifischen Gesellschaft/Gruppe bedingen, sind laut Lefebvre immer durchzogen vom unsichtbaren Code der Macht, der, indem er alle anderen räumlichen Codes subsumiert, sich selbst der Lesbarkeit entzieht.220

Vergnügen

Von den Pflichten einer, auf standardisierten Rhythmen basierenden, abstrakten Sicherheitskontrolle befreit (Duty-free jetzt?), schreitet die/der Reisende fort, auf ziemlich gelenkten Bahnen, angelockt von parfümierter Freiheit in ein sich verschließendes Inneres, das keine Reversion erlaubt. Kosmetika, dann ausgewählte Lebensmittel, exklusive Sonnenbrillen, Prêt à Manger. Wiederholung. Dann Kunst. 7000 ausgestellte Werke im Flughafen von Mumbai, mehr als 100 Kunstwerke in jenem von Seattle: Louise Nevelson, Frank Stella, Robert Rauschenberg. Dance of the Clouds. Ambient Art?221 Häufig korrespondierend mit der sie umgebenden leichten Architektur, zum Teil wie verwoben in diese, schweben großformatige Installationen namhafter Künstler:innen an internationalen Flughäfen und werden dabei so gut wie nie bemerkt. Fehlt den Kunstwerken die exklusive Präsentation? Bedarf es einer externen, es als Kunst ausweisenden, Rahmung – einem institutionellen Signifikanten? Ist es der Raum, der sie bezeichnet? Oder ist es vielleicht der Rhythmus, welcher die Rezeption bedingt? Jan von Brevern, dessen Einordnung von Kunst an Flughäfen als Ambient Art hier aufgegriffen wird, diagnostiziert sowohl eine veränderte Präsentation sowie Rezeption, die dem akzelerierten Zeitgeist aber vielleicht weitaus mehr entspricht als die anachronistisch anmutende, konzentrierte Versenkung, die das Museum, dessen Konzeption in den ästhetischen Diskursen des 19. Jahrhunderts reift, unverändert als Bedingung für eine erstrebte ästhetische Erfahrung einfordert.222 Nostalgie? – belegte doch eine Studie des Metropolitan Museum von 2001, dass die Verweildauer der Besucher:innen vor Werken im Museum im Durchschnitt nicht mehr als 30 Sekunden betrage.223 Mehr Ambient Art also? (In)direkt die Wahrnehmung hintergründig beeinflussen? Aber was, wenn der Hintergrund, den die Kunst inszenieren will, von Macht gestaltet wird? Der sukzessive Verlust, des als soziales Produkt verstandenen sozialen Raumes, ist laut Lefebvre Konsequenz eines homogenisierenden Kapitalismus, der abstrakte Räume, abstrakte Waren und ein abstraktes Subjekt schafft oder sie durch repetitive Rhythmen produziert. Augé (Non-Place) und Lefebvre (Abstract Space) zufolge sind es illusionäre Orte, die auf Wort und Zeichen und einer gewissen Übereinkunft basieren.224 Weniger als Befreiung aus der Kontrolle denn als deren modifizierte Fortsetzung ist der Konsumbereich des Flughafens zu verstehen, der die Reisenden rhythmisch beugt, konformiert und normalisiert. Und zugleich ist es das Subjekt selbst, dessen Körper und Wahrnehmung von Macht durchsetzt, diese rhythmisch reproduziert und sich dabei selbst diszipliniert. Rhythmischer Konsens (Vertrag) einer temporären, kollektiven (weißen) Identität. Ist Kunst am Flughafen – sind die Wolken in Changi – deshalb unsichtbar, weil sie mit diesem unsichtbaren sozialen Vertrag nicht brechen?

Störung: Safety Travelling

Post 9/11

Terror. Überwachung. Sicherheit. Freiheit. Totale Überwachung als Bedingung für Sicherheit. Sicherheit als Bedingung für Freiheit. Außerdem: Ausweitung des Sicherheitsbegriffs und dessen Beschlagnahmung durch eine weiße Definitionsmacht: Sicherheit, ehemals eng definiert als staatliche, nationale Sicherheit, die es militärisch gegen eine konkrete Gefahr nach außen zu gewährleisten galt, ist heute nicht mehr die Sicherheit des Staates, sondern des Individuums und sie wird nicht mehr national verstanden, sondern global. Abstrakte Risiken ersetzen eine konkrete Gefahr und verlangen nach einer permanenten proaktiven Sicherheitspolitik.225 (USA – War against terrorism.) Die angebliche Omnipräsenz der Risiken fordert die stetige (infinite) Ausweitung der Überwachung und eine Prävention, die sozialgestalterisch wirkt, also Gesinnungen und Lebensweisen beeinflusst.226

Abb. 2: Nural Moser, Performance Safety Travelling, Metamorphose auf Passfotos, 2017.
Abbildungsnachweis: Alia Lübben: Künstlerin Nural Moser: „Burka-Influencerin oder Staatsfeind Nummer Eins”, in: monopol, Magazin für Kunst und Leben, 12.11.2018, (04.8.2021). (Courtesy: Nural Moser).

(In)Security? Das Passieren des in der EU freiwilligen Ganzkörperscanners am Flughafen ist Ausdruck dessen. Safety Travelling heißt das Projekt der Künstlerin Nural Moser, die, indem sie sich am Flughafen mit einer Burka verschleiert und die gewaltvollen Reaktionen auf diese veröffentlicht, auf komplexe Machtstrukturen hinweist. Eine medial befeuerte Paranoia zeigt hier ihre gewaltvolle Wirkung. Moser ist das Außen, das „Fremde“. Sie ist „Gefährderin“ einer illusionären (weißen) Identität, die sich nur temporär und negativ, also durch die gemeinsame Ablehnung der Differenz und durch die Unterwerfung und Reproduktion unter die Rhythmen der Kontrolle bilden kann.

Als Eurhythmia bezeichnet Lefebvre das Zusammenspiel differierender, aber harmonierender Rhythmen. Und als Arrhythmia dessen Störung,227 die erst die Wahrnehmung der dominanten (ideologischen) Rhythmen erlaubt. Nural Moser stört durch (Un)sichtbarkeit. Sie entzieht sich den Rhythmen der Kontrolle und damit einer (westlichen) Macht, die ihre Gewalt in dem von ihr dominierten Feld des Visuellen (unter anderem Überwachung – Satelliten – Drohnen(krieg) – Werbung) entfaltet. Sie versagt sich also der Identifikation durch Überwachungskameras, rebelliert gegen einen durchsehenden Körperscanner und verweigert sich dem disziplinierenden Blick des Anderen. Durch den freiwilligen Akt des Verschleierns, wider der häufig vernommenen (westlichen) Kritik von links und rechts, die die Burka als Symbol der „Rückschritts” und der Unterdrückung verachten, ist es hier nicht ihr Körper, der „unterworfen” und „enteignet“ wird, sondern es ist der, im Namen der Sicherheit hergegebene, durchleuchtete, rhythmisch beherrschte, enteignete und abstrahierte Körper des Subjekts, auf den sie durch ihre Verweigerung aufmerksam macht. Bleibt andere, häufig kinetische Kunst am Flughafen im Gegensatz dazu meist deshalb unbemerkt, weil sie sich den unwahrnehmbaren, weil inkorporierten Rhythmen eines kontrollierenden Kapitalismus anpasst, und diese aufgreifend bestätigt?

Abb. 3: Nural Moser, Performance Safety Travelling, No body is free until the female body is free, 2017. Abbildungsnachweis: Alia Lübben: Künstlerin Nural Moser: „Burka-Influencerin oder Staatsfeind Nummer Eins”, in: monopol, Magazin für Kunst und Leben, 12.11.2018, (04.8.2021). (Courtesy: Nural Moser).

Ein Paradox zum Schluss: Nural Moser macht sich für eine (westliche) Kontrolle unsichtbar und erlangt dabei Sichtbarkeit. Störende Sichtbarkeit – keine anerkannte Sichtbarkeit. Anders formuliert: sie ist hypervisible.228 Wird ihr störendes, weil die kollektive, weiße Identität gefährdendes (Un)sichtbarsein jedoch als Kunst wahrgenommen, dreht sich das Verhältnis um: Die Störung hebt sich auf und Anerkennung stellt sich ein. Als Künstlerin identifiziert und akzeptiert wird das gewaltvolle Verhör eingestellt, der misstrauische Blick gesenkt und der Durchgang problemlos gewährt. Sie wird Teil der unsichtbaren Kunst an Flughäfen.

Alle Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung der Künstler:innen zur Verfügung gestellt.


Biografie

Imke Felicitas Gerhardt

Imke Felicitas Gerhardt studierte Politik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, wo sie momentan ihren Master in Kunstgeschichte abschließt. Der Fokus ihrer theoretischen Analysen liegt stets auf der Verschränkung von Machtverhältnissen und visuellen Regimen. Als Tänzerin ist es ihr dabei auch immer ein Bedürfnis, die Effekte dieser Verflochtenheit im Hinblick auf die Wahrnehmung und den Ausdruck des Körpers zu hinterfragen. Ihrem Interesse für Poesie geschuldet, versucht sich Imke Felicitas Gerhardt an einem experimentelleren akademischen Schreiben, da sie der Auffassung ist, dass Kritik nur eine Wirkung erzielen kann, wenn sie die Strukturen der Sprache und Kommunikation herausfordert, in der sich Ideologie versteckt.

-schaft – Barbara Posch

Seit 2018 entsteht die Fotoserie -schaft von Barbara Posch, in der sie Übergangsorte fotografiert. Das Bild wird kopiert, anschließend gedehnt, gestaucht oder gedreht und mit dem Ursprungsbild wieder zusammen gefügt. Diese sichtbare Manipulation erzeugt Gegenräume, verändert die ursprüngliche Funktion einzelner Elemente oder rückt Unscheinbares in den Vordergrund. Die Wahrnehmung und Erfahrung eines Ortes sind immer von der Perspektive und der Erinnerung geprägt: ein Flackern – Blickwechsel. Mit jeder Umformung und jeder Irritation wird ein Ort im Bild oder ein Bild im Ort neu erfahrbar.

Abbildungen: Barbara Posch, aus der Serie -schaft, Fotografie, digital nachbearbeitet, seit 2018.


