Ob als Schweißabdruck auf einem Laken verewigt oder in einem Amulett mitgetragen, auf dem Superbowl bejubelt oder auf Instagram von einer Million Followern verehrt, Ikonenbildungsprozesse sind vielleicht die ältesten Rezeptionsphänomene menschlichen Zusammenlebens.
Ursprünglich als christlich-orthodoxes Kultbild zur Verbindung zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen gedacht, hat sich die Ikone von ihrer vormals religiösen Bedeutung emanzipiert und erscheint heute in sich ständig wandelnden Formen. Bei allem Wandel gibt es eine Konstante: die Verehrung durch eine Anhängerschaft.
Auch diese nimmt unter den Bedingungen der Moderne eine veränderte Form an: Während in vorherigen Jahrhunderten Gläubige in stummen Gebeten versunken vor ihren Ikonen niederknieten, schlagen heute Teenagerherzen beim Anblick der Lieblingsband höher und die obsessive Beschäftigung mit dem Lifestyle der favorisierten Celebrity-Ikone kann in eine Form des Quasi-Religiösen übergehen.
Damals wie heute bringt die Ikonenverehrung Probleme mit sich. Wenn Menschen nach erleuchtenden Worten lechzend an den Lippen ihrer Ikonen hängen und auf die nächste Veröffentlichung warten, werden meist unreflektiert Glaubenssätze der Vorbilder übernommen.
Die Ikone wird zur einzig heilbringenden Gestalt auserkoren. Gerade unsere Zeit der Digitalisierung, in der mediale Aufmerksamkeit ein hart umkämpftes Gut darstellt, begünstigt das Verfolgen von Idolen aus der Hoffnung des eigenen Aufstiegs heraus. Doch was, wenn der Schein trügt und Fans an der Unerreichbarkeit des Ideals zerbrechen? Was, wenn die Faszination in eine Obsession umschlägt, die am Ende sowohl den Verehrenden als auch den Verehrten Schaden zufügt?
Ikonen und ihr Vermögen, große Massen zu mobilisieren, werden in ihrem Verständnis häufig auf die normative Funktion innerhalb der Mehrheitsgesellschaft beschränkt. Dabei besitzen sie gleichzeitig ein hohes emanzipatorisches Potenzial, wenn es darum geht, als protektorische und ermächtigende Bilder für Minderheiten zu fungieren und somit ihre Macht dafür nutzen können, eine Richtigstellung der Geschichte einzufordern.
Issue #5 von frame[less] eröffnete einen Raum zur Erprobung der Potentiale von Ikonen. Die Beiträge der Ausgabe liefern eine große Bandbreite aus Perspektiven, die sich dem Thema wissenschaftlich, künstlerisch, forschend und hypothetisch annähern. Es werden kritische Fragen gestellt, Narrative nachgezogen, dekonstruiert und Widersprüche aufgedeckt.
Who threw the first brick at stonewall? Auf jeden Fall eine Ikone.
Der Fall des Drachenlords veranschaulicht, wie das demokratisch-partizipative Potenzial digitaler Plattformen ins Gegenteil kippen kann. Hiermit zeigt sich eine Art Dialektik des Web 2.0, in der Personen der Öffentlichkeit eben dieser Öffentlichkeit ausgeliefert sind. Der Drachenlord ist somit in gewisser Weise eine Anti-Ikone: Hier wird nicht mehr um das goldene Kalb getanzt; stattdessen wird das goldene Kalb zum Tanzen gezwungen.
„Man braucht nur der eigenen Nichtigkeit innezuwerden, nur die Niederlage zu unterschreiben, und schon gehört man dazu.“1
– Graffiti auf dem ehemaligen Wohnhaus Rainer Winklers [sic]
Denkt man im populären Sinn an eine Ikone, meint man damit vermutlich so etwas wie ein Idol, einen Star, eine Figur des öffentlichen Lebens, die bewundert und verehrt wird, um die sich ein Personenkult gebildet hat und die einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Massenkultur hat. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Personen spielen die Medien – und insbesondere die digitalen Massenmedien – eine kaum zu überschätzende Rolle. Letztere ermöglichen nicht nur einen direkteren Kontakt zwischen der Ikone und ihren Verehrer:innen, sondern öffnen auch erst ganz neue Wege zum Ikonenstatus.
Bei Rainer Winkler, besser bekannt unter seinem Pseudonym Drachenlord, liegt der Fall etwas anders. Zwar hat sich um die von ihm produzierten Videos eine vergleichsweise große Anzahl an Zuschauer:innen gesammelt, aber davon zu sprechen, dass sie ihn verehren, wäre nicht ganz richtig. Im Gegenteil ist Winkler in der breiten Öffentlichkeit vor allem für das spannungsvolle Verhältnis zwischen ihm und seiner Zuschauerschaft bekannt, das 2021 beinahe zu seiner Inhaftierung geführt hätte. Der Kolumnist Sascha Lobo bezeichnete die Winkler drohende Haftstrafe als „katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft“.3 Seiner Meinung nach stellten sich die Behörden auf die Seite des Mobs der den Drachenlord seit Jahren quält und belästigt, und machten aus dem Opfer dieser andauernden Gewalt einen Täter.4
Der koordinierte Hass, den Winkler durch seine Fans erlebt, ist ein Zeugnis dafür, dass Rezipient:innen von Medieninhalten nicht länger nur passive Zuschauer:innen sind, sondern ihr Machtpotenzial längst erkannt haben und die technologischen Möglichkeiten digitaler Plattformen nutzen, um diese Macht auszuüben. Gleichzeitig offenbart sich hier die hartnäckige Fehlannahme, dass die mit dem Web 2.0 konnotierte Partizipationskultur durchweg unproblematisch und in ihrer Struktur demokratisch wäre. Vielmehr zeigt sich, dass auch in diesem technologischen Fortschritt – mit Adorno und Horkheimer gesprochen – bereits der Keim des Rückschritts in die Barbarei enthalten ist.
Die Geschichte des Drachenlords
Seit 2012 produziert Winkler unter dem Nutzernamen Drachenlord Videos und Livestreams auf Plattformen wie YouTube, YouNow und twitch, um die sich über die Jahre eine regelmäßige Zuschauer:innenschaft bildete, die auf Winklers Videos mit Hasskommentaren reagiert und die sich selbst als Hater (beziehungsweise in Anlehnung an Winklers fränkischen Dialekt auch als Haider bezeichnet).5 Die Provokationen der Hater:innen fanden ihren ersten Negativhöhepunkt in einem Drohanruf an Winklers Schwester, auf den dieser mit einem Video antwortete, in dem er die verantwortlichen Personen zu einer Prügelei herausfordert.6 Im selben Video nennt er auch seine Adresse, die er bis Frühjahr 2022 weiterhin bewohnte, was dazu führte, dass über die Jahre eine große Anzahl von Zuschauer:innen Winklers Haus im mittelfränkischen Altschauerberg besuchten, die unter dem Namen Drachenschanze zu einer Art Pilgerstätte der Community wurde. Nicht selten war das Ziel dieser Pilgerfahrten eine Fortsetzung des Hasses und der Provokationen in der offline-Welt und häufig führten sie zu Beschädigungen an Winklers Wohnhaus, sowie zu verbalen und auch körperlichen Auseinandersetzungen, von denen eine der Anlass für den bereits erwähnten Gerichtsprozess war.7
In der Vergangenheit kam es auch schon zu rechtlichen Konsequenzen für Winklers Provokateur:innen, wie zum Beispiel im Falle eines Users, der während eines Livestreams einen Feuerwehreinsatz an Winklers Haus auslöste.8 Die Ankunft der Feuerwehr sowie die Reaktion des Drachenlords sind im Livestream dokumentiert – Winkler ist somit das erste Opfer eines Swattings in Deutschland, also einer gezielten und über das Internet übertragenen Belästigung einer Person des öffentlichen Lebens unter dem Vorwand von Notfallszenarien. Die Spannungen zwischen dem Drachenlord und seinem Publikum führen auch zu wirtschaftlichen Schäden und Beeinträchtigungen der Lebensqualität für Menschen im Umfeld des YouTubers. In Hotels und Restaurants in Altschauerberg und Umgebung wurden durch Anrufe der Hater:innenTische und Zimmer reserviert oder Bestellungen aufgegeben. Die Präsenz der Hater:innen in der kleinen Gemeinde führte zu regelmäßiger Lärmbelästigung für die Anwohner:innen.9
Die koordinierten Ausschreitungen und Provokationen der Community gegenüber Winkler, die diese als das Drachengame bezeichnen, reichen bis in die intimsten Teile seines Lebens hinein. Eine Zuschauerin gab in Absprache mit anderen Hater:innen vor, romantisches Interesse an Winkler zu haben und mit ihm in einer Beziehung zu sein. Dieses unter Zuschauer:innen als Mettwoch bekannt gewordene Catfishing endete in einem Heiratsantrag Winklers während eines Livestreams und in der anschließenden Enthüllung der Inszenierung und Demütigung des Drachenlords.10
Seit Winkler sein Haus an die Gemeinde Emskirchen verkauft und es im März 2022 verlassen hatte, reist er ohne festen Wohnsitz durch Deutschland. Die Hater:innen-Community verfolgt seine Aktivitäten und tauscht sich über Telegram-Gruppen zu seinem aktuellen Aufenthaltsort aus. So zwingen sie Winkler dazu, immer weiter zu reisen.11
Das Drachengame als Anti-Fandom
Mit dem Vokabular des Medienwissenschaftlers Jonathan Gray lässt sich die Community um Winklers Videos als ein Anti-Fandom beschreiben. Der Begriff des Anti-Fans wurde von Gray als Kritik an der Publikumsforschung entwickelt, die sich in ihren Studienobjekten in erster Linie auf bekennende Fans eines Medientextes beschränkt.12Ergänzend hierzu etabliert Gray die Non-Fans, also Personen, die eine bestimmte Sendung nur gelegentlich oder mit mäßigem Interesse verfolgen13, sowie die Anti-Fans, deren Abneigung gegen einen bestimmten Medientext so stark ist, dass sie sich – ähnlich wie genuine Fans – zu Gruppen organisieren.14 Dies kann zum Beispiel daher rühren, dass sie den kulturellen Status oder die Qualität eines Films für überschätzt halten15, dass sie Entwicklungen einer Serie, deren Fan sie eigentlich waren, kritisieren16, oder aber einfach daher, dass sie der Rezeption des verhassten Textes eine gewisse Freude abgewinnen können.17 Gray hält die Anti-Fans als Studienobjekte auch deshalb für wertvoll, weil er in deren Kritik an bestimmten Medientexten ein kollektives Verhandeln ästhetischer Normen sieht:
„Behind dislike, after all, there are always expectations – of what a text should be like, of what is a waste of media time and space, of what morality or aesthetics texts should adopt, and of what we would like to see others watch or read. To study the antifan, then, is to study what expectations and what values structure media consumption.“18
Eine wichtige Praxis im Kontext der Anti-Fan–Theorie ist das so genannte hatewatching, also die Rezeption von Medieninhalten, die man hasst, gerade weil man sie hasst.19 Diese Rezeption ist häufig damit verbunden, die über den Text entstandene Frustration mit anderen zu teilen, was gemeinsam mit der affizierenden Mischung aus Hass und Freude ein effektives Werkzeug sein kann, um eine Gemeinschaft zu erzeugen.20Hatewatching ist jedoch streng von der Rezeption eines guilty pleasures zu trennen, also zum Beispiel einer Serie, die man gerne schaut, obwohl man weiß, dass sie kitschig ist:21„the ‚bad object‘ is enjoyable not because it is secretly good but because of the entertainment it offers through chronicling and categorizing its badness“.22
Der Drachenlord und seine Hater:innen scheinen für dieses Phänomen ein nahezu perfektes Beispiel darzustellen. Ganz offensichtlich hat sich um Winklers kontinuierliche Videoproduktion ein Anti-Fandom formiert das seine Videos hatewatcht, sich online über sie austauscht und ganz wortwörtlich auch chronologisiert. So findet sich zum Beispiel auf dem Anti-Fan-Blog Drachenchronik. Eine Dokumentation über den Weg ins Verderben ein extensiver Zeitstrahl, der Winklers Leben und seine Online-Aktivitäten auf den Tag genau dokumentiert, bis hin zum Wetter in Altschauerberg und den von ihm getragenen T-Shirts.23
Winkler wird somit zum Hassobjekt eines Kollektivs, das seine Abneigung ihm gegenüber immer wieder aufs Neue performt und sich dadurch in seiner eigenen Identitätskonstruktion immer weiter festigt.24 Das Internet, beziehungsweise die so genannte convergence culture, spielt hierbei eine ausschlaggebende Rolle. Digitale Plattformen liefern neue Möglichkeiten für Rezipient:innen, sich zu vernetzen und schaffen beispielsweise in Form von Foren Plattformen, auf denen einerseits Medieninhalte diskutiert, dadurch andererseits aber auch Identitäten konstruiert werden können. Die hierbei kultivierte, als Mittel der Distinktion gedachte, übermäßig kritische Haltung kann dazu führen, dass die etablierten Machtverhältnisse zwischen Produzent:innen und Konsument:innen neu verhandelt werden.25
Grenzen des Anti-Fan-Modells
Aus Sicht der Medienforscherin Emma A. Jane ist nicht nur dieses Machtverhältnis im Wandel, sondern die Grenzen zwischen den Polen Produzent:in und Rezipient:in in Auflösung begriffen. Insbesondere letztere sollten nicht weiter als ausschließlich passive Empfänger:innen verstanden werden.26 Stattdessen produzieren sie vermehrt selbst Medieninhalte und üben gleichzeitig mehr Macht aus als in der Ära der analogen Massenmedien.27 Die Protagonist:innen des Drachengames scheinen hierfür nahezu ideale Beispiele zu sein: Gerade prominente Hater:innen wie zum Beispiel der User Regenbogenschaf produzieren reichweitenstarke parodistische Videos, Songs und Hörspiele, die in mehr als einer Hinsicht auf Winklers Kosten gehen.28
Jane vertritt die Ansicht, dass es unter anderem explizit die On-Demand-Struktur der digitalen Massenmedien ist, die Anti-Fandoms begünstigt: Rezipient:innen sind es gewohnt, zu jedem Zeitpunkt zu sehen was sie wollen und dementsprechend auch gehört zu werden, wenn sie Kritik äußern.29 So entwickeln Zuschauer:innen einen starken Besitzanspruch auf die Inhalte der Populärkultur und versuchen über diese mithilfe von online koordinierten Kampagnen zunehmend Kontrolle auszuüben.30 Jane zeigt anhand verschiedener Beispiele, wie fließend bei diesen Kampagnen der Übergang zwischen Kritik, Anti-Fandom und Cyberbullying ist.31
„[C]ontemporary anti-fandom often involves ‚ordinary‘ people directing explicit, ad hominem invective toward other ‚ordinary‘ people who may be more vulnerable to anti-fan campaigns than seasoned celebrities.“32
Und auch im Falle des Drachenlords scheint genau dies der Fall zu sein. Während Winkler im Internet durchaus prominent ist, wird er von Behörden und Nachbar:innen in erster Linie als Privatperson verstanden und die professionellen Aspekte seiner Online-Tätigkeiten werden marginalisiert.33
Vom Telefon zum Radio und wieder zurück: Adorno und die sozialen Medien
Denkt man an die demokratischen Potenziale der digitalen Plattformen, ohne deren Existenz Winklers Situation undenkbar wäre, und den Optimismus hinsichtlich einer Emanzipation der vormals ausschließlich passiven Empfänger:innen, mag es zunächst überraschend wirken, dass diese Grundlage so schnell in eine neue Form der Ungerechtigkeit umschlagen konnte.34 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer kritisieren den „Schritt vom Telephon zum Radio“ als einen Schritt weg von der Partizipation und damit auch weg von der Demokratie. Ausgehend von ihrer Kritik an der Struktur der Massenmedien der Kulturindustrie als eine geringe Anzahl zentralisierter Sender:innen und vielen machtlos-passiven Empfänger:innen35 wäre es im Umkehrschluss gerechtfertigt in der dezentralen Organisation digitaler Massenmedien einen Fortschritt zu sehen. Der Medienwissenschaftler Christian Fuchs warnt jedoch davor, dass eine solche Sichtweise die Eigentumsverhältnisse digitaler Plattformen nicht berücksichtigt. Die vermeintlichen Freiräume des Internets existieren nicht außerhalb kapitalistischer Logik und die Möglichkeiten, die Nutzer:innen auf den entsprechenden Plattformen haben, werden durch die Konzerne bestimmt, denen diese Plattformen gehören.36 Im Falle von YouTube manifestieren sich diese Rahmenbedingungen zum Beispiel darin, welche Videos durch den Algorithmus besonders häufig empfohlen werden und welche Videos mithilfe von Werbung monetarisiert werden können.37
Auch Fuchs‘ These, dass „[d]ie Kultur in den sozialen Medien […] eine Kulturindustrie“38 sei, scheint durchaus gerechtfertigt: Wo die analogen Massenmedien, wie sie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung beschreiben, auf Casting-Shows und Talentscouts angewiesen sind, um die „Spontaneität“ des Publikums zu absorbieren und nutzbar zu machen, scheint diese Arbeit im Falle der sozialen Medien auf das Publikum selbst ausgelagert zu sein.39 Letzteres übernimmt gewissermaßen kollektiv die Rolle der Talentscouts, die entscheiden, welche Personen und Formate sich auf der Plattform durchsetzen. Bereits in den Anfängen des Internets ist ersichtlich wie abhängig digitale Plattformen von der kostenlosen Arbeit ihrer Nutzer:innen sind.40 In gewisser Weise sind Plattformen wie YouTube also eine neoliberale Kulturindustrie.
Über die Kulturindustrie der analogen Massenmedien schreiben Adorno und Horkheimer, dass das System nur diejenigen unterstützt und am Leben erhält, die sich ihm genügend unterwerfen.41 Und gerade der Fall des Drachenlords macht deutlich, wie drakonisch die Strafen der digitalen Kulturindustrie an denjenigen ausfallen können, die sich diesem Schritt der Unterwerfung widersetzen. Winkler bleibt unangepasst und verweigert sich den Qualitätsstandards der Plattform und der Kritik der Hater:innen. Wo andere vermutlich schon vor Jahren aufgehört hätten Videos zu machen, will sich der Drachenlord nicht von seinen Anti-Fans besiegen lassen. Genau wie es das System der analogen Kulturindustrie so aussehen ließ, als hätten diejenigen die erfolglos bleiben, lediglich ihre Chancen nicht richtig genutzt und hätten deshalb ihr Scheitern verdient,42 zeigt der Fall Winklers wie ein Internet-Mob seine Aggression gegen einen Außenseiter anhand dessen Außenseiter-Status legitimiert und damit gewissermaßen dessen Scheitern verdoppelt. Dass er gegenüber dem Hass den er im Internet erfährt nicht kapituliert, wird ausgelegt, als sei Winkler selbst an seiner Situation schuld. So erheben die Hater:innen die Aggression die sie selbst ausüben zu einer Art Naturgewalt und legen sich sogar zurecht, dass die inzwischen abgewendete Gefängnisstrafe für Winklers Leben vorteilhaft gewesen wäre, da ein mehrjähriger Gefängnisaufenthalt den aus ihrer Sicht notwendigen Neustart für Winkler hätte darstellen können.43 So scheint für die digitalen Medien dasselbe zu gelten was Adorno auch schon über das Fernsehen schreibt: „Vermutlich macht das Fernsehen [die Menschen] nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind.“44
Winklers sozialer Status als Mobbing-Opfer erscheint wie eine komplette Umkehrung von Max Webers Theorien zur charismatischen Herrschaft. Genau wie Webers charismatischer Herrscher seine Position an der Spitze des Volkes durch sein gottgegebenes Charisma legitimiert,45 leiten die Hater:innen Winklers Position als Cybermobbing-Opfer – gewissermaßen am Tiefpunkt der Gesellschaft, in charismatischer Knechtschaft – durch dessen mangelndes Charisma her. Anders als bei anderen Influencer:innen, bei denen man argumentieren könnte, dass sie in Webers Sinne mithilfe ihres Charismas Geld verdienen,46 könnte man in Winklers Fall argumentieren, dass er durch die Aufmerksamkeit die seine Internet-Präsenz generiert und die Sachschäden an seinem Grundstück, zu denen diese führt, finanziellen Verlust macht.
Zusätzlich hierzu interferieren die Anti-Fans des Drachenlords auch mit den Einnahmen, die er über seine Videos erwirtschaften kann. Indem sie seine Videos systematisch auf anderen Accounts und Plattformen neu hochladen, kann die Anti-Fan-Community diese hatewatchen, ohne dass Winkler über seinen Kanal Werbeeinnahmen generieren kann.47 Auch Jane beschreibt wie Rezipient:innen durch die Störung von Werbeeinahmen, beispielsweise durch Adblock-Plugins, auf eine neue Art und Weise Macht über Produzent:innen ausüben und diese damit in eine finanziell prekäre Situation bringen können.48
Frankfurter Schulhof
In seinem Buch Soziale Medien und Kritische Theorie problematisiert Fuchs, dass die von anderen Autor:innen beschriebene Partizipation in den digitalen Massenmedien Konsument:innen nicht zu dem Ausmaß ermächtigt, wie gerne behauptet wird.49 Der Fall des Drachenlords zeigt, wie eine gut organisierte Gruppe in großem Ausmaß Macht über das Leben einer Privatperson ausüben kann – Lobo nennt dies auch die „Schulhofisierung“ der Gesellschaft.50 Ganz entgegen der Figur des Underdogs machen sich Winklers Anti-Fans zu Agent:innen des Status quo: In einem mehrstündigen Video zu Winklers Auszug aus Altschauerberg diskutiert ein User wie ihm dessen Situation vor Augen geführt habe, dass ein bürgerliches 0815 Leben einem individualistischen, nach eigenen Prinzipien gestalteten Leben wie dem von Winkler vorzuziehen sei.51 Die Ironie, dass Winklers Leben ja maßgeblich deshalb so wenig erstrebenswert erscheint, weil er von Hater:innen wie dem User selbst terrorisiert wird, ist offensichtlich.
Die Macht, die Winklers Zuschauerschaft über sein Leben ausübt, reicht von unerwünschten Gastauftritten der Hater:innen in seinen Streams52 bis hin zu gefährlicheren Vorfällen wie dem Feuerwehreinsatz oder dem so genannten Mettwoch, die deutlich machen, dass die Interferenzen durch Winklers Anti-Fans sich nicht auf dessen Videoproduktion oder seine Online-Persona beschränken, sondern sich bis tief in sein Privatleben ziehen. Hervorzuheben sind auch Fälle, in denen Hater:innen bewusst Falschinformationen über Winkler streuen, um ihn in der Öffentlichkeit in Verruf zu bringen. So lassen sie beispielsweise anlässlich von Amokläufen Bilder zirkulieren, die Winkler als den Täter darstellen, oder bezeichnen ihn öffentlich als rassistisch oder sexistisch.53 Hier wird nicht mehr nur über den kulturellen Status einer Serie diskutiert, sondern vielmehr über die Deutungshoheit über Winkler als Person.
Im Prolog zum Fernsehen beschreibt Adorno, wie Medien und Realität zusehends miteinander verschwimmen: Einerseits wird die Welt der Medien zunehmend realer, andererseits nehmen wir „die Realität durch die Fernsehbrille“ wahr.54 Dies scheint treffend zu beschreiben, wie Winklers Anti-Fans ihn vollständig auf seine Online-Persona reduzieren und ignorieren, dass hinter dem zentralen Hassobjekt ihres Anti-Fandoms ein realer Mensch steckt. Dies äußert sich zum Beispiel auch in einer systematischen Fiktionalisierung von Winklers Lebensrealität, die von den Hater:innen in Anlehnung an die Struktur von Fernsehserien in Staffeln eingeteilt wird: die Team-Speak-Staffel beschreibt so beispielsweise die Zeit, in der Winkler vermehrt den Kontakt zu seiner Community über die gleichnamige Sprachkonferenzsoftware suchte. Nachdem man im Rahmen des Gerichtsprozesses zunächst die Knast-Staffel55 antizipierte, beschreiben die Hater:innen die immer noch laufende Jagd auf Winkler quer durch Deutschland als die Obdachlosen-Staffel:56 sobald die Zuschauer:innen Winklers Hotel oder Unterkunft ausfindig gemacht haben, verfassen sie gezielt negative Online-Rezensionen oder terrorisieren die Betreiber:innen per Telefon und zwingen diese so dazu, Winkler wieder vor die Tür zu setzen. Nach eigenen Angaben musste Winkler innerhalb des ersten halben Jahres nach dem Auszug aus seinem Haus sechzig bis achtzig Mal die Unterkunft wechseln.57 Auch wenn der Gerichtsprozess nicht zu einer Inhaftierung Winklers geführt hat, so hat er den Hater:innen doch ein nie dagewesenes Maß an Kontrolle über Winklers Leben ermöglicht.
Ausgehend von dieser Metapher von verschiedenen Lebensabschnitten als Staffeln scheint es nicht abwegig das Verhalten der Hater:innen im Kontext traditioneller Anti-Fan-Erklärungsmuster zu Ende zu denken: Wo traditionelle Anti-Fans sich dafür stark machen, einer vermeintlich überbewerteten Serie ihre Popularität abzusprechen, versuchen Winklers Zuschauer:innen seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu beeinflussen. Ihr Ziel ist es nicht, durch Twitter-Kampagnen eine Serie absetzen zu lassen, sondern vielmehr Winkler durch koordiniertes Verhalten on- und offline zu quälen und ihn – zumindest – ins Gefängnis zu bringen.
Die Dialektik des Web 2.0
Betrachtet man die Videos und das Leben des Drachenlords in der Terminologie der Hater:innen tatsächlich als eine Art Fernsehserie, wird klar, dass es längst nicht mehr Winkler selbst ist, der hier die Regie führt. Stattdessen hat sich das Machtverhältnis von Produzent:innen und Rezipient:innen gänzlich umgekehrt; möglicherweise sogar so sehr, dass eine sinnvolle Unterscheidung zwischen den beiden Polen gar nicht mehr möglich ist.
Autor:innen wie Fuchs kritisieren an den sozialen Medien und dem Web 2.0, dass diese hinter ihren demokratisch-partizipativen Potenzialen zurückbleiben und die Rezipient:innen nach wie vor vergleichsweise machtlos sind.58 Die Situation bei Menschen wie dem Drachenlord scheint jedoch einen Fall darzustellen, indem die Ermächtigung der Zuschauer:innen tatsächlich so weit fortgeschritten ist, dass sie sogar auf das Privatleben der Produzent:innen Einfluss nehmen können. Bildlich gesprochen wird bei Anti-Ikonen wie dem Drachenlord nicht um das goldene Kalb getanzt, sondern das goldene Kalb zum Tanzen gezwungen.
Genau wie Adorno und Horkheimer in der Aufklärung bereits den Keim des Rückschritts in die Barbarei identifizierten, scheint sich auch in der vermeintlich demokratischen Struktur der digitalen Massenmedien bereits ein Keim des Rückschritts zu finden, dessen Früchte die Lebensumstände von Menschen wie Rainer Winkler sind.
Biografie
MORITZ KONRAD studierte Malerei und Grafik an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste und schloss sein Studium dort 2019 mit Ernennung zum Meisterschüler ab. Im Anschluss begann er ein Studium in Kunstwissenschaft, Medienphilosophie und Ausstellungsdesign an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. In verschiedenen Disziplinen und Medien arbeitet er zu Internetkulturen, Bildphänomenen des digitalen Alltags und den Wechselwirkungen zwischen Hoch- und Populärkultur.
Die Künstlerin Sara Mayoral findet Ikonen im engsten Freundes- und Familienkreis. Aus schwarzem Wachs formt sie skulpturale Portraits. Jede einzelne Falte, jede Pore, jedes Muttermal, ein Gesichtszug mag noch so flüchtig sein: das Wachs verschmilzt mit der Oberflächentextur und lässt die Gesichter der Portraitieren hyperrealistisch zum Vorschein treten. Das anschließende Zerbrechen der Masken in einzelne Fragmente ist für die Künstlerin ein harter, fast gewalttätiger Moment. Anlehnend an das Konzept von Ex-Votos wird jedoch die Komplexität des menschlichen Daseins deutlich: Zerbrechlichkeit und Unvollkommenheit, aber auch die Hoffnung und die Fähigkeit, in Wunden und Schmerz Schönheit und Bedeutung zu finden.
Resilient Beauty: The Fragility and Strength of Human Portraiture, Exploring the Complexity of Impermanence through Sculptural Portraits of Family Members.
I create sculptural portraits of my family on black wax intentionally broken to reveal the fragmented but hyper-realistic faces of each person portrayed. When contemplating these portraits, issues such as the fragility of the body, beauty, loss, and death resonate with me. It was a difficult decision to portray members of my family, and especially to break the masks, it was a very hard and violent moment, but crucial to the message of the work. Showing the fragmented faces intensifies the idea that life can be interrupted at any moment.
The concept finds a parallel in ex votos, which are offered in gratitude to a saint or deity for a favor granted. Ex votos often prostheses or casts of diseased body parts, reflect the need or gratitude for healing. Like my sculptures, ex votos show us the complexity of the human condition, fragility, and imperfection, but also hope and the ability to find beauty and meaning in wounds and pain.