Biografie

Barbara Posch

Barbara Posch studierte Visuelle Kommunikation an der Universität für Künstlerische und Industrielle Gestaltung in Linz und verfolgt nun ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München mit dem Schwerpunkt Skulptur und amorphe Materialien in der Klasse von Prof. Nicole Wermers. Sie beschäftigt sich im zwei- und dreidimensionalen sowie sprachlichen Bereich mit Skulptur-immanenten Fragen zum Konsturiert-Sein. Dabei steht die wechselseitige Bedingtheit zwischen dem Objekt, es umgebenden Raum und der Zeit im Fokus ihrer Arbeiten.

FIRST ASCENT – Schwäbischer Online Alb Verein

Das Ziel der Performance FIRST ASCENT war die erstmalige Erklimmung des Olympus Mons – dem höchsten Vulkan des Sonnensystems, der sich auf dem Mars befindet. Die Besteigung fand in Echtzeit im Keller der Stuttgarter Galerie Kernweine via Google Earth statt und dauerte insgesamt 99 Stunden, was vier Marstagen entspricht. Mit einem Mausklick legte das Kollektiv virtuell 1,5 Meter zurück, wobei sie digital eine magentafarbene Linie hinterließen. Die Verschränkung von realer und virtueller Welt steht bei der Aktion im Fokus und soll zur Reflektion über die Bedeutung und Funktion des Naturbegriffs anregen.

FIRST ASCENT
CLIMBING OLYMPUS MONS
21 KM HIGHT IN FOUR SOL
ON THE RED PLANET OF MARS 2019
PERFORMING/RECORDING AT
GALERIE KERNWEINE STUTTGART
FROM 22ND TO 26TH JANUARY

Das Ziel der Performance war die Erstbesteigung des Olympus Mons. Dieser ist der größte Vulkan und Berg des Sonnensystems und befindet sich auf dem Mars.

Mit einer Höhe von 21 Kilometern ist er fast zweieinhalb mal höher als der Mount Everest. Der Durchmesser des Schildvulkans beträgt 600 Kilometer, was ungefähr der Distanz Berlin-München entspricht.
Wir erklommen den Berg in Echtzeit via Google Earth.

Die Besteigung dauerte vier Sol. Sol ist ein Marstag.
Dessen Länge beträgt 24,39 Stunden. Vier Sol sind 99 Stunden. Die Aktion fand abgeschottet in Stuttgart im Keller der Galerie Kernweine statt.
Die Wegstrecke wurde live vor Ort programmiert. Zwischen Start und Gipfel hinterließen wir eine magentafarbene Linie.

Die Länge der Route zum Gipfel betrug 200 km. Dort ist die Caldera; ein
kesselartiger Gipfelkrater.
Via Mausklick wurden 2,20 m pro Sekunde zurückgelegt. Die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit betrug 8 km/h. Wir liefen pro Sol circa sieben Stunden und 50 km. An Sol 1 erreichten wir das Basiscamp, an Sol 2 das zweite Camp, an Sol 3 das dritte Camp und an Sol 4 den Gipfel.

Der Aufstieg erfolgte von Ostnordost. Dort befindet sich ein flach verlaufender Zugang hinauf zum Gipfel. Die restlichen Flanken sind begrenzt von bis zu 8 km hohen Steilhängen.
Die Aktion wurde via Twitch gestreamt.
Been there, done that!
mit:
Roland Batroff
Kai Fischer


Biografie

Schwäbischer Online-Albverein

Der Schwäbischen Online-Albverein geht performativ wandern – online und offline. So hinterlässt das Stuttgarter Künstler*innenkollektiv nicht nur Trampelpfade als ephemere Skulpturen, sondern erklärt ebenfalls Google Maps zu seiner digitalen Wanderkarte. Dabei verschränken sich analoge und virtuelle Welten und es entsteht ein Spiel aus Land Art und Cyber-Land Art, bei der die Realität nicht am Bildschirm endet.

Voyage Pathologique – Lisa Marie Schmitt

In der Videoarbeit Voyage Pathologique werden sechs Fälle der Psychologin Graziella Magherini auf poetische und teils humorvolle Weise charakterisiert. In ihrem Buch Le syndrome de Stendhal. Du voyage dans les villes d´art von 1979 beschreibt Magherini das Stendhal-Syndrom. Charakterisiert wird dieses durch Symptome wie Atemnot, Herzrasen und Hyperventilieren sowie Gefühle der Depersonalisierung, die allesamt von einer kulturellen Reizüberflutung hervorgerufen werden. Der Begriff dieser psychosomatische Störung bezieht sich auf den französischen Schriftsteller Stendhal und dessen Notiz zu seiner Reise durch Italien.

FRANZ
Il reste debout pendant de longues heures à admirer tableaux et dessins, « avec la tête et le cœur en flammes » Ses yeux voient « des couleurs jamais vues » et, dès le premier jour, il se sent bouleversé, déconcerté, désorienté par le flot des impressions chromatiques […].212

Stunden verbringt er dort, um Malereien und Zeichnungen zu bewundern, „den Kopf und das Herz in Flammen“. Seine Augen erblicken „nie zuvor gesehene Farben“ und vom ersten Tag an fühlt er sich durch den Überfluss an Farbeindrücken niedergeschlagen, verwirrt, desorientiert […].229

KAMIL
« Lorsque nous sommes ressortis, sur les marches, nous étions vidés, complètement privés d ́énergie, comme si en sortant de cette église nous étions aussi sortis des nous-même. […] et je crois qu’à ce que ce moment-là je pouvais avoir bien quarante de fièvre. […] Je me suis étendu par terre, et l’impression de sortir hors de moi, de me perdre, de me dissoudre, a persisté. […] »230

„Als wir hinaus auf die Treppen gingen, fühlten wir uns leer, vollkommen jeglicher Energie entzogen. Als ob wir mit dem Herausschreiten aus der Kirche, aus unseren eigenen Körpern herausgetreten seien und ich glaube in diesem Moment hatte ich ungefähr 40° Fieber. […] Ich habe mich auf den Boden gelegt und das Gefühl, meinen Körper zu verlassen, mich zu verlieren, mich aufzulösen, setze ich fort.“

RUTH
[…] Ruth s’est longuement arrêtée devant les œuvres du Bronzino, de Pontormo et de Raphaël. La jeune fille a d’abord ressenti des douleurs à la tête et à l’abdomen, on a cru à une appendicite […]. […] Elle répète sans cesse: « Please! Help me! Help me! »231

[…] Ruth blieb lange Zeit vor den Arbeiten von Bronzino, Pontormo und Raphael stehen. Die junge Frau hatte erst Schmerzen im Kopf, dann im Abdomen, wir dachten an eine Blinddarmentzündung […]. […] Sie wiederholte ohne Unterlass: „Please! Help me! Help me!“

ARIEL
« […] Ces couleurs, avec des touches de rose, ces personnages, sont typiques de Chagall. L’émotion continuait à monter et je ne pouvais plus la contrôler; j’étais là, face au tableau, et je sentais que je commençais à pénétrer à l ́intérieur. […] j’ai eu l’impression que les animaux de l’arche étaient un peu des compagnons d’adventure et de sauvetage. Noé aussi, je le connaisais bien. Alors j’ai eu un peu l’impression de m’envoler, moi aussi, en même temps que ces personnages qui se détachent de la terre en une légère lévitation. Je voyais la lune plus proche et j’avais l’impression de pouvoir l’atteindre. […] »232

„[…] Diese Farben mit leichten Rosatönen, diese Figuren sind typisch für Chagall. Das Gefühl wurde stärker und ich konnte es nicht mehr kontrollieren; Ich stand dort vor dem Gemälde und ich fühlte, dass ich begann, in das Bild einzudringen. […] die Tiere der Arche waren wie Begleiter des Abenteuers und der Rettung. Auch Noah, ich kannte ihn gut. Ich fühlte mich, als schwebte ich zusammen mit den Figuren, die sich leicht vom Boden abhebten. Ich sah den Mond so nah, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte ihn erreichen. […]“

LUCY
[…] aux Offices, elle a surtout été attirée par les salles qui – avec cette accumulation d’art religieux, scènes de la vie des saints, crucifixions du Christ, Vierges à l’enfant, anges dorés de l’Olympe chrétien – lui ont semblé autant de lieux sacrés. […] Elle dit être le fruit d’une réincarnation, elle affirme qu’une religieuse s’est incarnée en elle et que celle-ci est enterrée en Italie, dans un petit village d’Ombrie dont elle a oublié le nom; elle est sûre, dit-elle, de pouvoir arriver là-bas si nous la laissons enfin seule, en paix.233

[…] in den Uffizien fühlte sie sich besonders angezogen von den Sälen, die mit ihrer Ansammlung religiöser Kunst, Szenen der Leben der Heiligen, Kreuzigungen Christi, Jungfrauen mit dem Kinde, goldenen Engeln des christlichen Olymps, als solch heilige Orte erschienen. […] Sie sagt, sie sei die Frucht der Reinkarnation einer Nonne, die in Italien in einem kleinen umbrischen Dorf, dessen Namen sie vergessen hat, begraben liegt; sie ist sicher, sagt sie, dorthin zu gelangen, wenn wir sie in Ruhe und Frieden lassen.

MARTHA
Elle est hospitalisée en proie à une bouffée délirante, après une visite au Musée de San Marco où elle s ́est longuement arrêtée devant les fresques du Beato Angelico. Après cette visite, elle a commencé à exprimer une grande inquiétude: elle dit avoir appris à la radio que le diable devait apparaître ce jour-là à Florence. Et c’est ce même jour que les anges et les diables du Beato Angelico l’ont fait pénétrer dans un monde de conflit entre le bien et le mal. Entre la lumière et les ténèbres.234

Nach einem Besuch im San Marco Museum, wo sie sich lange Zeit vor Fresken Beato Angelicos aufgehalten hatte, wurde sie in einem Zustand des Wahnsinns in ein Krankenhaus eingeliefert. Danach äußerte sie sich mit großen Sorgen: Sie sagte, sie habe im Radio gehört, dass an jenem Tag der Teufel in Florenz erscheine und am selben Tag brächten die Engel und Teufel Beato Angelicos sie in eine Welt des Konflikts zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit.

Abb. 1-8: Lisa Marie Schmitt, Voyage Pathologique, 2018, Videostills, 14:24 Min.


Biografie

Lisa Marie Schmitt

Lisa Marie Schmitt schloss 2017 ihr Studium der Freien Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste Saar als Meisterschülerin von Prof. Georg Winter ab. 2018 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium an der Cité Internationale des Arts Paris. Dieses Jahr wird sie mit dem Stipendium für Kulturaustausch Berlin Global ein Projekt in Cluj-Napoca in Rumänien realisieren. Sie arbeitet medienübergreifend mit Film, Fotografie, Skulptur und Sprache. Ihre recherchebasierten Arbeiten verbinden häufig aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen mit dem Poetischen.

100% PURE LOVE – Emilija Tolj

100% PURE LOVE bedeutet absolute Authentizität, die im Falle nicht-sichtbarer Behinderungen besonders wirkungsvoll durch eine Umkehrung von innen nach außen erreicht werden kann. Wenn die Skulptur aus Tablettenblister auf dem Körper getragen wird, dann gleicht dies für Emilija Tolj einem Outing, das performativ stellvertretend für viele andere vorgenommen wird. Das geplante Filmprojekt soll intersektional betroffene Menschen sichtbar machen.

“Taking up space as a disabled person is always revolutionary.”
– Sandy Ho235

“If you are already an unconventional person, then do whatever you want because as much as people will try to hold you to certain standards, you already are not the standard, so just be yourself” – Julian Gavino236

“There is so much that able-bodied people could learn from the wisdom that often comes with disability. But space needs to be made. Hands need to be reached out. People need to be lifted up.” – A. H. Reaume237

Abbildungen: Auszüge Screenshots aus dem Video 100% PURE LOVE.

Weiterführende links: @rebirthgarments
https://vimeo.com/382025972

Blog von Talila A. Lewis:
https://www.talilalewis.com/about.html cripcamp the documentary trailer (ganze dokumentation auf netflix erhältlich)
https://www.youtube.com/watch?v=XRrIs22plz0


Biografie

Emilija Tolj

Emilija Tolj studiert Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart und erhielt dort das DAAD PROMOS-Stipendium. Eine wichtige Station war die School of 2020 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart, aus der sich das Kollektiv Bond_ASAP begründete. Im Rahmen der Arbeitsgruppe und darüber hinaus setzt sich Emilija Tolj mit den Arbeitsbedingungen und der Inklusion marginalisierter Menschen in der darstellenden Kunst und Architektur auseinander.

„Ein trübes Dunkelmanns-Gesicht?!“ Bertel Thorvaldsens Schiller-Denkmal in Stuttgart – Lisa-Marie Hinderer

Das erste Denkmal zu Ehren des Dichters Friedrich Schillers steht in Stuttgart. 1839 wurde es auf Initiative des Stuttgarter Liederkranzes von dem Bildhauer Bertel Thorvaldsen ausgeführt. Doch bei der Enthüllung des Denkmals war die öffentliche Reaktion – besonders die des Dichters Franz Dingelstedt – ablehnend: “Nein! […] Schiller der Denker ist das nicht!” Aber welche soziohistorischen Voraussetzungen für die Errichtung des Denkmals bedingen diese Kritik?

Der Schriftsteller Friedrich Wilhelm Hackländer hielt 1878 in seinem Werk Der Roman meines Lebens folgende Erinnerung an seinen Besuch in Stuttgart, bei dem er durch die Straßen der Stadt zum Schiller-Denkmal spazierte, fest:

„Hier war vor Kurzem das Standbild Schiller’s, von Thorwaldsen modellirt, enthüllt worden und man bewunderte damals noch ungetheilt die lebensvollen Formen des vortrefflichen Monuments, fand es auch nicht unpassend, daß der Dichter und Philosoph nachdenklich mit gesenktem Kopf dasteht, statt sich aus dem Anblick des Himmels Begeisterung zu holen; während es später Mode wurde, den berühmten Bildhauer darob in Wort und Lied zu verunglimpfen und die Statue des großen Dichters als verunglückt darzustellen.“238

Entgegen der Äußerung in diesem Auszug wurde dem Denkmal für Friedrich Schiller (1759–1805) von Bertel Thorvaldsen (1768–1844), das 1839 in Stuttgart enthüllt worden war239 (Abb. 1), bereits zu diesem Zeitpunkt kritisiert.

Abb. 1: Bertel Thorvaldsen (Ausführung von Wilhelm Matthiae), Schiller-Denkmal (Frontansicht – Blick vom Alten Schloss), 1839, Bronze, H. 386 cm, Schillerplatz, Stuttgart. Abbildungsnachweis: Fotografie von Autorin Lisa-Marie Hinderer.

Aber wie kam es überhaupt dazu, dass zu Ehren Friedrich Schillers – einem Dichter – ein Denkmal errichtet wurde, wenn zuvor nur Fürsten und Feldherren (!) in dieser Form gewürdigt wurden? Im 18. Jahrhundert wurde die Denkmalwürdigkeit einer Person nicht mehr an diese selbst, sondern an deren Verdienste für den Staat geknüpft. Daher konnten sich auch Individuen außerhalb des Herrschaftsbereichs durch den Verdienst auf anderen Gebieten, wie beim Beispiel Schillers der Dichtung, als denkmalwürdig erweisen.240 Dies hängt mit dem Genie-Gedanken241, der ebenfalls im 18. Jahrhundert aufkam, zusammen.

So errichteten Stuttgarter:innen zu Ehren des „unangefochtenen deutschen Lieblingsdichter[s]“242 Schiller ein Denkmal in dessen württembergischen Heimat. Die Initiative ging vom Stuttgarter Liederkranz aus, während die Ausführung der Schillerverein übernahm, der sich als Denkmalkomitee innerhalb des Stuttgarter Gesangvereins gebildet hatte und später davon löste. Den Bemühungen dieser Vereine ist es zu verdanken, dass das Denkmal Schillers in Stuttgart auf einem öffentlich zugänglichen Platz – dem Alten Schlossplatz, heute Schillerplatz – aufgestellt worden ist.243 Die Aufstellung eines Denkmals für einen Dichter war jedoch kein Einzelfall: Ernst Förster stellt bereits im ersten Satz seines Artikels Ueber die Errichtung neuer Denkmale in Deutschland im Kunstblatt vom 9. Mai 1839, dem Datum der Enthüllung des Schiller-Denkmals in Stuttgart, fest:

„[Dass] in unsern Tagen der Fall sich wiederholt, daß man sich vereinigt, verdienten Männern der Vorzeit oder ausgezeichneten Zeitgenossen ein öffentliches Denkmal zu setzen.“244

Nichtsdestotrotz handelt es sich beim Stuttgarter Schiller-Denkmal sowohl um das erste Dichterdenkmal in dieser Größe in Deutschland245 als auch um das erste deutsche Denkmal zu Ehren Schillers246, das zudem noch das erste öffentlich aufgestellte Denkmal in Form eines Standbilds auf hohem Podest in Stuttgart ist. Dies soll jedoch nicht zu der Annahme führen, dass das Denkmal durch seine Vorwegstellung auch dementsprechend nachsichtig in der öffentlichen Meinung akzeptiert wurde. Folgt man Hans-Ernst Mittig in seinem Aufsatz Über Denkmalkritik, so werden die Ansatzpunkte der Kritik, die die zeitgenössischen Rezipient:innen für das Denkmal fanden, diesem
lange entgegengehalten.247 Im folgenden Aufsatz steht deshalb nicht der Bildhauer Bertel Thorvaldsen im Vordergrund, sondern das Denkmal sowie dessen Auftragsgeschichte verbunden mit seinem Aufstellungsort Stuttgart. Denn gerade die soziohistorischen Voraussetzungen für die Errichtung des Denkmals bedingen dessen spätere Kritik im Kontext der Schiller-Rezeption Stuttgarts.

Vorgeschichte: Danneckers kolossale Marmorbüste Schillers und erste Denkmalgedanken

Die Entstehungsgeschichte des Schiller-Denkmals beginnt bereits im Jahr 1805, dem Todesjahr des Dichters. Nach dessen Tod fasste Johann Heinrich Dannecker (1758–1841), Stuttgarter Hofbildhauer und seit den gemeinsamen Tagen an der Hohen Karlsschule Freund Schillers, den Gedanken, seine lebensgroße Gewandbüste des Dichters aus den Jahren 1793/94 als kolossale Neufassung wieder aufzugreifen (Abb. 2). Diese erste Fassung der Büste entstand noch zu Lebzeiten Schillers und auf Anlass dessen ersten und letzten Besuchs nach seiner Flucht in Württemberg.248 Nach der Fertigstellung der Büste formulierte Dannecker, der die Büste 1794 an Schiller schickte, in einem Brief an diesen:

„Ich muß Dir aber auch sagen, daß Dein Bild einen unbegreiflichen Eindruk in die Menschen macht: die Dich gesehen, finden es vollkommen ähnlich, die Dich nur aus Deinen Schriften kennen, finden in diesem Bild mehr als ihr Ideal sich schaffen konnte.“249

Abb. 2: Johann Heinrich Dannecker, Friedrich Schiller, Kolossalbüste, 1805–1810, Carrara-Marmor, H. 87 cm, B. 44 cm, T. 31 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart, Inv.-Nr. P 693. Abbildungsnachweis: Staatsgalerie Stuttgart (Hrsg.): Staatsgalerie Stuttgart. Die Sammlung. Meisterwerke vom 14. bis zum 21. Jahrhundert, München/Stuttgart 2008, S. 147, Abb. 87.