Body as a Site of Transformation and Life
As an artist, my work revolves around exploring the transformative power of memory and the archive with a particular focus on the body. Through my art project, I seek to capture the complexities of memory and the social and political contexts that shape it. Using a variety of techniques and materials, I create living projects that document the essence of the moment and the fleeting nature of time. My sculptures, sound installations, and video works embody the central themes of my art – the beauty and complexity of life. I aim to inspire viewers to reflect on their own experiences and engage with the world in a more profound way.
I believe that art has the power to transform people, and my artistic practice is my way of contributing to this transformation. Through my works, I capture the nuances of life and memory, contemplating the past, present, and future in a way that leads to a deeper understanding and connection with ourselves and the world around us. I hope that my art can contribute to a larger conversation about what makes us human and the role of the body in shaping our experiences and understanding of the world.
All Credits: Sara Mayoral, La Abundancia de la Vida, 2023.
Biografie
Sara Mayoral
SARA MAYORAL JIMENEZ ist eine spanische Künstlerin aus Madrid. Ihre Ausbildung absolvierte sie an den Kunstakademien in Madrid und Warschau. Derzeit lebt und studiert sie an der Akademie der Bildenden Künste in München.
In seinem Essay über Fanfiction setzt sich Matthias Conrady mit Männlichkeitskonstruktionen auseinander. Ausgangspunkt für seinen Text, welcher in einem interessanten Spannungsfeld zwischen Sprachkunst und Wissenschaft angesiedelt ist, ist seine persönliche Faszination für die Performanz von Männlichkeit. Da reine Deskription und Analyse nicht ausreichen, um das Phänomen zu ergründen, experimentiert Conrady selbst mit dem Genre der Fan Fiction und schafft so einen individuellen und hybriden Text, der einen Comic integriert und so die Intermedialität des untersuchten Sujets selbst aufgreift und abbildet.
Kapitel 1: Kayfabe im Ikea
Disclaimer : I own not the man just the feelings that caused me to write this[…]. Summary : The Undertaker as I see him.33
„Lieber Marki, wie wäre es mit diesen bestickten Kissenbezügen? Die würden sich doch ganz hervorragend machen auf dem grauen Sofa.“ Clemens Wilmenrod, der sensationelle Fernsehkoch, Erfinder von Toast Hawaii und Arabischem Reiterfleisch, war tief in die Polsterlandschaft der Ikea-Ausstellung gewandert. Dass er The Undertakers echten Namen – auch noch Kosenamen – deswegen über mehrere Sofas hinweg rufenmusste, gefiel dem riesigen Mann gar nicht. Mit schnellem Schritt stiefelte er zwischen Besucher:innen hindurch und über Nachttische hinweg zielstrebig auf seine neue Liebe zu.
„Clemens!“ zischte er aus dem Mundwinkel „Kayfabe!“53 Clemens schaute leicht besorgt zu ihm hoch, doch schnell legte sich wieder das schelmische Grinsen aufs Gesicht, das dem Undertaker immer wieder das Herz schmelzen ließ. „Oooh, Mr. Undertaker!“ Der Fernsehkoch ergriff mit beiden Händen Undertakers rechte Hand und legte sie sich an den Hals. „Dass Sie mich ausgerechnet hier doch noch schnappen!“ Sich Undertakers Pranke an den Hals haltend, warf er sich mit einem Schrei auf ein Sofa. Der Undertaker musste schmunzeln und beugte sich, den Griff spielerisch festigend zu seinem Partner herunter, um ihm zuzuflüstern: „So ein schlechtes Selling habe ich noch nicht erlebt. Dabei heißt es doch, du würdest sogar verboten gut verkaufen.“59 Clemens kicherte, während der Undertaker ihm bereits die nächsten Moves callte – „Chokeslam, Pause, du jabst, Nonsell, Tombstone.“60 – und schon hob der Undertaker ihn in die Höhe. Inzwischen hatte sich ein gewisses Publikum gebildet, das schrie und johlte, als der Fernsehkoch vom Wrestler am Hals durch die Luft geschleudert und auf ein weiteres Sofa geschmettert wurde.
Als sich der Undertaker dem Publikum zuwandte – auch um Clemens die Gelegenheit zu geben sich aufzurappeln – erblickte er zwei bekannte Gesichter in der Menge.
„Danke Kermit, dass ihr das Personal ferngehalten habt.“
Kermit der Frosch, Howard Philips Lovecraft, der Undertaker und Clemens Wilmenrod saßen in Clemens’ Transporter. Nach der Show waren sie höflich aber bestimmt gebeten worden umgehend das Haus zu verlassen. Wieder ein gescheiterter Versuch ein paar kleine Besorgungen in der Öffentlichkeit zu erledigen.
„Aber nicht der Rede wert, Mark! Ich weiß doch, was eine gute Show wert ist! Das Publikum war begeistert!“ Der Undertaker fühlte sich geschmeichelt. Wenn jemand wusste, was eine gute Show ausmachte, war es Kermit. „Und gut gewrestlet, Clemens!“, ergänzte der Frosch, „Ich wusste immer, dass noch ein bisschen mehr Körperarbeit in dir steckt.“ Kermit hatte mal eine Zeitlang Clemens’ Kochshow produziert, bevor sie wegen creative differences auseinandergegangen waren.
„Und was ist euer Ikea-Ausflug?“, entgegnete Clemens, „seid ihr –“„Wir arbeiten an einem Theaterstück!“ unterbrach Howard ihn abrupt, „ich – ich schreibe an einem Theaterstück.“ Der hagere Mann hatte bislang geschwiegen, sich verschüchtert in Kermits Schatten gehalten und war nun sichtlich nervös. „Das ist richtig“, ergänzte Kermit, während er ihm beruhigend eine Hand auf den Arm legte. „Wir wollten Requisiten besorgen für ein paar Probedurchläufe. Howard schreibt wirklich fantastischen Kram – das müsst ihr mal lesen.“
Kapitel 2: Träume aus dem Hexenhaus
Wir geben an dieser Stelle ein Manuskript wieder, das dem verschollenen Versicherungsdetektiv John Trent zugeschrieben wird. John suchte nach dem ebenfalls verschwundenen Science-Fiction-Autor Sutter Cane und wurde das letzte Mal im kleinen amerikanischen Ort Hobbes End gesehen. Das beigefügte Manuskript wurde dort unter den Dielen seines Hotelzimmers gefunden.61 Der Text ist – bis auf Zitate die aus Büchern direkt ausgeschnitten und händisch eingeklebt wurden – in Johns Handschrift verfasst. Bemerkenswert dabei ist: Er konnte kein Deutsch. Auch Hinweise aufs Internet passen nicht in die Zeit seines Verschwindens. Vor allem aber entsprechen die Selbstdarstellungen im Text nicht im Ansatz seiner Persönlichkeit.
Vorstellbar wäre vielleicht ein Phänomen, wie es SF-Autor Philipp K. Dick in seiner Exegese62beschreibt – aber wir wollen nicht ins Spekulieren geraten. Stattdessen nun also das vollständige Manuskript. Vielleicht trägt die Veröffentlichung ja zur Lösung dieses Rätsels bei.
Fan Fiction schreiben ist für mich ein furchtbar langsamer Prozess. Nach jedem Halbsatz muss ich unterbrechen, weil das Konzept mich so in Aufruhr bringt. Ich kann seelisch kaum aushalten, was meine Fantasie mir da unerwartet bereitwillig zur Verfügung stellt.63 Ich befriedige Bedürfnisse meines tiefsten Innern, die ich erst während genau dieses Vorgangs als Bedürfnisse entdecke. Und doch kommt es alles aus mir selbst und aus den öffentlichen Männerbildern, die sich in mir spiegeln. Ich hatte nur bislang noch nicht nachgeschaut.
Und was ich da sehe, rüttelt an meiner Identität. Es geht um Männlichkeit und um Männer – also auch um mich.
Bei den ersten Malen, bei denen ich von Fan Fiction hörte, wurde sie als Witz präsentiert. Eine perverse kleine Überraschung, dass es auch diese extrem spezifische Fantasie gibt, und es hat sie sogar jemand niedergeschrieben. Ich erinnere mich an eine Episode eines von Männern geführten True-Crime-Podcasts, in dem sie die Serie von Kirchenverbrennungen und schließlich auch Morden der norwegischen Black-Metal-Szene der frühen Neunziger Jahre präsentieren. Am Ende wurde als kleiner Bonus eine Fan Fiction vorgelesen,64 in der statt dem Mord, den Varg Vikernes an Euronymous beging, die beiden eine Affäre haben.
Es war als Idee wohl einfach ein edgy Witz, aber was ebenfalls passiert: Für die drei Podcaster, die das Dilemma haben, einerseits Fans der Musik zu sein und Empathie mit ihren Protagonisten zu haben (oder haben zu müssen), andererseits aber die faschistischen, homophoben und mörderischen Überzeugungen und Taten dieser auch fürchterlich zu finden, eröffnet sich eine Möglichkeit. Die Fan Fiction – obwohl als Witz präsentiert – bietet ihnen etwas Besonderes: Ssie können in die Gefühlswelt und in die Gender-Performance der Metal-Musiker einsteigen, aber eben in einer alternativen Dimension, in der diese anders funktionieren. In der Geschichte gestehen Varg und Euronymous sich gegenseitig ihre Anziehung und sprechen darüber, wie sie unter den Ansprüchen der knallharten Männlichkeitsperformance leiden, die sie sich gegenseitig zusammen mit dem Rest der Black-Metal-Szene auferlegt haben. In der romantischen und sexuellen Annäherung die folgt, wandelt sich die rigide homophobe Powerdynamik, die in der Realität zu Gewalttaten und Mord geführt hat, außerdem umgehend zu einer kinky, also verspielten und einvernehmlichen Powerdynamik, die zu Sex und Fürsorge führt.
„Master bends until his head is at my level and kisses my forehead. ‘I love you.’ He tells me. I try to tell him that I love him too, but my words are muffled around the gag. He knows what I mean though, and strokes my body as he walks around to my naked ass.”65
Die Podcaster präsentieren die Fan Fiction als Witz, um das brutale Thema am Ende der Show etwas zu entschärfen. Sie versuchen auch bewusst die toxischen Ideale der Mörder zu missachten, indem sie – „hahaha, das würden sie hassen“ – eine schwule Fantasie über sie präsentieren. Aber eine andere Sache passiert außerdem, die nämlich zentral zu dieser Fantasie gehört. Das öffentliche Bild, an dem sowohl die Metaller selbst als auch die Medienlandschaft, die über sie berichtet, arbeiten, wird beiseite gewischt, für nicht ganz wahrgenommen, als bloß eine Variante der Selbstdarstellung verstanden. Dadurch wird auf einmal die Tatsache, dass hier nämlich überhaupt eine Gender- und Public-Persona-Performance stattfindet, sichtbar.
Oder wie Kristina Busse es beschreibt:
„The questions of truth and reality are central in popslash writing, which consciously fictionalizes a reality that itself is already performed and choreographed. Unlike much of the tabloid press, which purports to tell the truth, popslashers consciously declare their writing to be fictional and clearly separate their stories from rumors. Of course, this creative process allows the popslasher to construct the celebrity as she wishes: as an object of desire, as someone with whom to identify, or as a re-creation of the celebrity’s supposedly real self. Moreover, popslashers refuse to follow the cliché of declaring the public performances of pop stars a fiction and the band members fake and fabricated; instead, their stories often reveal deep empathy and sympathy for the stars they depict. Rather than reproducing the star stereotypes often perpetuated by the media, popslash rehumanizes the celebrities by inventing backstories and inner lives.“66
Die Metaller werden also in der Fantasie ihrer tödlichen Stringenz beraubt, sie bekommen von der Fan-Fiction-Autorin67 eine neue Verletzlichkeit und Ehrlichkeit geschenkt, mit der sie auf einmal ihre performative (und in diesem Falle tödlich toxische) Männlichkeit erstens wahrnehmen, zweitens sich gegenüber benennen und drittens neu verhandeln und neu performen können.
Dass dieser transformative Vorgang im Podcast wiederum von drei Männern (die immerhin ein entspannteres Verhältnis zu ihrer Männlichkeit haben) nur als Witz präsentiert wird, ist zwar eine Ironie, aber tut der transformativen Kraft der Fanfic keinen Abbruch. Alle Umständlichkeiten und Rituale die nötig sind, um zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen, sind erlaubt.68
Ich vermute, dass ich diese Gedanken auch damals hatte, als ich die Folge ganz unbedarft hörte und über die verrückte „sexual fiction“69 lachte. Es waren keine klaren Gedanken, aber klare Gefühle. Ich kann mit heutigem Wissen diesen Fanfic-Erstkontakt einordnen, analysieren, Zitate bereit haben. Aber auch damals schon hat die transformative Kraft auf mich gewirkt und ich verstand wie wertvoll es ist eine Realität bereit zu haben, in der die niedlichen Black-Metal-Teens sich nicht ermorden, sondern ihre Männlichkeit und Sexualität (in all ihrer Unergründlichkeit) verstehen und erforschen.
Einen etwas weniger verklemmten Zugang zu Fan Fiction fand ich dann durch meine Internetfreundin Steph.70 Ich livebloggte den zweiten Teil der neuen Stephen King’s It-Filme, und Steph sandte mir Slash Fiction zu zwei Charakteren des Films zu.
Faszinierend fand ich wieviel Material es zu dem Ship71 gab. Der Film ist ein überraschend guter Mainstream-Horror, lädt aber nicht besonders dazu ein, die Welt weiter zu erträumen, wie es bei manchen Fantasyfilmen der Fall ist. Aber, und das hatte ich missverstanden, die Fantastik der Welt ist nicht das Aufregende. Die nur angedeutete schwule Beziehung zwischen Richie Tozier, dem traumatisierten Comedian und Eddie Kaspbrak, dem nervösen Hypochonder, ist wie gemacht für Fan-Fiction-Autor:innen. Sie kann niemals real sein: aufgrund der tragischen Lebensrealität in der amerikanischen Kleinstadt, aufgrund des noch tragischeren Todes Eddies durch ein übernatürliches Alienmonster und, vielleicht am tragischsten, weil queere Beziehungen nicht im Fokus großer Hollywoodproduktionen stehen. All dies schreit in seiner Tragik nach alternativen Realitäten. Die Beziehung im Film ist subtil, einerseits liebevoll angedeutet, andererseits einfach nicht erzählt. Ein queeres Publikum, das queere Geschichten rezipieren will, muss diese also selbst erzählen.
„Shipping becomes a method through which fans, often minority communities including women, queers and people of colour can re-imagine a narrative and create their own minor narratives out of the major source material for their own pleasures.“72
Da die brutale (Film-)Realität die Beziehung der beiden nicht erlaubt, beruhen die Fanfic-Realitäten zwangsläufig auf leicht hanebüchenen Konzepten. So muss Eddie zuallererst natürlich überleben. In der Fic die ich las wird das Ende des Films dafür einfach angepasst – und schon sind wir in einer Parallelwelt, in der den beiden möglich gemacht wird ihre Beziehung zu erforschen.
Und dieser Erzählstrang hat mich – Fanfic-Neuling – umso mehr überrascht. Nicht etwa in sexuellen oder fantastischen Details, sondern in der Alltäglichkeit. Eddie hat sich von seinen Verletzungen erholt, von seiner Frau getrennt und zieht ungefragt bei Richie ein, einfach weil er ein Zuhause braucht. Nun leben die beiden zusammen und erforschen dabei ihre gegenseitige Anziehung. Die Kompromisslosigkeit ihrer Freundschaft, die im Film unter dramatischen Umständen getestet wird, wird hier – viel realer, viel zärtlicher, viel detaillierter– im Alltag getestet.
„Richie pushes his forehead against the wall. ‚He just showed up here two days ago. He left Myra and said a bunch of stuff about hating New York, then yesterday he went out and bought clothes because he left all his back home, and his toothbrush is in the extra bathroom, and he went to Mariano’s and bought a bunch of this, like, really good looking organic grocery shit, and now he’s in the kitchen rearranging my spice rack. Is this what happens during a midlife crisis? Because my dad got frosted tips in his hair and joined a paintball league when he —“73
Und hier begann ich – langsam – zu verstehen, welche Freiheit Fan Fiction bieten kann. Mehr als die Realität selbstverständlich, aber auch mehr als kreatives Schreiben – das sich, zumindest bei mir, dann doch gerne an Realität und etablierte Erzählstrukturen klammert. Fan Fiction bricht aber so grundlegend mit Regeln des Anstands, der Fantasie, der Urheberschaft und des Autorenstolzes, dass sich eine bisher ungeahnte Freiheit eröffnet.
Grund dafür ist vielleicht auch, dass es nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) ein literarisches Schreiben ist. Francesca Coppa verortet Fan Fiction eher in der Nähe von dramaturgischem Schreiben. Die bereits bestehenden Figuren verkörpern in der Fan Fiction wie Schauspieler:innen im Theater andere Rollen, sie sind dieselben Figuren, sie performen eine andere Geschichte und „if we examine fan fiction as a species of performance, the picture changes“.74 Auch die unerwartete Menge an verschiedenen aber oft ähnlichen Richie / Eddie Fics ist dann nicht mehr verwunderlich, sondern folgerichtig:
„From a literary perspective, fan fiction’s unusual emphasis on the body seems like a thematic obsession or a stylistic tic, but in theatre, bodies are the storytelling medium, the carriers of symbolic action. Similarly, in literary terms, fan fiction’s repetition is strange; in theatre, stories are retold all the time.“75
Und in diesem Theater, das in meinem Kopf stattfindet, mit gestohlenen Charakteren, ist auf einmal unendlich viel möglich.
„This decontextualizing of behavior echoes the appropriation and use of existing characters in most fan fiction; in fact, one could define fan fiction as a textual attempt to make certain characters ‚perform‘ according to different behavioral strips. Or perhaps the characters who populate fan fiction are themselves the behavioral strips, able to walk out of one story and into another, acting independently of the works of art that brought them into existence. The existence of fan fiction postulates that characters are able to ‚walk‘ not only from one artwork into another […].“76
Diese Erkenntnis schlummerte auch erst einmal eine Weile, man könnte auch sagen, ich ging mit der Idee schwanger und träumte von ihr. Aber ich sagte mir, Hölderlin hat geschrieben „ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt“. Verzeihen Sie bitte, wenn ich dieses hohe Wort in Beziehung mit Fan Fiction bringe. Aber eines Tages fiel es mir ein, ich lag morgens noch im Bett, meistens die beste Stunde, da wusste ich was zu tun sei.77
Ich hatte mich in letzter Zeit intensiv mit verschiedenen Männern beschäftigt: The Undertaker (der Wrestler), Clemens Wilmenrod (der Fernsehkoch), Kermit der Frosch (der Entertainer), Tiny Tim (der Falsetto Sänger), um nur einige zu nennen. Meine Obsession mit diesen Männern, die in großer Öffentlichkeit sehr spezifische Männlichkeiten performten, wuchs und wuchs aber konnte kein richtiges Ventil finden. Einerseits trieben mich die jeweiligen individuellen Figuren und Performances in den Wahnsinn, andererseits fragte ich mich auch, was sie wohl alle miteinander zu tun haben könnten.
Fan Fiction bot die Lösung. Mit der Erkenntnis, dass „characters are able to ‚walk‘ […] from one artwork into another“, war es auf einmal sehr einfach herauszufinden, was sie gemeinsam oder nicht gemeinsam haben. Die Männlichkeit, die sie für die Öffentlichkeit performen, kann ich nun nicht nur aus der Perspektive der Öffentlichkeit betrachten, ich darf die andere Seite sehen, kann hinter die Kulissen blicken, die (Hinter-)Gründe für die Performance verstehen und: sie mitdirigieren. Männer, die plötzlich Gender auf eine für mich komplett nachvollziehbare Art performten, ohne Mysterien und Verwirrungen. Der performative Akt wurde klar, doch Gender-Identität und Sexualität kollabierten.
„In slash fic the hetero/homo binary becomes an inconsistent non-binary […] and reality and fantasy collapse into one another.“78
Wenn Richie und Eddie79 nicht nur zueinanderfinden, sondern eine liebevolle Beziehung aufbauen, einer der beiden schwanger wird und sie zusammen ein Kind großziehen – was bedeutet das für mein Verständnis von Männlichkeit? Wenn ich diese Vorstellungen genieße, sie suche, sie selbst schaffe – was bedeutet das für mein Verständnis meiner eigenen Sexualität?
Als ich mit der Erforschung dieser Männer begann, dachte ich, ich untersuche Objekte; ich beobachte Fallstudien zu performativer Männlichkeit. Doch die Technik des hemmungslosen Fantasierens – so erfolgreich sie war – barg eine Falle mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich war nicht mehr neutraler Beobachter. Ich steckte nun mittendrin, mit meiner gesamten fragilen Identität.
In Bending Gender. Feminist and (Trans)Gender Discourses in the Changing Bodies of Slash Fictionuntersuchen Kristina Busse und Alexis Lothian GenderswitchedSlash Fics, bei denen männliche Charaktere aus der Serie Stargate ihr Geschlecht wechseln und dabei mit Fragen der Gender Performance und Gender Identity konfrontiert werden:
„The experience of having femininity misread is something that may not require recent bodily transformation to experience. John’s confusion as his physical female attributes cause someone to think he is a woman raises the question […] of what it means to ‚be‘ a ‚woman.‘ […] [Genderfuck stories] also ask to what degree originally male characters remain themselves through such changes: when the cultural predicates by which one gains one’s sense of identity change, is one still the same person?“80
Ich kann aber berichten, dass diese plötzliche und eigentlich banale Offenlegung von Gender als performativer Akt (im Gegensatz zu einem stabilem Zustand) auch ohne die Zutat Genderswitch geschieht, einfach durch die fantasierte Nähe zu den performativen Entscheidungen der Figuren.
Und tatsächlich, ich komme auch der Frage näher, was diese in der Öffentlichkeit stehenden cis-Männer, von denen ich besessen bin, denn tatsächlich gemeinsam haben. Auch diese Antwort ist banal: Es ist ihre Gender-Performance als MANN. Sie ist bei ihnen allen a priori etwas bewusster konfiguriert und eingesetzt, als sie es zum Beispiel bei mir selbst ist. Das hat damit zu tun, dass sie in und für die Öffentlichkeit konfiguriert ist: Alle diese Männer pflegen ein dezidiert medien-öffentliches Männerbild. Ich kann vermuten – und in meinen Fanfics tue ich es lustvoll – dass sich diese Männer, wenn nicht ihrer Gender-, so in jedem Fall ihrer Performance bewusst sind und Kontrolle über diese haben.
Und wenn ich das tue, dann fantasiere ich auch über ihre Identität hinter der Performance, beziehungsweise ihre Beziehung zu derselben.
„More specifically, popslash requires the celebrities to perform not only their official and private roles but also their (public) straight and (real) queer identities. It may be no surprise that popslashers emotionally engage with stories that revolve around notions of identities and the protection of secret selves, a concern that gets played out most often through anxieties over gender and sexual identity.“81
Ich bin mir bewusst, dass auch meine Position gegendert ist. Fan Fiction ist ein Genre (wenn man es so nennen möchte), welches vor allem von Frauen* geschrieben und gelesen wird. Der Austausch spielt dabei eine entscheidende Rolle. Er ist wichtig, da Fanfic ein performatives, ein dramaturgisches Genre ist.
„Fan fiction, too, is a cultural performance that requires a live audience; fan fiction is not merely a text, it’s an event. Whether published in a zine, on a mailing list, to an archive, or to a blog like LiveJournal.com, there’s a kind of simultaneity to the reception of fan fiction, a story everyone is reading, more or less at the same time, more or less together.“82
In diesen gemeinschaftlichen Aspekt habe ich mich, außer im sehr kleinen Kreis mit direkten Vertrauten, noch nicht hineingetraut. Auch dies hat mit meiner Gender-Identity zu tun. Will ich mich nicht männlich-trottelig-invasiv in Frauen:räume begeben? Oder bin ich mir zu fein, zu gebildet, um so peinlichen Schmutz zu veröffentlichen? Sicher ist es eine sehr männliche Strategie, eine von Frauen* praktizierte Methode zu nutzen und sie in hochkulturell anerkannteren Räumen als bahnbrechende Selbsterkenntnis zu präsentieren.
Alle Umständlichkeiten und Rituale die nötig sind, um zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen sind erlaubt – hoffe ich.
Ich wünschte, ich hätte das feine Maß an Kontrolle über meine öffentliche (Gender-)Performance, wie meine Protagonisten und ihr sensibles Verständnis über ebendiese Performativität. Vielleicht ist es nicht möglich. Aber dafür gibt es ja Fan Fiction.
Falls Sie etwas zum letzten Aufenthalt von John Trent wissen, oder Hinweise haben, was Details dieses Manuskript bedeuten könnten, zögern Sie bitte nicht uns zu kontaktieren. Vielen Dank.
MATTHIAS CONRADY ist Künstler aus Köln, wo er an der Kunsthochschule für Medien studierte. In seinen Arbeiten sucht er den Wert in der Unsicherheit, das Gewichtige im Alltäglichen und das Gewaltige im Detail. Wichtig ist ihm hierbei die Ernsthaftigkeit des Nebensächlichen und die Interdisziplinarität seiner Beschäftigung. Primär arbeitet er mir Grafik, Zeichnung und Performance, die in Comics, Zine-Essays, Lecture-Performances aber auch in Keramik, Stickerei und Druckgrafik die unterschiedlichsten Formen annehmen und vom alltäglichen und politischen Leben inspiriert sind. Dabei begleiten ihn oft zufällige Obsessionen mit Themen, Fun Facts und öffentlichen Persönlichkeiten, die er als holistische Ideen-Gesamtpakte präsentiert. In seiner Kunst hat Matthias Conrady, wie er selber sagt: „keine Angst auch didaktisch zu werden, denn die Komplexität der Sache kann ohnehin nicht ganz ergründet werden.“
Verbunden mit Ikonen ist auch immer die Verehrung derer durch ihre Anhängerschaft. Die beiden bildenden Künstlerinnen Milena Bühring und Klara Kirsch setzen sich bei ihrem performativen Workshop-Format Scienceof Admiration mit dem Fankult ihrer Teenagerzeit auseinander und untersuchen am persönlichen Beispiel die Potenziale sowie die ideologischen Strukturen des Fannings. Sie hinterfragen die teilweise genderspezifische, stereotypische Darstellung von Fans genauso wie den Dualismus zwischen vermeintlich individuellen Fanartikeln mit sentimentalem Wert und der standardisierten Massenware.
Biografie
MILENA BÜHRING wurde 1994 in Berlin geboren. Von 2016-2022 studierte sie an der Universität der Künste Berlin bei Mathilde ter Heijne in der Klasse für zeitbasierte Medien und Performance, wo sie im Sommer 2022 ihren Abschluss mit dem Meisterschüler-Titel machte. Ihre künstlerische Arbeit bewegt sich im Grenzbereich zwischen Realität und Fiktion und untersucht Themen wie Begehren, Sehnsucht, Nostalgie und menschliche Widersprüche.
KLARA KIRSCH wurde 1995 in Speyer geboren. Von 2015 bis 2022 studierte sie an der Universität der Künste Berlin in der Klasse von Mathilde ter Heijne, wo sie im Sommer 2022 ihren Abschluss mit dem Meisterschüler-Titel machte. Ihre künstlerische Arbeit bewegt sich zwischen Performance und Video und setzt sich mit Körpern und (multiplen) Identitäten im digitalen Raum, mit der Konstruktion von Realität und den Mechanismen kapitalistischer Gesellschaft auseinander.
Den aus der Evolutionsbiologie stammenden Begriff der Mutation und seine Notwendigkeit für Fortschritt, überträgt Alice Jing Zhang auf den konstanten Wandel in Kultur und Gesellschaft. Die Installationen der Serie Mutations sind eine Kombination aus christlichen Ikonen und Schmetterlingen mit floralen Mustern. In sakralen Kontexten nehmen die Ikonen einerseits einen tradierten Platz ein, gleichzeitig stellen ihre bunten Farben und Stickereien einen formalen Bruch mit der Sehgewohnheit dar. Bei genauer Betrachtung des sich wiederholenden Motivs des Schmetterlings fällt auf, dass jedes handgestickte Exemplar, durch die darin enthaltenen Mutationen, einzigartig ist. Diese Form der Ergänzung nutzt Alice Jing Zhang, im Falle der Madonnen-Figuren, als Metapher für die Weiterentwicklung der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft.
Surrogate, 2022, Found Objects, Aluminium und Polyester, ca. 137 x 175 cm, Katholische Pfarrkirche Mariä Sieben Schmerzen München.Mutations (Ausstellungsansicht), 2022, Found Objects, Aluminium und Polyester, ca. 137 x 175 cm, Katholische Pfarrkirche Mariä Sieben Schmerzen München.Mutations (Details), 2022, Found Objects, Aluminium und Polyester, ca. 70 x 50 x 20 cm, Katholische Pfarrkirche Mariä Sieben Schmerzen München.Mutations (Ausstellungsansicht), 2022, Found Objects, Aluminium und Polyester, ca. 70 x 50 x 20 cm, Katholische Pfarrkirche Mariä Sieben Schmerzen München.Mutations (Detail), 2022, Found Objects, Aluminium und Polyester, ca. 65 x 20 x 20 cm, Katholische Pfarrkirche Mariä Sieben Schmerzen München.Mutations, 2022, Found Objects, Aluminium und Polyester, ca. 65 x 20 x 20 cm, Katholische Pfarrkirche Mariä Sieben Schmerzen München.