Diese Äußerung über die fertiggestellte Büste, die den Dichter wahrheitsgetreu ganz nach dem Leben zeigen soll, steht dabei jedoch im Kontrast zur Idealisierung Schillers äußerer Erscheinung. So schreibt Veronika Mertens, dass zwar die Ähnlichkeit der Büste mit dem Aussehen des Dichters bewundert wurde, Dannecker mit seiner Skulptur aber „zugleich […] zutiefst dem klassizistischen Ziel, […] Wirklichkeit ideell zu überhöhen“250 entsprach – Dies bestätigt die Nachfrage. Denn Rolf Selbmann stellt darüber hinaus fest, dass schon mit der Fertigstellung der Büste zu Lebzeiten Schillers der Wunsch nach Vervielfältigung einsetzte.251 Durch Dannecker und dessen Nachfolge wurden zahllose Reproduktionen hergestellt, so dass die Büste nach Selbmann „die Vorstellung vom Aussehen Schillers unauslöschlich prägte“252. Nachdem Dannecker nun im Mai 1805 vom weimarischen Oberhofmeister Wilhelm von Wolzogen die Nachricht über den Tod Schillers erhalten hatte, verfasste er folgende Antwort, auf die in der Forschung häufig zurückgegriffen wurde:

„Schillers Tod hat mich sehr niedergedrückt. Ich glaubte die Brust müßte mir zerspringen, und so plagte mich’s den ganzen Tag. Den andern Morgen bei’m Erwachen war der göttliche Mann vor meinen Augen, da kam mir’s in den Sinn, ich will Schiller lebig machen, aber der kann nicht anders lebig sein, als colossal. Schiller muß colossal in der Bildhauerei leben, ich will eine Apotheose.“253

So zeigt Dannecker in seinem Brief an Wolzogen, dass der Idealisierung Schillers, die sich bisher im Erscheinungsbild der Büste widergespiegelt hat, nun der Wunsch nach Monumentalisierung des Verstorbenen folgt. Seit der Idee zur Kolossalbüste, die Dannecker im Jahr 1806 fertigstellte (Abb. 2), hatte er zudem den Plan, diese in ein Denkmal zu integrieren oder genauer gesagt, diese als Mittelpunkt eines Denkmal-Ensembles zu platzieren.254 Dieser Gedanken lässt sich neben einer Zeichnung Danneckers aus dem Jahr 1805 (Abb. 3) auch in seiner folgenden Äußerung erkennen:

„Den andern Tag, als ich die höchst traurige Nachricht von seinem Todt erhalten hatte, find ich Schillers Büste Colossal an und dachte der Schwab muß dem Schwaben und Freund ein Monument machen.“255

Abb. 3: Johann Heinrich Dannecker, Entwurf zu einem Schiller-Monument, 1805, Feder in Braun über Bleistift auf roh-weißem Büttenpapier, 43,4 x 34,2 cm, Deutsches Literaturarchiv Marbach/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar, Inv.-Nr. Gr. F. 93. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schiller in Stuttgart, Stuttgart (Landesmuseum Württemberg) 2005, S. 39, Abb. 9.

Jedoch sollte es nicht zur Ausführung eines Denkmals durch die Initiative des Bildhauers in der gemeinsamen Heimat Württemberg kommen: Dannecker sagte keiner der Entwürfe für ein Denkmal Schillers, die in den folgenden Jahren vorgestellt wurden, zu und so fand die Büste keine Aufstellung.256 Das berühmte Werk blieb dem Publikum jedoch nicht ganz vorenthalten. Besonders beim ersten deutschen Schillerfest im Jahre 1825 in Stuttgart, veranstaltet durch den Stuttgarter Liederkranz, wurde der Präsentation der Büste als ephemeres Denkmal große Bedeutung zugesprochen (Abb. 4).

Abb. 4: J. A. Mayer, Aufstellung der Schiller-Büste von Johann Heinrich Dannecker am 1. Schillerfest des Stuttgarter Liederkranzes am 9. Mai 1825 zum 20. Todestag des Dichters als ephemeres Denkmal, 1825, Lithographie,
Deutsches Literaturarchiv Marbach/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schiller in Stuttgart, Stuttgart (Landesmuseum Württemberg) 2005, S. 37, Abb. 11.

Schillerrezeption in Stuttgart: Der Stuttgarter Liederkranz und der Schillerverein

Der Stuttgarter Liederkranz, ein 1824 gegründeter Gesangverein, wurde laut Sylvia Heinje „schnell zum geistigen Mittelpunkt der Stadt“257. Seine Initiative war es, jährlich drei Feste zu veranstalten, unter anderem ein Fest zum „Andenken berühmter Geister“258 – Die Wahl fiel auf Friedrich Schiller. Das erste öffentliche Schillerfest feierte der Liederkranz dann im Jahr 1825 am 20. Todestag des Dichters. Hier wurde die Büste Danneckers als ephemeres Denkmal inszeniert (Abb. 4).259 Denn neben dem alljährlichen Fest zu Schillers Todestag hatte der Stuttgarter Liederkranz ebenfalls den Vorsatz in seine Statuten aufgenommen, „dem Dichter ein Denkmal in seinem Vaterland zu gewinnen“.260 Zu diesem Zweck wurde innerhalb des Liederkranzes ab dem 23. Mai 1825 eine Kommission formiert.261 Auf Grund von Differenzen und daraus resultierenden Streitigkeiten sollte sich diese Kommission später vom Liederkranz abspalten und den Schillerverein (oder auch Verein für Schiller’s Denkmal) bilden.262

Ausführung des Denkmals: Der Bildhauer Bertel Thorvaldsen

Es „sollte also etwas Großartiges errichtet werden, und in der That griff das Comité, um dieses ins Werk zu setzen, zu dem besten und vielleicht einzigen Mittel“263: Als erste Abordnung, die auf einem öffentlichen Platz ein Dichterdenkmal aufstellen wollte264, sandte der Liederkranz Mitglieder nach München, wo sich der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen 1830 auf seiner Reise von Rom nach Kopenhagen aufhielt.265 Am 30. Januar übermittelte diese Delegation dem Bildhauer ein Schreiben266 mit der Bitte, das Denkmal auszuführen (Abb. 5). Besonders interessant an diesem Dokument ist, dass Thorvaldsen eine genaue Vorstellung vom Aussehen des
Denkmals vermittelt wurde:

„In Rücksicht dessen, was von den Beiträgen Deutschlands zu diesem Zweck etwa zu erwarten sein möchte, hat der Verein beschlossen, daß der sprechend ähnliche, colossale Kopf des Unsterblichen von der Büste unseres Hofraths v. Dannecker dazu genommen und eine sitzende colossale Statue in Bronce oder aus Eisen, und im letzteren Falle bronciert, nach diesem Maßstabe gegossen werden soll.“267

Abb. 5: Brief vom Stuttgarter Liederkranz unter dem Vorstand Reinbeck an Thorvaldsen vom
30.01.1830. Abbildungsnachweis: The Thorvaldsens Museum Archives, m15 1830, nr. 12, URL:
https://arkivet.thorvaldsensmuseum.dk/documents/m151830,nr.12 (06.04.2021), CC BY-NC-ND 4.0 International.

Nachdem Dannecker als Bildhauer – wohl aus Altersgründen268 – nicht mehr in Frage kam, wandte der Verein sich an den „Phidias unserer Zeit“269, den in Rom lebenden Bildhauer Bertel Thorvaldsen, der zu den gefragtesten zeitgenössischen Bildhauer:innen in Europa zählte.270 Jedoch spielte die Schiller-Büste Danneckers bei den Auftraggebenden weiterhin eine wichtige Rolle und so wünschte man sich von Thorvaldsen, dass er eine Sitzfigur modellierte, die eine „Art Körpersockel“271 für die Büste darstellen sollte. Rolf Selbmann spricht hier von einem „lokalpatriotische[n] Rückgriff“272, der auf eine „monumentale Konservierung des gewohnten Schillerbilds“273 abzielt. Nach Katharina Bott war Thorvaldsen jedoch „ein zu eigenwilliger Künstler, als daß er Vorschläge von Auftraggebern berücksichtigt hätte“274. So überging der Bildhauer, der dem Verein am 20. Juni 1830 seine Zusage mitteilte, die Auflagen und vollendete 1835 einen 83,5 cm hohen Entwurf für das Denkmal (Abb. 6). Den Entwurf, der trotz der Abweichungen vom Vorschlag des Schillervereins275 ohne Änderungen akzeptiert wurde276, übergab Thorvaldsen seinem Schüler Wilhelm Matthiae (1807–1888), der seit 1828 in dessen Werkstatt in Rom mitarbeitete. Matthiae setzte den Entwurf in das Gipsmodell um, nach dem das Standbild gegossen werden sollte: Das originalgroße Gipsmodell wies nun eine Höhe von 3,91 m auf – doppelt lebensgroß.277

Abb. 6: Bertel Thorvaldsen, Friedrich Schiller, Entwurf für das Schiller-Denkmal, 1835, Gips, H. 83,5 cm, Thorvaldsens Museum, Kopenhagen, Inv.-Nr. A 138. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Nürnberg (Germanisches Nationalmuseum), Schleswig (Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf) 1991, S. 686, Abb. 8.31.

Das überlebensgroße Standbild stellt Schiller idealisiert mit einem muskulösen Körper, der sich durch die Kleidung abzeichnet, sowie breiten Schultern dar (Abb. 7). In seiner linken Hand hält er ein Buch, in das der Zeigefinger eingeschlagen ist, und seine Rechte fasst einen Schreibgriffel – stereotype Attribute, die den Dargestellten als Dichter identifizieren. Während die Linke mit dem Buch ausgestreckt am Körper anliegt, ist die rechte Hand vor diesem angewinkelt. Der rechte Arm rafft dabei einen langen Umhang, der über die rechte Schulter gelegt worden ist. Der lange, antikische Umhang, den der Dichter über seinem zeitgenössischen Kostüm trägt, lässt nur die Partie oberhalb der Brust und den linken Arm frei, während er den Rest des Körpers, besonders dessen Rückenansicht, großzügig und faltenreich umhüllt.

Abb. 7: Bertel Thorvaldsen (Ausführung von Wilhelm Matthiae), Schiller-Denkmal (Nahaufnahme | Frontansicht – Blick vom Alten Schloss), 1839, Bronze, H. 386 cm, Schillerplatz, Stuttgart. Abbildungsnachweis: Appelbaum, Dirk (Hrsg.): Das Denkmal. Goethe und Schiller als Doppelstandbild in Weimar (Edition Haniel), Tübingen 1993, S. 58, Abb. 8.

Das mit einem Lorbeerkranz gekrönte Haupt senkt der Dichter (Abb. 8). Das schmale, längliche Gesicht mit hoher Stirn und ausgeprägten Wangenknochen ist durch diese Gesichtszüge stark idealisiert. So schreibt auch Katharina Bott zur Physiognomie, dass diese weitgehend ins Stereotype ausweicht.278 Jedoch wirkt das Denkmal Schillers durch die in Falten gelegte Stirn und die nach unten gezogenen Mundwinkel nachdenklich. Ernst Förster, der die prägnanteste zeitgenössische Beschreibung des Denkmals lieferte, schrieb im Kunstblatt vom 21. Mai 1839: „[S]o sehen wir den lorbeerbekränzten Dichter über dem Volk, auf hohen Postament, zu uns hernieder oder in die Tiefe der eigenen Gedanken sich verlieren.“279 was uns zum Punkt der Denkmalkritik bringt.