Biografie
ALICE JING ZHANG wurde 1999 in Peking geboren. Sie lebt und studiert in München und begann ihre künstlerische Arbeit zunächst als Malerin. Die Basis ihrer aktuellen Arbeiten bildet die Recherche zu kultureller Fusion, Mystik und Religion, die sie in Neuen Medien, darunter Videoarbeiten, Animationen und Installationen, zum Ausdruck bringt.
Zur Widerständigkeit der Sappho in Simeon Solomons Aquarell „Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene“ (1864)83.
Die antike Dichterin Sappho, auf Lesbos geboren, schreibt in ihrer fragmentarisch erhaltenen Lyrik über ihr romantisches Verlangen zu Frauen, wodurch sie später zum Bezugspunkt der lesbischen Bewegung wird. Doch im 19. Jahrhundert dominiert eine patriarchale Rezeption Sapphos und ein damit einhergehender Bildtypus, in dem sie sich aufgrund der unerwiderten Liebe zu einem Mann von einer Klippe in den Tod stürzt. Simeon Solomons Aquarell Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene aus dem Jahr 1864 bricht auf mehreren Ebenen mit dieser Darstellungskonvention. In ihrem Beitrag zeigt Annika Lisa Richter mithilfe repräsentationskritischer und ikonographischer Methoden auf, mit welchen Mitteln Solomon ein Bild romantisch konnotierter Intimität zwischen zwei Frauen entwirft. Sie stellt die These auf, dass es sich bei Solomons Aquarell von Sappho und Erinna um eine emanzipatorische Darstellung der Dichterin Sappho handelt – von patriarchaler Projektionsfläche hin zur lesbischen Ikone.
Abb.1 Simeon Solomon, Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene, 1864, Wasserfarbe auf Papier, 33 × 38,1 cm, London, Tate Gallery.
In zärtlicher Umarmung sitzen zwei Frauen in antik anmutenden Gewändern auf einer steinernen Bank, umgeben von Grün und ungestört in einem Moment der gemeinsamen Intimität. Ihre Gesichter sind sich so nah, dass sie einander beinahe berühren, während die eine sich wie im Kusse begriffen der anderen im Profil zuwendet. Zwei Vögel turteln über ihren Köpfen auf einem Mauervorsprung. Auf dem Boden liegen verstreute Rosenblätter zu ihren Füßen, die barfuß aus den langen Gewändern hervorblitzen.
So ist es auf einem Aquarell mit dem Titel Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene zu sehen, das der britisch-jüdische Künstler Simeon Solomon (1840-1905) im Jahr 1864 anfertigte (Abb.1). Das Aquarell zeigt die beiden antiken Dichterinnen Sappho (630/20 v. u. Z. – ca. 550 v. u. Z) 84 und Erinna (genaue Lebensdaten unbekannt) und greift damit historisch bekannte Persönlichkeiten des antiken Griechenlands auf. Im Gegensatz zu Solomons Gemälde, das die beiden Frauen als innig vertraute Zeitgenossinnen darstellt, geht die heutige Forschung jedoch davon aus, dass die beiden Dichterinnen nicht nur an verschiedenen Orten, sondern auch zu verschiedenen Zeiten gelebt und gewirkt haben und somit nicht miteinander bekannt gewesen sein dürften.85
In Solomons Interpretation der beiden antiken Persönlichkeiten jedoch, sitzen beide Frauen gemeinsam unter freiem Himmel auf einer steinernen, vielleicht marmornen Bank und nehmen, im Zentrum der Komposition platziert, den Großteil des Bildes ein.
Die Sitzposition beider Figuren ist frontal zu den Betrachter:innen hin ausgerichtet. Während Erinna ihren Blick, nur knapp an den Betrachtenden vorbei, in die imaginierte Ferne richtet, ist Sapphos Kopf im Profil dargestellt. Sie wendet sich Erinna mit vornüber gebeugtem Oberkörper zu und nähert sich mit ihren Lippen und mit geschlossenen Augen sanft dem Gesicht Erinnas, als wolle sie sie küssen. Dabei hält sie Erinna zärtlich in den Armen: Ihre rechte Hand hat sie auf deren Taille gelegt, während ihre linke Hand auf Erinnas rechter Schulter liegt und von dieser in inniger Pose mit der rechten Hand ergriffen wird. Ihre linke Hand lässt Erinna locker in ihren Schoß fallen, während ihre rechte Schulter sowie ein Teil ihres Dekolletés entblößt sind, als sei ihr Gewand soeben von der Schulter gerutscht. Sapphos linker Arm, den sie um ihre Gefährtin legt, bildet eine Art Sichtschutz, indem er genau so positioniert ist, dass die Betrachter:innen keinen freien Blick auf Erinnas linke Brust erhalten, deren Nacktheit durch den heruntergerutschten Stoff als voyeuristische Erwartungshaltung impliziert wird.
Während Sappho deutlich als aktive Figur inszeniert wird, die sich Erinna zuwendet und sich ihr mit Bestimmtheit und zärtlicher Inbrunst nähert, erscheint Erinna durch die frontale, Richtung Betrachter:innen ausgerichtete Haltung ihres Oberkörpers sowie durch ihren in die Ferne – also aus dem Geschehen heraus – gerichteten Blick zunächst eher passiv. Im Gegensatz zu Sappho lässt sie sich alternativ auch als Figur denken, die auf die gleiche Weise alleine sitzend dargestellt sein könnte, während Sapphos ausdrückliche Hinwendung eine:n Adressat:in braucht und nicht unabhängig von Erinnas Figur denkbar ist.
Betrachtet man aber noch einmal genauer Erinnas Sitzposition, fällt auf, dass sich in der Fülle ihres Gewandstoffes ihr linkes Bein verbirgt, dessen Knie sie in vertraulicher Hinwendung auf Sapphos rechten Oberschenkel gelegt hat. Es scheint ganz so, als sei Erinna körperliche Nähe mit Sappho gewöhnt und als wäre ihr auch Sapphos Schoß (und damit eventuell auch eine intim-genitale Nähe?) nicht allzu unvertraut. Durch die subtile Geste des angeschmiegten Knies trägt also auch Erinna zu einer intimen Bezugnahme und Verschränkung der beiden Figuren bei. Die Interpretation der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Thaïs Morgan, Sappho umarme Erinna auf aggressive Weise und würde die offensichtlich widerwillige Erinna bedrängen, „who tries to delay the dominant woman’s impulse by putting her right knee up between them“86, teile ich indes nicht. Morgans interpretativer Fokus liegt in dem Versuch, Solomons Aquarell als eine Art Illustration des Gedichtes Anactoria zu deuten, das der viktorianische Schriftsteller – und Freund Solomons – Algernon Charles Swinburne (1837 – 1909) 1866 veröffentlichte.87 Swinburne imaginiert in Anactoria eine sado-masochistische und lesbische88 Sappho, die ihrer jüngeren Geliebten Anactoria in einem Monolog detailliert darlegt, welche Praktiken sie gerne mit ihr ausführen würde.89 Dieses Gedicht Swinburnes als gedankliche Grundlage zur Interpretation von Solomons Aquarell heranzuziehen, wird dem Werk jedoch weder bei der Betrachtung als eigenständiges visuelles Erzeugnis gerecht noch trifft es meines Erachtens die konkrete visuelle Inszenierung Sapphos durch Solomon. Auf mich wirkt Erinna in Solomons Interpretation nicht abwehrend – unabhängig von Erinnas leicht entrücktem und damit passiv konnotiertem Blick scheinen mir die körperliche Nähe und die Interaktion konsensual zu sein und gerade Erinnas Geste, ihr Knie auf Sapphos Oberschenkel zu legen, lese ich als vertraute Hinwendung. Beachtet man in diesem Zusammenhang überdies jene bildliche Darstellungstradition der abendländischen Kunstgeschichte, überkreuzte Beine eines (gegengeschlechtlichen) Liebespaares als Metapher für Geschlechtsverkehr zu verwenden90, verstärkt sich die im Bild suggerierte Intimität zwischen Sappho und Erinna für mich noch weiter.
Abb.2 Fragmente von Sapphos Gedicht “Ein hohes Alter” (Zeilen 9-20), Papyrus aus dem 3. Jahrhundert v.u.Z, 11,5 x 17 cm, Köln, Kölner Papyrussammlung (Universität Köln).
Mit dem auf das antike Griechenland verweisenden Bildthema seines Aquarells bezieht Solomon sich auf die historische Person der Sappho, die als bedeutendste und bekannteste Dichterin der Antike gilt.91 Zwar ist nur ein Bruchteil ihrer Dichtung überliefert92 und die meisten bekannten Verse sind nur fragmentarisch erhalten (Abb.2), es finden sich aber zahlreiche Verweise, Zitate und Bezugnahmen anderer Autor:innen auf die antike Lyrikerin.93 Diese bezeugen eindrücklich Sapphos Bedeutung und ihre überlieferte Dichtung in äolisch-griechischem Dialekt gewährt einen Einblick in ihre metrische wie sprachliche Versiertheit und Vielseitigkeit. Als einzige Frau wurde Sappho bereits im Hellenismus mit acht anderen Dichtern kanonisiert und unter anderem von Platon als zehnte Muse gepriesen.94
Ikonografie
In Solomons Aquarell finden sich mehrere symbolische Bildelemente, die auf Sappho als Figur verweisen und die Szene in ein griechisch-mythologisches Bezugssystem einbetten: Die Leier, die rechts unten an einem Sockel lehnt, steht ebenso wie die halb ausgerollte, oben auf dem Sockel abgelegte Schriftrolle für Sappho als Lyrikerin. Die Leier als Musikinstrument verweist dabei auf den Umstand, dass Sapphos antike Dichtung zur Gattung der sogenannten Melik (von altgriech. melos, „Lied, Gesang“) gehörte und somit nicht rezitiert, sondern zu begleitender Musik gesungen wurde und oft auch zum Tanzen gedacht war.95 Sprache und Musik waren in Sapphos Lyrik also aufs Engste verbunden.
Bei der Skulptur auf dem Sockel, die mit einem Arm auf die beiden Frauen zu deuten scheint, handelt es sich vermutlich um eine Darstellung der griechischen Göttin Aphrodite. Sie wird von Sappho häufig in ihrer Dichtung adressiert96: So wird Aphrodite beispielsweise in einem, als Ode anAphrodite (Fragment 1 Voigt)97 bekannt gewordenen Text von Sappho angerufen, die Liebeskummer wegen einer Frau hat und die Liebesgöttin in diesem Zusammenhang um Hilfe bittet98 – womit nicht nur Sapphos Bezug zu Aphrodite, sondern zugleich auch eine homoerotische Komponente in Teilen von Sapphos Lyrik deutlich wird.99 Auch gibt es in der Forschung vereinzelt die These, dass Sappho als Priesterin Aphrodites gewirkt oder einen Kultverein für Aphrodite geleitet haben könnte.100 So könnte auch das Gefäß neben der Schriftrolle und zu Füßen der Göttin in einem kultischen Zusammenhang stehen. Die Kunsthistorikerin Elizabeth Prettejohn identifiziert den Zweig, der in dem aufgerollten Teil der Schriftrolle steckt, als Myrte und verweist darauf, dass diese als Pflanze der Aphrodite geweiht sei und auffallend häufig auch in anderen Werken Solomons vorkomme.101 In ihrer Bedeutungsgeschichte eng mit der Göttin Aphrodite verbunden, steht die Pflanze der Myrte für Liebe, Versöhnung und Fruchtbarkeit, fand in diesem Zusammenhang schon in der Antike rituell bei Hochzeiten Verwendung und kann überdies eine erotische Konnotation aufweisen. Auch im Judentum ist die Myrte traditionell Teil von Hochzeitsriten und Totenkult102 und findet bei gängigen Ritualen wie der Hawdala – der Verabschiedung des Schabbats – oder dem Laubhüttenfest (Sukkot) – als Erinnerung an den Auszug der Israelit:innen aus Ägypten und zugleich Erntedankfest 103– Verwendung, sodass Solomon als jüdischer Künstler eventuell auch einen eigenen Bezug zur Myrte gehabt haben könnte und die Pflanze in seinen Arbeiten deshalb wiederholt aufgreift.
In seinem Aquarell Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene agiert die Myrte wohl vor allem als Attribut der Göttin Aphrodite und trägt damit – ebenso wie die auf dem Boden verstreuten Rosenblüten104 und die beiden Tauben, die über den Köpfen von Sappho und Erinna auf einer Mauer sitzen – zu einer narrativen Rahmung des Zu-sehen-Gegebenen105 als Liebesszene bei. Die Tauben, die ebenfalls Symbole der Aphrodite sind106, wenden einander die Schnäbel zu und spiegeln dadurch die Hinwendung Sapphos zu Erinna und ihren angedeuteten Kuss wider.107
Ein ungewöhnliches Bildelement ist das kleine Reh, das links neben Erinna auf der steinernen Lehne der Bank balanciert und seinen Kopf in Richtung Blattwerk streckt. Es könnte auf den griechischen Gott Apollon verweisen, dem das Reh heilig ist108 und der in der griechischen Mythologie als Führer der Musen gilt.109 Noch ein weiteres Attribut könnte sich auf den Gott Apollon und damit auf das Narrativ Sapphos als zehnte Muse beziehen: Der Lorbeerkranz in Sapphos Haar. Die Erzählung von der Nymphe Daphne, die vor dem ihr nachstellenden Apollon flieht und sich mithilfe ihres Vaters in einen Lorbeerbaum verwandelt, um sich Apollon entziehen zu können, begründet die Bedeutung des Lorbeers für Apollon. Die Pflanze ist ihm fortan heilig und der junge Gott wird in der bildenden Kunst zumeist mit Lorbeerkranz im Haar dargestellt. In der römischen Antike galt der Lorbeerkranz als Zeichen des Sieges und wurde schließlich auch zu einem Bestandteil des Kaiserkultes. Zudem allgemeiner Ausdruck der Ehre und des Ruhmes, etablierte sich eine spezifische Verknüpfung von Lorbeer und Dichtkunst: Schon der antike griechische Dichter Hesiod (* vor 700 v.u.Z.) berichtet davon, dass die Musen ihm als Ausdruck seiner dichterischen Berufung einen Lorbeerzweig überreicht hätten. Der Lorbeer wirkt in dieser Erzählung als Metapher für dichterische Kraft und eine ‚gottgegebene Sprache‘, die dem Dichter durch die Musen selbst eingehaucht worden sei.110
In der Neuzeit etablierte sich insbesondere in Großbritannien die Tradition des sogenannten poeta laureatus (dt. lorbeergekrönter Dichter). Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind Preisträger des poet laureate aktenkundlich und das Amt wird noch bis heute vom britischen König:innenhaus verliehen.111 Auch zu Solomons Lebzeiten und zur Entstehungszeit von Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene gab es einen poet laureate.112 Solomon dürften der Ehrenposten und die damit zusammenhängende Symbolik des Lorbeerkranzes als auszeichnende Dichter:innenkrone somit bekannt gewesen sein – zumal er mit mehreren Schriftstellern befreundet war.
Vor diesem Hintergrund gehe ich davon aus, dass Sapphos Lorbeerkranz im Aquarell mehrere Funktionen erfüllt: Bildgeschichtlich und allgemein verknüpft mit Ehre und Ruhm, zeichnet der Lorbeer Sappho als bedeutende Person aus. In seiner Funktion als heilige Pflanze und Attribut des Apollon ruft der Kranz zudem die Konnotation von Sappho als zehnter Muse auf und hebt sie damit in den Stand überirdischen Kunstschaffens. Darüber hinaus steht der Lorbeerkranz in Bezug zu dem in Großbritannien traditionsreichen Ehrentitel des poet laureate, der auch zu Lebzeiten Solomons als Auszeichnung besonders verdienter Dichter bekannt war und daher auch bei zeitgenössischen Betrachter:innen als Assoziation aufgerufen worden sein könnte.
Simeon Solomon markiert Sappho in seinem Aquarell also auf mehreren Bedeutungsebenen als herausragende Dichterin.
Rezeption Sapphos
Mit seiner Wahl Sapphos als Bildthema reiht Solomon sich in eine lange Rezeptionsgeschichte der antiken Lyrikerin ein. Neben einer werkbezogenen Rezeption von Sapphos Gedichten, die zahlreiche neuzeitliche und moderne Adaptionen, Interpretationen und Übersetzungen erfuhren, wurde auch Sappho selbst als Person immer wieder aufgegriffen und dabei zum Gegenstand zahlreicher Legendenbildungen: Schon im fünften Jahrhundert v.u.Z. finden sich Spuren biografischer Legenden113, die sich im Laufe der Jahrhunderte tradierten, veränderten und neu entstanden und so zu einer Fülle an vermeintlichen biografischen Informationen, sowie zahlreichen variierenden Interpretationen zu Sapphos Leben und Wirken führten.
Insbesondere ihrer Sexualität und ihrem Liebesleben wurde dabei wiederholtermaßen erhöhte Aufmerksamkeit zuteil:114 So galt Sappho wahlweise als mit einem Mann verheiratet und Mutter einer Tochter, als Hetäre (also als eine Art gebildete und sozial anerkannte Sexarbeiterin der griechischen Antike), als ‚gefallene Frau‘, als lesbische Ikone115 (der Begriff „Lesbe“ leitet sich nicht zufällig von der Insel Lesbos ab, auf der Sappho lebte) oder auch als keusche (heterosexuelle) Jungfrau.116
Besonders prägend wirkte sich in der Rezeptionsgeschichte Sapphos der fiktive Brief Sappho an Phaon des antiken römischen Dichters Ovid (43 v.u.Z. – ca. 17 n.u.Z.) aus117: In seinen Epistulae Heroidum (dt. Briefe von Heldinnen) lässt Ovid Sappho einen Brief an den Fährmann Phaon verfassen, der Ovids Erzählung nach Sappho verlassen habe, woraufhin diese sich schließlich aus Verzweiflung über ihre unerwiderte Liebe vom Leukadischen Felsen ins Meer gestürzt und Selbstmord begangen habe.118 Die Vermischung von Phaon als mythologischer und Sappho als historischer Person führte zu einer wirkmächtigen Legendenbildung, auf die sich in den die folgenden Jahrhunderten immer wieder bezogen wurde.
Abb.3 Charles Mengin, Sappho, 1877, Öl auf Leinwand, 230,7 x 151,1 cm, Manchester, Manchester Art Gallery.
Im Europa des 19. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Interpretationen Sapphos als verzweifelt Liebende und von Phaon Verlassene in Musik, Literatur und Bildender Kunst: Sappho erlangte Berühmtheit als tragische Opernheldin119 und wurde in Franz Grillparzers Drama Sappho als eifersüchtige, gekränkte und verzweifelte Protagonistin inszeniert.120 In zahlreichen Gemälden des 19. Jahrhunderts erscheint Sappho auf einem Felsen, vom zumeist stürmischen Meer umgeben und wird in fatalistischer Stimmung vor ihrem imaginierten Sprung in die Tiefe (Abb.3), im Begriff des Absprungs (Abb.4) oder auch als (lasziv und sinnlich konstruierte) Ertrinkende zu sehen gegeben (Abb.5). Die in der Regel beigefügte Leier dient hierbei lediglich als Attribut und Erkennungszeichen der Figur, während der Fokus der Inszenierung nicht auf Sapphos Wirken als Lyrikerin, sondern ausschließlich auf ihrem imaginierten Selbstmord liegt und sie als Figur in unterschiedlichem Maße erotisiert und als hysterisch, schicksalergeben oder paralysiert zu sehen gegeben wird. Das beliebte Bildthema des selbstgewählten Sprungs in den Tod machte Sappho in der Kunst des 19. Jahrhunderts zum Prototyp einer ‚gefallenen Frau‘.121
Abb.4 Miguel Carbonell Selva, Safo, 1881, Öl auf Leinwand, 250 x 170 cm, Madrid, Museo del Prado.
Auch im viktorianischen England erfreute sich das Narrativ der von Phaon verlassenen Sappho großer Beliebtheit, wobei die Dichterin in diesem Kontext bemerkenswerterweise zugleich zu einer wichtigen Bezugsperson im Kampf um Frauenrechte wurde.122
Abb.5 Charles Amable Lenoir, La mort de Sapho (Der Tod der Sappho),1896. Öl auf Leinwand, 210 x 115 cm, Wiesbaden, Museum Wiesbaden.
In Solomons direktem Umfeld griff der schon erwähnte Schriftsteller Algernon Charles Swinburne die Figur der Sappho wiederholt auf und war damit in der zeitgenössischen Literatur kein Einzelfall.123
Gegen die Norm
Das künstlerische Aufgreifen von Sappho als Figur war also in der Kunst und Kultur des 19. Jahrhunderts, sowie auch in Solomons Umfeld, keine Seltenheit und die Interpretation ihrer Person im Sinne einer Projektionsfläche verschiedenster Moralvorstellungen, Sexualitätsdiskurse, politischer Ideale und sexueller Fantasien weit verbreitet.
Im Unterschied zu den vorherrschenden Darstellungsnormen seines Jahrhunderts gibt Solomon 1864 jedoch eine Sappho zu sehen, die weder mit einer unerwiderten (heterosexuellen) Liebe hadert, noch im Begriff ist, sich ins Meer zu stürzen und ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Stattdessen zeigt Solomon Sappho in zärtlicher Hinwendung zu einer anderen Frau und markiert sie durch mehrere Attribute und Bildelemente als erfolgreiche Lyrikerin. Meine These ist, dass Solomons Sappho damit nicht nur geltenden Darstellungstraditionen ihrer Figur eine Absage erteilt, sondern sich narrativ auch einer patriarchalisch geprägten Deutungshoheit entzieht und sich einer heterosexuell imaginierten Verfügbarkeit widersetzt. Solomons Sappho ist weder verzweifelt, noch verlassen, sondern – im provokanten Verhältnis zu üblichen Repräsentationen des 19. Jahrhunderts – zufrieden und in ungestörter (Liebes-)Gesellschaft, die ganz ohne Mann auskommt. Darüber hinaus wird Sappho von Solomon als Figur nicht einzig und allein auf ihr imaginiertes Liebesleben reduziert. Sie ist weder besessen von Phaon, noch in besinnungsloser Erregung durch eine imaginierte Liebhaberin wie in Swinburnes Anactoria. Zwar stellen das Figurenpaar von Sappho und Erinna und deren Bezug zueinander das zentrale Bildthema von Solomons Aquarell dar. Aber Sappho wird dabei gleichzeitig in einem Setting zu sehen gegeben, das auch auf ihre Tätigkeit als Lyrikerin aufmerksam macht und diese – durch die Verweise auf Apollon und Aphrodite – noch hervorhebt.
Solomon als schwuler Künstler
In der Forschung steht häufig Solomons eigene schwule Sexualität im Fokus der Aufmerksamkeit: Als gleichgeschlechtlich begehrende Person stand er mit den viktorianischen Normen und Gesetzen in Konflikt und wurde nach gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakten in öffentlichen Toiletten 1873 und 1874 zwei Mal verhaftet und der „versuchten Sodomie“ (attempted buggery) sowie der „anstößigen Berührung“ (indecent touching) beschuldigt. Sicherlich waren die Erfahrung einer Kriminalisierung der eigenen Begehrensformen, die Verhaftungen und die Skandalisierung der eigenen Person sowie der daraus resultierende Verlust der Reputation und die Distanzierung ehemaliger Freunde wie Swinburne für Solomon biografisch von großer Bedeutung und Tragweite. Unabhängig davon erachte ich jedoch die Tendenz als problematisch, Solomons Werke vor diesem Hintergrund psychologisierend zu interpretieren und vor allem als Repräsentationen eines „inner state of longing and alienation“, als „allegories of forbidden feelings“124 oder „subjects that suggested his sexual orientation“125 zu rezipieren. Auch die auf meinen Untersuchungsgegenstand Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene bezogene These, dass „[…] for Solomon vindicatorily, a female-female couple could stand in for a male-male couple”126 erscheint mir kausal verkürzend – wird darin doch ebenfalls Solomons eigene Sexualität zum scheinbar alleinigen Antrieb seines künstlerischen Schaffens und seiner Themenwahl erklärt.
Abb.6 Simeon Solomon, Erinna Taken from Sappho, 1865. Tinte auf Papier (Federzeichnung), 23,2 x 32,3 cm, Privatbesitz (Dr. Dennis T. Lanigan collection).
Sicherlich kann Solomons künstlerisches Interesse für bestimmte Figuren und Themen unter anderem auch im Zusammenhang mit seiner eigenen Homosexualität gesehen werden.127 Und es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass Solomon als gleichgeschlechtlich begehrende Person im stark patriarchal und heteronormativ geprägten viktorianischen England auch als Künstler einen queeren – im Sinne von die Norm herausfordernden – Blick auf Begehrensformen und Darstellungsnormen hatte und so seine eigene sexuelle Orientierung auch seine künstlerischen Artikulationen mit beeinflusst haben könnte. Statt jedoch vor allem Hypothesen über mögliche Interdependenzen von Solomons Sexualität und seiner Interpretation Sapphos in Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene aufzustellen und damit der Frage eines (oder mehrerer) möglichen Warums? nachzugehen, erscheint es mir konstruktiver, einen Fokus auf das Wie? im Sinne einer repräsentationskritischen visuellen Analyse des konkreten Werks zu legen. Dabei wird deutlich, dass Solomons lesbische Sappho stark von den üblichen Repräsentationen Sapphos im 19. Jahrhundert abweicht: Ihre Zuneigung bezieht sich nicht auf einen Mann, sondern auf eine Frau, ihr gleichgeschlechtliches Begehren wird von Solomon nicht abgewertet wird, sie wird als voll im Leben stehend dargestellt und neben ihrer intimen Bezugnahme auf Erinna auch als bedeutende Lyrikerin markiert. In diesem Sinne betrachte ich Solomons Repräsentation Sapphos – als weiblich gleichgeschlechtlich begehrende und lyrisch wirkende Frau gleichermaßen – als widerständig.
Abbildungsnachweis
Public Domain, via Wikimedia Commons, unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sappho_and_Erinna_in_a_Garden_at_Mytilene.jpg
Institut für Altertumskunde an der Universität zu Köln (Creative Commons Attribution 4.0 International), unter: https://papyri.uni-koeln.de/stueck/tm68983 (letzter Zugriff: 12.03.2023)
Public Domain, via Wikimedia Commons, unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1877_Charles_Mengin_-_Sappho.jpg
Public Domain, via Wikimedia Commons, unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Death_of_Sappho_by_Miguel_Carbonell_Selva.jpg
Public Domain, via Wikimedia Commons, unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Charles_Amable_Lenoir_-_The_Death_of_Sappho_(1896).jpg
Public Domain, via Wikimedia Commons, unter: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Simeon_Solomon_(1840-1905)_-_%22Erinna_Taken_from_Sappho%22_(1865).jpg&oldid=337378663
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Biografie
ANNIKA LISA RICHTER (sie/ihr) ist Kunstwissenschaftlerin und Doktorandin im DFG-Graduiertenkolleg Ästhetische Praxis an der Stiftung Universität Hildesheim. Aktuell beschäftigt sie sich in ihrem Dissertationsprojekt mit der ästhetischen Praxis von Künstlerinnen in der Weimarer Republik und deren emanzipatorischem Potenzial. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich kunstwissenschaftlicher Gender- und Queer Studies sowie feministischer Kunstgeschichte. Annika Lisa Richter ist Initiatorin des künstlerisch-wissenschaftlichen und queer- feministischen Festivals Frauen:sache! Kunst. Macht. Raum. (https://kunst-macht-raum.de/).
Natur und Kultur wurden lange Zeit in einem dualistischen Verhältnis zueinander gedacht. Welche Auswirkungen ergeben sich jedoch daraus, wenn man sie als ineinander zahnende, sich gegenseitig bedingende Komponenten betrachtet? Nari Sarmini versucht in einem essayistischen Gedankenexperiment die meist personenspezifische Konnotation von Ikonen auf unter Naturschutz gestellte Naturdenkmäler zu übertragen. Sie geht dabei der Überlegung nach, ob die Wahrnehmung der Naturstätten als ikonische Orte deren Schutz bedingen und inwiefern vermeintlich förderliche Maßnahmen auch politisch orientiert sein können.
Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter einer Ikone meist eine Person, die aus verschiedenen Gründen — sei es ihr Auftreten, ihr herausstechender Charakter, ihr Schaffen und ihre Errungenschaften — ein erstrebenswertes Ideal für eine bestimmte Gruppe repräsentiert und damit viel Ansehen und Verehrung erfährt. Eine personenspezifische Form der Ikonisierung soll nicht Thema dieses Essays sein, auch wenn sie wichtig ist, um einen ersten Anhaltspunkt zur weiteren Auseinandersetzung mit dem von mir behandelten Sujet zu geben und ein erstes Gefühl für das zu bringen, was eine Ikone in einem Individuum auslösen kann. Im folgenden Text möchte ich mich der Idee widmen, wie es um die Ikonisierung von Naturelementen steht. Hat die Verehrung von Naturgebilden einen Mehrwert für den Menschen sowie den Planeten? Der Essay ist als ein Gedankenexperiment zu verstehen, das versucht, überholte Naturkonzepte zu sprengen und ein progressiveres Naturverständnis zu präsentieren. Dabei soll keinerlei Anspruch auf konkrete Vorschläge zur ‚Lösung‘ der ökologischen Krise erhoben, sondern vielmehr die Reflexion des jetzigen Istzustands aus einer Menschenperspektive gefördert werden.