Abb. 8: Bertel Thorvaldsen (Ausführung von Wilhelm Matthiae), Schiller-Denkmal (Nahaufnahme des Kopfes | Seitenansicht – Blick von der Alten Kanzlei), 1839, Bronze, H. 386 cm, Schillerplatz,
Stuttgart. Abbildungsnachweis: Fotografie von Autor:in MSeses (Pseudonym) über Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Schillerdenkmal_Stuttgart_Detail.jpg (06.04.2021), CC BY-SA 3.0.

„Vor Schillers Standbild in Stuttgart. An Thorwaldsen“ Zur Denkmalkritik280

Nachdem fünfzehn Jahre seit der Gründung des Stuttgarter Liederkranzes und 34 Jahre seit dem Tod Schillers vergangen waren, wurde das Denkmal am Tag vor Schillers Todesdatum am 8. Mai 1839 unter der Abwesenheit Thorvaldsens281 feierlich im Zentrum Stuttgarts enthüllt (Abb. 9) – und kritisch begutachtet. Als Ausdruck der zeitgenössischen Kritik spiegelt das daraufhin an Thorvaldsen adressierte Gedicht Vor Schillers Standbild in Stuttgart von Franz von Dingelstedt die Rezeption des Denkmals besonders eindrücklich wider:

„Altmeister Steinmetz aus dem Norden,
Moderner Phidias ohn‘ Athen, […].
Sag‘ an, wer dir die Macht verliehen,
In deine Werkstatt, an dein Maß
Ein göttliches Geschlecht zu ziehen,
Das deinem Meißel niemals saß? […]

Die Menschen machst du zu Kolossen?
Nein, den Giganten nur zum Zwerg! […]

Der erste Dichter solch ein Mucker,
Ein trübes Dunkelmanns-Gesicht?!

Wie? dieser Kopf- und Nackenhänger,
Der wie ein Säulenheiliger steht,
Wär‘ meines Volkes Lieblingssänger,
Der deutschen Jugend Urpoet?

Fremd blieb, o Däne, dir sein Wesen,
Sein Geist, o Künstler, dir zu hoch; […].
Ha! Schlimm genug, daß wir Lebendigen
Krumm wie dein Schiller stehn und gehn,

Daß wir, nachgebend dem Nothwendigen,
Statt in die Welt zur Erde sehn;
Den Todten war’s nicht so beschieden,
Und, fremder Mann, du weißt es nicht,
Dass ach! mit ihrer Größ‘ hienieden
Auch uns’res Volkes Größe bricht!“282

Abb. 9: Wenzel Pobuda nach Friedrich Bernhard Elias, Der achte Mai 1839 in Stuttgart, 1839, Lithografie, 13,9 x 21 cm, Deutsches Literaturarchiv Marbach/Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar, Inv.-Nr. B 98.99. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schwäbischer Klassizismus zwischen Ideal und Wirklichkeit. 1770–1830. Zeichnen, malen, bilden (Bd. 1), Stuttgart (Staatsgalerie Stuttgart) 1993, S. 320, Abb. 251.

Stellvertretend für weitere kritische Auseinandersetzungen mit dem Denkmal wird bei Franz Dingelstedt deutlich, woran sich die Rezipient:innen hauptsächlich störten: Der Körperhaltung des Standbilds, insbesondere der gesenkten Haltung des Kopfes. Diese Kritik erklärt sich besser vor dem Hintergrund der Vorgeschichte des Denkmals, vor allem im Vergleich zu Danneckers Schiller-Büste. Durch die zahlreiche Vervielfältigung der Büste und deren Präsenz bei den öffentlichen Schillerfeiern des Stuttgarter Liederkranzes prägte diese die Vorstellung vom Aussehen Schillers tief. Thorvaldsen wurde zwar in dem bereits erwähnten Brief des Denkmalkomitees gebeten, den „sprechend ähnlichen, colossalen Kopf des Unsterblichen von der Büste unseres Hofraths v. Dannecker“283 zu nehmen und ergänzend dazu eine „sitzende colossale Statue“284 zu formen, setzte sich jedoch darüber hinweg. Dies wurde zwar vom Komitee ohne Änderungswünsche akzeptiert285, aber in der Rezeption des Schillerdenkmals zeigt sich jedoch, dass die Vorstellungen von Schillers äußerer Erscheinung divergieren – und somit die Werke Thorvaldsens und Danneckers konkurrieren. Besonders auffällig wird dies bei der Medaille, die zur Enthüllung des Denkmals geprägt wurde (Abb. 10). Auf der Seite – von der ausgegangen werden kann, dass es sich hierbei um die Vorderseite (!) der Münze handelt – findet sich eine Profilansicht der Büste Danneckers. Erst auf der vermeintlichen Rückseite der Münze wird das Standbild Thorvaldsens in Frontalansicht abgebildet. Der nach Bentivoglio286 „grämliche Mann da, kränklich, brütend in sich, weinerlich, leidend, gedrückt“287 steht dabei im Kontrast zur Büste Schillers, die ihren Blick weit in die Ferne richtet und den Dichter ganz nach dem Leben zeigen soll. Klaus
Fahrner formuliert diesbezüglich zugespitzt:

„Auf ihr [der Gedächtnismedaille] kontrastiert die ungebrochen apollinische Strahlkraft der Dannecker-Herme mit der kehrseitig unverkennbar den Kopf hängenden Statue, deren tendenziell resignative Züge dadurch umso stärker hervortreten.“288

Abb. 10: Ferdinand Helfricht, Medaille zur Enthüllung des Denkmals, 1839, Bronze, Ø 4,5 cm, Münzkabinett, Landesmuseum Württemberg, Stuttgart, Inv.-Nr. 721. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Schiller in Stuttgart, Stuttgart (Landesmuseum Württemberg) 2005, S. 51, Abb. 6.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Die Frage nach der Angemessenheit.
Die Übernahme des Typus des Feldherrenstandbilds – eines ganzfigurigen Stand- statt eines Büstendenkmals für einen Dichter – geht einher mit der Übertragung des Würdeanspruchs dieses Denkmaltypus. Diese mit Tradition behaftete Darstellungsform bedient sich an einem Repertoire an Haltungen, die Gerd Reichardt289 als „zu Pathosformeln gewordene Posen“ bezeichnet. Thorvaldsen orientierte sich bei seinem Denkmalentwurf nicht an diesen Darstellungskonventionen, sondern richtete sich formal gegen eine pathetische Haltung. Er versetzte „seinen“ Schiller in eine genrehafte Situation, die dem Werk und der Bedeutung des Dichters in den Augen der bisher innerhalb dieses Textes angeführten Kritik nicht angemessen schien. Thorvaldsen griff die Frage nach der Darstellungsweise Schillers später auf und äußerte sich folgendermaßen:

„Es ist weit schwerer, als man gewöhnlich glaubt, das Standbild eines Dichters, oder sonst eines Mannes, der blos durch seinen Geist wirkte, aufzufassen. Die Figur muss leben, und doch die Ruhe ausdrücken, der Körper muss scheinbar ruhen, und das, was nicht wiederzugeben ist, der Geist, muss hervortreten.“290

Wie aus dieser Formulierung hervorgeht, hatte Thorvaldsen seine eigene Vorstellung davon, wie ein Standbild für eine Persönlichkeit, die sich durch ihre geistigen Leistungen auszeichnet, auszusehen hat. Durch die ruhige Haltung des Körpers versuchte er die angestrebte Konzentration auf den Geist und somit den Kopf zu bewirken. Weiter wird Thorvaldsen nach Egon Weyer formulieren:

„Ich denke, diese Statue […] wird wohl 300, wohl 500 Jahre stehen, und dann werden die Leute nicht mehr tadeln, warum ich dem Dichter keine übermütige und herausfordernde Haltung gegeben habe.“291

Jenseits des Bruches mit den Konventionen innerhalb der Denkmalplastik gelangt man an dieser Stelle wiederum – aber um den Kreis zu schließen – erneut an den im 19. Jahrhundert in Stuttgart omnipräsenten Johann Heinrich Dannecker. Die bisher untersuchte Kritik macht deutlich, dass es sich bei den ausgeführten bildhauerischen Darstellungen Schillers um Projektionen auf seine Person handelt. Während Thorvaldsen ein ruhiges, in sich gekehrtes Bild Schillers entwirft, reduzierte der Dichter Franz Dingelstedt Schiller auf dessen Sturm und Drang-Dramen und vermisst an Thorvaldsens Denkmal einen dynamischen Gestus. Weiterführend wurde Dannecker in den Augen der Zeitgenossinnen als Freund Schillers wahrgenommen292, während Dingelstedt Thorvaldsen wiederum als „fremden Mann“293 bezeichnet. Diese Auffassungen sind relevant, wenn man der Argumentation folgen möchte, dass die persönliche Nähe Danneckers zu Schiller Auswirkungen auf die Porträtähnlichkeit des Dargestellten hatte und durch die Arbeit vor dem lebenden Modell – bei der ersten Fassung der Schiller-Büste – authentischer wurde. Aber „‚[v]ollkommen ähnlich‘ wollte die Büste nicht mit der Person Schillers, sondern mit Danneckers Vorstellung von dem Dichter schlechthin sein“294. Thorvaldsen hingegen formt mit seinem Schiller-Denkmal einen Typus, der bewusst nicht an das vorherrschende Bild Schillers, das besonders in Stuttgart durch die Präsenz der Büste Danneckers geprägt war, anknüpft. Die Diskrepanz der Sichtweisen, wie Schiller nun dargestellt gehört, lässt sich abschließend vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Zuschreibungen – in dem Fall der Auftraggebenden, des Bildhauers und seiner Werkstatt sowie der Rezipientinnen – auf die Person Schiller verstehen. An diesen wurden die Bildhauerarbeiten Danneckers und Thorvaldsens einander unvereinbar bemessen.

Die Kritik an dem Denkmal und die damit verbundene Unzufriedenheit führten schlussendlich dazu, dass Stuttgart am Anfang des 20. Jahrhunderts insgesamt fünf Standbilder des Dichters besaß. Von diesen hat sich jedoch lediglich das Standbild Schillers von Adolf von Donndorf (1835–1916) im Oberen Schlossgarten aus dem Jahr 1909 erhalten.