Als Kunsthistorikerin möchte ich den Begriff der Ikone zunächst aus einer fachlichen Perspektive ableiten, nämlich vom Stand- bzw. Heiligenbild, das in der Liturgie der Ostkirche für die kultische Verehrung von Heiligenfiguren zur Verwendung kommt. Mit derselben Bedeutung wurde das Wort im 19. Jahrhundert aus dem Russischen икона (ikona) ins Deutsche übernommen; letztlich geht es allerdings auf das griechische Wort für ‚Bild(nis)‘ — εἰκών (eikōn) — zurück. Die Bildikone ist dementsprechend eine Tautologie, bringt dennoch das Herausstechen bestimmter Medienträger aus der heutigen Bilderflut und deren Einbrennung in ein kulturell spezifisches, kollektives Gedächtnis zum Ausdruck.
Walter Benjamin bezog die einzigartige Präsenz von Ikonen in ihrer religiösen Bedeutung auf eine eigensdefinierte ‚Aura‘. Er verband die visuelle Reizüberflutung, welche durch die Möglichkeit zur Vervielfältigung von Kunstobjekten (vor allem in Film und Fotografie) und der damit einhergehenden Ortsungebundenheit entfacht wurde, mit dem Verlust einer bestimmten Mystik, die von der Authentizität eines Einzelbildes ausgeht, wie es den orthodoxen Ikonen zugesprochen wird. Er illustrierte dieses fast übersinnliche Ambiente, welches solch ein Objekt in seiner Umgebung schafft, auf folgende Art:
„Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese [Aura] definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft — das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.„106
– Walter Benjamin
Wie aus dem Zitat zu entnehmen ist, leitet Benjamin seine Umschreibung der Aura interessanterweise von der ‚unbelebten’ Natur ab. Er appliziert das Gefühl bei Anbetracht eines Gebirges, welches aufgrund seiner Wucht und Enormität unnahbar erscheint, auf klassische Kunstwerke wie beispielsweise von Rembrandt. Beide als Beispiele herangezogene Objekte sind in ihrer Existenz einzigartig; ihnen ist an erster Stelle eine räumliche Singularität inhärent. Aber auch auf einer zeitlichen Axis sind sie in dem Sinne ephemer, da sie in einem unmittelbaren Moment erfahren werden müssen, also nicht kontinuierlich abgerufen werden können, so wie digitalisierte Inhalte. Demnach existiert die Aura eines authentischen Kunstwerks für die Betrachtenden lediglich innerhalb eines bestimmten Augenblicks, der in seiner Singularität nicht reduzierbar ist. Benjamin zieht daraus die Konsequenz, dass dieser metaphysische Moment bei der Reproduktion von Kunstwerken verloren gehe. Wie sieht es aber mit dem Verfall der Aura bei natürlichen Objekten wie einem Gebirgszug, einem Berg, einem Fluss oder einem Baum aus?
Abbildung hergestellt mit dem KI-Programm DALL•E; Variation aus folgender Eingabe: „a romantic painting of a mountain that has a certain aura”.
Wenn die Aura des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit verfallen würde, dann würde die Aura des Naturwerks aus einem ähnlichen Grund zerstört werden: Technologische Errungenschaften führen einerseits zu einer Verbesserung der Lebensumstände vieler Menschen, andererseits bewirken sie neben der Ausbeutung von Natur auch einen Wahrnehmungsverlust in ihrer grundlegenden Wichtigkeit und Wertschätzung. Der urbane Mensch kennt ‚Natur‘ primär als etwas Zähmbares und Nützliches — ihre Erzeugnisse werden im Supermarkt gekauft oder als Dekor ins Wohnzimmer oder in den Garten gestellt. In der Gegenwart wird anhand technischer Mittel eine Beziehung mit der natürlichen Umgebung eingegangen, welche einseitig und extraktiv ist. Natur wird als unbelebter, passiver Projektionsraum verhandelt, der zu Gunsten des Menschen existiert. Als invasive Spezies hat der homo sapiens sapiens das gesamte Ökosystem des Planeten durchdrungen: Seine materielle Präsenz — damit ist der menschliche Körper selbst, genauso wie seine Verlängerung in Form von technischen Erzeugnissen gemeint — ist selbst an Orten nachweisbar, die erst kürzlich ‚entdeckt’ wurden und erforscht werden.117
Die Illusion einer vom Menschen unberührten Natur scheint mir heute persistenter als die Illusion der Unbegrenztheit von Ressourcen zu sein. Es gibt keine freie Wildnis, keine unbefleckte Landschaft; selbst wenn der Mensch körperlich nicht präsent ist, so sind es seine (Abfall-)Produkte. Er ist dem, was er von sich gesondert unter Natur versteht, sehr nahgekommen und hat sich zugleich — paradoxerweise — stark von dieser entfremdet. Auf diese Weise ist es möglich, dass sich eine Spezies in einer so extremen Art von ihrem Dasein distanziert, dass es zum Verlust von Biodiversität, Artensterben und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zur Ausrottung seines Selbst führt. In der Realität sind wir nämlich der Natur nicht nur sehr nah, sondern mit ihr verflochten. Die Natur ist keine Umgebung, die wir bewohnen; sie ist die Grundlage für unsere Existenz.
Ein ausschlaggebender Punkt mag der Drang des Menschen sein, seine Umgebung zu formen bis hin zu kontrollieren — motiviert von lebenssichernden Notwendigkeiten, aber genauso auch aus der Lust heraus, etwas zu kreieren, seine Handschrift in etwas zu hinterlassen. Darunter fällt aus meiner Perspektive all das, was grob als ‚Kultur‘ bezeichnet wird. Die Kreation von Bau- und Kunstwerken mag aus verschiedenen Gründen ein essentieller Baustein in sozialen Strukturen sein: kommunikative und/oder religiös-spirituelle Zwecke oder auch der Ausdruck von Kollektivität wie auch von Individualität treten hier zutage. Am Beispiel der christlichen Ikone lässt sich das gut vorführen: Sie ist ein aus Menschenhand gefertigtes Bild, das in den Glaubensritus eingebunden ist und neben seiner transzendentalen Wirkung auch soziale Aspekte wie die Festigung einer religiösen Gemeinschaft fördert. Manche bedeutende kulturelle Erzeugnisse wie Bauwerke, Monumente, Artefakte, Reliquien, Kunstwerke etc. besitzen einen erheblichen Stellenwert in der Menschheitsgeschichte und weisen darum ikonischen Charakter auf. Über den immateriellen Wert eines solchen kulturellen Erbes mögen die meisten übereinstimmen. Doch teilt man dieselbe Wertigkeit auch über das Naturerbe?
Bei Walter Benjamins Auffassung von Natur und Kunst handelt es sich um eine einseitige Beziehung zwischen der vom Objekt ausgehenden Aura und den Subjekten, die eine solche augenblicklich empfangen. Es ist eine dezidiert anthropozentrische, rezeptionsästhetische Erfahrung.
„Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“126
– Walter Benjamin
Der Fokus liegt hier auf dem menschlichen Subjekt, das die Wirkung seiner Umgebung empfängt und erst dann mit und in ihr agieren kann. Dass sich Benjamin für die Umschreibung der Aura von Kunstwerken an Naturphänomenen orientiert, ist dahingehend bedeutungsvoll, da er keine herkömmliche Trennung zwischen dem, was als Natur bezeichnet wird, und dem, was unter Kultur verstanden wird, vollzieht.128 Die Dichotomie ist bei Benjamin sehr wohl vorhanden, in Bezug auf die Aura allerdings nicht, da diese auf Beides applizierbar ist. Genauer gesagt überträgt er das Gefühl, das der Anblick eines Gebirges evozieren kann, auf jenes, das bei Anbetracht eines authentischen Kunstwerks hervorgebracht wird. Wie stünde es aber um den Naturgegenstand, wenn man umgekehrt vorginge, also die Verehrung, die Kunstwerke heute erfahren, auf diesen übertragen würde? Was für Effekte hätte die Ikonisierung von Naturobjekten auf den menschlichen Umgang mit diesen?
Ich nehme dafür das Naturdenkmal als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Denkmäler und Monumente im Allgemeinen sind ein klassisches Beispiel für all das, was man eigentlich im Bereich der Kultur verortet. Sie repräsentieren im traditionellen Sinne eine bestimmte Person oder ein geschichtsträchtiges Ereignis und werden an einem spezifischen Ort errichtet, der mit dem jeweiligen Inhalt in Verbindung gebracht wird. Naturdenkmäler beziehen sich auf natürliche Landschaftselemente, die durch ihre Schönheit oder Seltenheit als schützenswert gelten. Diese können zum Beispiel einzelne Felsnadeln oder Bäume, Höhlen oder auch größere Gebiete mit klaren Abgrenzungen von ihrer Umgebung, wie Wiesen, sein.129
„Naturdenkmäler zeichnen sich oft durch einen unmittelbaren ästhetischen Zugang aus. Auf eindrucksvolle Naturgebilde aufmerksam zu werden steht oft am Anfang einer tiefergehenden Beschäftigung mit der Natur. Ein wesentlicher Denkansatz ist die Betrachtung eines Naturdenkmals als Kulturdenkmal dort, wo menschlicher Einfluss für die Manifestation des Naturdenkmals verantwortlich gewesen ist.„130
– Stadt Wien
In jedem Fall liegt das Hauptziel in der Bewahrung der natürlichen Elemente, sprich im Naturschutz. Dies ist allerdings nicht mit der Bewahrung des ansäßigen Ökosystems gleichzusetzen, auch wenn indirekt die Biodiversität davon profitieren kann. Naturdenkmäler werden in Österreich von den Bezirksbehörden verwaltet, in Deutschland macht dies der Bund.131 Sie sind dahingehend sinnvoll, weil damit auch Privateigentümer:innen zur Erhaltung eines bestimmten Naturobjekts verpflichtet sind. Wie aber aus dem Zitat zu entnehmen ist, spielt der ästhetische Zugang zu diesen Naturgebilden eine wesentliche Rolle bei der Deklaration zum Denkmal. Auch handelt es sich bei Naturdenkmälern nicht immer um natürlich entstandene Gebilde. Es werden auch vom Menschen kreierte Landschaftselemente wie (historische) Zeugnisse einer Kulturlandschaft zum Naturdenkmal erklärt.132
Die Dichotomie von Natur und Kultur wird bei den Begriffspaaren ‚Naturlandschaft/ Kulturlandschaft‘ wieder deutlich, wenn auch gleichzeitig für obsolet erklärt. Denn die unklare Trennung in dem, was letzten Endes zu einem Naturdenkmal erklärt werden kann, zeigt den Anachronismus in solch einem binären Verständnis von Natur und Kultur, vor allem, weil umgekehrt keine Naturgebilde zu Kulturdenkmäler erklärt werden. Nichtsdestotrotz wird nochmal deutlich, dass die Natur keine homogene Einheit ist. Manche Elemente der Natur entstehen durch gezieltes Einwirken des Menschen, also ausschließlich unter seinem Einfluss. Dies ist nicht immer negativ zu werten; es gibt viele Fälle, in denen dies positiven Nutzen für den Menschen wie auch für die ökologische Nische bringt, wie am Beispiel der Wiese festzustellen ist.133
Manchmal werden Naturgebilde gerade aus dem Grund zu Denkmälern erklärt, weil sie aufgrund ihrer Einzigartigkeit (und man könnte hier mit Benjamins Worten auch von ihrer Aura sprechen) viele Besucher:innen anziehen. Hier spielt wieder der Begriff der Ikone eine Rolle, denn ähnlich wie bei kultischen Ikonen erfahren diese Naturwerke auch eine Art von Verehrung. Ein positiver Effekt, der mit der Ikonisierung von Natur einhergeht, ist das steigende Interesse und die daraus resultierende profunde Beschäftigung mit der Umgebung sowie der Erhaltung des Naturwerks.134
Eine anerkannte Organisation, die weitgehend global zu agieren versucht und den Naturschutz verfolgt, ist die UNESCO. Ihre konventionellen Richtlinien vollziehen einerseits eine Trennung zwischen dem Kultur- und Naturerbe, weisen aber darüber hinaus Kulturlandschaften als eigene Kategorie aus, welche insgesamt genauso als Welterbe angesehen und gleichwertig vom Komitee verwaltet werden.
„Cultural landscapes inscribed on the World Heritage List are cultural properties and represent the ‚combined works of nature and of man‘ designated in Article 1 of the Convention. They are illustrative of the evolution of human society and settlement over time, under the influence of the physical constraints and/or opportunities presented by their natural environment and of successive social, economic and cultural forces, both external and internal. […] The term ‚cultural landscape‘ embraces a diversity of manifestations of the interaction between humankind and the natural environment. Cultural landscapes often reflect specific techniques of sustainable land use, considering the characteristics and limits of the natural environment they are established in, and may reflect a specific spiritual relationship to nature. Protection of cultural landscapes can contribute to current techniques of sustainable land use and can maintain or enhance natural values in the landscape. The continued existence of traditional forms of land use supports biological diversity in many regions of the world. The protection of traditional cultural landscapes is therefore helpful in maintaining biological diversity.„135
– Operational Guidlines for the Implementation of the World Heritage Convention
So können Naturreservate genauso als kulturelle Landschaften gesehen werden, da sie vom Menschen so gepflegt werden, dass sie einem erwünschten Zustand entsprechen. Sie werden von Menschen kultiviert und kontrolliert, auch wenn sie nicht bewohnt und/oder bewirtschaftet werden. Eine problematische Haltung, wie sich in der Geschichte der USA spätestens mit dem Wilderness Act 1964 zeigt, im Zuge dessen indigene Bevölkerungsgruppen von ihrem Lebensstandort vertrieben worden sind.136 Die Annahme, dass Naturschutz mit der Entfernung des Menschen von der zu schützenden Umgebung einhergeht, unterstützt die Aufrechterhaltung der Illusion, dass die Natur es ‚besser ohne uns’ hätte oder wie man es manchmal auch gerne hört, die Natur erst ‚heilen‘ kann, wenn der Mensch sich völlig von ihr entfernt. Der Abbau der Biodiversität ist sehr wohl den anthropogenen Auswirkungen auf dem Planeten verschuldet, aber das Verfallen in Schwarz-Weiß-Denken, das zu ‚entweder die Natur, oder der Mensch‘ führt, weckt radikale Ansichten und Handlungsweisen, denen am Ende kaum etwas abzugewinnen ist.137
Neuere Konzepte wie das Biosphärenreservat der UNESCO versuchen solch ein fatalistisches Denken sowie die Ausgrenzung des Menschen (vor allem von Minderheiten) in schützenswerten Gebieten, wie es im konventionellen Naturschutz meist der Fall ist, aufzuheben.138 Als weltweites Netz in Kooperation mit staatlichen Umweltorganisationen (in Österreich das Umweltbundesamt) wird seit der Sevilla-Strategie (1995) ein zeitgenössisches Konzept des Naturschutzes verfolgt, welches Ökosysteme nicht nur bewahren, sondern auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen an den jeweiligen Standorten fördern, sowie Bildung, Forschung und Umweltbeobachtung unterstützen soll. Idealerweise würden sich ökologische und ökonomische Faktoren positiv bedingen, indem die Biodiversität und die Lebensgrundlage von Menschen in ausgewiesenen Orten gesichert werden könnte.
Die Erfolgsbilanz des Modells ist gemischt. Während beispielsweise beim Maya Biosphärenreservat in Guatemala und beim Tonle Sap-Biosphärenreservat in Kambodscha positive Ergebnisse erzielt werden, haben andere Biosphärenreservate Schwierigkeiten, ihre Ziele zu erreichen. Einige haben mit begrenzten Ressourcen, mangelnder Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Gemeinden, Konflikten um Landnutzung und illegalen Aktivitäten wie Wilderei und unerlaubter Rodung zu kämpfen. Beispiele hierfür wären das Sundarbans-Biosphärenreservat (s. Abbildung oben) in Bangladesch und Indien, welches unter Umweltverschmutzung, illegaler Abholzung und illegaler Fischerei leidet. Das Lukiangyuang-Biosphärenreservat in China hat mit Landnutzungskonflikten, die zwischen den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung und denen des Umweltschutzes bestehen, zu kämpfen.139
Nichtsdestotrotz hat das Modell des Biosphärenreservats der UNESCO zweifellos zu einem besseren Schutz von Natur- und Kulturlandschaften sowie zur Förderung von nachhaltiger Entwicklung in vielen Teilen der Welt beigetragen. Es bietet wichtige Referenzgebiete für den Schutz von Artenvielfalt und Ökosystemen und dient als Beispiel für einen möglichen verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen, ohne der örtlichen Gemeinschaft ihren Lebensraum sowie -unterhalt zu rauben.
Auf die anfängliche Fragestellung zurückkommend kann man insgesamt sagen, dass das Biosphärenreservat-Programm als sinnvolles Vorbild für den Schutz der Umwelt und der Förderung von Nachhaltigkeit gesehen werden kann. Aus diesem Grund können sie über den Handlungskontext von Naturdenkmälern hinaus die Position einer Ikone annehmen sowie die Beziehung zu Ikonen neu definieren. Ikonen können aufgrund ihrer auratischen Wirkung einen respektvollen, wertschätzenden Umgang postulieren und haben darum das Potenzial, einen Bezug zwischen Objekt und Subjekt zu schaffen, wobei eine zu ehrfürchtige Beziehung zum Naturobjekt jedoch eine gewisse Distanz zu diesem verstärken mag. Vielmehr sollte die Ikone im Sinne einer Vorbildfunktion gedacht werden, denn die einseitige Verehrung von rein ästhetischen Werten wie am Beispiel der Naturdenkmäler bindet den Menschen zu wenig in die Materie ein. Abgesehen von diesem Defizit bei Naturdenkmälern fungieren beide Modelle als wichtige Bildungsstätten mit einem hohen symbolischen Wert. Sie vermitteln Bewusstsein für Umweltprobleme und Wissen zur nachhaltigen Entwicklung und tragen damit zur Förderung des Umweltbewusstseins und der Sensibilisierung für den Naturschutz bei. Zusätzlich beachten die Biosphärenreservate jedoch — und das ist der ausschlaggebende Vorteil zum Naturdenkmal — eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, die zur Entwicklung der Region beitragen und Arbeitsplätze schaffen (z.B. Öko-Tourismus, neue Forschungszentren und Schulen, nachhaltige Nahrungsmittelproduktion). Dabei ist es wichtig sicherzustellen, dass diese Aktivitäten im Einklang mit den Zielen des Schutzes der Biodiversität und der nachhaltigen Entwicklung stehen.
Die Biosphärenreservate bieten somit einen besseren menschlichen Lebensrahmen, der es ermöglicht, Natur- und Kulturaspekte als untrennbare Bestandteile des Ökosystems zu betrachten. Dies kann dazu beitragen, dass Menschen sich bewusst werden, dass sie Teil der Natur sind und, dass die Erhaltung der natürlichen Ressourcen und Biodiversität notwendig ist, um ihre eigene Lebensgrundlage zu bewahren. Zusätzlich können Biosphärenreservate das Bewusstsein für das kulturelle Erbe und die Bedeutung der kulturellen Vielfalt stärken. Durch eine integrierte Sichtweise auf Natur und Kultur kann dazu beigetragen werden, das Denken in Dualismen zu überwinden und ein umfassenderes Verständnis der Beziehung zwischen dem Mensch und seiner Umgebung zu fördern. Durch diesen Perspektivenwechsel könnte, würde ich meinen, die wie von Benjamin proklamierte zerfallende Aura von Kunstwerken, bei den Naturwerken wiederhergestellt und damit die Natur als Ikone anerkannt und adäquat gewürdigt werden — eine Einstellung, die angesichts des konvergierenden ökologischen Kollaps nicht nur die Koexistenz mit anderen (Nicht-)Lebewesen respektiert, sondern auch die eigene Existenz gewährleistet.
Biografie
NARI SARMINI studiert seit 2017 Kunstgeschichte an der Universität Wien. Derzeit schreibt sie an ihrer Masterarbeit über den Lagoon Cycle von Helen Mayer und Newton Harrison. Ihr Fokus liegt dabei unter anderem auf den darin eingefügten topographischen Karten, die als eine Form des künstlerischen Ausdrucks, aber auch als eine pädagogische Strategie betrachtet werden können. Bereits beim Verfassen ihrer Bachelorarbeit über Pierre Huyghes After Alife Ahead befasste sie sich mit Überlegungen zum vermeintlichen Dualismus zwischen Natur und Kultur. In ihrem aktuellen Essay geht sie dem weiter nach, indem sie durch eine Gegenüberstellung zwischen dem Naturdenkmal und dem Biosphärenreservat über die Natur als potenzielle Ikone reflektiert.
Des Weiteren betreibt Nari Sarmini einen Essensblog (mukkbang_mama) und gemeinsam mit ihrer Freundin Mae den spirituellen Podcast Liliy Pond(er) zu den Themen Achtsamkeit und psychische Gesundheit, der über Maes Plattform divinetimescollectivezu verfolgen ist.
In einer florentinischen Werkstatt voller Gips und Terracotta posiert die italienische Schauspiel- und Mode-Ikone Monica Bellucci 2020 vor der Kamera für die nicht weniger symbolträchtige Marke Dolce & Gabbana, deren Fotostrecke in der November Ausgabe der Vogue Italia abgedruckt wird. Was zunächst als bloße Werbekampagne abgetan werden kann, ist bei näherer Betrachtung vielmehr ein Sinnbild für die Ikonisierung einer ganzen Stadt, die weit über die Fotokampagne des italienischen Designer-Duos hinausgeht und bereits um 1900 ihren Höhepunkt fand, als die Stadt zum Inbegriff der Renaissance wurde.
Die Werkstatt Galleria Romanelli, die seit 1860 zum festen Bestandteil der toskanischen Hauptstadt zählt und sich unweit vom Arno, in Borgo San Frediano befindet, legt den Grundstein für die Fotokampagne. Zugleich umreißt sie das fotografische Sujet sowie das Kennzeichen des italienischen Modelabels Dolce & Gabbana: Haute-Couture trifft auf Handwerkskunst; denn 1985 in Mailand gegründet, versteht sich das Label um die Gründungsväter Domenico Dolce und Stefano Gabbana als Vermittler italienischer Werte und Traditionen anhand von Mode.140
Auf der ersten Doppelseite der gedruckten Kampagne (Abb. 1), die mit „Monica’s Beauty“ betitelt ist, offenbart sich rasch die Nähe zu Florenz. Bellucci, in einem Tüllkleid aus hellem Azur und übersäht Blumenapplikationen, hält in ihrer rechten Hand demonstrativ eine Frucht, die für die Gegend um Florenz bedeutend ist: Die Pesca Reginda di Londa, eine Pfirsichsorte, die das Gebiet von Val di Sieve bis Mugello ihre Heimat nennt. Der florale Schmuck wie auch die bewegt drapierte Masse an blauem Stoff, die Bellucci umgeben, lassen eine Verbindung zu den Gemälden Botticellis zu, der die Schaumgeborene in der Nascità di Venere (1485–1486) und der Primavera (1477–1482) auf Leinwand festgehalten hat. Über das Sichtbarmachen der Antike und deren Schönheitsideal („Monicas Beauty“) folgt Bellucci in einer weiteren Fotografie mit vorgehaltenem, bedrucktem A-Linien-Kleid (Abb. 2), daneben in einem abermals von bunten Blumen übersäumten Kleid mit Hut; dieses Mal nicht stehend, sondern auf einem Stuhl sitzend und die Füße auf einem Totenkopf aus Gips gestützt (Abb. 3). Zwei weitere Fotografien (Abb. 4 und Abb. 5) machen die Referenzen auf Florenz komplett: Zum einen die Nachstellung der Pietà (1498–1500) Michelangelos, der wie Botticelli ebenfalls als Ikone der Renaissance bis heute verehrt wird und dessen Schaffen maßgeblich von Florenz unter den Medici beeinflusst wurde; und Monica Bellucci, die mit verbundenen Augen versucht, einer ebenfalls verhüllten Marmorbüste durch einen Kuss Leben einzuhauchen – ganz im Sinne Pygmalions, des Bildhauers, der im Quattrocento als Vorbild vieler florentinischer Kunstschaffenden galt. Verweise auf Florenz, die im kunsthistorischen Zusammenhang mit dem Begriff der Renaissance in Verbindung gebracht werden, sind also nicht mehr von der Hand zu weisen.
Die toskanische Hauptstadt birgt einen kulturellen Schatz von unermesslichem Wert und lockt damit jährlich Millionen von Tourist:innen an. Was heutzutage in ausgeleuchteten und kompositorisch durchdachten Räumen bewundert werden kann, ist nicht zuletzt den zahlreichen Arbeiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu verdanken. Über eine Aufarbeitung des kulturellen Erbes hinaus formierten sich Strukturen, die offenkundig konstruiert sind. Am auffälligsten wird dies in der Zeit um 1865, als Florenz das piemontesische Turin vom Thon stieß und bis 1895 Hauptstadt Italiens sein sollte. Zu dieser Zeit erfolgte die innerstädtische Sanierung, der Risanamento di Firenze. Unter der Leitung von Giuseppe Poggi (1811–1901)141 wurde das florentinische Stadtbild erneuert und erweitert. Die Realisierung seines kontrovers aufgefassten Plans – die mittelalterlichen Stadtmauern hatten abgerissen, die Stadttore innerhalb der Hauptverkehrsadern jedoch stehen gelassen zu werden – zieht sich bis in das neue Jahrhundert; sie ist nur eines von vielen Beispielen für die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen und kulturellen Erbe der Stadt um 1900.142
Um ein Gefühl für den Reiz der Stadt am Arno um die Jahrhundertwende zu bekommen, empfiehlt sich ein kurzer Exkurs zum damaligen Zeitgeschehen: Die Jahrhundertwende birgt nicht nur technischen und wirtschaftlichen Fortschritt, sondern dient auch als Moment der Reflexion. „Der verunsicherte moderne Mensch steigt hinab in die Abgründe der eigenen Seele; zugleich geht er daran, das Universum zu ermessen.“ 143Gesellschaftliche Umbrüche sind nicht mehr aufzuhalten, das Lager der wissbegierigen Intellektuellen trifft auf diejenigen, die in den Tiefen ihrer Seele nur noch eine Antwort auf die Ausweglosigkeit der Moderne zu kennen scheinen: den Freitod. Auch vor den florentinischen Stadtmauern macht er nicht Halt. Das soll der Anziehungskraft des Städtchens aber keinen Abbruch tun, ganz im Gegenteil: Arkadien – das ist das Ziel des irrenden Menschen um 1900, und kaum ein Ort des europäischen Kontinents in dieser Zeit wird so überhöht dargestellt wie die Stadt im Herzen der toskanischen Hügel. Bernd Roeck spricht von regelrechten „Pilgerfahrten“ und nennt Florenz das „Lourdes der Enthusiasten“, gar ein „ästhetisches Utopia“.144 Kunst wird zum Religionsersatz erhoben und soll den Tourist:innen – zumindest vorübergehend – aus der Ausweglosigkeit helfen: „In den Uffizien, im Bargello, in der Akademie, in den dämmrigen Kirchen mit ihrem Weihrauchdunst stehen die Altäre der Schönheit, die magischen Fetische der Kunstreligion, deren Hohepriester Jacob Burckhardt, John Ruskin oder Bernard Berenson heißen – Seelenführer auf den Reisen zur Schönheit.“145
Die bereits erwähnte Konstruktion, der sich die Stadt unterzog, wird offenkundig. Ohne Priester funktioniert ein Gottesdienst nicht und das ist es, was die Tourist:innen sich von einer Reise nach Florenz erwarten: Ein durchkomponiertes Ganzes, an dem teilgenommen werden kann – immer in der Hoffnung, dadurch zu einer besseren Wirklichkeit zu gelangen. Betrachten allein reicht nicht mehr aus; sie kommen, um sich von der Aura eines von Vergänglichkeit befreiten Raumes umschließen zu lassen.
Die Praktiken, v.a. die reziproke Partizipation, von der Ikonen leben, wird immer deutlicher. Nicht nur wird der Stadt eine natürliche Sakralität zugesprochen, sie wird auch mit Mechanismen der Ikonisierung durchzogen. Aleida Assmann beschreibt diese Ikonisierung als einen Prozess des Übergangs von Eindrücken und Bildern (images) ins kollektive Gedächtnis, die durch „Stilisierung, Auswahl und Wiederholung“ die (Wieder-)Erkennbarkeit intensiviert und sie schlussendlich zu „Gedächtnisikone[n]“146 werden lässt. Die Fotokampagne von Dolce & Gabbana veranschaulicht die für Florenz stattgefundenen und immer noch anhaltenden Ikonisierungsprozesse, indem sie bereits ins kollektive Gedächtnis transportierte Motive wieder aufruft und für die Betrachtenden erkennbar und erlebbar macht. Das Setting der Fotokampagne, die Galleria Romanelli, ist als Ausganspunkt für eine etwaige Ikonisierung nicht zu vernachlässigen: Als Werkstatt und somit Ort des Produzierens (von Bildern und Bedeutung) wird sie selbst Teil des Prozesses, von dem Assmann spricht.
Strukturell vergleichbare Mechanismen einer Ikonisierung werden ebenfalls auf kulturpolitischer Ebene greifbar: Um die Jahrhundertwende wurde nicht nur der Risanamento di Firenze realisiert, es wurden auch Gesetze zum Schutz der Kunst- und Kulturgüter verabschiedet.147 Damit Giuseppe Poggis Sanierungsplan problemlos umgesetzt werden konnte, erhielt der toskanische Architekt finanzielle und rechtliche Unterstützung durch die Kommunalverwaltung. 148So mag es nicht verwundern, dass zwei Jahre nach der Jahrhundertwende, am 12. Juni 1902, das Parlament das erste umfassende Gesetz (LEGGE 12 Giugno 1902 n.185) zum Schutz und zur Erhaltung des historisch-künstlerischen Erbes Italiens verabschiedete. 149Dazu zählten Denkmäler, Gebäude sowie bewegliche Gegenstände. Obendrein wurde dem Staat das Vorkaufsrecht von Kulturgütern zugesprochen und ihre Ausfuhr geregelt. Nach einem langen Disput zwischen öffentlichen Stimmen, die zurecht ein großes Interesse an der Zugänglichkeit zu jenen Gütern hatten, und dem Schutze des persönlichen Eigentums, ist solch eine Gesetzesverabschiedung durchaus als Meilenstein im italienischen Recht zu verstehen.
Bestehend aus 37 Artikeln vermittelt das Dekret ein Gefühl für die dezidierte Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe Italiens. 150Das zeigt sich auch heute noch, denn über 100 Jahre später ist das Gesetz durch die Verordnung Nr. 200 vom 22. Dezember 2008 bestätigt, nur teilweise umgewandelt und durch die Gesetzesänderung Nr. 9 vom 18. Februar 2009 erweitert worden.151Die überregionale Verteilung zahlreicher Ämter und Aufgaben im Bereich der Denkmalpflege und des Kulturschutzes trägt neben der Fülle der Kunstschätze maßgeblich dazu bei, dass Italien bis heute als wichtigstes Zentrum für Kunst und Kultur des globalen Nordens verstanden wird – manch einer möchte hier sogar die Geburtsstunde der westlichen Kunst verankert sehen.
Zwischen den Florenzreisenden und der staatlichen Institution steht außerdem das konkrete Kunstwerk. Ende des 19. Jahrhunderts waren über 250 offiziell vermerkte florentinische pittori und scultori in der toskanischen Hauptstadt tätig, die jedoch kaum avantgardistisch arbeiteten, sondern sich an der Tradition orientierten, die von der breiten Masse so geschätzt wurde, denn „[w]o Geschäft und Erwerb, Technik und Verkehr, die Zeichen der modernen industriellen Welt, sind, ist die Kunst nicht. Ihr Ort sind die Tempel der Kunstreligion, sind Museum, Salon oder Studio. Spiegelt sich diese Welt doch einmal in ihr, dann erscheint sie nicht in ihrer Häßlichkeit, sie wird überzogen mit dem goldenen Firnis des Schönen.“152
Was die suchenden Reisenden als Wiederaufleben der Renaissance vorfanden, war nach 1902 also ein offiziell staatlich geregelter Vorgang zur Konservierung, der mit einer Konstruktion eines Vergangenen einherging und im Dienste der Öffentlichkeit stand. Der Staat nahm sich einer Vermittlerrolle an, die sowohl Anwohnenden als auch Besuchenden ermöglichen sollte, in einen ästhetisch-sinnlichen Erfahrungsraum einzutreten und die Konstruiertheit der italienischen Stadt als gelebte Wirklichkeit wahrzunehmen. Religiöse Metaphern in der Beschreibung von Florenz sind nur eines von vielen Indizien der Wirkmacht, die durch unterschiedliche Mechanismen freigesetzt und verstetigt wurden. Wie auch die historischen Kult- und Heiligenbilder durch menschliche Einwirkung ihren Status beibehielten, so wurde auch die toskanische Stadt vor allem um 1900 auf lokaler wie nationaler Ebene auf eine Weise geprägt, die sie bis heute zum Dreh- und Angelpunkt (kunst-)wissenschaftlichen Austauschs und als Renaissance-Stadt ausstellbar macht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Ikonisierungsprozesse auf Teilhabe beruhen, das heißt ohne gemeinschaftliche Prozesse nicht die Wirkkraft entfalten, die ihnen zugeschrieben werden.
Einen großen Beitrag leisteten auch die Kunst- und Kulturwissenschaftler:innen sowie die Kunstkennerschaft153um 1900. Der kunst- und kulturwissenschaftliche Austausch zwischen Giovanni Poggi und dem Wahlflorentiner Aby Warburg ist ein Beispiel italienischer und deutscher Initiativen im Bemühen, einerseits die am Ort greifbaren Kunstschätze wissenschaftlich zu erschließen und andererseits ein international relevantes Kulturerbe für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen.154 Poggi war bis zu seinem Tod ein gern gesehener Gast am Kunsthistorischen Institut in Florenz, an dem sich auch Aby Warburg Zeit seines Lebens aufhielt. Aufgrund Poggis zahlreicher Arbeitsbereiche innerhalb des kunst- und kulturhistorischen Sektors reichten seine Verbindungen weit über die einzelnen Institutionen hinaus, was ihn für Warburg zu einem bedeutenden Kontakt machte. Die Korrespondenz zwischen beiden Kunst- und Kulturwissenschaftlern legt die enge Zusammenarbeit offen und kann als Exempel für den generellen Kunstdiskurs um 1900 fungieren.155
Warburg fokussierte sich in seinen Forschungen stets auf das Nachleben der Antike, arbeitete am Austausch mit seinen Studienkollegen dadurch aber auch an einem Nachleben der Renaissance, das bis heute noch in Florenz zu spüren ist.156 Die in Szene gesetzten Kunstwerke sind „lebende Fossilien“157, sie halten den Besuchenden der toskanischen Hauptstadt trotz ihres Todes ihre kulturelle Bedeutung vor Augen, geben Aufschluss über ein Gewesenes, ein nicht Wiederherstellbares. Die verschiedenen Akteure, von Kunstwissenschaftler:innen über Städteplaner:innen bis hin zu Politiker:innen, tragen dazu bei, dass die Artefakte der Renaissance nicht nur auf neue, umfassendere Weise betrachtet wurden, sondern förderten genau ab diesem Zeitpunkt die Symptome eines vergangenen Jahrhunderts zu Tage, die übernommen, zum Teil abgeändert, vor allem aber idealisiert wurden. Das Resultat ist heute noch ein Gefühl Warburgschen Nachlebens, das die Stadt für immer einzuhüllen, zu konstruieren scheint.
Was nun Dolce&Gabbana mit seiner Kampagne visuell auf die Spitze treibt, ist, dass die toskanische Hauptstadt in der Konstruktion von außen gleichzeitig immer auch als begehbare und in Austausch tretende Ikone zu verstehen ist.
Die Modedesigner wählen mit Monica Bellucci eine Mode- und Schauspielikone aus und fotografieren sie in einem Setting, das ebenfalls mit zu Ikonen geronnenen Bildwerken bestückt ist. Hier wird erneut sichtbar, dass das heutige Verständnis von Ikone nicht länger auf die Darstellung einer (heiligen) Person limitiert ist, sondern auch Prozesse der von Assman beschriebenen „Stilisierung, Auswahl und Wiederholung“ umfasst. Nur einige fotografische Momente, in denen sich diese verdichten, seien hier genannt: Da ist die Nachstellung der Pietà Michelangelos (Abb. 3), dessen Replik seiner monumentalen David-Skulptur heute noch den Eingang des Palazzo Vecchio ziert, und auch die Pietà Bandini (1547) ist seit 2015 in einem vor Sakralität strotzendem Ausstellungsraum im Nuovo Museo del Duomo in Florenz exponiert. Die bedeutendste Fotografie innerhalb der Kampagne von Dolce & Gabbana ist aber jene, auf der Monica Bellucci das A-Linienkleid an ihren Körper presst, während von links außerhalb des fotografischen Ausschnitts ein Gipskopf in das Setting gehalten wird, der wie das Model den Kopf nach links neigt, während sich der (verklärte) Blick der Kamera zuwendet (Abb. 2). Monica Bellucci verkörpert in dieser Fotografie mehr als nur eine Ode an die florentinische Stadt: Als Bella Italiana158 wird sie auch außerhalb Italiens als Stil-Ikone gefeiert: „[…] the actress has consciously constructed a multi-faceted image that is both highly contemporary and related to conventional perceptions of the Italian beauty.“ 159Das Zeitgenössische, also Dolce & Gabbanas neue Modekollektion von 2020, und Monica Bellucci in ihrer Rolle als Model sowie Repräsentantin ebenjener Kollektion wird als ein von Tradition und Ikonisierung getränktes Setting entlarvt. Kulturhistoriker und Filmwissenschaftler Stephen Gundle schreibt Bellucci „the perfection and iconic stillness of a Renaissance beauty“160 zu, die in diesem fotografischen Beispiel erkennbar wird: Das Model avanciert, im Kontrapost stehend, zur Renaissance-Ikone und transformiert das Kleid zur Kontaktreliquie, die den Konsumierenden ein Stück Bellucci ermöglichen soll. Sie selbst repräsentiert die Ikonisierung also auf doppelte Weise: Zum einen stellt sie eine physische Verbindung zu einer der wichtigsten Architekturikonen Italiens, der Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz, und dem italienischen Modelabel her. Zum anderen schreibt sich Monica Bellucci als lebendiger Beweis eines Ikonen-Werdens am eigenen Leibe in das Bildgeschehen ein.
Dolce & Gabbana inszeniert also auf verschiedenen Ebenen eine „Wiederverzauberung der Welt“,161 die mit ähnlichen Mitteln wie der beschriebenen Ikonisierung operiert – ihr Ziel: Die Marke von reinem Konsum in Kulturgut zu überführen. Ihre Fotostrecke ist daher ein zeitgenössischer Beweis dafür, wie das Bild (image) der italienischen Stadt als durchaus „inszenierter und inszenatorischer Raum“162 weiterhin bespielt wird. In den Fotografien geht es zudem immer um Formen der Bildwerdung, das heißt Bellucci veranschaulicht für Dolce & Gabbana durch das Zupfen am Kleid, das vermeintliche Beleben der Statue wie auch die Transformation des Kleides zur Kontaktreliquie die Ikonisierungsprozesse. Wenn die Konsumgüter-Industrie der mediterranen Halbinsel also als eine „industry that regularly drew on the repertoire of visual culture“ charakterisiert wird, so zeigt sich, wie Assmanns Theorie der Ikonisierung sogar für ein ganzes Land und in diesem Falle vor allem für eine Stadt greift. Italien basiert darauf, eine Kultur aus (gemachten) Bildern zu sein, die für Florenz nun vor allem in Bezug auf eine geistesgeschichtliche Epoche gelten und fruchtbar gemacht werden. Die Modefotografien selbst werden durch ihre Verbreitung wie klassische Ikonen ebenfalls belebt: Von im wahrsten Sinne des Wortes trag-barer Mode bis hin zum Lifestylemagazin, gelingt es dem italienischen Label, den vermeintlichen Traditionsreichtum Italiens über Florenz als Renaissance-Ikone zu präsentieren und innerhalb der Gesellschaft zu verbreiten.
Ikonen waren nie an bestimmte Materialien gebunden: Wieso sollte eine Stadt nicht auch zu solch einer avancieren können?
Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Hüllen der zum Teil noch unerforschten Objekte von florentinischen Kunst- und Kulturwissenschaftler:innen aufgebrochen, bis aufs Innerste analysiert, präsentiert, von kommunaler Seite aus organisiert und so zu einem essenziellen Part des städtischen Kulturerbes transformiert. Dieser Prozess ist nicht ausschließlich auf einzelne Artefakte anwendbar, sondern er weitet sich auf die komplette Stadt am Arno aus: Es bildet sich eine Art von metaphorischer Zeitkapsel, die die rekonstruierte Renaissance in sich aufnimmt, bewahrt und den eintretenden Besuchenden die scheinbar verlorene Vergangenheit lebendig offenbart. So sind die kunst- und kulturwissenschaftlichen Leistungen um 1900 auch heute noch, über 100 Jahre später, in der toskanischen Hauptstadt zu spüren und erwecken bei den Tourist:innen den Anschein, immer noch auf den Pfaden eines längst vergangenen Zeitalters wandern zu können: Florenz präsentiert sich, wie eine Ikone, fernab von jeglichem Raum- und Zeitempfinden – „eingeschlossen, wie eine Fliege in Bernstein.“163
Biografie
ANNA D’AVINO hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften (B.A. und M.A.) an der Universität Konstanz studiert und ist seit September 2022 akademische Mitarbeiterin an der Universität Konstanz. Sie ist für die Projektkoordination des Graduiertenkollegs ‚Rahmenwechsel. Kunstwissenschaft und Kunsttechnologie im Austausch‘ verantwortlich, dass eine enge Verzahnung der Fächertrias Kunstwissenschaft – Kunsttechnologie – Restaurierung fördert. Im Sommersemester 2023 lehrt sie an der Uni Konstanz zur zeitgenössischen Kunst und fokussiert sich dabei auf Kernfragen zu der Bedeutung des Materials zeitgenössischer Skulptur und Plastiken.
Im Kunstmuseum begegnen uns oft Symbole, die uns dazu auffordern, eine ehrfürchtige Distanz zu Kunstwerken zu wahren (Do not touch!). Doch was passiert, wenn Symbole uns einladen, Kunstwerke mit allen Sinnen zu erforschen? Josefine Haiduck stößt mit diesen Fragen einen Diskurs über Inklusivität und Barrierefreiheit im Kunstmuseum an. Sie reflektiert, welche (visuelle) Macht Symbole im Museum haben und wie sie zu einem Neudenken in der Entwicklung von barrierefreien Museen und zum Kuratieren von Ausstellungsflächen beitragen können.
Die symbolische Aufforderung auf einem weißen Blatt Papier „Bitte nicht berühren!“, „Bitte nicht anfassen“, „Please, Do Not Touch!“, das Piepen vom Alarm beim zu nah herantreten an ein Kunstwerk sind uns Museumsbesucher:innen geläufig und universal verständlich. Die Aufforderungen verstehen sich als Symbole und vermitteln uns Besuchenden Distanz zum Ausstellungsobjekt einzunehmen. Doch was passiert, wenn uns Symbole im Ausstellungsraum nicht auf Distanz halten wollen, sondern uns vielmehr davon erzählen wollen, was man berühren, anfassen oder riechen kann und ausdrücklich darf. Sprich, uns förmlich einzuladen, unsere fünf Sinneswahrnehmungen zu verwenden?
Dieser Diskurs wird durch die Fragen nach einer barrierefreien und inklusiven Haltung im Museum neu entfacht und die Notwendigkeit von Symbolen im Ausstellungsraum wird hier relevanter denn je zuvor. Ein inklusives Museum bedeutet, einen Ort des Lernens über Kultur und ihre Güter Allen zu ermöglichen. Durch 3D-Tastmodelle, Textil- und Materialproben zum Anfassen, Audiospuren und Braille wird versucht, das oftmals auf den optischen Sehsinn beschränkte Kunstwerk mit allen Sinnen erfahrbar zu machen. So kann das Werk mit uns Besucher:innen in einen Dialog treten. Hier ist besonders spannend, wie ein bestimmter Geruch, ein Geschmack oder die Textur eines Materials eine bestimmte individuelle und persönliche Erinnerung bei uns hervorrufen kann und wir dem Kunstwerk vor uns möglicherweise interpretativ neu begegnen können. Ob ich als Besuchende ein Kunstwerk nun berühren darf oder nicht, wird durch Symbole vermittelt. Es geht also bei einem barrierefreien Kunstmuseum um das vermittelnde und kuratorische Aufbrechen der optischen Dominanz der bildenden Kunst und ihrer vermeintlichen einseitigen Erfahrbarkeit über das Sehen, sprich das was den „anderen“ Sinneswahrnehmungen einst vorenthalten blieb, soll nun neu entdeckt werden. Und dies geschieht über die Macht der Symbole – bspw. einer abgebildeten Hand als Symbol für Berührung, einem Kopfhörer als Symbol für eine Audiospur zum hören etc. – allerdings stellt sich mir hier die Frage, ob diese Symbole – was darf ich als Museumsbesucher:in und was nicht – nicht auch wieder rein auf den Sinn des Sehens und der optischen Wahrnehmung ausgelegt sind? So gehen wir doch wieder von einer (rein) optischen Erfahrbarkeit und Wissensvermittlung über das abgebildete Bild – in diesem Fall über das Symbol – aus, was uns viel über unsere eigenen kulturell verankerten Vorstellungen über Kunst und ihre Betrachtung verrät. Und zwar, dass wir eine auffallend durch den Sehsinn geprägte Kultur sind. Dies zeigt sich beispielsweise besonders in unserem Konsum von Inhalten über visuelle soziale Medien der letzten Jahren, wie Instagram und TikTok. Vielleicht braucht es eine neue Strategie, gar ein Umdenken, wie wir Symbole nicht mehr nur rein über das Optische wahrnehmen und erfahren können. Es bedarf nach einem Neudenken im Design,trotz der (stillen) gesellschaftlichen Einigung auf die verrostete Lesart von Symbolen, die uns so vorkommen, als wären sie „in Stein gemeißelt“, da diese seit jeher unverändert dominieren. Jedoch können diese Symbole neu und weiter gedacht werden und insbesondere zugänglich(er) designt werden (bspw. In Form von Tastreliefs), sodass wir nicht erst Barrieren im Museum aufbauen, sondern versuchen diese abzubauen.
Biografie
Josefine Haiduck
Josefine Haiduck ist Kunstwissenschaftlerin, sie studierte Kunstgeschichte an der Universität Leipzig und befindet sich seit Ende 2021 im Masterprogramm der Kunstwissenschaften an der Kunsthochschule BURGGiebichenstein in Halle (a.d. Saale). Momentan befasst sie sich thematisch u.a. mit Fragen aus der Kunstvermittlung nach einer gesellschaftlichen Öffnung des musealen Raums, mit besonderem Hinblick auf eine barrierefreie Gestaltung des Raumdisplays und des Vermittlungsprogramms. Josefine Haiduck lebt und arbeitet in Leipzig.
Seit 2016 arbeitet Hanna Musev an ihrer 3 Meter hohen Skulptur “Kimstagram”, welche die Beziehung und den Umgang unserer Gesellschaft mit Social Media widerspiegeln soll. Während Kim Kardashian hier die Verkörperung von Social Media darstellt, nimmt das Publikum, das dazu aufgefordert wird, den Kopf in ihren Po zu stecken, die Rolle der Gesellschaft ein. In ihrem Po wird es mit einem Bildschirm konfrontiert, auf dem kurze, zusammengefügte Ausschnitte von sensationellen und viralen Inhalten abgespielt werden, die aktuell im Internet kursieren. Dadurch, dass die Künstlerin dem Publikum nicht die Möglichkeit gibt, darüber zu entscheiden, mit welchen Inhalten es in „Kimstagram“ konfrontiert wird, möchte sie einen Moment der kritischen (Selbst)Reflexion provozieren. Was gucken wir eigentlich? Welche Rolle spielt Social Media in unserem Leben? Inwiefern haben wir die Kontrolle über das, was wir schauen und wie fühlen wir uns, wenn wir Social Media nutzen?
HANNA MUSEV ist Künstlerin aus Berlin. In ihrer bildhauerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit ernsthaften Themen, die sie mit Hilfe von Humor zum Ausdruck bringen möchte. Ihre Inspiration schöpft sie hierfür aus der Pop-Kultur und aus den Nachrichten, ihre größten Vorbilder sind Comedians und Rapperinnen.
Was verbindet Flughäfen mit Laboren, Endlager mit Fundstücken aus dem Meer, Werkstätten mit Wäldern und Bildwelten mit Künstler:innenkollektiven? Alle sind Heterotopien: Räume, die aus dem Raster fallen, die nicht über die Grenzen eines Gebäudes definiert werden, sondern vielmehr über ihre inhaltliche Ebene. Der von Michel Foucault geprägte Begriff Heterotopie bedeutet wörtlich so viel wie Anders- oder Gegenraum und ist eng verbunden mit einer utopischen Zukunftsvision. Wobei Heterotopien sich im gelebten Raum verorten lassen und nicht nur hoffnungsvoll imaginiert sind. Sie zeigen Möglichkeiten auf, verbinden Bestehendes mit Wunschvorstellungen und eröffnen Platz für Wandel. Heterotopien an jeder Ecke! – Und es gibt genug Menschen, die daran arbeiten, dass immer weitere entstehen.
Wie zeigen sich signifikante Heterotopien in der Vergangenheit und der Gegenwart? Wie werden sie definiert und wie gestaltet? Welche Herausforderungen und Chancen bieten diese Räume? Wie wirken sie sich auf unsere Gesellschaft oder das Individuum aus? Und welche Möglichkeiten bietet dabei der digitale Raum?
Die aktuelle Ausgabe bietet diesen und weiteren Fragen einen Raum der Entfaltung.
Die Beiträge des Issue #3 sind theoretische, kritische Annäherungen an den Begriff, teils poetischer Natur aber auch ganz praktische Beispiele. Auf der Basis verschiedenster Individuen mit ihren Hintergründen und Spezialisierungen wird ein interdisziplinärer und aktueller Querschnitt ohne Anspruch auf Vollständigkeit vermittelt. Heterotopien wurden im Prozess dieser Ausgabe erschaffen, zerlegt, gefunden, wieder gesucht, ausgedehnt, verbunden und durchschritten. Wir danken allen Beitragenden für die Zusammenarbeit, ihre Zeit, Ideen und Vertrauen.
frame[less] wünscht allen Leser:innen viel Spaß beim Prozess, zögert nicht mit Anmerkungen oder Fragen! Jetzt Los:
Was ist der Kunsthistorische Studierendenkongress, kurz KSK?
Beim KSK handelt es sich um einen studentisch organisierten Kongress sowie die Vollversammlung aller Studierenden der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaften, der jedes Semester in einer anderen Stadt in Deutschland, Österreich oder der Schweiz stattfindet. Im Rahmen dieses wissenschaftlichen Kongresses wird Studierenden die Möglichkeit geboten, sich auszutauschen und zu vernetzen, hochschulpolitische Themen zu diskutieren und zu wechselnden Schwerpunkten erste wissenschaftliche Vorträge zu halten. Dabei ist der KSK einerseits ein wichtiges politisches Forum für Studierende der Kunstgeschichte und verwandter Disziplinen, bietet andererseits aber auch ein abwechslungsreiches Vortrags-, Rahmen- sowie Abendprogramm. Obwohl der KSK sich seiner 100. Austragung nähert, hatte der Kongress zuvor noch nicht in Stuttgart stattgefunden. Und genau genommen hat er dies nun immer noch nicht! Denn auf Grund der aktuellen Situation – in Zeiten der COVID-19-Pandemie – wurde der Kongress zum Ersten Mal digital abgehalten.
Was hat es nun aber mit unserem Kongressthema auf sich?
Das erste Mal ist DER Superlativ. Wir verbinden damit einen positiv konnotierten Neuanfang. Aber wann erinnert man sich wirklich daran, dass jemand etwas zum ersten Mal getan hat? In der Kunstgeschichte und -wissenschaft bestimmt der gemeinsame Diskurs, wann ein erstes Mal relevant wird. Doch bleibt es dann auch relevant? Damit haben sich über 300 Kongressteilnehmer:innen – Bachelor- und Masterstudierende, Promovierende und Volontär:innen – während der vier Kongresstage im Rahmen von Vorträgen, Workshops, Führungen und Abendveranstaltungen aus verschiedenen Perspektiven beschäftigt.
Und welche Schlüsse haben wir für uns aus den gemeinsamen Gesprächen und Diskussionen gezogen?
Angefangen hat unsere Beschäftigung mit dem Thema mit einer ersten bewussten Erfahrung, dass wir z. B. eine Ausstellung besucht haben und das Museum sich damit gerühmt hat, dass es nun die erste Retrospektive eines Künstlers zeigt, den größten Bestand an Werken einer Künstlerin besitzt oder sich als erstes Museum einem Thema widmet. Aber warum wird dies immer als Herausstellungsmerkmal genutzt? Es scheint, als sei das erste Mal das ausschlaggebende Kriterium für die Kanonbildung innerhalb der Geisteswissenschaften. Aber: Geschichte wird geschrieben! Die Konstruktion einer ideengeschichtlichen, entwicklungshistorischen Kunstgeschichtsschreibung formt institutionalisierte Narrative, die aus heutiger Perspektive einer parallelen Dynamik entgegenstehen. Im gemeinsamen Diskurs sind wir zu dem Punkt gelangt, stringente Entwicklungslinien zu relativieren und berechtigt Kritik daran zu üben. Es gibt nicht nur die eine Geschichte, sondern mehrere Geschichten. So sind wir am letzten Tag des 98. KSK in dem Konsens auseinandergegangen, dass ein (selbst-)kritischer Dialog – dessen notwendige Multiperspektivität selbstredend weiter angestrebt werden muss – unsere Disziplin um unterschiedliche Stimmen erweitert.
Umso mehr freuen wir uns, dass die Redakteur:innen von frame[less] dieses bei weitem nicht abgeschlossene Thema für ihre zweite Ausgabe gewählt haben. Konsequenterweise haben sie dabei das Erste Mal zu die Ersten Male erweitert. Nun wünschen wir allen Leser:innen eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre.
Tobias Bednarz, Luisa Danaylov, Liesel Dinkelmann, Lisa Hinderer, Julia Horvat, und Franziska Klenk
Das 98. KSK-Organisationsteam
Du möchtest mehr über den KSK erfahren?
99. KSK zum Thema Bildproteste
Digital vom 20. bis 23. Mai 2021
https://derksk.org@derksk.offiziell
die Erfahrung, wenn wir etwas zum ersten Mal erleben, brennt sich in unvergesslicher Weise in unser Gedächtnis ein. Wiederholt man etwas zum zweiten oder dritten Mal, hat es oft schon den prickelnden Reiz des ersten Males verloren.
Als 1969 der erste Mensch den Mond betrat, erweiterte er damit den menschlichen Wirkkreis auf den Weltraum. Erste Male wie diese – sei es in Verbindung mit technischen Innovationen oder auch gesellschaftlichen Umbrüchen – werden in Kunst und Medien oft zum Superlativ heroisiert und glorifiziert.
Zum ersten Mal unbekannte Landschaften erblicken, zum ersten Mal mit den Füßen auf dem Mond stehen, die Zehen ins Meer tauchen oder zum ersten Mal den Duft eines Lavendelfeldes wahrnehmen … All diese ersten Male verursachen Aufregung, das Gefühl freudiger Erwartung oder auch latenter Angst in Auseinandersetzung mit dem Unbekannten: Unser Herz fängt an zu rasen, der Atem wird schneller, wir haben das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und werden uns selbst fremd – so etwas kann geschehen, wenn wir gleichzeitig vieles zum ersten Mal wahrnehmen. Das sogenannte Stendhal-Syndrom beschreibt eine psychosomatische Störung, die von einer kulturellen Reizüberflutung hervorgerufen wird, wie beispielsweise auf Reisen.
Grundlegend stellt sich die Frage nach der Geltung des Neuen und ihrer Aktualität in der Kunst. Dieser Thematik wird sich in der aktuellen Ausgabe basierend auf der Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos und der kulturökonomischen Interpretation der Kunst von Boris Groys genähert. Muss etwas denn immer neu sein, damit wir denken, wir sehen etwas zum ersten Mal? Durch Bildmanipulationen können kleine Irritationen entstehen. Und wiederum mit jeder neuen Perspektive und infolge auch Wahrnehmung wird ein Bild oder Ort neu erfahrbar.
Unter dem Aspekt des ersten Males müssen auch die Kunstgeschichtsschreibung und der Kunstmarkt seine Wahrnehmung reflektieren. Denn wer entscheidet, welches erste Mal für die Kunstgeschichtsschreibung relevant wird? Die Kanonbildung kann auch zur Marginalisierung und Ausgrenzung verschiedener Akteur:innen führen. Ein sprechendes Beispiel hierfür: das Werk der Künstlerin Yayoi Kusama. Manche Zustände existieren schon lange im Unsichtbaren und sind erst ab dem OUTING für andere das erste Mal sichtbar, wie zum Beispiel im Falle der invisible disabilities. Durch das Outing wird eine Aufmerksamkeit geschaffen und eine Plattform zur Diskussion eröffnet. So auch bei dem Thema sexualisierter Gewalt in Gedichtform. Denn: Nicht jedes erste Mal ist schön. Nicht jedes erste Mal ist gut. Manche erste Male sind alles andere als das.
Bei der Enthüllung des Denkmals zu Ehren Friedrich Schillers im Jahr 1839 in Stuttgart waren die Reaktionen eher ablehnend, während die Stuttgarter:innen sich heute wohl weniger an der Form des Denkmals stoßen. So sollten Denkmäler samt ihrer Entstehungsgeschichte aus unserer Gegenwart mit einem revidierenden Blick kritisch betrachtet werden.