Ausblick: Thorvaldsens Entwurf für ein Goethe-Denkmal in Frankfurt am Main

Betrachtet man Thorvaldsens weitere Arbeit im Bereich der Denkmalplastik, werden schnell die Parallelen zu einem Denkmal-Vorhaben in Frankfurt am Main sichtbar: Hier plante man seit dem siebzigsten Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), diesem auf einer Main-Insel einen Tempel zu errichten. Im Rundtempel, auf den man sich geeinigt hatte, sollte eine Büste Goethes, angefertigt von Dannecker nach dem Vorbild seiner berühmten Schiller-Büste, platziert werden.295 Dieses Vorhaben lief jedoch ins Leere. Erst nach dem Tod Goethes wurden die Pläne erneut konkreter – und auch Thorvaldsen sendete 1840 einen Entwurf ein, der in seiner Form eindeutig an das Schiller-Denkmal erinnert (Abb. 11). Von der Disposition des Körpers, auch der gesenkten Haltung des Kopfes, bis zur Stellung der Beine gleichen sich die beiden Modelle auf den ersten Blick beinahe vollkommen. Es lässt sich festhalten, dass Thorvaldsen mit dem Schiller-Denkmal eine Form für sich gefunden hatte, an der er trotz der Kritik am Stuttgarter Werk festhielt. Allerdings wendeten sich die Frankfurter:innen von Thorvaldsen ab und schließlich modellierte der bayerische Bildhauer Ludwig Schwanthaler (1802–1848) das Denkmal Goethes (Abb. 12). Schwanthaler griff – im Gegensatz zu Thorvaldsen – wieder zu tradierten formalen Lösung der Denkmalplastik.

Abb. 11: Bertel Thorvaldsen, Johann Wolfgang von Goethe, Entwurf für ein Goethe-Denkmal in Frankfurt am Main, ca. 1840, Gips, H. 69,5 cm, Thorvaldsens Museum, Kopenhagen, Inv.-Nr. A 140. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Nürnberg (Germanisches Nationalmuseum), Schleswig (Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf) 1991, S. 694, Abb. 8.37.

Erste Male in der Denkmalplastik?

Gerade vor dem Kontrast des später errichteten Goethe-Denkmals durch Schwanthaler (Abb. 12) zeigt sich, dass nicht Thorvaldsens Vorbild weiterentwickelt wurde, sondern – besonders im Hinblick auf die Haltung – wieder auf die Tradition des Fürstendenkmals zurückgegriffen wurde. Thorvaldsen schafft durch die Ablehnung der Übernahme formaler Traditionen einen neuen Typus innerhalb der Denkmalplastik. Doch gerade die Komposition, die sich immer noch durch die Form des Standbildes an herrschaftlichen Standbildern orientiert, wurde von Teilen der Rezipientinnen nicht als angemessen für Schiller empfunden. Die Differenz zwischen den Erwartungen der Betrachterinnen und deren an ein Denkmal gerichteten formalen Kriterien auf der einen und dem ausgeführten Standbild auf der anderen Seite, führte zu enttäuschten Reaktionen. Und auch wenn sich die Passant:innen auf dem Stuttgarter Schillerplatz heute wohl weniger an der Kopfhaltung Schillers stören, so ist die Thematik des Denkmalsetzens weiterhin gesellschaftlich aktuell. Im späten 19. Jahrhundert sprach man in Anbetracht der zahlreichen Errichtung von Denkmälern zu Ehren Schillers sowie anderer Personen im öffentlichen Raum von Denkmalwut.296

Abb. 12: Ludwig Schwanthaler, Goethe-Denkmal, 1841–1844, Bronze, Gallus-Anlage (Standort von 1952–2007, heute: Goetheplatz), Frankfurt am Main. Abbildungsnachweis: Bernhard Maaz: Skulptur in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg (Bd. 1). (Jahresgabe des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 2010), Berlin/München 2010, S. 108, Abb. 119.


Aus unserer gegenwärtigen Perspektive werden – zwar nicht im Speziellen an das Stuttgarter Schiller-Denkmal, sondern im globalen Kontext – zu Recht weitere Probleme der Denkmalplastik thematisiert. So lässt sich insbesondere bei einem revidierenden Blick aus unserer Gegenwart in die Vergangenheit die Frage stellen, wieso es neben Schiller und Goethe so wenige Frauen auf einen Sockel geschafft haben (Abb. 13)?

Abb. 13: Der Stuttgarter Schillerplatz am 9. März 2021, 8:30 Uhr. Die Protest-Stencils, die von Demonstrantinnen am 8. März – dem Internationalen Frauentag – am Podest des Schiller-Denkmals angebracht wurden, werden entfernt. Abbildungsnachweis: Fotografie von Autorin
Lisa-Marie Hinderer.

Biografie

Lisa-Marie Hinderer

Lisa-Marie Hinderer studiert Kunstgeschichte im Master an der Universität Stuttgart. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf der Skulptur und Plastik des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart mit besonderem Interesse für soziohistorische Kontexte. In ihrer Bachelorarbeit über Bertel Thorvaldsens Schiller-Denkmal in Stuttgart beschäftigte sie sich mit dessen Rezeption vor dem Hintergrund der Denkmalkritik im 19. Jahrhundert. Lisa-Marie Hinderer ist als freie Kunstvermittlerin für verschiedene Institutionen in und um Stuttgart tätig, arbeitet als Ausstellungsbetreuerin im Landesmuseum Württemberg sowie als Hilfskraft am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart.

Raumfahrt in der Kunst – die künstlerische Rezeption der Mondlandung 1969 – Anne Volk

Als Neil Armstrong 1969 als erster Mensch den Mond betritt, beendet er nicht nur den Wettlauf ins All, sondern erweitert damit ebenfalls den menschlichen Wirkkreis auf den Weltraum. Die Gründung des NASA Art Program hat vordergründig die künstlerische Rezeption von Ereignissen wie diesem zum Ziel, lässt aber ebenfalls Strategien der Heroisierung und Glorifizierung der Institution erkennen.

„Important events can be interpreted by artists to give a unique insight into significant aspects of our historymaking advance into space. An artistic record of this nation‘s program of space exploration will have great value for future generations and may make a significant contribution to the history of American art“.267

Erste Male beschränken sich normalerweise auf Gefühle und Ereignisse, die innerhalb der Erdatmosphäre stattfinden, doch die Mondlandung im Jahr 1969 überschreitet diese lokale Eingrenzung und erweitert den Ort des Geschehens auf den Trabanten der Erde. Aufgegriffen wird dieses Erste Mal nicht nur in den Massenmedien der Zeit, sondern auch innerhalb der bildenden Kunst. So etabliert die NASA bereits 1962 das NASA Art Program, das sich der künstlerischen Dokumentation der Fortschritte innerhalb der Behörde widmet, wie James E. Webb, NASA-Administrator und Begründer des NASA Art Program, oben erläutert.272 Neben der Apollo 11-Mission und deren Astronauten stehen auch die vorangegangenen und sich anschließenden Missionen im Interesse des Kunstprogramms.273 Gegenstand dieses Textes soll jedoch die künstlerische Rezeption der Mondlandung 1969 innerhalb des NASA Art Program bilden. Gleichermaßen soll damit auf die interessante Verbindung von Kunst und Wissenschaft aufmerksam gemacht werden, da sich das Kunstprogramm – zumindest in Deutschland – als weitgehend unbekannt herausstellt.

Rückblickend ist die Mondlandung wohl eines der fortschrittlichsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Hervorgerufen durch den Wettlauf ins All zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA und durch John F. Kennedys nationalem Ziel, einen Menschen in den 1960er Jahren zum Mond und wieder zurück zu befördern, erlangt das Sujet im Kontext der sogenannten Apollo 11-Mission große mediale Aufmerksamkeit.283 Neben dem Interesse an der Forschung ist die Machtdemonstration der beiden Weltmächte, die den globalen Systemwettstreit während des Kalten Krieges auf die Eroberung des Weltraums ausdehnen, ein wichtiger Bestandteil des Wettlaufs.284

Vier Jahre nach der Gründung der NASA 1958 wird das zugehörige Art Program etabliert.285 Intendiert wird dabei, dass die Werke des Kunstprogramms neben der großen Menge an fotografischem Material der NASA eine andere Sichtweise auf die Ereignisse liefern, dadurch eine bildende Funktion einnehmen und auch den nachfolgenden Generationen dienen sollen.287 Teilnehmende Künstler:innen waren verpflichtet, vor Ort angefertigte Zeichnungen aufzubewahren und dem Archiv der NASA zu übergeben, wodurch die Institution über das Œuvre verfügen konnte.297 So erhielten ausgewählte Kunstwerke Einzug in Ausstellungen der National Gallery of Art in Washington, D.C. wie Eyewitness to Space (1965) und The Artist and Space (1969), wobei letztere nach der Mondlandung stattfand. In den 1980er und 1990er Jahren wurde das Programm durch Hunderte von Auftragswerken ergänzt und der Bestand im Jahr 2008 in das neu gegründete Smithsonian National Air and Space Museum überführt.298 Diese Sammlung zeichnet sich durch Facettenreichtum hinsichtlich der künstlerischen Techniken als auch der Sujets aus, wobei alle Werke generell der Space Art zugehörig sind.299 Hinsichtlich des Wettlaufs ins All scheint eine propagandistische Absicht der USA und der NASA im Kunstprogramm nahezuliegen. Tracee Haupt vermutet, die Gründung des Programms würde auf Image-Gründen der Institution fußen und die Kunst als Vermittlungsinstanz zwischen Raumfahrt und Bevölkerung dienen, um Zweifeln und Ängsten hinsichtlich der Technik und des finanziellen Aufwands entgegenzuwirken.300 Dafür spricht der Standort des Smithsonian National Air and Space Museums, das sich unmittelbar neben dem Kapitol in Washington, D.C. befindet. Die dort ausgestellten Artefakte und Kunstwerke nehmen einen repräsentativen und bildenden Charakter zugunsten der USA ein.  

Abb. 1: Norman Rockwell, Astronauts on The Moon, 1966, Öl auf Leinwand, 162,2 x 101,9 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. NASA/ Art. 50 Years of Exploration, Washington, D.C. (Smithsonian National Air and Space Museum) 2008, S. 54.