Seit der erste Mensch 1969 den Trabanten der Erde betrat, ist einiges passiert: Mittlerweile wandern Künstler:innen via Google Maps auf dem Mars, um als erste den höchsten Vulkan unseres Sonnensystems zu erklimmen. Was haben nun ein Schuhabdruck auf dem Mond und eine mit der Maus gezogenen Linie auf einem Vulkan gemeinsam? Sie markieren die Erstmaligkeit des Betretens, eine Aneignung des (digitalen) Raums und Erweiterung des Wirkkreises der Menschheit.
Der menschliche Körper besteht aus bis zu 100 Billionen Zellen. Nichts ist individueller als unser Körper und dennoch kommen wir nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt, denn wir sind immer Teil einer kollektiven Identität, die an Vorstellungen von Körperbildern geknüpft ist.
Wir verändern, gestalten, entwerfen unsere Körper regelmäßig, scheinbar selbstbestimmt. Aber wie frei sind wir dabei wirklich? Unsere Körper sind permanent von anderen Körpern umgeben ⎼ stählerne Körper präsentieren frisch antrainierte Muskeln auf Spiegel-Selfies im Fitnessstudio. Freizügig bekleidete, sich lasziv räkelnde Frauen bewerben auf großen Plakatwänden Elektrogeräte oder Joghurtmarken. Während dabei einige Körper als erstrebenswert präsentiert werden, erfahren andere Ablehnung und werden stigmatisiert. An Idealvorstellungen von Körpern sind in einer Leistungsgesellschaft auch immer Vorstellungen von Produktivität geknüpft ⎼ erst ein arbeitender Körper ist ein nützlicher Körper. Doktrinen wie diese sind in unseren Köpfen stark verwurzelt und bestimmen selbst vermeintlich objektive Wissenschaftskontexte. Manchen Körpern kommen dabei Privilegien zu, andere sind behaftet mit Vorurteilen. Den Vorstellungen nicht zu entsprechen, kann dabei Scham auslösen und zu Unsicherheiten führen, unsere sozialen Beziehungen beeinflussen.
Doch in jeder Norm und jeder Reglementierung liegt auch das Potential zur Umwälzung. Denn mit unseren Körpern sind wir politisch. Wir haben Körper, die bluten, von Haaren, Falten und Malen übersät sind und es gibt keinen Grund, sich davor zu ekeln.
Schon lange definiert sich ein Körper nicht mehr ausschließlich durch die Zusammensetzung seiner Zellen. Die Sichtbarkeit und Bandbreite an Körperdarstellungen ist größer geworden. Das Ideal der Antike könnte längst durch Cyborgs abgehängt sein, Avatare im digitalen Raum nehmen beliebige Formen an und zeigen neue Perspektiven auf.
Und am Ende bleibt nur noch die Frage: Was passiert mit diesem Körper nach dem Tod?
Die vierte Ausgabe von frame[less] vereint vielfältige Formate wie theoretische, kritische und wissenschaftliche Annäherungen an das Thema, mit praktischen, projektbezogenen Beiträgen. Wir danken allen Beitragenden für die Zusammenarbeit, ihre Zeit, Ideen und ihr Vertrauen.
Lasst uns gemeinsam die Ideale stürzen und als politische Körper die Potenziale dieser erforschen!
In ihrer Arbeit EXTRA BOLD zeigt Carmen Westermeier, in der für sie typischen forschend-kritischen Weise, Ergebnisse einer langjährigen Auseinandersetzung mit der Hyper(un)sichtbarkeit dicker_fetter Körper. Für frame[less] führt sie mit Fotografie und Text durch die Sphären der Sicht- und Unsichtbarkeit normierter Vorstellungen von Körper und Gewicht. Dabei zeichnet sich eines deutlich ab: das Bild des dicken_fetten Körpers als widerständigem Akteur.
We are all visible and invisible at times […], but one’s situation becomes “hyper” when (in)visibility becomes socially oppressive.164
My parents were pleased that I had gotten my body under control. I went back to school, and my classmates admired my new body, offered me compliments, wanted to hang out with me. That was the first time I realized that weight loss, thinness really, was social currency.165
Doch womöglich sind die entscheidenden Gründe für die Stigmatisierung dicker Menschen weder allein in der Frage nach den angenommenen Ursachen des hohen Körpergewichts noch nach den individuellen Anstrengungen zur Reduktion des Körpergewichts zu suchen, sondern in einer soziokulturell verankerten ästhetisch motivierten Ablehnung dicker Menschen. Dies jedenfalls legt eine Studie von Vartanian und Novak (2011) nahe, die den weit verbreiteten „Ekel“, (disgust) vor Körperfett als entscheidenden Grund für Gewichtsdiskriminierung ansieht und wesentlich relevanter einschätzt als die Frage nach den möglichen Ursachen des erhöhten Körpergewichts.166
These stereotypes assume that being fat is a choice— that a corpulent body is evidence of overeating and thus a disordered, undisciplined self. Conversely, a lean figure represents selfmastery and control. Such virtues are tied to notions of good health, beauty, and broad cultural values like efficiency, speed, mobility—all of which reflect and support the prevailing economic system of consumer capitalism.167
Fighting the fat self […] I argue that this paradox is best explained by the phenomenon of hyper(in)visibility. The constant attention that is placed on “obesity” by the media, politicians, and the medical community perpetuates the idea that fat is—or should be—a temporary state, because “responsible fat people” should always be trying to lose weight. The majority of women in this study identified with these larger cultural values and have internalized fatphobia— they remain hidden or in the closet. As a result, their enactment of stereotypical behaviors is a reflection of internalized oppression.168
[...]common sexual activity known as the ‘Rodeo’. This practice involved a group of about ten cadets, who would gather in a hotel room. The boys would make an agreement that one of them would go out to a local pub or club, and find the most obese woman he could, pretend he was sexually interested in her, make her feel desired, and then lure her back to the hotel room. The other nine boys would wait in the hotel room for the couple, hiding behind couches, in the bathroom, in wardrobes. Once the young male cadet and the “fat” girl arrived, the boy would seduce the girl, and begin to undress her, encouraging her to be lieve that he was about to have sex with her. He would then ask her to kneel on the bed on all fours, and he would pro duce a scarf to blindfold her. The “fat” girl would be lulled into thinking this was just a kinky start to sex with the young cadet. Instead, the young boy would call out a signal to the other boys and they would run out from their hiding places. One by one, they would jump on the “fat” girl’s back, kicking at the soft flesh of her hips and belly, riding her like she was some sort of animal. They would ignore her tears and her screams, and once they had all had their turn, and the “fat” girl was completely humiliated, they would kick her out of the room. 169
According to blogger Virgie Tovar, it’s both a product of the larger cultural hangups around body image and masculinity itself. “Fatphobia in so many ways is about hating and policing women and our bodies, but what I’ve realized recently is that in some ways, the fatphobia that fat men experience is also a result of misogyny,” she writes. To be overweight is, thus, to be considered simultaneously weak and feminine, so much so that the Grindr commandment against “fats and femmes” is almost always a package deal. [...] These ideas are particularly harmful for gay men, many of whom might have grown up internal izing negative messages about queer people from a young age. Homophobia itself is rooted in misogyny: It’s bad to be gay, because having sex with men is something that a woman does.
As Simon Moritz explains in the Huffington Post, slurs like “fairy” and “sissy”have a dual meaning rooted in antigay and antiwoman bias: “They prize masculinity by
demonizing femininity.” […] The gay community’s toxic masculinity problem isn’t just an issue for those who are told they "need to lose a few pounds", but everyone who is told that they don’t fit an unrealistic standard of physical perfection—including those who are too skinny, too short, or not white. 170
However, the mind/body split contributes to self objectification and hyper(in)visibility when fat women see their bodies as abject or as objects of revulsion— something separate from the real them.171
Assumption: If you’re fat, there’s a thin person inside you. New Version: And if you’re thin, perhaps one day you’ll realize your true fat potential. […] Assumption: Fat people eat all the time. New version: Thin people eat all the time, too. (It’s a great survival skill.) In fact, studies show that fat people eat the same stuff that thin people do, from burgers to broccoli. […] In our dietcrazy culture, when a fat person eats a bit of food, everyone notices. […] Assumption: […] Fat people are smelly, stupid, lazy, gluttonous, sexless freaks. New version: These are the same slurs that have been applied to every stigmatized group, from people of color to the disabled. In the psychology of oppression, if you can belittle someone and deny their humanity, then it’s okay to be hateful and prejudicial to them. 172
Carmen Westermeier ist Medien- und Performance-Künstlerin und Aktivistin in Stuttgart. Sie widmet sich einer feministischen Epistemologie und verfolgt eine körper-politische, künstlerische Praxis. Als freie Referentin kooperiert sie mit verschiedenen Initiativen deutschlandweit oder unterrichtete an der Friedrich-Alexander-Universität zum Thema Gender und Kunst. An der ABK Stuttgart forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu diskriminierungskritischen Positionen in der Kunstpädagogik.
Inhaltswarnung: Der folgende Text enthält sexualisierte Gewalt.
Nicht jedes erste Mal ist schön. Nicht jedes erste Mal ist gut. Manche erste Male sind alles andere als das.Spätestens seit #MeToo wird es nicht mehr tabuisiert über sexualisierte Gewalt und sexualisierten Missbrauch zu sprechen. Doch ist es unheimlich schwer. Schwer die richtigen Worte zu finden und schwer diese zu verdauen. Julia Scheuermann thematisiert sexualisierte Gewalt in Form von Lyrik, was zunächst sehr ungewohnt erscheint, doch sie schafft einen Spagat zwischen Subtilem und wortgewaltigen Bildern, die tief unter die Haut gehen.
Große Hände, lange Finger Bohren sich in schmale Hüften. Deine raue pinke Zunge Wird im dunklen immer länger Bewegt sich schwer in meinem Mund, Taipan, Kobra, Natter? Infamie erfüllt die Lunge Er trieft vor Gift, dein Höllenschlund von dunklem Rauch und kaltem Gin Wend‘ mich an verlorne‘ Götter Wimmere leise: ,,Du tust mir weh.“ Suche nach nicht vorhandnem Sinn Die Realität ertränkt, gesprungen vom Schiff dieser Odyssee. Hatte ich das laut gesagt? Laut genug LAUT GENUG Dein Stöhnen, das passt nicht zu meinem Eine irrsinnige Kombination, Melodien sind nicht zu erschließen, Klangvolle Lust an klagendem Weinen, keine Sinfonie. Doch für dich klingt sie ideal du scheinst sie zu genießen Eine Koryphäe zu sein Das ist nicht dein erstes Mal.
Du fragst nicht. Du nimmst dir.
So tut man das im Leben nun mal. Zumindest hat man dir das gesagt, nicht wahr? Für dich ist es nicht radikal, nicht wahr? Also nimmst du ihn dir meinen Körper und steckst deine Flagge in meine Haut. Dir ist das brennen egal Hörst nicht meine Wörter Hast mich bis jetzt nicht mal angeschaut. Die Tränen sind Teil des verdrehten Fetischs Das hast du auch so in Pornos gesehen, da heulen die Schlampen doch immer. Das ist für dich nichts Falsches. Also heule ich auch. Das Gewicht deines Beckens unermesslich brutal, erdrückt den Widerspruch im Keim Ich schließe die Augen. Das ist nicht dein erstes Mal.
Du fragst nicht. Du nimmst dir.
Dann gebe ich auf, schließe sie ab. Die Tür meiner Wahrnehmung ist zugenagelt. Ich schweife im Nichts und lasse es zu.
Bedecke in Gedanken mit Blumen mein Grab. Lege mich auf kalter Erde zur Ruh. Ich habe einfach beschlossen, tot zu sein. Nur noch ein paar Minuten Bis du auf mir zusammenbrichst und ich überlege Wie ich es schaffe Nicht zu brechen. Du siehst nicht mich, nur mein Material Das hier ist nicht dein erstes Mal. Aber meines.
Biografie
Julia Scheuermann
Julia Scheuermann studiert Politikwissenschaften und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Momentan setzt die selbsterklärte Feministin sich mit der gesellschaftlich geprägten Binarität der Geschlechter auseinander. Lyrik bildet ihren Zufluchtsort, wenn die Härte der Realität sie mal wieder mit aller Wucht trifft.
In der Kunstgeschichtsschreibung lässt sich die Tendenz ausmachen, Initialmomente für neue künstlerische Entwicklungen festmachen zu wollen. Das damit ebenfalls teilweise eine Marginalisierung und Ausgrenzung verschiedener Akteur:innen einhergeht zeigt sich am Werk der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama, die Plagiatsvorwürfe gegenüber männlichen Künstlerkollegen aufkommen lässt.
Ausgehend von der filmischen Dokumentation Yayoi Kusama – Infinity, die unter der Regie und dem Drehbuch von Heather Lenz entstand und 2018 Premiere feierte, wurden Plagiatvorwürfe gegen Yayoi Kusamas Künstlerkollegen, Claes Oldenburg, Andy Warhol und Lucas Samaras, laut. Man konnte von den Pop Art Ripoffs lesen.[1] Dieser umgangssprachliche Begriff kann mit Schwindel, Beschiss, aber auch Plagiat und Diebstahl übersetzt werden und ist ganz klar negativ konnotiert.
Die Informationen des Ideendiebstahls sind jedoch nicht als neu, sondern vielmehr als Popularisierung derselben aufzufassen. Durch die weltweite Veröffentlichung in Kinos konnte ein breiteres, weniger fachgebundenes Publikum erreicht werden, als es beispielsweise ein Artikel in einer Kunstzeitschrift vermocht hätte. Bereits 1998 sprach Kusama anlässlich einer Ausstellung neuer Arbeiten in der Robert Miller Gallery mit Damien Hirst und warf Warhol und Samaras vor, sie kopiert zu haben.[2] Auch in der kunsthistorischen Betrachtung wurde die visuelle Gemeinsamkeit und die damit verbundenen Fragen des Vorbildes und der Anerkennung bereits vorher erkannt und am Rande behandelt.[3] Eine detaillierte Aufarbeitung hat es bisher jedoch nicht gegeben.
Die Dokumentation fand einen erheblichen Widerhall in der internationalen Presse. In diesen Kritiken wurde hauptsächlich auf Details aus dem Film eingegangen. Die Autor:innen stellten interessante Interpretationen an, teils gaben sie aber auch Fehlinformationen weiter.[4] Auffallend ist, dass die ohnehin schon knappe Zahl von drei Beispielen in den Artikeln oft gekürzt wird. Hierfür können beispielsweise Robert Abele, Ben Kenigsberg und Chloe Schama erwähnt werden, die lediglich Warhol und Oldenburg anführen.[5] Der Leser:innenschaft der L.A. Times, New York Times und Vogue wurde möglicherweise die Kenntnis Samaras nicht zugetraut. Durch die verkürzte Darstellung werden ohnehin schon bekannte Namen noch bekannter gemacht. Dies macht auf ein Problem aufmerksam, das den Ursprung der Artikel bildet und schon bei Kusama ansetzt. Es handelt sich um eine Marginalisierung aus verschiedenen Gründen. Shoemaker fasst die Vorwürfe knapp zusammen:
„It’s a pattern that repeats, and each time, there’s a just-the-facts- approach that suits the telling. It’s not about accusations, or stolen glory. It is what happened to this woman, over and over again. We see her work, we’re told about their connection, we see his work, and we get the timeline. They become legends. She toils endlessly for a foothold.“[6]
Der Kenntnisstand rund um Kusamas Leben kann als außerordentlich detailreich bezeichnet werden. Bedingt wird das vor allem durch den gegenseitigen Input bzw. das Interesse der Künstlerin und ihrer Umwelt an ihr. Kusama verfasste eine Autobiografie, die 2002 veröffentlicht wurde.[7] Seit ihrer sogenannten Wiederentdeckung 1989 sind zahlreiche Publikationen erschienen.[8] Auffallend oft wird Kusamas psychische Erkrankung erwähnt. Die Künstlerin lebt mittlerweile in einer psychiatrischen Klinik in Tokio. Die stetige Aneignung der Rolle der psychisch Kranken und die Verknüpfung derer mit ihrem Werk spielt in der Betrachtung ihrer Kunst eine große Rolle.[9] Zwischen 1958 und 1973 war ihr Lebensmittelpunkt die Metropole New York. Dort agierte sie als aktive, durchaus bekannte Akteurin innerhalb der Kunstszene. Die Kuratorin Laura Hoptman, die sich mehrfach mit Kusama beschäftigte, meint dazu: „[S]he knew virtually all the major figures of the time.“[10] Zu diesen Hauptfiguren zählen auch Oldenburg, Warhol und Samaras.
Die Verbindung zwischen Kusama und Oldenburg wurde in der Gruppenausstellung 1962 in der Green Gallery auf die Spitze getrieben, an der auch Warhol mitwirkte. Kusama steuerte vier Collagen und zwei Soft Sculptures bei. Bei der Arbeit Accumulation No. 1 (Abb. 1), die heute den Weg in die ruhmhafte Sammlung des Museum of Modern Art in New York gefunden hat, handelt es sich um einen mit weißen Stoffauswüchsen überzogenen Sessel. Kusama nähte die von ihr befüllten Webwarenstücke in mühevoller Handarbeit auf dem ebenfalls textilen Untergrund fest. Accumulation No. 1 und eine ebenso ergänzte Couch bewegten den als Kritiker und Künstler tätigen Brian O’Doherty dazu in der New York Times seine Ehrfurcht über die beiden Arbeiten Kusamas auszudrücken.[11] Dieser Beginn der neuen Werkgruppe, der Accumulations, stellt den Ursprung des ersten Konflikts dar. Schon ein Vierteljahr später hatte Oldenburg eine Einzelschau wieder in der Green Gallery. Dort stellte er diverse Skulpturen aus; die meisten waren aus erstarrten mit Lack übermaltem Gips gefertigt. Doch es gab auch weiche, nicht ausgehärtete Arbeiten, wie Floor Cone, eine riesige Eiswaffel, und Soft Calendar for the Month August (Abb. 2), ein dreidimensionaler, weißer Wandkalender.
Abb. 1: Yayoi Kusama, Accumulation No. 1, 1962, genähter und gefüllter Stoff, Farbe, Fransen, Sessel, 94 x 99,1 x 109,2 cm, Museum of Modern Art, New York. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Love Forever. Yayoi Kusama 1958-1968, Los Angeles (County Museum of Art) 1998, Kat.-Nr. 42.Abb. 2: Fotograf:in unbekannt, Claes Oldenburg mit Soft Calendar for the Month August in der Green Gallery, New York, 1962. Abbildungsnachweis: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 53.
Etwa ein Jahr später, am 17. Dezember 1963, öffnete Kusamas Ausstellung Aggregation: One Thousand Boats Show, in der die gleichnamige Installation (Abb. 3) zu sehen war. Die Künstlerin stellte ein akkumuliertes Ruderboot in die Mitte des Raumes und verkleidete die Raumbegrenzungen mit 999 fotografischen Replikationen in Posterform. Das Ausgangsobjekt war also in exakt tausendfacher Ausführung zu sehen. Etwas später, im April 1966, kam dann das Pendant von Warhol. Er ließ einen Raum in der renommierten Castelli Gallery mit Cow Wallpaper (Abb. 4) tapezieren. Die zweifarbigen Poster, die einen Kuhkopf zeigen, wurden im All-over-Duktus aufgehängt und dominieren den Raum.
Abb. 3: Rudolph Burckhardt, Yayoi Kusama in der Installation Aggregation: One Thousand Boats Show, Gertrude Stein Gallery, 1963. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Love Forever. Yayoi Kusama 1958-1968, Los Angeles (County Museum of Art) 1998, S. 20.Abb. 4: Andy Warhol, Cow Wallpaper, 1966, Siebdruck auf Papier, jeweils 112 × 76 cm, Neue Galerie – Sammlung Ludwig, Aachen. Abbildungsnachweis: Klaus Honnef: Andy Warhol 1928 – 1987. Kunst als Kommerz, Köln 1989, S. 75.
Mitte der 1960er Jahre entwickelte Kusama die Werkgruppe Infinity Mirror Rooms, die bis heute fortgeführt wird. Das Environment Infinity Mirror Room – Phalli’s Field (Abb. 5) kann als erstes Objekt dieser Reihe gewertet werden und wurde der Öffentlichkeit Ende des Jahres 1965 in der Richard Castellane Gallery präsentiert. Der Boden ist – bis auf einen Steg, der die Arbeit begehbar macht – mit den markanten Stoffauswüchsen überzogen, die das charakteristische Polkadot-Motiv der Künstlerin tragen. Die Wände sind verspiegelt. Kurz nach der Ausstellung, im März 1966, präsentierte sie ebenfalls dort die vergleichbare Arbeit Peep Show (Abb. 6). Der vollverspiegelte Raum erschließt sich durch zwei gegenüberliegende Gucklöcher. An der Decke blinken bunte Glühbirnen. Noch im selben Jahr entstand die Arbeit Mirrored Room(Abb. 7) von Lucas Samaras. Zugänglich gemacht wurde sie erstmals von der etablierten Pace Gallery, die den Künstler noch heute vertritt. Der sowohl von außen als auch innen verspiegelte Raum ist nur über eine Überecktür begehbar.
Abb. 5: Fotograf:in unbekannt, Yayoi Kusama in der Installation Infinity Mirror Room – Phalli’s Field, Castellane Gallery, 1965. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Yayoi Kusama. Arbeiten aus den Jahren 1949 bis 2003, Braunschweig (Kunstverein Braunschweig), S. 12.Abb. 6: Yayoi Kusama, Peep Show, 1966, Rostfreier Stahl, Spiegel und Glühbirnen, 200 x 107 x 101,9 cm, New York, Courtesy Robert Miller Gallery. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre, Liverpool (Tate) 2005, S. 24.Abb. 7: Lucas Samaras, Mirrored Room, 1966, Spiegel auf Holz, 243,84 x 243,84 x 304,8 cm, Albright-Knox Art Gallery, Buffalo. Abbildungsnachweis: Kim Levin, Lucas Samaras, New York 1975, Abb. 157.
Eine gewisse Ähnlichkeit der Arbeiten kann nicht geleugnet werden und die Chronologie der aufgelisteten Werke zeigt, dass Kusamas Arbeiten scheinbar zuerst entstanden. Künstler:innen, die sich durch vorausgegangene Kunstwerke oder sonstige visuelle Objekte inspirieren lassen, sind nichts Ungewöhnliches. Die Wiederholung in der Kunst ist eine gängige Praxis und fand in der Postmoderne ihren Höhepunkt.[12] Doch was genau eigneten sich die Künstler an, inwieweit gibt es Vorläufer in ihren eigenen Werken, was unterscheidet sie von den Arbeiten Kusamas und welche Einflüsse sind in ihrem Œuvre zu finden?
Eine eindeutige Gemeinsamkeit zwischen Accumulation No. 1 und Soft Calendar for the Month August ist die haptische Wirkung – das Weiche – was auch zum Begriff Soft Sculptures führte. Der Ausgangspunkt der Soft Sculptures für die Einzelausstellung 1962 war, laut Achim Hochdörfer, das Happening Ray Gun Theater von Oldenburg, bei dem der Künstler bereits im März die Figuren von Sailboat and Freighter (Abb. 8) verwendet haben soll, das aus mit Schaumgummi gefülltem Musselin besteht.[13] Diese weiche Arbeit entstand folglich bereits früher im Jahr 1962. Alle sonstigen früheren Skulpturen Oldenburgs wurden mit Gips ausgehärtet. Auffallend ist, dass Hochdörfer mit keinem Wort die Soft Sculptures Kusamas erwähnt. Auch die weiße Farbgebung von Soft Calendar for the Month August scheint aus Kusamas Arbeit entlehnt zu sein. Später führte Oldenburg dies in den Ghost Versions – nicht eingefärbte, sprich weiße, Soft Sculptures – fort. Gelegentlich wurden sie als unfertig oder modellhaft gelesen. Kusamas Accumulation blieben farblos, auch wenn sie hier und da um Punkte oder Streifen ergänzt werden. Eine der gängigen Interpretationen der Stoffauswüchse ist es, sie als Phalli zu lesen. Im Ausstellungskatalog zur großen Retrospektive unter anderem im Los Angeles County Museum of Art wird der Phallus als eines der Hauptmotive Kusamas bezeichnet.[14] Dies bezieht sich ganz klar auf die Accumulations. Wenn also im Jahr 2012 Gregor Stemmrich über die Wirkung der Oldenburgschen Soft Sculptures zu dem Schluss kommt, das Objekt „erweckt zugleich die Vorstellung von etwas Phallischem“[15], so fragt man sich, warum anschließend nicht der naheliegende Verweis zu eben jener Künstlerin folgt. Auch Kusama greift eindeutig in die Debatte ein, wenn sie in ihrer Autobiografie von einer Entschuldigung ausgehend von Patty Mucha, der Ex-Frau Oldenburgs, an sie spricht.[16] Oldenburgs frühere Frau half bei der Ausarbeitung seiner Arbeiten, was zahlreiche Aufnahmen belegen. Auch in der Dokumentation von Heather Lenz sind Ausschnitte zu sehen, wie Mucha an der Nähmaschine sitzt. Die Rollenzuweisung der Frau als Nähkraft soll hier betont werden, wobei der (Ehe-)Mann die Anerkennung für die Kunstwerke erhält. In einer Mail an Midori Yamamura dementiert Mucha diese Entschuldigung. Sie könne sich an nichts Derartiges erinnern. Die Kunsthistorikerin Yamamura legt schlüssig dar, dass es Kusama in ihrer Autobiografie darum gegangen sei, einen Mythos zu generieren und dass sie damit den Einfluss ihrer Werke auf die Oldenburgs demonstrieren wollte.[17]
Abb. 8: Claes Oldenburg, Sailboat and Freighter, 1962, Musselin, gefüllt mit Schaumgummistücken, bemalt mit Spritzlack, Segelboot: 114,5 x 73,5 x 13,5 cm Frachter: 50 x 179,5 x 15 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York. Abbildungsnachweis: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 162.
Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre ist eine interessante Veränderung in der Kunst – die Grenzüberschreitung zwischen verschiedener Medien – zu beobachten, die unter anderem von Donald Judd theoretisch festgehalten wird. Der oft zitierte Anfangssatz von Specific Objects – „[h]alf or more of the best new work in the last few years has been neither painting nor sculpture“[18] – verdeutlicht diese Wandlung. Judd und Kusama waren enge Vertraute. Der Theoretiker und selbst praktizierende Künstler war einer der ersten Käufer von Kusamas Werken. Bei ihrer ersten Einzelausstellung in der Brata Gallery kaufte er zwei Gemälde und attestierte ihr: „Yayoi Kusama is an original painter.“[19] Beide waren von 1961 bis 1964 zudem unmittelbare Nachbar:innen und er half ihr beim Ausstopfen der Accumulations.[20] Panhans-Bühler vermutet, dass Kusama durch den theoretischen Hintergrund Judds beeinflusst war.[21] Dies lässt sich anhand der starken Verknüpfung beider Biografien nachvollziehen. In ihrer Autobiografie würdigt Kusama ihren langjährigen Freund als Karriereleiter: „Es ist sein Verdienst, dass ich ein Star wurde.“[22] Augenfällig ist erneut, dass in Judds Text Specific Objects die Entwicklung nur anhand von Künstlern beschrieben wird, nicht – wie man bei dieser Verbundenheit annehmen könnte – unter Erwähnung von Kusamas medialen Grenzaufhebungen.
In Warhols Œuvre geht es stärker um andere Aspekte, wie Wiederholung, Mechanisierung und Selbstdarstellung. An seinem Beispiel zeigt sich noch deutlicher: Ein genauer Blick in das Gesamtwerk des Künstlers lohnt sich für diese Problemstellung. Zwei Wochen nach der Eröffnung der Ausstellung Aggregation: One Thousand Boats Show, am 2. Januar 1964 begann Warhol mit seinen Boxskulpturen. Am 21. April zeigte er ca. 350 Boxen in der Stable Gallery. In den Brillo Boxes (Abb. 9) steigerte er seine Formvermehrung skulptural mit alltäglichen Gegenständen.[23] Yamamura geht davon aus, dass Warhol von Kusamas Ausstellung beeinflusst war.[24] Sein Konzept weist ähnliche repetitive Züge auf, doch mittels des Catalog raisonnés von Warhols Arbeiten wird deutlich, dass Wiederholung ein stetiges Element seiner Praxis ist. Beispielsweise entstanden im August und September 1962 die Serial Marilyns.[25] Neu bei Warhol ist jedoch die Präsentationsform – das Poster. Auf der inhaltlichen Ebene zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Arbeiten der Künstlerin und des Künstlers. Mit der Deutung von Kusamas Installation haben sich Briony Fer und – darauf aufbauend – Mignon Nixon beschäftigt und arbeiten heraus, wie wichtig die physische Präsenz des Objektes – des Ruderboots – ist. Fer sieht das Gezeigte in seiner Darstellung aufgehoben. Die Fotografie setze die Installation in Szene und erhöhe es durch die Vervielfältigung zum Bild. In Aggregation: One Thousand Boat Showgebe es also einen starken Bezug zwischen Bild und Objekt, ein stetiges Hin und Her.[26] Nixon konkretisiert dies: „Kusama would now expand the Accumulations from objects into tableaux, her ultimate aim being to produce a fully spatial mise en abyme, a new infinity effect.“[27] Der Raumwirkung der Installation Cow Wallpaper wird keine so bedeutende Rolle zugeschrieben. Warhol geht es vielmehr darum, den Kunstbegriff zu erweitern.[28]
Abb. 9: Andy Warhol, Brillo Boxes, 1969, (Version des Originals von 1964), Siebdruck auf Holz, je 50,8 x 50,8 x 43,2 cm, Norton Simon Museum of Art, Pasadena, CA. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Andy Warhol. Retrospektive, Berlin (Neue Nationalgalerie) 2002, S. 221.
Kusamas Auseinandersetzung mit dem Raum wird in den Infinity Mirror Rooms offensichtlicher. Der Spiegel fungiert als Weiterführung der Collage.[29] Kusama spricht abfällig über ihren Konkurrenten:
„Lucas Samaras is always copying other artists’ work. His work lacks originality, I think. He made the mirrored room series inspired by my work. Therefore, my infinity room has nothing to do with his version.“[30]
Es wird nicht klar von welchem Infinity Mirror Room sie spricht. Anzunehmen ist, dass Samaras sich sowohl an Infinity Mirror Room – Phalli’s Field als auch an Peep Show orientiert hat, da Samaras Arbeit sowohl die räumliche Schließung als auch die Begehbarkeit vereint. Kim Levin deutet Mirrored Room als abstrakte Entwicklung von Room aus dem Jahr 1964. Auch wenn scheinbar in Samaras‘ Œuvre eine Art Vorläufer zu finden ist, ist die Spiegelkomponente neu. Levin betont die Unendlichkeitswirkung von Samaras Werk, die jedoch auch Kusamas Arbeiten immanent sind. Beachtlich ist ihr Vergleich von Mirrored Room zu Kusamas Spiegelräumen, den man bisher vergeblich gesucht hat.[31] Jo Applin bringt den Kern von Infinity Mirror Room – Phalli’s Field in ihrem Essay auf den Punkt:
„Infinity Mirror Room – Phalli’s Field, incorporates Kusama’s key formal motives, from the stuffed fabric phallic tubers to the polka dots spotting every available surface and object, and her striking use of mirrors to produce the unsettling interior mise en abyme that would become her trademark.“[32]
Während das Innere von Samaras’ Arbeit wie eine futuristisch-technische Welt aus einem Science-Fiction-Film wirkt, geht es Kusama neben dem Bild im Bild-Effekt auch um eine Kombination ihrer eigenen bereits entwickelten Motive. Das Medium des Spiegels und die damit verbundene Steigerung ins Unendliche wird in der Literatur zur Künstlerin häufig als bereits in den Net Paintings angelegt und als durch die Beziehungen zu europäischen Künster:innengruppen, wie Azimuth, Nul und Zero, verstärkt verstanden. Die Verbindung zu den Neuen Tendenzen lässt sich in Kusamas Ausstellungstätigkeit in Europa ausmachen.[33] Der Einfluss des Spiegels stammt wahrscheinlich vom Künstler Christian Megert. Er steuerte für die Ausstellung Nul 1962 im Stedelijk Museum in Amsterdam einen Spiegelraum bei, der von ihm als Spiegel-Environment bezeichnet wurde.[34] Applin setzt den Anfang von Kusamas Interesse an Spiegeln mit dem Studio Besuch von Megert in der Schweiz 1965.[35] Blickt man in die andere Richtung des Zeitstrahls und befasst sich mit den neueren Ausführungen der Infinity Mirror Rooms, so fällt ins Auge, dass in den 1990ern – als Kusama diese Werkreihe wieder aufgreift – die Arbeiten deutlich mehr an den Typus Samaras’ erinnern. Bezeichnend hierfür ist Mirror Room (Pumpkin)(Abb. 10).[36] Der Raum ist ebenfalls von außen verspiegelt. Bei diesen anderen Environments wird hinter den Besucher:innen die Türe kurzzeitig geschlossen, um eine totale Spiegelung zu erreichen. Bei Catherine Taft klingt dies so: „These are introspective spaces for perceiving, listening and feeling.“[37] Herausgestellt wird die heutige Popularität der Infinity Mirror Rooms von Gloria Sutton. Das neue Konzept der Interaktivität habe seinen Teil dazu beigetragen.[38]
Abb. 10: Yayoi Kusama, Mirror Room (Pumpkin), 1991, Spiegel, Eisen, Holz, Gips, Polystyrol, Acrylfarbe, 200 x 200 x 200 cm, Hara Museum of Contemporary Art, Tokyo. Abbildungsnachweis: Ausst.-Kat. Yayoi Kusama, Venedig (Padiglione Giapponese Biennale di Venezia) 1993, o. S.
Dies verdeutlicht, dass die Problematik sich nicht aus der möglicherweise einseitigen Inspiration ergibt. Entweder reflektiert Kusama ihr eigenes Vorgehen nicht, oder es geht ihr bei diesem Aspekt nicht um die reine Wiederholung von Formen, Motiven und Elementen. Vielmehr legt sie einen Fokus auf ihre Selbstpositionierung und den Fakt, dass es einige Jahre dauerte bis sie ähnlich, gleich oder noch bekannter wurde als ihre Künstlerkollegen. Die sich durch alle Beispiele ziehende Komponente ist, das mangelnde Anerkannt-Werden von Kusama im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Yamamuras Argumentation legt schlüssig dar, dass weiße Männer in der Kunstwelt privilegiert waren und dass die Kunstszene der späten 1960er Jahre keinen Raum für die Anerkennung von Künstlerinnen bot.[39] Verena Krieger prägt in ihrer Habilitationsschrift die Ideengeschichte von Künstler:innen und liefert dezidiert keine sozialgeschichtliche Untersuchung. Neben der Herausbildung des Motivs der Geisteskrankheit in Künstler:innenbiografien, die auch auf Kusama anwendbar wäre, geht sie auf die Rolle der Künstlerin ein. Die Aufwertung des Künstlers führte, so Krieger, zur Abwertung der Künstlerin. Kreativität und Genialität wären stets an den männlichen Kunstschaffenden gekoppelt. Weibliche Kreativität sei in vermeintlich feminin konnotierte Bereiche, wie textile Medien, verbannt und aus der Kunst ausgegrenzt worden.[40] Die Soft Sculptures wurden zwar nicht ausschließlich als Handwerk angesehen, dennoch lässt sich auch an diesem Beispiel eine männliche Dominanz feststellen. Das Inkorporieren und damit Erfolg haben mit etwas dem Weiblichen zugeschriebenen stellt letztlich die männliche Übermacht dar. Diesen Fakt bestätigt Mona Jensen in ihrem Artikel zur Pop Art, bei dem sie von den Thesen der feministischen Theoretikerin Lucy Lippard ausgeht. Diese Kunstrichtung sei ein stark maskulin geprägtes Phänomen mit wenig weiblichen Ausnahmen, wie beispielsweise Kusama.[41] Yamamura erkennt in diesem Zusammenhang:
„Her desire for transformation in the mid-1960s seems to have grown out of her own shifting circumstances. Once people began seeing Pop art as increasingly unique to America soil, critics started to view Kusama’s art differently. […] Once Kusama saw herself being inexorably marginalized or typecast, she decided defiantly to emphasize the fact that she was both Japanese and a woman.“[42]
Hier wird beschrieben, wie Kusama die Rolle der ins Abseits Geschobenen annimmt und sich diese aneignet. Außerdem wird eine weitere Eigenschaft angemerkt: ihre japanische Herkunft und die damit einhergehenden Herausforderungen. Ergänzt werden kann dies durch ihre psychische Erkrankung. Welchen praktischen Einfluss dieser Faktor auf ihre Arbeit ausübte, soll hier nicht im Detail verhandelt werden und wird ansatzweise in der Monografie von Yamamura beleuchtet. Hervorzuheben ist die Stigmatisierung, was sich in der Fixierung der Kritik auf Kusamas Geisteskrankheit äußert, wie Griselda Pollock anprangert.[43] Auch Kusamas Suizidversuch, der in einen kurzzeitigen Aufenthalt in einer Klinik gipfelte, soll nicht unerwähnt bleiben. Yamamura verbindet diesen Vorfall mit dem Schock und der Paranoia über den vermeintlichen Ideendiebstahl durch Oldenburg.[44]
Dass dies nicht nur ein Nachteil sein kann, beweist die Ausarbeitung von Anja Zimmermann. Sie untersucht die Beziehung zwischen dem Kunstmarkt und der kunsthistorischen Vermittlung in Bezug auf Erfolg bzw. Misserfolg am Beispiel der zensierten Karriere Kusamas. Charakteristisch dafür ist eine Unterbrechung in der Karriere, was sie an den Kriterien der Bekanntheit und Ausstellungspräsenz festmacht. Der Aufenthalt Kusamas in einer psychiatrischen Klink biete die Notwenigkeit für Kreativität und gleichzeitig eine Möglichkeit der Neuerzählung und Wiederentdeckung.[45] Anfang der 1970er Jahre wurde es ruhig um Kusama, was ungefähr zeitgleich mit der Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes zurück nach Japan und dem anschließenden permanenten stationären Aufenthalt in einer Tokioter Klinik fällt. Bereits Anfang der 1980er Jahre versuchte Kusama erfolglos wieder in New York Fuß zu fassen, was durch Briefe ans Whitney Museum of American Art, belegt werden kann. Die Bestrebung gelang in Form der bereits erwähnten Retrospektive von Munroe am Ende des Jahrzehnts.[46] Reuben Keehan macht neue Interessen in der kunstgeschichtlichen Forschung für den darauffolgenden Kusama-Ausstellungs-Boom verantwortlich.[47] Was machte sie also davor weniger interessant für die kunstwissenschaftliche Forschung und die theoretische Auseinandersetzung, wie bereits am Beispiel Judds durchexerziert wurde? Man kann festhalten, dass Kusama sich in keine der klassischen, bisherigen Kategorien einordnen ließ.[48] Zusammengefasst klingt das bei Franck Gautherot und Seungduk Kim so:
„Like a chameleon, she had shifted from one scene to another until she found her own scene – the happenings and nude paintings performances – that brought her very high visibility in the underground press, but left her lonely in the art world that counts after the negative reception of her provocative free orgy sessions.“
Auch Michael Glasmeier greift diesen Aspekt auf und sieht die marginale Repräsentation in einem Zuviel in Kusamas Œuvre begründet. Für die Anerkennung in der feministischen Theorie habe sie die Nacktheit zu stark betont. Der Kunstwissenschaflter bindet Kusama und ihre Unbehaustheit in die Rhizomtheorie von Gilles Deleuze und Felix Guattari ein, um schließlich doch zu konstatieren, dass sie trotzendem aus der davor liegenden Kunsttheorie herausgefallen sei.[49] Dies lässt sich mit der Aussage Keehans zusammen führen.
Die Rolle der Kunstgeschichtsschreibung kann nicht ohne den Markt gedacht werden. Es gilt Allgemeinhin als anerkannt, dass die Vertretung durch eine große, einflussreiche Galerie eine positive Auswirkung haben kann. Doch diese fehlte Kusama.[50] Heute wird sie von mehreren namhaften Galerien, wie Victoria Miro, Ota Fine Arts und David Zwirner, vertreten. Diesen Rückhalt suchte sie bis in die 1990er Jahre vergeblich. Kunsthistorische Fürsprecher:innen fehlten ihr ebenfalls und es bleibt fraglich, warum Kusama immer noch selten in der Forschung zu Oldenburg, Warhol und Samaras auftaucht. Zwei Effekte in der Wissenschaft sollen als mögliche Erklärung hierfür herangezogen werden: Der Publikationsbias beschreibt eine Verzerrung der wissenschaftlichen Datenlage. Dadurch, dass negative oder weniger signifikante Forschungsergebnisse seltener verbreitet werden, rezipiert man sie auch seltener. Da in Kusamas Fall die Ergebnisse bekannt sind, hieße dies, dass die anderen Autor:innen diese Schlussfolgerungen für nicht oder weniger signifikant hielten. Der Woozle Effekt besagt, dass falsche oder irreführenden Schlussfolgerungen getroffen werden können aufgrund einer stetigen Fokussierung auf dieselbe Quelle, die bestimmte Faktoren auslässt und vernachlässigt. Übertragen auf die Problematik mit Kusamas Konkurrenten bedeutet es: Die fortwährende Bezugnahme auf die immergleichen Publikationen führt dazu, dass diese Theorien ständig reproduziert werden. Auf dem Weg hin zu einer inklusiveren und vielfältigeren Geschichte der Kunst sollte dies berücksichtigt werden. Der von Lenz in ihrer Dokumentation angestoßene und hier ausdifferenzierte Ansatz der Parallelität sollte künftig für die Betrachtung der drei angeführten männlichen Beispiele herangezogen werden. Auch wenn Kusama teilweise nicht eindeutig die Erste war, so sollte man die Entwicklung doch in einer möglichst genauen Gesamtheit betrachten.
Biografie
Alexa Dobelmann
Alexa Dobelmann studierte Kunstgeschichte und Geschichte in Stuttgart und Siena. Ihr besonderes Interesse gilt Mechanismen von Künstlerinnen wie beispielsweise der Selbstpositionierung, der Kanonisierung und dem Marktbezug. Neben ihrem Studium arbeitete sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Kunstgeschichte, als Assistentin im Kunstbüro BW und als freie Mitarbeiterin unter anderem für die Villa Merkel und die Kunststiftung Baden-Württemberg. Derzeit promoviert sie zum Thema Markenzeichen von Künstlerinnen an der Staatsgalerie Stuttgart.
[2] Das Interview ist unter anderem im Katalog der besagten Ausstellung veröffentlicht (vgl. Yayoi Kusama; Damien Hirst: Yayoi Kusama now, New York 1998, o.S.).
[3] Beispielhaft hierfür kann der Artikel von Ursula Panhans-Bühler im bilingualen Schweizer Kunstmagazin Parkett herangezogen werden. Dieser wurde bereits 2000 veröffentlicht. (vgl. Ursula Panhans-Bühler:: «Between Heaven and Earth. This Languid Weight of Life», in: Parkett, Nr. 59, 2000, S. 77-82, hier: S. 78.
[4] Auf der einen Seite ist der Artikel von Claire Selvin zu erwähnen: Die Autorin sieht im Film die Andeutung, dass Kusamas experimentelle Arbeiten Grund für die schwierige Verkaufssituation gewesen seien. Außerdem werde in der Dokumentation die mittlerweile bedeutende Marktposition Kusamas vernachlässigt (vgl. Claire Selvin: ‘I Just Kept Trying to Make My Own World’. ‘Kusama: Infinity’ Traces the Fraught Life of a Monumental Figure, in: Artnews, 30.08.2018, URL: https://www.artnews.com/art-news/news/just-kept-trying-make-world-kusama-infinity-traces-fraught-life-monumental-figure-10858/ (29.12.2020)). Auf der anderen Seite schreibt Chloe Schama in der Vogue, Kusama habe damals keine Galerie gefunden. Dies ist übertrieben und wird durch Beispiele im Folgenden widerlegt (vgl. Chloe Schama: Kusama. Infinity Makes the Case for the Japanese Artist as a Feminist Force, in: Vogue, 07.09.2018, URL: https://www.vogue.com/article/kusama-infinity-documentary-movie-review (06.01.2021)).
[7] Eine deutsche Übersetzung erschien 2017 (Yayoi Kusama: Infinity Net. Meine Autobiografie, Bern; Wien 2017).
[8] Eine ernstzunehmende kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung außerhalb von Ausstellungen gab es vor Kusamas erster Retrospektive nicht. Alexandra Munroe kuratierte die Werkschau im Center for International Contemporary Arts in New York.
[9] Die Kuratorin Lynn Zelevansky schreibt: „Kusama challenges the stereotype of the crazy artist, a romanticized figure whose aesthetic contribution may be simultaneously elevated through immersion in the crucible of pain and denigrated through association with the art of children and other so-called primitives.“ (Lynn Zelevansky: Driving Image. Yayoi Kusama in New York, in: Los Angeles County Museum of Art (Hrsg.): Love forever. Yayoi Kusama, 1958–1968, New York 1998, S. 11–41, hier: S. 14).
[10] Laura Hoptman: Yayoi Kusama. A Reckoning, in: Akira Tatehata; Laura Hoptman u.a.: Yayoi Kusama, London 2000, S. 34–82, hier: S.42.
[11] Vgl. Brian O’Doherty: Season’s End. Abstractions and Distractions, in: New York Times, 17.06.1962, S. 103.
[12] Die Appropriation Art ist wie die meisten Kunstströmungen temporär und lokal klar definiert. Anna Blume-Huttenlauch schreibt in ihrer Dissertation zu dieser Kunstform: „Als kunstwissenschaftlich fixierter Begriff ist Appropriatin Art […] eine spezifisch postmoderne künstlerische Praxis, die ihren Ausgang in den späten 1970er Jahren in New York nahm und die „Aneignung“ selbst zum zentralen Inhalt machte.“ (Anna Blume-Huttenlauch: Appropriation Art. Kunst an den Grenzen des Urheberrechts. Baden-Baden 2010, S. 22).
[13] Vgl. Achim Hochdörfer: Von der Street zum Store. Claes Oldenburgs Pop Expressionismus, in: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 12–63, hier S. 58.
[14] Vgl. Laura Hoptman: Down to Zero. Yayoi Kusama and the European ”New Tendency”, in: Los Angeles County Museum of Art (Hrsg.): Love forever. Yayoi Kusama, 1958–1968, New York 1998, S. 43–59, hier: S.42, S. 55).
[15] Gregor Stemmrich: Hypertrophie, Tropfen, Tropen des Alltäglichen. Claes Oldenburgs Neudefinitionen von Skulptur, in: Achim Hochdörfer; Barbara Schröder (Hrsg.): Claes Oldenburg. The Sixties, München 2012, S. 156–206, hier S. 164.
[17] Vgl. Midori Yamamura: Review: Infinity Net. The Autobiography of Yayoi Kusama by Yayoi Kusama, University of Chicago Press, 2011, in: Woman’s Art Journal, Vol. 33, No. 2, 2012, S. 44–46, hier: S. 45.
[18] Donald Judd: Specific Objects, in: Flavin Judd; Caitlin Murray (Hrsg.): Donald Judd Writings, New York 2016, S. 134–145, hier: S. 134. Yamamura versteht dies als ein Echo auf die Äußerung Enrico Castellanis, Skulptur und Malerei seinen nicht weiter die beiden maßgeblichen Kunstgattungen. Dies weise jedoch auch auf die Kenntnis der Entwicklungen in Europa hin, was unter dem Begriff Neue Tendenzen gefasst werden kann (vgl. Midori Yamamura: Yayoi Kusama. Inventing the Singular, Cambridge 2015, S. 100).
[19] Donald Judd: Reviews and Previews. New Names This Month, in: Artnews, Vol. 58, No. 6, 1959, S. 17. Auch andere Stimmen waren sehr wohlwollend. Eine Sammlung der Kritiker:innen und deren Hauptaussagen ist zu finden bei Yamamura (vgl. Yamamura 2015, S. 61) (wie in Anm. 18).
[20] Sie lebten im selben Gebäude (vgl. Yamamura 2015, S. 99) (wie in Anm. 18). Zur Hilfe durch Judd äußerte sich Kusama beispielsweise in einem Interview mit Akira Tatehata, dem Kurator ihrer Inszenierung im japanischen Pavillon auf der Biennale di Venezia im Jahr 1993 (vgl. Yayoi Kusama im Interview mit Akira Tatehata, in: Akira Tatehata; Laura Hoptman u.a.: Yayoi Kusama, London 2000, S. 8–28, hier: S. 13).
[21] Vgl. Panhans-Bühler 2000, S. 78 (wie in Anm. 3).
[23] Vgl. Heiner Bastian: Rituale unerfüllbarer Individualität. Der Verbleib der Emotionen, in: ders. (Hrsg.): Andy Warhol Retrospektive, Köln 2001, S. 12–39, hier: S. 32.
[25] Vgl. Georg Frei; Neil Printz (Hrsg.): The Andy Warhol Catalogue Raisonné, 5 Bd., hier Bd. 1: Paintings and Sculptures 1961–1963, London 2002, Kat.Nr.; 262–282.
[26] Vgl. Briony Fer: The Somnambulist’s Story. Installation and the Tableau, in: Oxford Art Journal, Vol. 24, No. 2, 2001, S. 77–92, hier: S. 83ff.
[27] Mignon Nixon: Infinity Politics, in: Frances Morris (Hrsg.): Yayoi Kusama, London 2012, S. 177-185, hier: S. 182.
[28] Jan von Brevern geht in seinem Artikel anlässlich der großen Warhol-Werkschau im Kölner Museum Ludwig auf die Frage ein, die bereits Arthur C. Danto beschäftigte: Was ist Kunst und wo verläuft ihre Grenze? (Vgl. Jan von Brevern: Besser, man kauft ein T-Shirt, in: Die Zeit, 23.12.2020, S. 49).
[31] Vgl. Kim Levin: Lucas Samaras, New York 1975, S. 67ff.
[32] Jo Applin: Yayoi Kusama. Infinity Mirror Room – Phalli’s Field, London; Cambridge 2012, S. 20 und 29.
[33] Besonders zu erwähnen ist hier die erste Ausstellung Kusamas in Europa. Udo Kultermann kuratierte 1960 Monochrome Malerei im Museum Morsbroich in Leverkusen. Laut Hoptman führte dies zu einer Allianz der Künstlerin mit den europäischen Kolleg:innen (vgl. Hoptman 1998, S. 44) (wie in Anm. 14).
[35] Vgl. Applin 2012, S. 19 (wie in Anm. 32). Der Studiobesuch blieb zwar unbelegt und wird auch nirgendwo sonst angeführt, die beiden dürften sich jedoch gekannt haben.
[36] Die Arbeit entstand 1991 für die Ausstellung in der Fuji Television Gallery und dem Haar Museum in Tokio. Zwei Jahre später wurde sie im japanischen Pavillon auf der Biennale di Venezia international berühmt.
[37] Catherine Taft: Dashing into the Future. Kusama’s Twenty-First Century, in: Akira Tatehata; Laura Hoptman u.a.: Yayoi Kusama, London 2017, S. 171–209, hier: S. 201).
[38] Vgl. Gloria Sutton: Between Enactment and Depiction. Yayoi Kusama’s Spatialized Image Structures, in: Mika Yoshitake (Hrsg.): Yayoi Kusama. Infinity Mirrors, München; London u.a. 2017, S. 138–155, hier: S. 140.
[39] Vgl. Yamamura 2015, S. 106 und 143ff (wie in Anm. 18). Diesen allgemeinen gesellschaftlichen Missstand kann man heute noch so festhalten und ihn auch auf alle Personen jenseits der Cis-Binarität ausdehnen.
[40] Vgl. Verena Krieger: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, S. 129 und 131.
[41] Vgl. Mona Jensen: ”The Subject Matter Isn’t Popular Images, It Isn’t that at All”, in: Mona Jensen (Hrsg.): Pop Classics. Allan D’Arcangelo, Jim Dine, Robert Indiana, Jasper Johns, Allan Kaprow, Edward Kienholz, Yayol Kusama, Roy Lichtenstein, Marisol, Claes Oldenburg, Robert Rauschenberg, James Rosenquist, Ed Ruscha, Wayne Thiebaud, Andy Warhol, Tom Wesselmann, Aarhus 2004, S. 12–27, hier: S. 27.
[43] Vgl. Griselda Pollock: Three Thoughts on Femininity, Creativity and Elapsed Time, in: Parkett, No. 59, 2000, S. 107–113, hier: S. 109.
[44] Vgl. Yamamura 2015, S. 113f (wie in Anm. 18).
[45] Vgl. Anja Zimmermann: Skandalöse Bilder – skandalöse Körper. Abject Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Berlin 2001, S. 191f.
[46] Diese Briefe hat Zimmermann teilweise ausgewertet (Vgl. Zimmermann 2001, S. 199) (wie in Anm. 45).
[47] Vgl. Reuben Keehan: Disalignment and Restructuring. The Late Work of Yayoi Kusama, in: Russell Storer (Hrsg.): Yayoi Kusama. Life Is the Heart of a Rainbow, Singapur 2017, S. 44–51, hier: S. 45. Zu den Themen äußert er sich folgendermaßen: „But why Kusama, and why now? Certainly the centrality of installation in recent museum practice has played a role—audience have shifted from viewers to physical participants in the work of art and variants of the problematic buzzword ”immersion“ [Eintauchen] have become a fixture of the marketing lexicon. The pronounced picturesque quality of Kusama’s work is equally noteworthy in a social media age.“ (Ebd., S. 50f).
[48] Yamamura kommt nach einer Analyse des Forschungsstands zu Kusama zu dem Schluss: „As these works illustrate, Kusama was clearly making art based on her experience that cannot easily fit existing categories of modern art.“ (Yamamura 2015, S. 5) (wie in Anm. 18). Auch Hoptman spricht davon, dass Kusama sich in keine Bewegung und keinen Kanon einordnen lassen will (Vgl. Hoptman 2000, S. 79) (wie in Anm. 10).
[49] Vgl. Michael Glasmeier: Das Ganze in Bewegung. Essays zu einer Kunstgeschichte des Gegenwärtigen, Hamburg 2008, S. 163ff.
[50] Vgl. Zelevansky 1998, S. 28f (wie in Anm. 9).
Das Gebiet der Thurgauerstrasse in Zürich wird neu gedacht als eine vielfältige Sequenz von Innenwelten. Indem die leerstehenden, halb-öffentlichen Eingangsbereiche der Bürogebäude entlang der Straße miteinander in Verbindung gesetzt werden, entsteht ein Ensemble, das einen Ausgangspunkt für zukünftige Entwicklungen setzt. Hyperrealistische Renderings zeigen die Überlagerung der isolierten Firmeninnenräume mit verschiedenen öffentlichen Aktivitäten und laden zum Nachdenken über heterotope Stadträume ein.
Der heutige Zustand der Thurgauerstrasse ist geprägt von den räumlichen Folgen der Privatisierung und marktgesteuerter Stadtentwicklung. Entlang der viel befahrenen Straße reihen sich leere, überdimensionierte Firmenzentralen und Gewerbeparks, die aufgrund schwindender Gewinne und stagnierender Geschäfte stillschweigend auf ihren Abriss warten. In diesem Meer von introvertierten, generischen, nach typischen Plänen organisierten Bürogebäuden173 liegt ein Archipel repräsentativer Innenhallen und Atrien. Als hohle Überbleibsel des unternehmerischen Größenwahns, der sie hervorbrachte, suggerieren postmoderne Fassaden mit Referenzen an die Antike städtische Öffentlichkeit, laden jedoch lediglich zum Konsum ein und ersticken dabei jede Art von Nutzungsfreiheit im Keim. Beginnt man aber, diese Vielzahl an großzügigen Innenräumen als ein Netzwerk zu lesen, könnten sie zum Rückgrat eines sich radikal transformierenden Gebiets werden. Durch die Kombination von archetypischen öffentlichen Innenräumen 174 und den ursprünglichen Gebäudenamen wird eine neue Corporate Identity des Areals geschaffen, die den heterotopen Charakter dieser Räume widerspiegelt.
Abb. 4: the palace – ambassador. Abb. 5: gvz – the machine.
Durch die Überlagerung von archetypischen Innenräumen wie the palace oder the shed mit der glatten, ahistorischen Oberfläche des Kapitals entsteht eine Assemblage unterschiedlicher Raumqualitäten und Atmosphären. Als ein Netzwerk von öffentlichen Inseln, die durch einen durchgehenden Weg verbunden sind, werden die Innenräume neu interpretiert. Sie fungieren als Schnittstelle zwischen der bestehenden städtischen Struktur, neuen Wohnsiedlungen und der sich verändernden kommerziellen Landschaft und geben diesem Stadtteil somit eine neue Identität. Durch die Entdeckung und Erfindung neuer Passagen durch das stark zerstreute und fragmentierte Gebiet um die Thurgauerstrasse setzt sich der menschliche Körper wieder mit seiner vielfältigen, heterogenen Umgebung auseinander. Als Gegenentwurf zum normativen Top-Down-Planungsansatz des aktuellen Gestaltungsplans definiert dieser städtebauliche Vorschlag einen losen Rahmen, in den neue Siedlungen hineinwachsen können — einen unvollständigen Plan, der offen für die Aneignung durch die Öffentlichkeit ist. Überbleibsel der Unternehmenswelt werden zum Ausgangspunkt für eine neue Art des Wohnens in der Stadt, in dem die Schichten der Zeit erfahrbar gemacht werden.
Biografie
Johanna Roth
Johanna Roth studierte Architektur an der Universität der Künste in Berlin, an der ETSAM Madrid und an der ETH Zürich. Nach einem Aufenthalt in Japan, wo sie für Hideyuki Nakayama arbeitete und das Handwerk der Keramik erlernte, diplomierte sie 2020 bei Adam Caruso an der ETH Zürich. Johanna interessiert sich für Architektur als Feld kultureller Kommunikation und deren Implikationen in der zeitgenössischen Gesellschaft. Derzeit arbeitet sie als Architektin im Büro von Peter Märkli in Zürich.
Saskia Ackermann zeichnet in ihrem Aufsatz Das sind unsere Räume! die Entstehung von Gegenräumen durch feministische Kollektive aus dem Kunstfeld nach, die den Beteiligten eigene neue Handlungsräume eröffnen. So entstehen Räume, in denen sich Menschen, die von dominanten Strukturen marginalisiert, überhört und diskriminiert werden, angenommen fühlen, Erfahrungen teilen und gemeinsam Handlungsstrategien entwickeln können.