Unter diesem Gesichtspunkt fällt auf, dass die Heroisierung von Astronaut:innen und erfolgreichen Ereignissen oft eine Rolle in den Arbeiten des NASA Art Program spielt. Die Erstmaligkeit der Mondlandung manifestiert sich wiederholt in der Rezeption der amerikanischen Flagge, die stellvertretend für Neil Armstrongs und Edwin „Buzz“ Aldrins Platzierung der Flagge auf dem Mond stehen kann und damit die amerikanische Vorherrschaft in der Raumfahrt gegenüber der Sowjetunion bezeugt.301 Diese Annahme wird durch Norman Rockwells (1894–1978) Gemälde Astronauts on the Moon (1966, Abb. 1) und Behind the Apollo 11 (1969, Abb. 2) bestätigt. In Astronauts on the Moon ziert die Flagge gemeinsam mit der Aufschrift UNITED STATES die Mondlandefähre des Raumschiffs zentral im Bild. Hier muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Gemälde das tatsächliche Ereignis der Mondlandung vorwegnimmt – es entstand schon im Jahr 1966 – und daher einen werbenden Charakter für das nationale Ziel innehat. Zudem dient das Gemälde dazu, den Betrachtenden eine Vorstellung zu vermitteln, wie das technische Ereignis später aussehen könnte und steht damit in der Tradition der Space Art. So ist es nicht verwunderlich, dass Astronauts on the Moon starke visuelle Ähnlichkeiten mit der tatsächlichen Mondlandung aufweist, die drei Jahre später stattfindet. Die Flagge an Neil Armstrongs linker Schulter (1. Person links) in Behind the Apollo 11 erinnert eher an ein reales, im Wind wehendes Star-Sprangled Banner als an einen der Aufnäher, die Astronaut:innen auf ihren Raumanzügen tragen.302 Der Hintergrund des Gemäldes ist in zwei Sphären teilbar. So befinden sich die Astronauten, dem dunklen Sternenhimmel nach zu urteilen, schon im Weltall. Die nach links aufsteigende Staffelung der Männer unterstützt die Vorwärtsbewegung hin zum Mond, der sich durch den hellen Schein an ihren Helmen andeutet.303 Über den anderen Personen lichtet sich der Himmel und am rechten oberen Bildrand sind Gebäude des Kennedy Space Centers sichtbar.304

Abb. 2: Norman Rockwell: Behind the Apollo 11, 1969, Öl auf Leinwand, 71,1 x 167,6 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. NASA/ Art. 50 Years of Exploration, Washington, D.C. (Smithsonian National Air and Space Museum) 2008, S. 64 – 65.

Die Personen in Behind the Apollo 11 sind im Profil dargestellt und können in verschiedene Gruppen unterteilt werden, die jeweils durch bestimmte Attribute gekennzeichnet sind. Laut dem Titel handelt es sich um Personen, die hinter der Apollo-11-Mission stehen und für deren Gelingen Verantwortung tragen. Gleichwohl stehen sie auch räumlich hinter den drei Astronauten Neil Armstrong, Edwin „Buzz“ Aldrin und Micheal Collins, die durch ihre Raumanzüge gekennzeichnet und am linken Bildrand positioniert sind.305 Durch ihre realistischen Gesichtszüge können sie zweifelsfrei identifiziert werden. Unter der Astronautengruppe reiht sich ihre Backup-Crew, die durch ihre unvollständige Bekleidung und ihre Positionierung im Gemälde ausgezeichnet ist. Durch die Einteilung in Gruppen und deren gestaffelte Positionierung hinter den Astronauten entsteht eine Hierarchie innerhalb des Gemäldes, die innerhalb mancher Gruppierungen fortgesetzt wird. So führt Armstrong als erster Mensch, der den Mond betritt, die Astronautengruppe als auch generell die Personen an. Ihm folgt Aldrin als zweiter Mensch auf dem Mond. Hinter den beiden steht Collins, der zwar der Mission zugehörig ist, jedoch im Kommandomodul des Raumschiffs auf die Rückkehr der beiden Astronauten wartet, statt selbst den Mond zu betreten.306

Im Zentrum ist eine Reihe von Männern dargestellt, deren Vorderster eine Kopfbedeckung trägt, die auf seine Tätigkeit als Wissenschaftler verweist. Die anderen Personen zeigen signifikante Gesichtszüge, die sie in manchen Fällen als spezifische Personen ausweisen. Inmitten dieser Gruppe und damit im Zentrum des Gemäldes lässt sich die Physiognomie des deutschen Raketenwissenschaftlers Wernher von Braun ausmachen. Der Mann rechts neben ihm kann als Kurt Debus, der ehemalige Direktor des Kennedy Space Centers, identifiziert werden. Die Gruppe setzt sich also aus administrativen Personen der NASA und wichtigen Wissenschaftlern des Raumfahrtprogramms zusammen. Vereinzelte Personen mit weißen Schutzhelmen zwischen den Gruppen repräsentieren, dem Logo der NASA nach zu urteilen, technische Mitarbeitende der Raumfahrtbehörde.

Die drei Frauen unten rechts deuten laut ihrer Physiognomie auf die Frauen der drei Astronauten der Apollo-11-Mission hin. Sie stehen hinter ihnen und blicken stolz zu ihnen hinauf, wodurch ihre Unterstützung visualisiert wird. Gleichwohl verweist ihre Darstellung auf ihren Status. Frauen sind hier als die rückenstärkende Instanz dargestellt, nicht aber als Partizipantinnen des Raumfahrtprogramms. So sind sie einerseits als Astronautinnen sowie als Künstlerinnen im NASA Art Program in der Minderheit und nehmen erst Jahre oder sogar Jahrzehnte später daran teil. Trotz der russischen Kosmonautin Walentina Tereschkowa, die schon 1963 und damit nur zwei Jahre nach Yuri Gargarin ins All fliegt, sind Astronautinnen in der Raumfahrt der 1960er Jahre unterrepräsentiert.307 So fliegt Sally Ride als erste amerikanische Frau 1983, also erst 21 Jahre nach dem ersten amerikanischen Mann, ins All.308

Neben Behind the Apollo 11 gehen aus Rockwells Teilnahme am NASA Art Program zwei weitere Gemälde hervor, die durch ihre Modernität des technischen Sujets im Kontrast zu seinen gewöhnlichen Illustrationen der alltäglichen amerikanischen Gesellschaft stehen.309 Dennoch schlägt sich vor allem der patriotisch anmutende Charakter, der viele seine Werke kennzeichnet, besonders in Behind the Apollo 11 nieder. Das Gemälde nimmt damit einen repräsentativen Charakter ein, der den Erfolg der Raumfahrtbehörde mit der Bevölkerung Amerikas verknüpft. Ebenso stützt das Logo der NASA, dessen Präsenz auf die Institution verweist, diese Annahme.

Neben Rockwells Werken existieren Darstellungen, die weniger inszeniert erscheinen und Einblicke in die Arbeit innerhalb der Raumfahrtbehörde liefern. Das Gemälde „The Eagle has Landed!“ von Franklin McMahon (1921–2012) thematisiert die Mondlandung aus einer anderen Perspektive (Abb. 3). Der Titel verweist auf den Moment, als Armstrong die bekannten Worte „the Eagle has landed“ ausspricht. Wie der Inschrift rechts zu entnehmen ist, wird gezeigt, wie der Astronaut die Mondlandefähre verlässt und als erster Mensch den Mond betritt. Links daneben ist ein komplexer Bildschirm dargestellt, der die Mondoberfläche zeigt.310 Im Vordergrund sind wissenschaftliche Mitarbeiter der NASA zu sehen, die gespannt das Geschehen beobachten. Ein Kameramann und eine Überwachungskamera dokumentieren die Situation. Das Gemälde eröffnet den Betrachtenden einen interessanten Einblick in das Geschehen und lässt uns den Moment aus der Perspektive der Mitarbeitenden erleben. Zwar liegt der Fokus auf dem Astronauten Neil Armstrong, dennoch ist seine Person kaum detailliert abgebildet. Ein kleines und dennoch wichtiges Detail befindet sich am rechten Bildrand: eine eingerollte amerikanische Flagge, die der Künstler in die Darstellung integriert. Sie kann, wie zuvor erläutert, auf Armstrongs Platzierung der Flagge auf dem Mond referieren –  eine Handlung, die auf den dargestellten Moment folgt. Aus einer dokumentarischen Fotografie wird zwar ersichtlich, dass die eingerollte Flagge während des Moments tatsächlich vor Ort war und nicht vom Künstler hinzugefügt wurde, dennoch handelt es sich um eine bewusste Entscheidung, das Detail in das Gemälde zu integrieren (Abb. 4). 311 Genauso hätte McMahon den Bildausschnitt weiter nach links verschieben können, um mit einem größeren Ausschnitt der Mondoberfläche mehr technische Informationen in sein Gemälde aufzunehmen. An dieser Stelle ist zu überlegen inwiefern die Werke des Kunstprogramms einen Mehrwert gegenüber Fotografie und Video erbringen, denn sowohl das Kunstwerk als auch die Fotografie fangen die Stimmung der Beteiligten ein und liefern einen Einblick hinter die Kulissen.

Abb. 3: Franklin McMahon: “The Eagle has Landed!”, 1969, Wasserfarben auf Papier, 55,9 x 76,2 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Hereward Lester Cooke und James Dean: Eyewitness to Space. Paintings and Drawings related to the Apollo Mission to the Moon. Selected with a few Exceptions, from the Art Program of the Nation Aeronautics and Space Administration (1963 to 1970), New York 1971, S. 226.
Abb. 4: Das Kontrollzentrum während der Landung von Apollo 11, Fotografie, 1969.  Abbildungsnachweis: James Donovan: Apollo. Der Wettlauf zum Mond und der Erfolg einer fast unmöglichen Mission, München 2019, S. 72.

James Wyeths (*1946) Firing Room (1969) ruft einen ähnlichen Eindruck hervor. Das Kunstwerk gibt den Blick auf einen großen Raum frei, in dem viele Personen an diversen Computern und Bildschirmen arbeiten. Sie wenden den Betrachtenden den Rücken zu (Abb. 5). Die Details in der Darstellung nehmen zum Hintergrund hin immer weiter ab, bis die Köpfe der Personen nur noch durch dunkle Flecken zwischen ihren Bildschirmen angedeutet sind. Bunte Punkte verweisen auf diverse Lämpchen und Knöpfe, wie sie am Arbeitsplatz rechts im Vordergrund erkennbar sind. Der Raum verschwimmt nach hinten zu einer dunklen Masse, ein Exit-Schild leuchtet im Hintergrund und hebt sich davon ab. Generell wirkt das Gemälde um einiges beruhigter als die Atmosphäre, die McMahon in „The Eagle has Landed!“ einfängt. Der abgedunkelte Raum, der eigentlich nur aus Maschinen besteht, lenkt den Blick auf die Arbeitenden. Gegensätzlich zu Rockwells Behind the Apollo 11 entsteht durch die Perspektive auf die Personen eine gewisse Anonymität, wodurch sie, wie bei McMahon, nicht identifizierbar sind. Sie können in ihrer repräsentativen Funktion höchstens mit den anonymen Arbeiter:innen mit Helmen zwischen den bekannten Persönlichkeiten bei Rockwell gleichgesetzt werden. Durch ihre Arbeit, die nicht in der Öffentlichkeit steht, treten sie neben den oftmals heroisierten Astronaut:innen in den Hintergrund. Kunstwerke wie „The Eagle has Landed!“ und Firing Room zeigen die Arbeitsatmosphäre auf und offenbaren den Betrachtenden einen Bereich, der für die Ausführung der Raumfahrtmissionen elementar ist. Auch wird hier noch einmal mehr bewusst gemacht, dass hinter einigen repräsentativen Charakteren eine große Menge an Mitarbeitenden steckt, die die Raumfahrt erst ermöglichen. Anders als bei Rockwell oder McMahon werden in Firing Room weder bestimmte Personen noch Institutionen durch Symbolik aufgegriffen und es findet keine patriotische Werbung statt.

Abb. 5: James Wyeth: Firing Room, 1969, Wasserfarben auf Papier, 45,7 x 63,5 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Hereward Lester Cooke und James Dean: Eyewitness to Space. Paintings and Drawings related to the Apollo Mission to the Moon. Selected with a few Exceptions, from the Art Program of the Nation Aeronautics and Space Administration (1963 to 1970), New York 1971, S. 195

Robert Rauschenberg (1925–2008) nutzt eine andere Form der Dokumentation, indem er mit Hilfe seiner für ihn typischen Technik mehrere Abbildungen collagenhaft in seinen Lithografien vereint. Aus seinen Beobachtungen vor Ort und dem Zugriff auf das Fotoarchiv der NASA entsteht zwischen 1969 und 1970 die Stoned Moon Series, deren Gegenstand die Mondlandung ist. Die Serie umfasst insgesamt dreiunddreißig Lithografien und wird im Gemini G. E. L. in Los Angeles hergestellt.312

Abb. 6: Robert Rauschenberg: Local Means (Stoned Moon), 1970, Lithografie, 82,2 x 110 cm, New York, Robert Rauschenberg Foundation. Abbildungsnachweis: Robert Rauschenberg Foundation New York, URL: https://www.rauschenbergfoundation.org/art/artwork/local-means-stoned-moon (20.09.2020).

Die Lithografie Local Means (Stoned Moon) von 1970 ist dieser Serie zugehörig und zeigt den Start der Rakete im Zentrum, umgeben von Ausschnitten der Landschaft um das Cape Canaveral (Abb. 6). Die Collage ist in verschiedene Ebenen gegliedert, die sich gegenseitig überlagern und durch bemalte Stellen ergänzt werden. Der weiße Grund ist mit organisch geformten blauen Flächen und dunkelgrauen bis schwarzen Elementen technischer Sujets, wie Details aus Fotografien der Rakete auf der Startrampe (links), des Starts selbst (mittig) und eines Reihers (rechts), bedeckt. Rauschenberg verbindet das technische Sujet mit der Natur, die den Raketenstart umgibt und erstellt damit eine fast poetisch anmutende Kompilation. Die Raketen stehen parallel zu der Darstellung des Reihers, der sie sogar in der Größe leicht überragt und in der Inszenierung besonders der Rakete neben ihm gleicht. Beide Objekte sind von Wasser und Pflanzen umgeben und recken sich senkrecht in die Höhe. Eine Assoziation der Rakete mit dem flugfähigen Tier liegt hier nahe.313 Auch zuvor nutzt Rauschenberg diesen Vergleich. In seinem Stoned Moon Book schreibt er über den Start der Rakete:314

„On a grassy hill seeing for the first time perched

Apollo projecting calm, quiet and upright.

[…]

The bird’s nest bloomed with fire and clouds.

Softly. Largely and slowly and silently

Apollo 11 started to move up.

Then it rose being lifted on light.

Standing mid-air it began to sing happily“315

Rauschenberg assoziiert die wolkenförmige Explosion während des Raketenstarts mit dem Nest eines Vogels und beschreibt die Rakete nach ihrem Start als fröhlich singend. Dieser Vergleich entspricht einem Euphemismus des Donnerns und Dröhnens eines Raketenstarts und übersetzt das technische Sujet in die Natur, wodurch die scheinbar in der Luft stehende Rakete durch die Ähnlichkeit mit dem Habitus eines Vogels poetisiert wird. 

Local Means taucht in derselben Anordnung auch in seinem früheren, oft rezipierten Werk Sky Gardens (Stoned Moon) von 1969 auf (Abb. 7).316 Der Fokus liegt hier auf einer Konstruktionszeichnung der Saturn 5-Rakete, die für die Mondlandung eingesetzt wurde. Sie erstreckt sich über das ganze Bild und mag für das lange horizontale Bildformat ausschlaggebend sein. Die rote Farbe, die die Rakete umgibt, lässt sich zusammen mit dem oberen blauen Bildteil mit den Farben der amerikanischen Flagge assoziieren. Unterstützt wird dieser Vergleich durch die rot-weiß gestreiften Elemente links im Bild, bei denen es sich wahrscheinlich um den wallenden Stoff von Fallschirmen handelt. Im Vergleich zu den oben betrachteten Beispielen wird die Flagge so auf eine indirekte Art und Weise in das Kunstwerk integriert.

https://www.rauschenbergfoundation.org/sites/default/files/styles/zoom/public/images_artwork/69.E009.jpg?itok=RgDubsVw&slideshow=true&slideshowAuto=false&slideshowSpeed=4000&speed=350&transition=fade

Abb. 7: Robert Rauschenberg: Sky Gardens (Stoned Moon), 1969, Lithografie, 226,7 x 106,7 cm, Washington, D.C., Smithsonian National Air and Space Museum. Abbildungsnachweis: Ausst. Kat. NASA/ Art. 50 Years of Exploration, Washington, D.C. (Smithsonian National Air and Space Museum) 2008, S. 75

Eine genaue Betrachtung von Sky Gardens hilft dabei ein Element von Local Means identifizieren zu können. In beiden Lithografien ist eine runde Plakette zu erkennen. Während das Motiv in der letzteren Darstellung nur leicht zu erahnen und an manchen Stellen übermalt ist, lässt die genauere Ausführung bei Sky Gardens Rückschlüsse auf die Identität des Objekts zu. Die runde Scheibe trägt oben die Inschrift FROM PLANET EARTH und unten das Datum JULY 1969 und stellt die Plakette der sogenannten Apollo-11-Goodwill-Botschaften dar. Dabei handelt es sich um eine Silikon-Scheibe von der Größe eines 50-Cent-Stücks, die auf dem Mond hinterlassen wurde und Aussagen von Führungspersönlichkeiten aus 73 Ländern der Welt enthält. Die Nachrichten wurden um das Zweihundertfache verkleinert und auf die Plakette geprägt, sodass sie auf der Scheibe lediglich kaum sichtbare Punkte bilden.317 Aufgrund dessen ist eher von einer symbolischen Intention auszugehen. Die beiden Lithografien bestehen aus vielen verschiedenen Komponenten der Apollo-11-Mission, der auch die Plakette zugehörig ist.

Betrachtet man Rauschenbergs Lithografien im Vergleich mit Werken wie Firing Room, wird deutlich, wie unterschiedlich vermeintlich dokumentarische Darstellungen über dasselbe Ereignis sein können. Während Wyeth das Raumfahrtprogramm aus der Perspektive der wissenschaftlichen Mitarbeiter präsentiert, ist Rauschenbergs Darstellung direkt auf die Bestandteile der Mondlandung fokussiert. So gehen die Lithografien der Stoned Moon Series über eine reine Momentaufnahme hinaus und liefern einen Eindruck des Ereignisses der Mondlandung in seiner ganzen Komplexität. Die künstlerische Inszenierung übersteigt dabei die dokumentierende Fotografie in ihrer ästhetischen Kraft.

Das NASA Art Program, das auch heute noch besteht, existiert nun in einer anderen Form und ist inaktiver als in den Jahren um die Mondlandung. Zwar haben sich seitdem die Techniken und Möglichkeiten der Dokumentation stets weiterentwickelt, dennoch ist auch heute noch der künstlerische Blick auf das Thema der Raumfahrt von Relevanz. Circa sechzig Jahre nach der Gründung des Programms ist es wünschenswert, dass im Kontext vorangeschrittener Forschung auch das Kunstprogramm neuen Zuwachs erhält und Künstler:innen Zeug:innen weiterer Erster Male werden können, wie beispielsweise von der möglichen Marslandung, die sich nach und nach abzeichnet. 

Der Astronaut Michael Collins verweist auf ein Problem der künstlerischen Rezeption in den astronautischen Wissenschaften, das auch beim Ersten Mal der Mondlandung 1969 besteht.

„So far, artists have remained stuck on the ground […]. I am looking forward to the day when the artists will be able to look out of the astronauts window, and share the breathtaking view […] the artist must join the astronaut in space […]”.318

Es bleibt zu hoffen, dass in der Zukunft Künstler:innen die Möglichkeit bekommen, ihren Arbeitsraum auf das Weltall auszudehnen und dadurch eine neue, noch interessantere Verbindung von Wissenschaft und Kunst resultieren kann.


Biografie

Anne Volk

Anne Volk studiert Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, wobei ihr besonderes Interesse sozialen Zusammenhängen und gendertheoretischen Aspekten innerhalb der Kunst gilt. In ihrer Bachelorarbeit mit dem Titel Das NASA Art Program. Raumfahrt in der Kunst zwischen Dokumentation und Heroisierung beschäftigte sie sich mit Glorifizierungsstrategien innerhalb der NASA.