Für die erste Ausstellung feministischer Kunst nahmen sich die Frauen175 des Feminist Art Program gleich ein ganzes Haus: 1972 renovierten Judy Chicago und Miriam Schapiro zusammen mit ihren Studentinnen ein Haus in Los Angeles, um darin ihre Arbeiten zu installieren und präsentieren.176 Das Feminist Art Program ermöglichte es Kunststudentinnen, sich der Auseinandersetzung mit Kunst von und über Frauen zu widmen. Im Womanhouse realisierten sie ihre eigenen Formen künstlerischer Praxis, in der sie sich vorrangig gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen an Frauen annahmen. Diese inhaltliche Auseinandersetzung war insbesondere von zwei Aspekten geprägt: Zum einen wurden die persönlichen Erfahrungen der Beteiligten zum Ausgangspunkt künstlerischer Prozesse gemacht. Die gesellschaftliche Bedingtheit der individuellen Erfahrungen als Frau und als Künstlerin wurden in regelmäßigen Runden der Selbstbefragung und des Austauschs, Methoden des sogenannten consciousness-raising,177 herausgearbeitet. Zum anderen hatte die Kollaboration in der Gruppe einen hohen Stellenwert: Von den bereits genannten consciousness-raising sessions über die handwerklich-praktischen Tätigkeiten beim Renovieren des Hauses bis hin zur Entwicklung und Umsetzung der Installationen, Performances und Raumgestaltung ging es darum, die Tätigkeit der Einzelnen als Teil des Miteinanders zu verstehen:
“Brainstorming took place as a group, by ‚going round the circle’ to build on an idea, an image, a story. The ideas for the rooms were generated this way, as the women opened up about their experiences with domesticity. The texts for the performances were drafted as a group, and while some students had their own rooms to ‘decorate’, others collaborated in such a way that it was not clear who had contributed what.”178
Das Womanhouse verschob und irritierte die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, indem „der öffentliche Ausstellungsraum zugleich ein häuslicher Raum [war], wo konventionelle Ansichten über adäquate künstlerische Objekte über Bord geworfen wurden“.179 Das Haus verdeutlicht hier besonders eindringlich die Notwendigkeit sowie die Potentiale des Zusammenschlusses unter Menschen, die gesellschaftlich marginalisiert und unsichtbar gemacht werden. Gemeinsam ist es möglich Gegenräume zu eröffnen, in denen die persönlichen Perspektiven gezeigt und eigene Praxisformen verwirklicht werden können. Diese Realisierung von Idealvorstellungen über künstlerische Arbeit und ihre Präsentation wird im Kreise des Kollektivs für die Einzelnen möglich. Der Transfer des Erfolgs eines Projektes wie Womanhouse auf die individuelle künstlerische Laufbahn gelingt zumeist jedoch nur für wenige der Beteiligten. So verbleibt die Eröffnung neuer Möglichkeitsräume im Rahmen der kollektiven Praxis und eine strukturelle Verbesserung der Chancen von Frauen auf eine finanziell tragende berufliche Laufbahn als Künstlerin bleibt aus.
Sowohl der Umfang des Projekts – die Vorbereitungen erforderten einen hohen zeitlichen, körperlichen und geistigen Einsatz – als auch die Aneignung eines ganzen Hauses stehen für die großen Ambitionen, die Chicago und Schapiro der bisherigen Unsichtbarkeit von Künstlerinnen entgegenstellen wollten. Das konnte nur im Kollektiv gelingen und erforderte außergewöhnliche Anstrengungen. Sie forderten von den Studentinnen bis an ihre Grenzen und darüber hinaus zu arbeiten.180 Dieser Bezug zur Notwendigkeit von Leistung und dem (Nicht-)Berücksichtigen der eigenen Kapazitäten hat sich inzwischen bei feministischen Initiativen innerhalb und außerhalb des Kunstkontexts geändert. Heute nimmt häufig gerade die Reflektion dessen, welche Arbeit geleistet werden kann und welche persönlichen Grenzen es gibt, eine große Rolle in den Formen der Zusammenarbeit ein.
In meiner eigenen Recherche zu feministischen Perspektiven auf Öffentlichkeit hat mich interessiert, wie Aktivist:innen und Künstler:innen öffentlichen Raum oder öffentliche Diskurse einnehmen, sich in dominante Strukturen der Öffentlichkeit wie zum Beispiel die parlamentarische Politik begeben oder aber eigene, dem entgegengesetzte Sphären des Verhandelns gemeinsamer Interessen herstellen, also Gegenöffentlichkeiten, wie sie beispielsweise in Protestbewegungen entstehen.181 In der Geschichte feministischer Kämpfe nehmen das Heraustreten von Frauen aus dem privaten Bereich (Haushalt, Familie) sowie das Einfordern der öffentlichen Diskussion von Themen wie (Frauen-)Gesundheit, Schwangerschaft, Kindererziehung, Sexualität und sexuelle Gewalt ganz zentrale Rollen ein.182 In Gesprächen mit Feminist:innen, die in aktivistischen und/oder künstlerischen Gruppierungen organisiert sind, erzählten mir viele, dass der besondere Wert solcher Zusammenschlüsse für sie in der Art liege, wie Feminist:innen sich darin aufeinander beziehen. Dazu gehört an erster Stelle die Möglichkeit des Teilens und gemeinsamen Herausarbeitens bestimmter gesellschaftlich vermittelter (Diskriminierungs-)Erfahrungen wie Sexismus, Frauenfeindlichkeit oder Heteronormativität. Anne May betonte im Gespräch die Notwendigkeit dieses Teilens:
„Es ist so wichtig irgendwann die Erfahrung zu machen, dass es nicht nur ich selbst bin, die denkt, es läuft etwas verkehrt. […] Dafür ist Vernetzung auf dieser grundlegenden Anerkennungsebene wichtig. Sodass die persönliche Erfahrung auf eine kollektive Ebene gebracht wird und wir merken, dass es ein breites gesellschaftliches Phänomen ist.“183
Aber auch die Verteilung aller Formen von Arbeit, die zusammen mit der politischen und/oder künstlerischen Arbeit anfallen, wird in den Gruppen ernstgenommen. Eine wichtige Frage dabei ist, welchen Platz Emotionen in der gemeinsamen Praxis haben und inwiefern diese durch emotionale Arbeit kollektiv verarbeitet werden. Die kollektive Arbeit erhält so einen Wert an sich. Sie wird zu einer unterstützenden Struktur der Mitglieder und dieses Innenleben, dieser Raum des Miteinanders, nimmt für die Beteiligten oft eine größere Bedeutung ein als die Produkte dieser Arbeit. Die erfolgreiche Durchführung einer Veranstaltung, die Organisation einer Demonstration oder die Präsentation einer Ausstellung sind dann vielmehr selbst Momente, in denen die Strukturen dahinter, also die Beziehungen der kollektiv Organisierten, gestärkt, gefeiert und wertgeschätzt werden – das Nach-Außen-Treten, Sich-Zeigen und Raum-Einnehmen ist zwar für Aktivist:innen und Künstler:innen gleichermaßen wichtig. Die empowernde Rückwirkung auf die Akteuer:innen selbst hat aber eine größere persönliche Bedeutung.
Für die Gestaltung und Entwicklung der solidarischen und persönlichen Beziehungen (nicht nur) unter Feminist:innen haben bereits viele Gruppierungen Methoden und Strategien entwickelt.184 Einige davon hat Alex Martinis Roe in ihrem Projekt To Become Two (2014–2017) gesammelt. In einer Serie von sechs Filmen beziehungsweise Filminstallationen verarbeitet sie ihre Recherchen zu verschiedenen feministischen Gruppierungen, die seit den 1960ern in Europa und Australien aktiv sind oder waren. Das gleichnamige Buch besteht aus zwei Teilen: der erste davon versammelt Essays, die von den verschiedenen communities erzählen, der zweite ist eine Art Handbuch mit Vorschlägen für die feministische kollektive Praxis, die sie gemeinsam mit den portraitierten Gruppen und Feminist:innen jüngerer Generationen entwickelt oder festgehalten hat.185
In It was an unusual way of doing politics: there were friendships, loves, gossip, tears, flowers… (2014) bezieht sich Martinis Roe auf Materialien der Gruppe Psychoanalyse et Politique (kurz: Psych et Po), die seit 1968 in Paris aktiv war. Deren Mitglieder legten ihrer politischen Arbeit eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Differenzen zugrunde, entgegen einer häufig in der politischen Linken postulierten „Gleichheit aller“. Und auch sie gingen von den ganz persönlichen, aber miteinander geteilten Erfahrungen aus, die sie in kollektiv vollzogenen Prozessen der Psychoanalyse identifizierten und bearbeiteten. So schreibt Martinis Roe: „[Psych et Po‘s] members used it as a space to create new language and narratives for themselves, and for femininity.“186 Diese Formen des Offenlegens geteilter Erfahrungen und dem damit verbundenen Finden eigener Narrative entspricht dem, was eingangs als consciousness-raising bezeichnet wurde.
Abb. 2: Alex Martinis Roe: Plakat aus der Reihe To Become Two, 2016, Offstedruck, 59 x 84 cm, Grafikdesign: Chiara Figone. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).Abb. 3: Alex Martinis Roe: It was an unusual way of doing politics: there were friendships, loves, gossip, tears, flowers…, 2014, Filmstill. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).Abb. 4: Alex Martinis Roe: Plakat aus der Reihe To Become Two, 2016, Offsetdruck, 59 x 84 cm, Grafikdesign: Chiara Figone. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).Abb. 5: Alex Martinis Roe: A story from Circolo della rosa, 2014, Filmstill. Abbildungsnachweis: URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Den Film A story from Circolo della rosa (2014) widmet Martinis Roe einer anderen besonderen Form der Soziabilität: „The political model of the Milan Women‘s Bookstore co-operative takes as its primary concern the relations between those who participate it.“187 Dieses Konzept wird als Affidamento bezeichnet und soll ein solidarisches Handeln in difference ermöglichen. Anstatt das Kollektiv als Ganzes und als Idee zum Imperativ des Miteinanders emporzuheben gilt es bei den Beteiligten des Milan Women‘s Bookstore Collective die persönlichen Beziehungen zwischen den Einzelnen zur Grundlage der Gemeinschaft zu machen. So unterwerfen sich die Mitglieder nicht einem gemeinsamen Verständnis des Frau-Seins, sondern erkennen die Autorität jeder Einzelnen, die Vielfalt der persönlichen Beziehungen und die menschlichen Differenzen untereinander an.
Sowohl die psychoanalytische Auseinandersetzung mit den persönlichsten und den gemeinsamen Erfahrungen bei Psych et Po als auch die Anerkennung der Beziehungsgeflechte und persönlichen Souveränität beim Milan Women‘s Bookstore Collective sind anspruchsvolle Formen des Sich Aufeinander-Beziehens, die ausschließlich unter Frauen bestehen. In beiden Fällen ist die Realisierung der eigenen Ansprüche an das Miteinander nur im Rahmen eines abgegrenzten Personenkreises möglich, in dem sich Vertrauen und Verlässlichkeit entwickeln können. Außerdem ist die geteilte Erfahrung des Frau-Seins (oder als Frau gelesen zu werden) eine notwendige Voraussetzung dafür, sich auf die jeweiligen Beziehungen einzulassen, die ein hohes Maß an Verletzlichkeit mit sich bringen. Doch innerhalb dieses abgesteckten Rahmens können utopisch anmutende Formen des Gemeinschaftlichen erprobt und etabliert werden.
Darüber hinaus wird in den Arbeiten von Martinis Roe aber auch deutlich, wie stark sich die einzelnen feministischen Gruppen aufeinander beziehen, wie sie untereinander sowie auch in andere gesellschaftspolitische Bewegungen hinein vernetzt sind. Ihr Anliegen ist es, eine Genealogie nachzuzeichnen, die feministische Theorie- und Praxisgeschichte mit all ihren Wandlungen und Kontinuitäten umfasst. Die jeweiligen Kollektive stehen nicht für sich allein, sondern sind in gemeinsame geschichtliche und soziale Kontexte eingebettet. Unabhängig von den konkreten personellen Überschneidungen, direkten Kontakten und organisatorischen Vernetzungen wird erkenntlich, dass das Bestehen feministischer Gruppen als abgeschlossene Frei- und Gegenräume eine historische und kulturelle Kontinuität hat, deren Erscheinungsformen sich jedoch selbstverständlich wandeln. Dies äußert sich auch in Formulierungen wie „feminism itself as ‚feminist genealogy‘“188 bei Martinis Roe und „Citation is feminist memory“189 bei der Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Sara Ahmed: Wo das Wissen und Handeln bestimmter gesellschaftlicher Gruppen historisch unsichtbar gemacht und in den hegemonialen Narrativen ausgeklammert wird, ist die Verortung des eigenen Handelns in der Geschichte feministischer Kämpfe selbst eine politische Notwendigkeit. Die bleibende Existenz feministischer Gegenentwürfe zu den bestehenden gesellschaftlichen Formationen bildet eine sozialgeschichtliche Konstante durch die jüngere Zeitgeschichte sowie über die verschiedenen Weltregionen hinweg.
Die Fantasie und Faszination feministischer kollektiver Praxis besteht als eigenständige Heterotopie, die auch für folgende Generationen Raum zur Umsetzung eigener Vorstellungen von Soziabilität und gesellschaftlichem Handeln bieten wird. Für die Beteiligten sind diese Räume notwendig, auch wenn sie separiert bleiben vom Rest der Gesellschaft. Die Verwirklichung des vermeintlich Utopischen in einem geschlossenen Kreis Gleichgesinnter bleibt der Beweis für die Möglichkeit des „Es könnte anders sein“ und gibt Grund und Mut zum Weitermachen.
Martinis Roe möchte mit ihrer Arbeit gegenwärtige und zukünftige Feminist:innen ermutigen, sich auf diese Geschichte(n) zu berufen und die bereits erarbeiteten Formen kollektiver Praxis zu übernehmen und weiterzuentwickeln. In To Become Two macht sie den heterotopischen Wert feministischer kollektiver Praxis deutlich. Hier und in anderen Projekten verfolgt sie ebenfalls einen eigensinnigen Weg des künstlerischen Arbeitens, mit dem sie sich von konventionellen oder weiterhin dominanten Vorstellungen des Kunst-Machens und Kunst-Zeigens emanzipiert. So weicht sie die Grenzen zwischen Produktion und Präsentation im künstlerischen Prozess auf und löst den Ausstellungsraum von der Vorstellung des fertigen Kunstwerks. Die Installation von Filmen versteht sie mehr als situation design, in dem Prozesse des Austauschs angestoßen werden können.190
Abb. 6: Alex Martinis Roe: To Become Two, Ausstellungsansicht The Showroom, London, 2017. Ausstellungsdesign: Fotini Lazaridou-Hatzigoga, Abbildungsnachweis: Daniel Brooke. URL: https://alexmartinisroe.com/To-Become-Two (17.08.2021).
Auf eine ähnliche Weise entfernte sich auch die Initiative LEVEL (2010–2018) von den Normen dessen, was als Kunst gilt. Wie beim Feminist Artist Program ist die Feststellung der andauernden Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb Ausgangspunkt des Zusammenschlusses und Motivation zum kollaborativen Handeln.191 Statt auf institutionalisiertem und pädagogischem Wege verfolgten die Künstlerinnen mit LEVEL diese Auseinandersetzung aber in selbstorganisierten Formen und legten besonderen Wert auf den Gedanken der Vernetzung und der Förderung von community-based projects. Die Ausstellung THIS IS NOT THE WORK (2014) nahm die Form eines Protestcamps mit Pavillons, Fahnen und Bannern an, das dazu einlud, sich mit Initiativen und Netzwerken auseinanderzusetzen, in denen Künstler:innen (insbesondere Frauen) kollektive und hierarchielose Strukturen verwirklichten (Abb. 7).192 Mit dieser Art der Raumgestaltung sowie der Verbindung mit Workshops und einer acapella performance eines Frauenchors eröffnete LEVEL über die Präsentation künstlerischer Praxis hinaus einen Raum für Austausch und Vernetzung.
Die Reihe We need to talk (2013 und 2014) verzichtete ganz auf das althergebrachte Format der Ausstellung und stellte den Austausch in der Gruppe und das gemeinsame Agieren in den Mittelpunkt.193 Der Gegenraum wurde hier in Form einer Picknickdecke eröffnet, die Gäste zum gemeinsamen Essen und Sprechen einlud (Abb. 8). Anstatt vollendeter Werke stehen hier die Teilhabe am Gespräch, das gemeinsame Denken und Diskutieren, der Moment der Gemeinschaft im Vordergrund – das Verständnis künstlerischer Arbeit schließt hier auch die Auseinandersetzung mit den Bedingungen kreativer Prozesse ein. Letztere sind der öffentlichen Veranstaltung nicht vorgelagert sondern entstehen im Moment des Zusammenkommens, der soziale Momente und die kulturelle Komponente des gemeinsamen Speisens miteinschließt. Auch in der Serie Food for Thought (2014), einer Reihe von Dinner Partys mit Diskussionen zu Feminismus und Frauen in Kunst und Medien, ist der Ansatz zu erkennen, die Beteiligten gewissermaßen ganzheitlich zu betrachten: Als Menschen, die gleichermaßen hungrig nach Wissen, gesellschaftlichem Wandel und gutem Essen sind. LEVEL gestaltete so zeitlich begrenzte und überdies mobile Räume, die den Beteiligten ermöglichte in einem abgeschlossenen, geschützten Raum eigene Themen zu platzieren und zu besprechen.194 Durch die Gestaltung und die Formen gemeinsamer Essenssituationen kann außerdem eine freundliche, einladende Atmosphäre hergestellt werden, die das Inhaltliche und das Politische nicht vom Wohlfühlen und vom Sozialen trennt (Abb. 9).
Der Versuch, die produktiven mit den reproduktiven Tätigkeiten zu verbinden, ist eine Gemeinsamkeit feministischer Gruppierungen in künstlerischen und aktivistischen Kontexten. Es wird versucht einer Trennung dieser Bereiche entgegenzuwirken, die in der kapitalistisch und patriarchal geprägten Gesellschaft vorherrschend und unhinterfragt ist. Diese Abspaltung reproduktiver Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Sorgen umeinander und für das körperliche und emotionale Wohlbefinden aller, von der vermeintlich eigentlichen Arbeit resultiert aus der Forderung nach einem allein rational zu führenden Diskurs und geht von einem autonomen Individuum aus. Eine solche Orientierung wirkt ausschließend und führt auch bei all jenen, die eigene Befindlichkeiten und Bedürfnisse ausblenden können, auf Dauer zu Gefühlen des Ausgebranntseins oder der Bedeutungslosigkeit. Feminist:innen bilden eigene Strukturen aus, innerhalb derer sie Arbeitsformen und die Beziehungen zueinander auf eine Art gestalten können, die den Bedürfnissen möglichst aller gerecht werden können.
Dieses Verständnis von künstlerischer Arbeit, das emotionale und organisatorische Arbeit als unreduzierbaren Teil des kreativen Prozesses einschließt, macht auch die meisten feministischen (ob Frauen, FLINTA* oder gemischtgeschlechtlichen) künstlerischen Kollektive aus und unterscheidet sich darin von anderen Zusammenschlüssen im Kunstfeld. Seit sich die professionelle Tätigkeit der Bildenden Kunst im 19. Jahrhundert vom Handwerk und aus dessen arbeitsorganisatorischen Kontexten gelöst hat, sind Künstler:innen in berufsspezifischen Fragen weitgehend auf sich allein gestellt.195 Die neue künstlerische Selbstbestimmung ging daher auch mit gesteigerten Konkurrenzverhältnissen einher. Um sich innerhalb dieser besser behaupten zu können tun sich seit der Moderne Künstler:innen zusammen. Meistens geht es dabei neben der Bündelung von Kompetenzen vor allem darum
„kulturelle Innovationen in sozialer Organisation zu kanalisieren und durchsetzungsfähiger zu machen. Die verstreuten Innovationskräfte gewinnen mehr und mehr Bewußtsein davon, daß sie individuell schwach sind, im Kollektiv hingegen an strategischer Stärke gewinnen. […] Noch heute sind es vor allem diese auf die Forcierung des schöpferischen Potentials hin ausgerichteten Vereinigungen, die nach Meinung des Publikums wie der Kunstschaffenden selbst das Etikett einer ‚künstlerischen‘ Gruppe, Gemeinschaft, Bewegung etc. ehestens verdienen.“196
Dagegen werden Zusammenschlüsse, die stärker berufsbezogene und wirtschaftliche Anliegen verfolgen, nicht als künstlerische Kollektive oder Künstler:innen-Gruppe verstanden. Mit der Thematisierung von kreativen Prozessen im Kontext ihrer ökonomischen Bedingungen und ihrer Einbettung in gesellschaftliche Machtstrukturen mit und durch künstlerische Mittel bestreiten feministische Kollektive selbstbewusst ihren eigenen Weg.
Wie sich neoliberale Werte und Vorstellungen von Leistung, Arbeit, Erfolg und Identität – nicht nur, aber ganz besonders – genderbezogen und – ebenfalls nicht nur, aber auf spezifische Weise – in der Kunst auswirken, thematisiert das Cake & Cash Curatorial Collective (seit 2020) als feministisches Austausch- und Rechercheprojekt an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und darüber hinaus.197 In den eigenen Arbeitstreffen, einer Veranstaltungsreihe mit Lesekreis, Inputs und Workshops, einer Ausstellung und der Start-Up-Gründung der Grind & Shine Inc. im Kunstverein Harburger Bahnhof (2021)198 macht das Kollektiv auf die Widersprüche aufmerksam, denen junge Künstler:innen ausgesetzt sind: Der Vorstellung der Selbstverwirklichung durch Kunst stehen prekäre Arbeitsbedingungen und ein krasser Individualismus gegenüber. Dadurch ist es nur einem ganz kleinen Kreis von Künstler:innen möglich, sich in ihrer Kunst selbst zu verwirklichen, und zwar denjenigen, die finanziell, körperlich, emotional und sozial die Bedingungen erfüllen, die es benötigt, um sich im Wettbewerb durchzusetzen und künstlerisch zu überleben. Bei Cake & Cash liegt ein Fokus auf den Erfahrungen und Arbeitsbedingungen im Kontext der Kunsthochschule, schließlich werden hier – nach der ersten großen formalen Hürde der Aufnahme als Kunststudent:in – wichtige Weichen für die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten gelegt. Dabei ist auch dem studentischen Kollektiv wichtig, sich mit ähnlich motivierten anderen Gruppierungen zu verbinden beziehungsweise verbünden, wie es insbesondere beim Pop & Squat Festival (2020) zur Vernetzung feministischer Initiativen an Kunst- und Gestaltungshochschulen unter dem Motto: „Das ist unser Raum!“, verwirklicht wurde.199 Die an diesem Austausch beteiligten Personen und Gruppen zeigen, dass an den Ausbildungsstätten der gegenwärtigen Kunstwelt – zunächst unabhängig voneinander und dann in Bezug zueinander – die Idee der feministischen Gegenräume aktuell besonders starke Resonanz erfährt und umgesetzt wird.
Abb. 10: Mitglieder des Cake & Cash Curatorial Collective während des Pop&Squat Festivals, Offenbach 2020. Abbildungsnachweis: Annika Grabold.
Das Herstellen der eigenen Räume und das Teilhaben an Diskursen über feministische Entwürfe eines rücksichtsvollen und solidarischen Miteinanders in kleinen und geschlossenen, räumlich und oft auch zeitlich begrenzten Gegenraum ermöglicht die Verwirklichung utopisch anmutender Ansätze und ist ein Zufluchtsort, oder: Ein safe space, in dem Erfahrungen geteilt und Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden können, die außerhalb dieser Räume gerechtfertigt werden müssen. Dafür ist die Abgeschlossenheit notwendig, doch gleichzeitig bleibt auch der Wunsch oder die Vision, über diese Heterotopien hinaus zu wirken – nicht nur das „Andere“ im „Eigentlichen“ zu sein, sondern aus den safe spaces und Gegenwelterfahrungen heraus in alle gesellschaftlichen Lebensräume hineinzuwirken. Feministische kollektive Praxis in der Kunst bleibt wichtige Quelle der Erprobung solidarischer und rücksichtsvoller Formen des Miteinanders. Sie wirkt durch ihre Radikalität aus dem Abgeschlossenen heraus zumindest punktuell als Inspiration für Veränderungen in anderen Bereichen des menschlichen Lebens. Sabeth Buchmann denkt angesichts der Auswirkungen der Covid-19- Pandemie im April 2020 an die Ausstellung Defiant Muses. Delphine Seyrig and the Feminist Video Collectives in France in the 1970s and 1980s (Reina Sofia Museum, 2019) zurück, die
„ein in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der Frauenbewegung offenbar ausgeprägtes Bewusstsein um die Notwendigkeit nicht nur der ‚Sorge um sich selbst‘ (Foucault), sondern auch der solidarischen Etablierung lokaler und internationaler Infrastrukturen inklusive kollektiv geteilter Erfahrungen und Wissenspraktiken zur Verbesserung der oftmals katastrophalen sozialen und gesundheitlichen Situation von Frauen und Mädchen erkennen [ließ].“200
Ein solches Bewusstsein ist auch in den gegenwärtigen verschiedenen und miteinander vernetzten künstlerischen Kollektiven zu sehen.201 Diese reagieren nicht nur auf die vielerorts „katastrophalen“ Lebensbedingungen von Mädchen und Frauen sondern prangern darüber hinaus tieferliegende, grundsätzliche Paradigmen und Machtstrukturen in Kunst und Gesellschaft an. Sie kritisieren das Zusammenwirken unterschiedlicher Diskriminerungsstrukturen und deren gemeinsame gesellschaftliche Grundlagen sowie die enge Verknüpfung von patriarchalen und kapitalistischen Mechanismen, wie sie in Debatten um Care-Arbeit thematisiert werden.
Das Knüpfen von Beziehungen zwischen Akteur:innen (Einzelpersonen und Gruppen) feministischer künstlerischer Kollektive ist nicht nur zur Stärkung „nach außen“ wichtig, also um sich in der bestehenden Kunstwelt vernetzt oder verbündet besser behaupten zu können. Auch die gemeinsame Reflektion persönlicher oder gruppenbezogener Entwicklungen, des Scheiterns oder von Ratlosigkeit sind von besonderer Bedeutung für das Bestehen der Gruppen. Aus meiner eigenen Erfahrung als Mitglied der Experimentellen Klasse (seit 2019)202 sowie von anderen Künstler:innen, wie es zum Beispiel Charlotte Perka von In The Meantime (seit 2020)203 bei einem meiner Gespräche über feministische kollektive Praxis erzählt,204 kann ich berichten, dass es sich beim Streben nach diesen Idealen um einen andauernden und teilweise durchaus anstrengenden Lernprozess handelt. Gerade die eigenen Ansprüche, persönliche Grenzen über einen vermeintlichen produktiven Erfolg zu stellen, können oft nicht erfüllt werden. Der Wunsch, die künstlerische Praxis besser als bisher üblich und auf eine neue, eigene Weise zu gestalten, führt selbst immer wieder dazu, dass die Motivation die eigenen Kapazitäten überrollt. Die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in Arbeitsprozessen schnell untergeht, die Aushandlungen in der Gruppe, die oft dazu führen, dass wir das Gefühl haben langsamer voran zu kommen als im individuellen Arbeiten (Abb. 11), die Spannung zwischen kollektivem Agieren und dem Voranbringen individueller Vorhaben – all dies erfordert erst einmal mehr Kraft im Vergleich zum Arbeiten als Einzelperson. Die Beteiligten feministischer Initiativen sind sich dieser Herausforderung sehr bewusst und reflektieren kritisch, inwiefern sie den eigenen Ansprüchen genügen. Wichtig ist es, das, was als Scheitern empfunden wird, als Teil des Lernprozesses zu akzeptieren, der auch das Verlernen tiefsitzender Vorstellungen wie zum Beispiel von Leistung und Erfolg beinhaltet.
Kunst bietet wie kein anderes Feld die Möglichkeit eigene Formen des Miteinanders, des Handelns und des Gestaltens von Bildern und Erzählungen über sich selbst und die Welt zu entwickeln. Diese Potentiale sind gerade für marginalisierte Gruppen wichtig, um sich selbstbestimmt in der Gesellschaft zu bewegen und zu präsentieren. Doch wird das Wahrnehmen dieser Freiräume in der Kunst durch Individualismus und Wettbewerbsdenken, patriarchale, rassistische, klassistische, ableistische und weitere Machtverhältnisse beschränkt. Sie sind unter dem Deckmantel der „Freiheit der Kunst“ noch stärker verschleiert.205 Dagegen stellt sich feministische kollektive Praxis: Es geht darum eigene Formen künstlerischer Praxis zu erproben und das der Kunst inneliegende Potential für alle zugänglich zu machen.
Biografie
Saskia Ackermann
Saskia Ackermann hat ihren Master in Bildender Kunst an der Hochschule der bildenden Künste in Hamburg gemacht und studiert seit 2016 an der FernUniverstität Hagen Bildungswissenschaften im Bachelor. Einer der Schwerpunkte ihrer Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit feministischen Formen kollektiver Praxis. Eine ähnliche Intention verfolgt sie gemeinsam mit dem künstlerischen Kollektiv Experimentelle Klasse, die sich queeren, feministischen und intersektionalen Fragestellungen und Arbeitsweisen widmen.